Agitproppresseclubs & Schinkenstraßen

Die Gebrauchtwoche

TV

2. – 8. Oktober

Über politische Auswirkungen sozialer Medien wird seit Jahren vorerst ergebnisoffen diskutiert, aber ein Tweet von Elon Musk auf seiner Plattform namens whatever hat nun gezeigt, dass der unermesslich reichste Internet-Troll direkt in deutsches Regierungshandeln intervenieren kann. Kurz nachdem er deutsche Staatsgelder für Seenotrettungsorganisationen angeprangert hat, fühlte sich Bundeskanzler Scholz bemüßigt, diese Praxis beenden zu wollen.

Dass mediale Kampagnen sogar für politische Erdbeben verantwortlich sind, zeigen derweil beide Landtagswahlen. Ohne die Bild, Twitter-, RTL-, aber auch SZ-befeuerte Pauschalkritik an der rotgelbgrünen Regierungspolitik, kulminierend im Furor gegen alles Fremde, vulgo: Ausländer, wäre die AfD gestern in Bayern und Hessen kaum so erfolgreich zu werden. Umso drolliger, wie wendig der Agitproppresseclub von Axel Springer wird, wenn sein Gesinnungswechsel Profite generiert.

Ohne rot zu werden wirbt dessen Frontblatt deshalb jetzt, kein Scherz, für die Volks-Wärmepumpe. Nach mehrmonatiger Heiz-Hammer-Dresche für den grünen Erzfeind ist das selbst für Bild-Verhältnisse dreist und erschwert die Solidarität mit einem Team der Welt ungemein, das bei einer Straßenumfrage zum Terrorangriff auf Israel in Berlin bedroht wurde. Ein Glück für Caren Miosga, dass sie sich damit seit ihrem Abschied am Donnerstag nicht mehr täglich in den Tagesthemen befassen muss.

Pech hingegen, dass populistische Windfähnchenhalter der Aufmerksamkeitsindustrie ihr als Nachfolgerin von Anne Will demnächst in Deutschlands wichtigste Talkshow folgen. Die zweiälteste hinter 3 nach 9 dagegen feiert derweil gewaltiges Jubiläum mit noch gewaltigerer Gästeliste. Am Freitag läuft die 1000. NDR Talk Show, die Promis von Günther Jauch über Carolin Kebekus und Ina Müller bis Mario Barth zwar weniger staatstragend machen wie sonntags nach dem Tatort, aber auf unterhaltsame Art bedeutsam.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

9. – 15. Oktober

Das teilt sie mit einer Serie, die es spielend auf alle Best-of-Listen 2023 schaff: Nackt über Berlin. Axel Ranisch verfilmt darin den eigenen Bestseller um zwei Außenseiter, die ihren Schuldirektor (Thorsten Merten) in dessen Smart Home kidnappen und damit, so scheint es, die Chance auf Rache und Selbstermächtigung ergreifen. Anfangs Coming-of-Age, entwickelt der Sechsteiler mit jeder Folge mehr soziokulturellen Sprengstoff und wird ab Donnerstag bei Arte zur Seriensensation.

Das wollte definitiv auch Last Exit Schinkenstraße sein, neuester Streich vom Milieustudienberserker Heinz Strunk.  Wie in Fleisch ist mein Gemüse flieht er darin als gescheiterter Kirmessaxofonist vor der Realität, diesmal nach Malle. Dummerweise verliert Strunk als Ballermann-Barde von RTL+ den warmherzigen Respekt für Unterprivilegierte und verliert sich in – zugegeben oft lustigen, musikalisch brillant untermalten – Kalauern.

Die hagelt es ab Freitag bei Paramount+ auch im Reboot der Neunziger-Serie um den Radio-Psychiater Frasier. Ansonsten jedoch startet die Woche ernster. Heute (23.05 Uhr) mit dem vierteiligen ARD-Porträt des kriminellen Cops Lubi. Morgen mit der Mediathek-Reihe Legendäre Experimente, zum Auftakt: das machtmissbräuchliche im Stanford Prison. Und Mittwoch zur besten Sendezeit im 2. Teil von Bjarne Mädel als Sörensen fängt Feuer.

Zwischendurch beleuchtet Arte ab Dienstag online das unselige Zusammenspiel Die USA und der Holocaust, bevor das ZDF auf seinem Digitalportal Füxe skizziert, das dubiose System deutscher Burschenschaften. Und damit zum Fiktionalen. Seit Freitag schon bei Netflix: vier Geschichten von Roald Dahl, die der unvergleichliche Wes Anderson zum unvergleichlichen Kurzfilmvierteiler Ich sehe was, was du nicht siehst und Der Rattenfänger, dazu Gift und Der Schwan macht.

Freitag bringt uns Mike Flanagan dann an gleicher Stelle zum Gruseln, wenn er den Untergang des Hauses Usher zum Niedergang einer US-Pharmadynastie aktualisiert, dabei allerdings diverse Gruselstücke von Edgar Alan Poe verarbeitet. Zeitgleich dockt AppleTV+ beim Damengambit an. Eine Frage der Chemie zeichnet acht Teile die Karriere von Elizabeth Zott, die in den frauenfeindlichen Fünfzigern versucht, als Wissenschaftlerin Fuß zu fassen – was in seiner inszenatorischen Zurückhaltung einfach großartig ist.



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