Geboren in Hamburg, spricht Fahri Yardim eher die Sprache des Kiezes als Türkisch. Die hanseatische Kodderschnauze kommt seiner Tatort-Figur Yalcin Gümer, der die One-Man-Army Nick Tschiller (Foto: Marion von der Mehden/ARD) mit lockeren Sprüchen und viel Herz auf den Boden der Realität zurückholt, sehr zugute. Das durfte der 36-Jährige erstmals 2003 in Fatih Akins Komödie Kebab Connection zeigen. Seither hat er allerdings seltener den Sprücheklopfer mit Migrationshintergrund gespielt, als man denkt. Im Doppel-Tatort Der große Schmerz jedoch (1. und 3. Januar) mischt er Hamburg wieder als deutsch-türkischer Sprücheklopfer auf.
Interview Jan Freitag
freitagsmedien: Fahri Yardim, Nick Tschiller war 2013 der Tatort-Kommissar mit den meisten Toten.
Fahri Yardim: Das überrascht mich nicht.
In seinen Fällen verliert man so ab der zehnten Leiche den Überblick. Wie viele waren es insgesamt?
Schwer zu zählen, stimmt. Aber das macht doch nichts. Unser Krimi ist eben nicht der übliche Mordfall von früher, wo die reiche Erbtante in Blankenese mit dem Kronleuchter erschlagen wird; hier geht es um einen Kiezkrieg mit Clanstrukturen. Und was soll denn das für ein Krieg sein – mit einem Toten.
Aber gefühlte 20 in eineinhalb Stunden?
Wir sind ja weder eine Polizeidokumentation noch naturalistisches Erzählkino. Wer einen Krimi so comicartig anlegt wie Christian Alvert, darf schon larger then life sein.
Darf man dann trotz humorfreier Dramatik auch lachen über all die ernst gemeinten Stunts und klatschenden Fausthiebe wider alle Naturgesetze?
Natürlich, nur zu. So dieses hassudasgesehn-Schenkelklopflachen? Logisch, gehört doch dazu. Ohne diese Distanz zur Realität sollte man sich besser all die tollen Sachfilme ansehen. Macht auch Spaß, und Genre-Kino kann man mit einem ständigen Realitäsabgleich unmöglich genießen.
Ist dieses Genre-Kino überhaupt noch Krimi?
Actionkrimi. Es wird ja trotz aller Action weiter ermittelt. Sicher sind wir auf der Farbpalette des Tatorts eher der grellere Ton, aber das belegt doch nur die Vielfalt des Formats. Bei der vorigen Bambi-Verleihung kamen mal fast alle Ermittler zusammen, das war wie ein Klassentreffen: Es gab die ernsthaften Mitschüler aus Köln, die Zwillinge aus München, die Klassenkasper aus Münster, die Klassenbeste aus Hannover und wir waren eben die Rabauken aus der letzten Reihe, die ständig mit Papierkugeln Richtung Pult schießen.
In Kopfgeld sind es aber weit schärfere Geschosse. Ist das am Ende das Markenzeichen im Hamburger Kiezkrieg-Tatort – die Zahl der Gefallenen?
Mehr aber noch die Körperlichkeit, die Dynamik, die Inszenierung, die Kamera. In der Kombination hat es das mit dieser Geschichte in dem Medium hierzulande noch nie gegeben. Das ist großes Kino mit Fernsehmitteln. Wessen Sehgewohnheiten das verfehlt, guckt halt einen anderen Tatort, dafür gibt’s doch genug davon. Ich finde dieses Action-Fach großartig.
Auch als Zuschauer?
Und wie! Aber ich mag keine Eindeutigkeiten, sondern lass von der platten Komödie bis zum gediegenen Kammerspiel alles an mich ran. Wer immer nur Gräben aushebt, verlernt irgendwann zu abstrahieren und kann nicht wie ich selber rausfinden, welchen Actionfilm er genießen kann und welchen er zum Kotzen findet. Auch das kommt vor.
Aus welchen Gründen?
Weil sie ihr Augenzwinkern verlieren, keine Brüche zulassen und keine Süffisanz, für die ich ja in unserem Tatort unter anderem zuständig bin. Das ist doch ein Brett.
Und erdet Till Schweigers ständigen Bruce-Willis-Blick mit Kiezhumor.
Ich steh auf seine Kraft, auch weil es mir den Kontrast anbietet, meine matrosenhafte Leichtigkeit kommt immer mit einem gewissen Fatalismus daher, das finde ich spannend. Yalcin Gümer ist so ein bisschen wie der Chirurg, der nach der OP seine Schere vermisst und sagt, oha, dann müssen wir die Fäden wohl durchbeißen. Diese komödiantische Erdung hilft ihm und anderen dabei, die Ausweglosigkeit der Verhältnisse, in denen sie arbeiten, zu ertragen. Deshalb fand ich es wirklich erleichternd, wie Daniel Craig in seinem ersten Bond gefoltert wird und seinen Peiniger bittet, weiter links zuzuschlagen, weil es da noch juckt. Wobei wir diese Mischung aus Ernst und Leichtsinn gar nicht voll ausschöpfen. Aber dafür kämpfe ich; dieses Element meines Spiels möchte schließlich auch ein bisschen geschaukelt werden.
Ist der schnodderige Sprücheklopfer vom Hamburger Kiez denn überhaupt gespielt oder sind Sie das nicht ein bisschen selbst?
Das ist schon gespielt, aber natürlich liegt der mir. Ich muss da nichts mühsam hervorkramen, sondern nur den Hamburger in mir rauslassen. Als ich dem einen im Knast eine Wanze unterjubeln will und frage: „Sach ma, wie talkst du eigentlich mit mir“ – dieses Lokalkolorit kannst du dir nur schwer anlernen, das kommt aus dem Innern.
Versucht man Ihnen deshalb gern diese Alder-Digger-Rollen anzudrehen?
Nein, leider nicht. Ich hatte davon vielleicht drei seit Kebab Connection und das ist zehn Jahre her. Umso mehr freue ich mich hierüber. Es stimmt natürlich: Schubladen können tief sein. Aber meine öffnet sich gerade in letzter Zeit immer weiter, dass ich mich sogar freue, wieder mal einen wie den hier zu geben. Jeder hat in seinem Job Handgriffe, die er besser beherrscht als andere. Yalcin geht mir gut von der Seele. Meine Schauspielausbildung war das Leben in Hamburg.
Aber schon auch die Schauspielschule.
Die auch, am Theater sogar, aber das würde ich nicht zu hoch hängen, da ist noch viel Luft nach oben. Film lernt man ohnehin erst richtig beim Drehen.
Versucht man türkischstämmige Schauspieler wie Sie türkischstämmig zu besetzen?
In vielen Fällen leider schon, noch immer. Und was noch schlimmer ist: auf dieser Ebene ist das Angebot der Rollenprofile trotz aller Erfolge, das aufzubrechen, sogar so dünn, dass Türken im Film noch immer entweder Gemüseverkäufer oder Kriminelle sind. Da hatte ich großes Glück, dass die entscheidenden Leute in mir eine Charakterlichkeit jenseits meiner Herkunft erkannt haben.
Welcher Name ist Ihnen dann lieber: der türkische Yalcin oder der deutsche Daniel in der Komödie Irre sind männlich?
Daniel ist ein Liebessuchender, wie es ihn auf der ganzen Welt gibt. Der könnte auch Ching Lee heißen. Am Namen kann man keinen Charakter festmachen, und Migrationshintergrund heißt Hintergrund weil er im Hintergrund ist. Er rückt allerdings in den Vordergrund, wenn meine Figur in gebrochenem Deutsch „Gürke verkaufe“ will. Das ist mir einfach zu platt. Mir geht’s immer um die Geschichte einer Figur; wenn ich hier jetzt ’n Dicken schieben möchte, würde ich dazu ein paar Philosophen zitieren über allzu Menschliches, aber es geht auch einfach: je tiefsinniger eine Rolle gebaut ist, desto unwichtiger wird die nationale Schublade.
Ihr Hintergrund ist also nicht mehr zu sehen?
Doch, guck mich doch mal an. Und er darf auch eine Rolle spielen. Wenn das interessant ist, würde ich gern alles Mögliche spielen, was mit irgendwelchen Hintergründen zu tun hat. Rein physiognomisch steht mir ja der gesamte Mittelmeerraum offen. Andererseits bin ich ein moderneres deutsches Gesicht. ich werde seit 33 Jahren hier sozialisiert und schnuppere seither dauernd deutsche Luft – es erzählt viel über denjenigen, der einen wie mich immer noch türkisch konnotiert. Wenn man mich fragt, wo kommst du her, sage ich: aus meiner Mudder.
Was hat die eigentlich gesagt, als Sie Schauspieler werden wollten?
Weil ich in unserer Dynastie der erste Schauspieler bin, hat sie genau wie mein Vater anfangs ein bisschen dran geknabbert. Der Deal war deshalb, dass ich auch ein bisschen studiere, Germanistik und Ethnologie. Dann ging’s.
Und als Sie vor zehn Jahren ohne Uniabschluss Schauspieler waren und im Film angekommen sind: war der Tatort da eine Option oder überhaupt nicht auf der Agenda?
Null. So ein Format ist in der Branche zu präsent, um nie dran zu denken, aber das war viel zu weit weg. Es ging ganz langsam dahin, Schritt für Schritt.
Und wie fühlt es sich jetzt an – nach Etappe oder nach Ziel?
Der Weg bleibt das Ziel. Es ist eine Riesenaufgabe, so viel Vertrauensvorschuss, wie ich erhalten habe, auch gerecht zu werden. Außerdem trage ich trage ich große Verantwortung, für all die vielen Leute, die das gucken, einen guten Job zu machen. Trotzdem möchte ich niemals nur Kommissar sein. Bei einem im Jahr, bleibt Platz für anderes.
Und wenn Nick Tschiller alle Gangster in Hamburg abgeknallt hat?
Das Fernsehjahr 2015 geht zu Ende – und hinterlässt den Eindruck dauernder Krisen und gelegentlicher Lichtblicke. Ein Rückblick mit Ausblick auf 2016.
Von Jan Freitag
Die Zuschauer, das zeigt wie jedes Fernsehjahr auch dieses, dürsten nach Dichotomie. Wahre Helden strahlen ja erst dann so richtig, wenn ihnen ein zünftiger Antagonist in die Heldenparade fährt. Und auch sonst sind Programmplaner gut beraten, von der hiesigen Schnulze über seriellen Import bis hin zum profanen Fußball für Gegensatzpaare zu sorgen, am besten gut vs. schlecht.
Muss aber auch nicht.
Im Mai traten Margarita Broich und Wolfram Koch das Erbe ihrer hessischen Vorgänger an und brachen dabei jenes Gesetz, dem sich die Berliner Meret Becker und Mark Waschke bedingungslos beugten: Tatort-Kommissare sind wie Feuer und Wasser. Auch die harmonischen Dagmar Manzel und Fabian Hinrichs brechen daher TV-Recht, wenn sie in Nürnberg kollegial statt feindselig ermitteln. Der Dauerbrenner machte es 2015 also vor: dichotom muss nicht dissonant heißen; hybrid darf einträchtig verlaufen. ZDF und Sat1 zum Beispiel können grundverschiedene Versionen desselben Falls verfilmen – das öffentlich-rechtliche Dokudrama mit Thomas Thieme porträtierte den gestürzten Bayernboss Hoeneß nüchtern, doch ebenso unterhaltsam wie Uwe Ochsenknecht als überdrehter Knastkönig Udo Honig.
Auch auf internationaler Ebene ging es ganz friedlich um einmütige Teilung. Im Arte-Experiment Tandem fiktionalisierten Deutschland und Frankreich im Januar ihren Umgang mit Kernenergie, was rechts des Rheins (natürlich) zu einem atomkritischen Krimi führte und links (natürlicher) zu einer heiteren Provinzposse. So ging es weiter: Mitte Juli kehrte Cordula Stratmann nach langer Abstinenz auf den Bildschirm zurück und karikierte für die ZDF-Serie Ellerbeck fürsorglich Provinzpolitik, um ihre Kuhflüsterin Tage später rüde im Klischeebad der ARD zu ersäufen. Oder Oli Dittrich: Erst persifliert seine Kunstfigur Schorsch Aigner den schlingernden Franz Beckenbauer im WDR am Rande der Deckungsgleichheit (was die kritiklose Hommage des Autorenfilmers Thomas Schadt zum 70. des Kaisers noch peinlicher macht), dann verschleudert er sich als schwuler Friseur der NDR-Comedy Jennifer. Und kaum dass die ARD ihrem Vorabend mit Sibel & Max etwas Niveau abseits vom Schmunzelkrimi verpasst, fährt sie das Werbeumfeld mit Unter Gaunern kalauernd an die Wand.
Es war eben doch ein Jahr von Spaltung, Angst und Krise, was sich allein in sechs Serien zum Endzeitthema Zombies äußerte und nach fast jeder Tagesschau. Während von Paris über Athen, Ankara, Passau und zurück die ARD-Brennpunkte glühten, während Björn Höcke sein Talkshowmobiliar Schwarzrotgold dekorierte und Roger Köppels Sturmbannführermimik hart statt fair 4. Reich spielte, während Hajo Seppelts Doping-Doku die Leichtathletik zur Hölle schickte und Daniel Harrichs Spielfilm Meister des Todes den Waffendealer Heckler & Koch, während das Literarische Quartett Streitkultur simulierte und Beckmann einen Sachfilmer, gab‘s im Stahlgewitter der Realität aber auch Lichtpunkte.
Lustiges wie Vorsicht vor Leuten vom Stromberg-Duo Feldhusen/Husmann, Absurdes wie Axel Milberg als Liebling des Himmels, Famoses wie Luis Trenker alias Tobias Moretti, Außergewöhnliches wie die Anwaltssaga Schuld, Brillantes wie das Politikerbashing Eichwald MdB, ja selbst privat Überzeugendes wie die Hospizserie Club der Roten Bänder (Vox) oder Deutschland 83, mit dem RTL positive Kritik, aber negative Quoten erntete. So zählt die – neben Weissensee – beste deutsche Serie des Jahres zu dessen Flops und reiht sich ein zwischen Raab & Jauch, Borg & Blochin, Naidoo & Winnetou, Verbotene Liebe & Two and a Half Men in die Liste der Verluste.
Auf der landen nun auch das Nachtgespenst Domian, der WG-Genosse Alsmann, die totverjüngte Stadlshow und ZDF-Kultur, womit Musik fern von Schlager und Pop aus dem Regelprogramm verschwindet. Das kriegt dafür einen Jugendkanal im Netz nebst Schulz & Böhmermann als Talkgespann auf ZDFneo, das zwar jeden Platzhirsch alt aussehen lassen, aber keine Konsequenzen haben dürfte, weshalb Illners Urlaubsvertretung Dunja Hayali auch 2016 allenfalls ersatzweise glänzen darf.
Da Streamingdienste wie Amazon und Netflix mit Mr. Robot und Narcos zugleich zeigen, was Innovation ist, wirkt das Fernsehen immer gestriger: RTL holt Winnetou aus den Jagdgründen und Kabel1 die Ludolfs; Steven Gätjen wird der neue Gottschalk und Anne Will die alte Jauch; im Februar setzt das Erste Operation Zucker fort, um die Missbrauchskrimiquote von 25 Prozent zu erfüllen, und Sat1 Die Hebamme, weil, äh… Der Bodensee kriegt bessere Ermittler plus Heike Makatsch als Event, auf das im Herbst der 1000. Tatort folgt, den Borowski/Lindholm gemeinsam betreten.
Zwischendrin steigern die Privaten das Quizzen auf 500 Questions (RTL) und klauen lieber mies bei Sherlock als Einstein gut zu schreiben (Sat1). Und wenn Das Schweigen der Beate Tschäpe im ZDF läuft, bevor der Prozess endet, zeigt sich: Bald wird das erste Dokudrama seinem Thema zuvorkommen. Spätestens dann wechselt LeFloid zur Tagesschau.
Warum die Zeitspanne von Heiligabend bis Heilige Drei Könige „zwischen den Jahren“ heißt, zählt zu den großen Rätseln kalendarischer Ordnung. Rein rechnerisch befindet sich in dieser „Rauhnächte“ genannten Zeitspanne ja höchstens ein Sekundenbruchteil, der im aktuellen Fall auch noch entweder zu 2015 oder 16 gehört. Es ist ein Mysterium… Aber immerhin eins, das dem Fernsehen ermöglicht, die vergangenen elfdreiviertel Monate fristgerecht zu resümieren – davon zeugen all jene Rückblicke, die „zwischen den Jahren“ üblicherweise das Programm füllen. Humoristische ebenso wie melodramatische, menschliche und tierische, sachliche oder polemische, sinnvolle, sinnlose, sinnsuchende – alles dabei.
Trotz aller retrospektiven Redundanz ist allerdings stets eine Zahl mediensoziologisch bedeutsam, die erst seit dem ersten Tatort-Auftritt von Til Schweiger im Jahr 2013 so richtig zum echtzeitnostalgischen Repertoire zählt: Wie viele Tote verbucht Deutschlands wichtigste Krimireihe heuer? Antwort, Tattatusch: 111. Das hat die Fan-Seite Tatort-Fundus ermittelt und damit 39 weniger als im Vorjahr, das für seinen Rekord sogar vier Filmen weniger benötigte als der Zweitplatzierte 2015, nämlich 36, Schnitt damals: 4,16 pro Episode.
Verantwortlich für diese Mortalitätsrate waren allerdings auch zwei besonders produktive Leichenzähler: Hessens Premium-Ermittler Felix Murot, gespielt vom famosen Ulrich Tukur, dessen theatralisches Massaker Im Schmerz geboren förmlich in Blut badete, ohne dabei abzusaufen. Und natürlich Nick Tschiller, gespielt vom nicht ganz so famosen Schweiger, dessen fatale Brutalität der ersten zwei Fälle (die Montag und Mittwoch um 21.45 Uhr wiederholt werden) den wirklich einzig denkbaren Daseinsgrund des selbstverliebtesten Filmdarstellers weltweit und vermutlich darüber hinaus bildet.
Die Frischwoche
28. Dezember – 3. Januar
Nachdem er die Kadaverquote von stolzen 2,75 durch Verlegung seines dritten und vierten Ballerballereinsatzes infolge der Pariser Anschläge am 13. November nicht heben helfen durfte, treibt er nun also gleich zum Auftakt die des nächsten Jahres empor. In seiner Doppelfolge Der große Schmerz mäht Tschiller Freitag und Sonntag fiese Entführer der eigenen Familie nieder und kriegt es, kein Scherz, mit Helene Fischer als Auftragskillerin zu tun, was diesen Kommissar endgültig als reine PR-Kampagnen seiner selbst – vermeintliches Techtelmechtel bei den Dreharbeiten inklusive – entlarvt, aber so läuft‘s halt in Krimiland D, das sich seit Ewigkeiten nur noch um sich selbst dreht.
Das kann durchaus auch mal sehenswerte Konsequenzen haben wie die Filmauskopplung der ARD-Serie Mord mit Aussicht, in der es Sophie Haas heute (wie es offenbar allen langjährigen TV-Kommissaren irgendwann in der Karriere zu wiederfahren hat) selbst unter Mordverdacht gerät. Es kann auch die Realität zum kriminalistischen Spielfeld machen, was ZDF am gleichen Tag ab 7.20 Uhr früh macht, wenn der Spartenkanal parallel seinen Mördertag einläutet – mit 25 Dokumentationen bis weit nach Mitternacht, darunter eine frische Reihe namens „Überführt“, in der Presenter Joe Bausch, bekannt als Kölner Tatort-Pathologe, zum Auftakt den Bankräuber Siegried Massat porträtiert.
Unter Krimi verbuchen Programmplaner gern auch die Vierschanzentournee, mit der ARZDF ab sofort inklusive Trainingssprüngen, Hintergrundmüll und Starrummel geschlagene zwei Wochen Tagesgeschäft bestreiten, was sich extrem von jener Ära unterscheidet, da diese Leibesübung noch nebensächlicher Bestandteil der SPORTreportage war, die am Sonntag seit genau 50 Jahren Randsportarten einen Platz im fußballgemästeten Fernsehen garantiert.
Aber damit zu erbaulicheren Dingen jenseits der zwei Megathemen des Mediums: Ebenfalls heute zeigt Arte ab 20.15 Uhr mit Mein Onkel, Schützenfest und Playtime drei Klassiker des stummen Slapstickgenies Jacques Tati, die alle auf ihre Art ohne viel Getöse zum Niederknien sind. Zwei Tage darauf zeigt der Schwestersender 3sat ab 6 einen 24-stündigen Marathon voller Kabarett und Comedy, was um 23.45 Uhr Perlen wie Wir sind Kaiser (ab 23.45 Uhr) aufreiht, in denen der österreichische Komiker Robert Palfrader Stars zur Audienz lädt.
Nicht ganz so lustig, aber ungeheuer gehaltvoll geht es in den Wiederholungen der Woche zu. In Marilyn Monroes tiefgründigstem Film Misfits verschlug es sie 1961 nach einem Buch ihres Mannes Arthur Miller zur schwarzweißen Pferdejagd in die Wildnis. (Montag, 23.55 Uhr, Servus). In Farbe dagegen verliebte sich Robert Redford 1973 als konservativer Snob in eine linke Aktivistin der 50er Jahre (Wie wir waren, Dienstag, 0.25 Uhr, Servus). Und als Doku der Woche: Die bildgewaltige Reise des Illustrators John Howe Auf den Spuren der Hobbits durch die Drehorte des Neuseelands von Regisseur Peter Jackson (Dienstag, 14.45 Uhr, Eins Festival).
Was Oli Dittrich anfasst, wird gemeinhin zu Gold. Die norddeutsche Provinzposse Jennifer (ab 23. Dezember, 22.25 Uhr, NDR) dagegen droht schon zum Auftakt im Pointensumpf zu versinken – wäre da nicht Dittsches überdrehte Wahrhaftigkeit (Foto: NDR) als schwuler Friseur.
Von Jan Freitag
Das Klischee ist ein dramaturgisches Windei. Dem Französischen entlehnt, bezeichnet es endlos erwärmten Kaffee diverser Mahlzeiten, der bei jedem Frühstück abgestandener schmeckt, aber den Geldbeutel schont. Ist Altware frei verfügbar, muss man sich grad unterm öffentlich-rechtlichen Kostendruck nichts Neues zulegen – das gilt fürs Personal ebenso wie für Inhalte. Was wiederum nirgends deutlicher wird als im hiesigen Fernsehhumor. Friseure zum Beispiel sind darin grundsätzlich schwul, ihre Kolleginnen pink, Discobesitzer schmierig, Omas altklug und Taxifahrer schlichten Gemüts.
Womit wir in Winsen an der Luhe wären, einer ziemlich trostlosen Schlafstadt vor den Toren Hamburgs, die es zu Hunderten gibt in Deutschland: bevölkert von ganz gewöhnlichen Leuten mit ganz gewöhnlichem Leben in ganz gewöhnlicher Umgebung, Leuten wie Jennifer – meint man zumindest beim NDR. Ab heute schneidet sie dort der Provinz das Haupthaar, genauer: sie schnitt. Weil sich Inhaber Sandro mit einem Föhn erdrosselt hat, leitet sein Lebenspartner Dietmar nun den Salon „Hair & Care“ und erteilt der Friseurin in Ermangelung eines Gesellinnenbriefs gleich mal Scherenverbot, was ihre resolute Großmutter (Doris Kunstmann) ebenso auf den Plan ruft wie Freundin Melanie (Laura Lo Zito), die der Obertitelfigur dabei helfen, den Untertitel umzusetzen: Sehnsucht nach was Besseres.
Diese Hassliebeserklärung an eine bildungsfern-proletarische Kleinstadtmittelschicht grundiert das Nischenprodukt von Regisseur Lars Jessen von der ersten bis zur letzten Minute. Damit hat der Regisseur Erfahrung: Schon in Dorfpunks und Fraktus hat er den Alltagsfreaks seiner küstennahen Heimat filmische Denkmäler gesetzt. Auch auf das von Jennifer mit J wie Jauche scheißen die Tauben der norddeutschen Tiefebene daher dauernd Landeihumor der Güteklasse C mit allem, was die Region im Regelfernsehen symbolisiert: angefangen mit einem seltsam sangsingenden Dialekt, der wohl ortstypisch wirken soll, aber klingt, als stecke Dieter Bohlen und Heidi Kabel in einen Sack Hafenarbeiter mit Gesichtslähmung.
Doch nicht nur umgangssprachlich ersäufen die Bücher von Andreas Altenburg aus dem holsteinischen Kohldelta Dithmarschen und seinem Stenkelfelder Kollegen Harald Wehmeier den Pöbel mit doppeltem Präteritum (ich war gewesen) und Dativdrehern (lern du mich nicht die Welt kennen) im Klischee intellektueller Schlichtheit. Sie lassen auch dramaturgisch kein ungefärbtes Haar an ihren Protagonisten. Als anspruchsvoller, zur Differenzierung bereiter Zuschauer könnte man heulen – schimmerte nicht immer wieder mal ein barmherziger Glanz durch die halbstündigen Episoden.
Das liegt an Katrin Ingendoh, deren hingebungsvoll prollige Jennifer schon in den ersten drei Folgen von Haarverlängerung über Eventmanagement bis Immobilienmarketing drei völlig verschiedene Wege nach was Besseres einschlägt. Mehr aber noch liegt es an – wem sonst? – Olli Dittrich. Sein ostentativ schwuler Dietmar ist so heillos überfrachtet mit Friseurvorurteilen jeder Art, dass es schon wieder witzig wird. Schließlich persifliert ihn der wahrhaftigste aller Persönlichkeitsparodisten im Land aus dem reichhaltigen Füllhorn seines Dittsche-Universums punktgenau zwischen Empathie und Fremdscham. Wie diese liebenswert bemitleidenswerte Knallcharge dank achtelprominenter Anekdoten von Vicky Leandros‘ Beleuchter, mit dem sie mal beinahe befreundet gewesen sei, aufdringlich Eindruck schinden will und doch selbst beim leicht erregbaren Salonpublikum nur Mitleid erntet – das karikiert die Abgründe tradierter Hierarchien schmerz- und lachhaft zugleich.
So gerät Jennifer am Ende doch zu etwas, das bisweilen mehr Charme als Fremdscham entfaltet – in den Pointen gern leicht bis schwer drüber, auf der Metaebene zuweilen küchenpsychologisch unterhaltsam. Kein Tatortreiniger also, kein Dittsche, nicht mal Mord mit Aussicht, sondern einfach nur betuliche Provinzialität als nettes Betthupferl ab zehn. Hätte schlimmer kommen können, geht noch bedeutend besser.
Es ist nicht so einfach, über zweidimensionale Medien zu schreiben, wenn praktisch alle Zeitungen, Bildschirme und sonstigen Kanäle von Star Wars besetzt sind. Das sechste Sequel der zusehends endlosen Weltraumsaga zieht momentan die dritte Nachkriegsgeneration so fest in den Bannstrahl der Macht, dass abweichendes Angebot kaum Aufmerksamkeit erlangen kann. Das hat allerdings naturgemäß auch mit der Relevanz dessen zu tun, was eben abseits vom Krieg der Sterne so läuft
Shows zum Beispiel wie Pilawas Spiel für Dein Land, wo es die ARD schaffte, das sozialkritische Potenzial des neuen Heidi-Films so aus dem Zusammenschnitt zu hacken, dass darin doch wieder nur heile Alpenwelt strahlt. Oder Markus Lanz, der Deutschlands umstrittensten Gewerkschafter Weselsky im ZDF-Rückblick Menschen 2015 fünf Minuten Interview schenkte, die den streikfreudigen GDL-Chef vor wirklich jeder kritischen Frage bewahrte. Da Relevanz aber auch sonst nur im Krisenfall das öffentlich-rechtliche Programm kontaminiert, übertrug das Erste statt eines DFB-Pokalspiels zuvor Bayern gegen Darmstadt, was zwar sportlich egal war, aber die Mindestquote von 2500 Stunden ARD-Präsenz des Rekordmeisters pro Jahr komplettierte.
Verglichen damit war es fast bedeutsam, wie Stefan Raab, der die gehässige Verunglimpfung Schutzloser via TV total zum Wesenskern des Privatkernsehens verfeinert hat, beim Abschied auf Pro7 weinte. Etwas mehr als Krokodilstränen wären dagegen jene 40 Euro wert, die ein Moskauer Gericht dem ARD-Sachfilmer Hajo Seppelt für seine Doku Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht wegen angeblich „unglaubwürdiger“ Vorwürfe aufgebrummt hat. In einem Land übrigens, dessen Präsident Sepp Blatter für den Friedensnobelpreis vorschlägt, was nur noch das nationalrassistische Talkshowinventar Roger Köppel überbot, dessen Weltwoche den verhassten Fifa-Besitzer zum „Schweizer des Jahres“ kürte. Die Welt am Rande des Wahnsinns.
Die Frischwoche
21. – 27. Dezember
Dort befindet sich ab Donnerstag dank der einzig nennenswerten Premiere dieser Woche auch die Provinz. In der NDR-Serie Jennifer kriegt es die norddeutsche Vorstadtfriseurin gleichen Namens mit allerlei Hindernissen bei ihrer Sehnsucht nach was Besseres zu tun, namentlich ihrem Chef Dietmar, dem Olli Dittrich um 22.25 Uhr wunderbar wackelige Überheblichkeit verpasst, die das Format im Ganzen allerdings trotzdem nicht vorm Reinfall retten kann.
Ansonsten aber halten sich die Programmplaner seit dem Ende der Weihnachtsmehrteiler gewohnt zurück mit Neuigkeiten von Wert zum Fest. Zu nennen wäre allenfalls die opulente Neuverfilmung von Victor Hugos Historienspektakel Les Misérables am Mittwoch (23 Uhr, ZDF) mit Hugh Jackman als geächteter Ab- und Aufsteiger im Frankreich des 19. Jahrhunderts, wofür es 2013 zu recht drei Oscars gab. Und dann wäre da noch das lieb gewonnene Ritual, die Feiertage mit modernisierten Märchen zu versüßen. Die vier neuen am Freitag und Samstag ab 14 Uhr zeigen zwar, dass sowohl populäre Grimm-Stoffe als auch die großen Stars der ersten acht Jahre knapp werden. Besonders die Adaption von E.T.A Hoffmanns Kunstwerk Nussknacker und Mausekönig lässt jedoch am 1. Weihnachtstag das Gute und Böse auf Fingergröße geschrumpft so furios im Kinderzimmer der hinreißenden Mala Emde aufeinanderprallen, dass es die reine Freude ist.
Darüber hinaus aber lodert am Flatscreen das Flämmchen üblicher Gewissheiten. Im Ersten erkennt der suizidgefährdete James Stewart Heilignacht nach zwei erneut, dass das Leben doch schön sein kann, im ZDF kriegt Helene Fischer tags drauf wie üblich ihre mehrstündige Eigendauerwerbesendung, während RTL Minions und ähnliche Animationskracher absondert. Pro7 Sat1 verwechselt Christ- mit Schlachtfest, Sat1 füllt die Hobbit-Premiere Smaugs Einöde Freitag mit 45 Minuten Reklame und wochenends gibt’s gleich zwei Tatorte, wobei Ulrich Tukur seiner Filmrolle Murot im letzten allen Ernstes leibhaftig begegnet.
Vieles wie gehabt also, einiges unterhaltsam, wenig dafür geeignet, was an dieser Stelle irgendwann zur Wiederholung der Woche taugen könnte wie Die Ferien des Monsieur Hulot von 1953 am Montag auf Arte (20.15 Uhr) im Rahmen eines ganzen famosen Abends rund um den schwarzweißen Komiker Jacques Tati. In Farbe hingegen darf der unverwüstliche Chevy Chase am Dienstag auf Vox nochmals für Schöne Bescherung (1989) sorgen. Und im dokumentarischen Wochentipp widmet der RBB parallel um 22.15 Uhr Hildegard Knef ein fabelhaftes Porträt. Frohes Fest.
Wer sich Hamburgs präsentable Ecken von professionellen Touristen-Guides à la Olivia Jones zeigen lässt, kriegt vornehmlich Jubelarien über die vermeintlich „schönste Stadt der Welt“ zu hören. Weil die ein reiner PR-Mythos ist, war Zeit-Online mit Fremdenführern wie Dominik (Foto: Florian Schüppel) oder Daniell unterwegs, die auch mal hinter die Fassade blicken.
Von Jan Freitag
Und dann sagt Dominik Schönemann ihn doch, den peinlichsten Satz regionaler Selbstüberschätzung. Vier Wörter, die das ortsüblich obergärige Gebräu aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn zur lokalpatriotischen Phrase verdichten: „Schönste Stadt der Welt.“ Hamburg!
Hamburg?
Die Stadt hat ihren Reiz, keine Frage: Den Hafen samt Speicherstadt, baumgesäumte Gründerzeitpracht weiter nördlich, dazu ein Rathaus mit Seeblick – schon schön, aber am schönsten? Gäbe es so etwas wie eine Miss-Wahl der Metropolen, hätte diese dank mitteleuropäischer Randlage ohne Brandenburger Tor oder Meeresbrandung ganz klar Standortnachteile. Nur: davon wollen ihre Fremdenführer hier nichts hören, geschweige denn sagen. Berufskrankheit, Standesbewusstsein, Überzeugung? Wer weiß.
Einige Hundert sind in diesem hochkomplexen Ballungsraum unterwegs, um ihn für Zugereiste auf seine Hotspots zu reduzieren. Zu Fuß wie Daniell mit dem blauen Haar, motorisiert wie Dominik mit der bürgerlichen Aura, beide grundverschieden und doch unterwegs in gemeinsamer Mission: Die Stadt zu zeigen, wie sie ist, nicht wie es das Marketing mag. Dominik tut dies auf einem der 30 verschiedenfarbigen Doppeldeckbusse, die Hamburg 365 Tage durchmessen. Ihre Routen sind der zuständigen Wirtschaftsbehörde egal, solange StVO und Beförderungsrecht beachtet werden. Trotzdem führen fast alle vom Alten Elbtunnel gen City um die Alster zum Kiez mit Halt an Speicherstadt und Michel – fertig ist die Posterwelt fernab aller Brenn- und Kritikpunkte.
Dann aber betritt dieser unscheinbare Hamburger Jung seine Bühne ohne Bretter, und der Sound wird rauer, ehrlicher. „Augen rechts!“, befiehlt Dominik mit Blick zur Stadthausbrücke. Ein Dutzend Augenpaare auf dem Oberdeck leistet Folge und staunt hörbar angesichts der napoleonischen Pracht. So stellen sich Gäste die Stadt eben vor: kaufmannsstolz, aber nicht protzig. Und immerzu Wasser, überall.
Im Phrasenfechtsport Sightseeing könnte Dominik nun das Florett ziehen: Ja, so schön ist‘s an der Waterkant. Touché! Doch was tut der Jurist beim touristischen Zubrot? Wählt den Säbel und haut „Achtung, alles Fassade!“ in den Bus der „gelben Doppeldecker GmbH“. Innen Entkernen, außen verputzen, geschichtslose Augenwischerei: „Genau so geht Hamburger Denkmalschutz!“ Genau so hat er ihn auch erklärt, als er vor Landungsbrücke 4 Besucher an Bord koberte. „Ich darf den Leuten von einer Stadt erzählen, die ich wirklich liebe“, beteuerte der 32-Jährige im beige-grauen Outfit desjenigen, der nicht vom Arbeitsobjekt ablenken will. „Aber sie macht mir das echt nicht leicht.“
Wenn man ihr unbeirrt die steinerne Identität aus dem Baubestand reißt oder pastellfarben verputzt, bis Hamburgs architektonische Textur verwechselbar wird und arm. Da könne der Barmbeker, den die Tourismusbehörde mitten im Referendariat nach einem „Riesenhaufen Broschüren“ über Highlights und Historie zweisprachig zum staatlich anerkannten Stadtführer prüfte, nicht einfach auf eitel Sonnenschein machen, als sei seine Heimat schick wie ihre polierten Hüllen.
Offiziell geprüft wurde sein Kollege Daniell nicht, ein bisschen gebüffelt hat er trotzdem, mehr als alle Theorie hilft dem Multijobber mit Barschwerpunkt jedoch die Lebenserfahrung: Ein Drittel seiner 33 Jahre lebt der Lübecker auf St. Pauli, „mein Viddel“, das er in dieser Klaren Herbstnacht knapp 20 Gästen zeigt. „Was ist der Unterschied zwischen Touristen und Terroristen?“, fragt der buntgescheckte Freak von nebenan die buntgemischten Gäste aus sieben Ländern plus Wien zur Begrüßung und erntet verstörtes Kichern: „Terroristen haben Sympathisanten!“ Ein Säbeltreffer unter die Gürtellinie und dennoch die ideale Einstimmung auf das, was zwei Stunden folgt.
Sein St. Pauli Tourist Office wurde ja von einem befreundeten Anwohner zur Fußball-WM 2006 gegründet, um kostümierten Jubelpersern wie Olivia Jones endemische Stimmen mitfühlender Vernunft entgegenzusetzen. „Das wahre St. Pauli“, sagt Daniell mit Astra plus Kippe am Hals und beginnt einen Parforceritt durch die Schattenseiten der Glitzerwelt. Nur einmal quert er kurz die Reeperbahn, warnt vorm Nepp der Großen Freiheit, umkurvt wortreich alles, was die Guides in Hörweite feiern und schimpft lieber 20 Minuten am Park Fiction auf Verdrängung, Kommerz, Eventkultur, bevor es über den Hans-Albers-Platz hinter den Kiez geht, wo sich zwischen S/M-Club und Komet auch Einheimische blicken lassen.
Und sein Publikum? Macht alles mit. Auch, weil Daniell jene Standards liefert, für die es 20 Euro pro Person zahlt: den Weg des Gettos dreckiger Berufe zum Spaßviertel, gepflastert mit Störtebekers, Reepschlägern, Hafenhuren, Fußballfans. Instantwissen, versiert verabreicht, rasch vergessen, und man merkt: Nach drei Jahren auf Tour ist er ein empathischer Profi wie Dominik Schönemann. Auch der begrüßt seine Zuhörer, wie sie es von ihm hören wollen: „Moin, Moin erstmal“. So viel Klischee muss erlaubt sein. Die Berliner nicken sodann als er den Startpunkt Landungsbrücken mit acht Millionen Besuchern zu Deutschlands beliebtestem Baudenkmal kürt; die Pfälzer prusten, als er vom Weinberg gegenüber erzählt; die Paderborner kichern, als er die Wallanlagen als Schutz vor „Katholiken wie euch“ im 30-jährigen Krieg lobt; die Schweizerin blinzelt, als er ihr Reiseziel als „eine der ältesten Demokratien der Welt“ lobt. Doch all dies ist eher Häkchenmachen als Herzensangelegenheit.
Zu der wird es erst, als der Guide die Kosten der Elbphilharmonie abfragt. „500 Millionen?“, lacht er den mutigsten Vorschlag des Münsteraners nieder – „Hälfte dazu, dann sind Sie knapp dran“, was er „peinlich für die Freie und Kaufmannsstadt Hamburg“ nennt. Mit der hat Dominik bei aller Liebe viel Last und äußert sie laut: Wenn er die Hafencity „architektonischer Würfelhusten“ nennt, vom Alster-Pavillon abrät oder fragt, wer am Rödingsmarkt aussteigen wolle. Niemand? „Hätte mich auch gewundert.“ Neben einer zerbombten Kirche, die 1872 das weltgrößte Gebäude war, „gibt’s hier bloß Autos“.
Doch nicht nur Verkehr und Steine kriegen ihr Fett weg, auch Fleisch und Blut, vor allem die Haute-Volée, deren Garagen und Baumhäuser am Harvestehuder Weg manch Einfamilienhaus in den Schatten stellten. Halb respektvoll, halb spöttisch leiert der Kleinbürgersohn klangvolle Namen runter. Stich, Sander, Joop, Lagerfeld, dazu Reeder-Erben von Laeisz bis Rickmers. Und erst ein Stück uferaufwärts, wo Napoleon im Angesicht des Sees entzückt „quelle belle vue“ gerufen haben soll, Schönemann grinst, „da leben wirklich die Reichen.“
Nur, dass man von denen nicht laut spricht; eine Frage des Understatements, aber auch des Persönlichkeitsrechts, meint der angehende Anwalt und verfremdet die Anwohner. Der da drüben heiße wie ein ostfriesischer Komiker. Daneben der trinke Kaffee Marke Eigenröstung. Etwas weiter „niest man ins eigene Papiertaschentuch“. Stadtführerhumor als wohlmeinende Infiltration um der Wahrheit willen, dass diese Stadt nicht nur die meisten Bäume, Brücken und eine Börse mit direktem Rathauszugang hat, sondern hinter all der Fassadenschönheit ein Inneres, das vielerorts ums Lebenswerte gebracht wird.
Die Sophienterrassen zum Beispiel, eine „Gated Community mit Concierge und Security für Hamburgs Geldadel“, trägt der Barmbeker genüsslich vor, dessen Lobby mit all ihrer Macht grad ein Flüchtlingsheim verhindert. „Dabei waren es Migranten, die Hamburg groß gemacht haben“, empört er sich, verweist auf St. Pauli und St. Georg, in die Hamburgs Patrizier seit jeher alles Unliebsame von Huren über Galgen abschieben, zitiert noch das Bonmot von Freiheit, die stets an der des anderen endet und siehe da – der Redner erntet Applaus.
Vielleicht wollen Touristen also gar nicht mit Jubelarien beschallt werden. Vielleicht interessiert selbst die Anspruchsloseren leichtes Baedeker-Wissen weniger als schweres vom Gängeviertel, „dessen kreatives Chaos verhindert, dass das Kapital auch dieses Stück City übernimmt“. Um Dominik Schönemann nicht misszuverstehen: Der Mann mit dem akkurat gekämmten Kurzhaarschnitt ist kein linker Ideologe. Er nennt sich „eher bodenständig“, die Berufswahl Jura „was Solides“ und dessen Vorfinanzierung im Doppeldeckerbus für 14 Euro pro Stunde plus Trinkgeld „Berufung“. Deshalb serviert er die Stadt statt filetiert am Stück.
Das ist nicht nur für Ortsfremde nahrhaft. Wer an Fahrern wie dem wortkargen Tarek zu Guides wie dem redseligen Dominik aufs Cabriodeck klettert, versteht seinen Lebensraum fortan ebenso besser wie nach einem Kiezmarsch mit Daniell. Für 18.50 Euro erhält man ja nicht nur nützliches Halbwissen wie jenes, dass die erste Asphaltstraße am Jungfernstieg gebaut wurde und schon 1852 eine „Kinderverwahranstalt“ am Holstenwall. In den Zwischenräumen zweistündiger Highlight-Betankung gewähren gute Guides auch Blicke über den Tellerrand einer Metropole, deren Bewohner die Alster allenfalls zum Dom oder Horner Kreisel queren, als seien ferne Viertel zollrechtlich Ausland wie einst die Speicherstadt.
Da wäre es wünschenswert, die Illusionsverkäufer des Lokalmarketings führen mal Bus mit einem wie Dominik, den es gewiss auch bei anderen Anbietern gibt, deren Zahl 2009 nach wildem Kampf um Marktanteile von zehn auf sieben gesenkt wurde. Sie würden lernen, wie weit sich ihr Handelsobjekt davon entfernt, eine besondere Stadt zu sein. Weil die Dominiks und Daniells ihre Seitenhiebe mit so spürbarer Zuneigung garnieren, erhielten sie einen realistischeren Blick auf Hamburg, der ein nachhaltigeres Lächeln aufs Gesicht zaubert als die Katalogsprache mit Ah- und Oh-Garantie.
Daniells Gruppe jedenfalls nimmt spürbar Anteil, als er vom Kampfgeist erzählt, den seine Nachbarn im Kampf gegen Investorenträume zuweilen an den Tag legen. Und als Dominik drei Gründe sucht, warum Hamburger zum Fischmarkt gehen, antwortet er selber „Besuch von auswärts, eine lange Nacht auf dem Kiez oder Hochwasser, um abgesoffene Touristenautos anzugucken“. Schwer zu sagen, ob das Lachen der Gäste herzlich oder verlegen ist, aber sein Nachsatz sorgt für Erlösung. „Schön ist der Fischmarkt trotzdem“. Recht hat er ja.
Der Advent ist (nicht nur, aber besonders musikalisch) eine Zeit des eskapistischen Wohlklangs. Selbst wenn die Realität jenseits der Lichterpyramide im Fenster gemeinhin klingt wie Einstürzende Neubauten auf Speed, sind viele Wohnzimmer durchdrungen von Harmonie und Eintracht. Da muss man durch, das darf man sogar mögen, man kann sich aber auch ein wenig eleganter einigeln, subtiler, gediegener. Mit Go March. Das Trio aus Antwerpen ermöglicht dem Bedürfnis nach begrenzter Innerlichkeit eine Chance zur wohltemperierten Weltflucht, die dem gewöhnlich verabreichten Weihnachtslied kaum ferner sein könnte und gleichsam atmosphärisch so nah.
Mit breitflächiger Gitarre, mathematischem Schlagzeug und schwelgerischen Synths knüpft das Debütalbum von Philipp Weies, Hans De Prins und Antoni Foscez einen Flokati aus Avantgarde, Emo-Rock und technoidem Ambientnoise, auf dem man die kalten Winternächte geflissentlich verträumen kann, dabei jedoch nicht völlig wegdöst. Dafür fordert jedes der acht instrumentalen Stücke viel zu viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Beiläufig konzentrierter, kann man sich der Illusion weihnachtlicher Eintracht demnach eigentlich kaum hingeben.
Go March – Go March (Unday Records)
Fraktus
Man kann dem infantilen Ernst familienfestlicher Anlässe aber auch ein Breitseite Blödsinn vor den Bug knallen. Wie Rocko Schamoni, Heinz Strunk und Jacques Palminger, deren Fake-Band Fraktus 2012 mit so furioser Dilettanz an der Legende dreier Technopioniere bastelte, dass daraus längst eine zeitlos unterhaltsame urban legend wurde. Schon der Soundtrack von Lars Jessens Mockumentary war allerdings abgesehen vom textlichen Mumpitz viel seriöser als promoted. Wenn sich der Nachfolger Welcome to the Internet also noch weiter vom Filmkontext löst, kann selbst die debilste Pose nicht kaschieren, wie viel Seriosität dem Spaßprojekt innewohnt.
Schon der Titeltrack mag im hunnenenglischen Dada-Duktus daherkommen – die technoide Wave-Peitsche ist nicht nur dank eines virtuosen Querflöten-Breaks von Heinz Strunk schlichtweg zu elaboriert, um bloß plumper Quatsch zu sein. Und auch wenn sodann lispelnd von Flugzeugen aus Gelee und Cousins aus Suppe gefaselt wird, wenn Reime ausbleiben, wo sie hingehören, und prasseln, wo sie stören: Viele der elf mehr oder weniger wunderbaren Stücke glitzern verspielt zwischen Dorau, Daft Punk und – genau: Fraktus, der großartigsten Band, die gar keine ist.
Fraktus – Welcome to the Internet (Staatsakt)
Bernd Begemann
Der großartigste Superstar, der gar keiner ist, ist Bernd Begemann. Bis in die brillantinierten Haarspitzen bourgeois und bohemistisch, aber selten elitär, singt der BoBo schlechtin seit nunmehr 30 Jahren unverdrossen an gegen das Ungerechte und Schlechte, das Spießbürgerliche, Kapitalistische, Böse und ist doch allenfalls ein kleines Licht am hiesigen Pophimmel. Wenn er seinen gefühlt 500 Songs nun also Eine kurze Liste mit Forderungen hinzufügt, dürfte davon abgesehen von einer überschaubaren Schar Unentwegter kaum jemand Notiz nehmen. Schade eigentlich.
Denn wie er auf seiner 22. Platte gleich 28 Mal zum gewohnt schmissigen Bigbandkammerrock von Reife und Würde im Urbanen berichtet, vom schwierigen Vatersein und Vergeben, von St. Pauli natürlich, dem hübsch versifften, potthässlich polierten Stadtteil Hamburgs, der den schönen Bernd aus Bad Salzufflen zum Meister des Rotlichtviertelswing reifen ließ, dann ist das wie immer ein besonderes Stück Unterhaltung. Sicher, zu Beginn denkt man sich als Kenner der Materie: alles schon gehört, keine neuen Facetten, nur die alten aufgemöblet, aber was soll’s – wenn der König bodenständiger Arroganz an die Tage erinnert, als wir beide gemütliche Beziehungsprobleme hatten / dieser Luxus muss jetzt warten, möchte man mitwarten, Stück für Stück. Bis in alle Ewigkeit.
Am heutigen Donnerstag wird einer der größten Schauspieler deutscher Sprache 85 Jahre alt: Armin Mueller-Stahl (Foto: Matthias Schindler). Vom Defa-Film übers westdeutsche Autorenkino bis hin nach Hollywood hat sich kaum ein Kollege auch international vergleichbare Reputation erarbeitet wie der gebürtige Ostpreuße. Zum Geburtstag dokumentieren freitagsmedien ein Interview, dass er zu einem ARD-Porträt vor sieben Jahren gab.
Interview: Jan Freitag
Herr Mueller-Stahl, Sie sind Künstler auf vielen Ebenen. Welche ist Ihnen die liebste?
freitagsmedien: Die Schauspielerei immer weniger, die Malerei immer mehr und mit meinem Geigenspiel verblüffe ich eigentlich nur noch, weil ich eher mit ihr spreche, als auf ihr zu spielen.
Sie sagten unlängst, die Kunst sei tot. Ist sie das, weil in ihr alles erlaubt ist?
Ja, leider ist alles erlaubt und ich sage das deswegen mit dieser Einschränkung, weil dadurch mit ihr und durch sie auch viele Fehler entstehen. Verherrlichung von Kriegen, Verherrlichung von Monstern, Verherrlichung von Diktatoren; das empfinde ich als absolut verkehrt, denn Kunst hat wie die Kultur insgesamt ein brückenbauendes Element in sich. Zerstörerische Elemente gehören aus meiner Sicht in den Krieg, nicht in die Kunst. In diesem Rahmen ist in der Kunst alles erlaubt, Kunst lebt nicht von Verbotsschildern.
Ist Deutschland aus Ihrer Sicht immer noch das Land der Dichter und Denker?
Ich kann das nur bestätigen. Deutschland war schon immer das Land der Dichter und Denker, so wie auch Russland eines war und viele andere Länder auch. Das macht ja nicht an einer bestimmten Grenze Halt und an keiner Schublade. Natürlich können wir stolz sein auf eine Kultur zu einer bestimmten Zeit, wo Dichter, Denker, Kultur ein Land noch prägen konnten. Heute haben das die Medien übernommen und die sind aus meiner Sicht nicht gerade denkend, sondern im Gegenteil: Gedanken wegwerfend in den meisten Fällen. Das liegt an ihrer Schnelllebigkeit. Die Medien richten sich vor allem nach dem allgemeinen Geschmack derjenigen, die – wenn ich das so sagen darf – nicht so gebildet sind, um die Quoten jeder Art in die Höhe zu treiben.
Die Medien bilden also keinen Geschmack…
… sondern verbilden ihn. Ich will damit sagen: auch ein Gehör kann sich ebenso bilden wie verbilden. Spiele ich jahrelang auf einer verstimmten Geige, verbilde sich mein Gehör und ich höre die Intonation nicht mehr richtig. Genau so verhält es sich mit dem Geschmack: Wenn ich dem Publikum zur Unterhaltung permanent Kitsch serviere, verbildet sich auch sein Geschmack. Der Reich-Ranicki hat es genau richtig formuliert: Die Medien unserer Tage machen den Klugen klüger und den Dummen dümmer.
Welche Rolle spielt das Fernsehen in diesem Zusammenhang.
Die entscheidende Rolle. Wenn es nur ernste schöne Dinge gäbe, wobei ernst durchaus komödiantisch sein kann, wenn es also nur niveauvolle Sachen gäbe, würden sich die Leute schon was ausdenken.
Jetzt feiert Sie das Fernsehen als einen der bedeutendsten Künstler. Teilen Sie diese Sicht oder sind Sie einfach nur einer der bekanntesten in Deutschland?
Also das mit den bekanntesten stimmt schon mal nicht. Und was die Bedeutung betrifft: Diese Frage ist ja kein Hundertmeterlauf mit einer Zielankunft und messbaren Sekundenabständen. Man wird, was mich betrifft, sicherlich honorieren müssen – und das ist ja schon mal was –, dass ich in meinem Alter noch immer am Laufen bin, immer noch beschäftigt und im Gegenteil, derzeit mehr Angebote habe, als ich eigentlich möchte, denn im Grunde will ich gar nicht mehr so viel drehen wie zuvor. Aber dem das Prädikat „bedeutend“ zu verleihen obliegt sicherlich nicht mir. Und wem obliegt es überhaupt? Wer macht das? Das ist doch alles zutiefst nebulös. Aber man hält mich da offenbar für würdig und ich sehe, dass ich in Amerika einen ganz guten Ruf als Profi habe. Einen besseren vielleicht, als ich es verdiene. Aber den habe ich mir erarbeitet, indem ich den Beruf stets so ernst genommen habe, wie es irgend geht. Ich habe nie versucht, leicht zu Geld zu kommen und immer aufgepasst, was ich tue.
Fühlt man sich denn tatsächlich gewürdigt durch so eine Hommage oder auch ein wenig ausgeschlachtet?
Das müssten Sie die Macher fragen. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass ich dieses Porträt gar nicht will, weil es bereits ein sehr gutes über mich gibt: von Gero von Böhm – nehmen Sie das! Aber die ARD wollte es anders machen, es soll in den Mittelpunkt einer Reihe gerückt werden, um meinem Bereich ein Gesicht zu verleihen. Nun gut, dann habe ich es gemacht, weil mir sehr herzliche Briefe geschrieben wurden, um mich zu überzeugen. Ich habe es dann zur Bedingung gemacht, mich relativ unbehelligt zu lassen. Sie haben mich dann bis auf die Interviews weitestgehend in Ruhe gelassen und ansonsten viel Schnittmaterial und O-Töne anderer verwendet. Aber ob das nur eine Würdigung ist – um halb zwölf in der Nacht, wenn der Film gezeigt wird? Weiß ich nicht… Das steht in den Sternen. Aber ich bin ja in einem Alter, das man als Endspurt bezeichnen könnte. Was meinen Sie denn, was, wenn der Sargdeckel zuklappt, noch zählt: Nothing!
Das klingt jetzt, als sei Ihnen die Sendezeit doch egal.
Nein, ich finde sie nicht schön. Wenn man das schon mit sich machen lässt, sollte es auch einen besseren Platz haben. Ich habe den späten Sendeplatz gerade erst erfahren. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mich vielleicht gar nicht… obwohl, wer weiß. Wollen wir sehen, ob ich auch um diese Zeit ein paar Menschen glücklich damit mache. Es sieht doch gut aus, was die gemacht haben.
Das Publikum und die Kritiker eines Landes neigen ja dazu, seine internationale Prominenz für eine nationale Sache zu vereinnahmen. Und sei es nur auf künstlerischer Ebene. Lassen Sie das mit sich machen?
Was heißt denn „nur“ auf künstlerischer Ebene? Dieses nur ist doch eine falsche Einschränkung, denn worauf sind wir denn letzten Endes stolz in Deutschland. Doch nicht auf Hitler, auch wenn er immer wieder vorkommt, weil es Quote bringt. Bismarck kommt da schon seltener vor, weil er keine so großen Gehässigkeiten abgeliefert hat, war aber sicherlich einer der größten deutschen Staatsmänner. Wir sind aber stolz auf Goethe und Schiller und die Kultur der Dichter und Denker, die Sie vorhin erwähnt haben. Wir sind stolz auf Beethoven, auf Mozart, sogar auf Arnold Schönberg. Das Zeitalter der Medien ist allerdings nicht mehr stolz auf Kultur, sondern nur darauf, die Tagespolitik mit guten Quoten zu befriedigen. Das ist allerdings sehr kurzlebig. Und wir haben es nicht geschafft, mit Langzeitgedanken, mit interessanteren Dingen zu fesseln.
Interessant nach Ihren oder allgemeinen Kriterien?
Das muss nicht nach meinen Geschmack gehen. Mit 18 konsumiert man Medien anders als mit 25, 30, 50 oder 80. Alle Geschmäcker wollen befriedigt sein, aber doch bitte nicht auf eine so dumme Weise wie es derzeit geschieht. Wie auch in der modernen Kunst übrigens. Wo ein Künstler blutige Tampons zusammenfügt und teuer verkauft, liegt etwas schief. Es gibt halt überall Oligarchen mit viel Geld für, aber wenig Ahnung von Kunst. Die kaufen alles und verkünden ihren guten Geschmack. Das ist Quatsch, das sind kurzfristige Verkaufsmechanismen. So gesehen ist die Kunst doch tot.
Wo hört denn ihr Verständnis im Fernsehen auf: bei Castingshows, bei Eventfernsehen, beim Boulevard?
Im Fernsehen sind die Monster noch immer in der Mehrzahl und nicht die Humanisten, die Krieger, nicht die Brückenbauer. Aber wissen Sie, ich bin da kein guter Gradmesser, weil ich recht wenig fernsehe. Ich schaue mir in der Regel die Kulturzeit bei 3sat an, die Nachrichten und dann mach ich aus. Gelegentlich sehe ich mir ein Konzert oder Tierdokumentationen an. Und in den USA sehe ich gern Charlie Rose an, einen wunderbaren Moderator und Talk-Host, klug, alle Gäste sehen gut aus bei ihm und da sieht man eine riesige Spannbreite. Von Politik bis in die Kunst wird dort alles bedient auf eine sehr widersprüchliche Weise, die immer auch der Gegenposition Raum bietet. Das empfinde ich als hochinteressant. Fernsehen ist derzeit nicht gerade das, was mich am Leben erhält. Das ist vielleicht auch altersbedingt, ich lese lieber ein Buch oder höre gute Musik. Und auch das ist breit gefächert: ich mag einen guten Jazz ebenso wie den Grönemeyer.
Ein Künstler in der ARD-Reihe ist Jonathan Meese. Was halten Sie von dem?
Den kenne ich zu wenig, aber er ist momentan ungeheuer in und der Baselitz hat Recht: er ordnet sich nicht in die große Gruppe derjenigen ein, die das machen, was sie gelernt haben, sondern er tut gerade das, was er nicht gelernt hat. Das ist zunächst mal ein guter Approach. Und wenn er damit Erfolg hat, heißt das nicht, dass es sich ewig verkauft, aber dass er hoffentlich einen Weg gefunden hat, mit dem er zufrieden ist.
Wenn man wie Sie auch international bekannt, insbesondere in den USA, macht das wählerischer in Bezug auf die Rollenauswahl in Deutschland?
In gewisser Weise war ich immer wählerisch, sonst hätte ich ja die Schwarzwaldklinik gespielt, für die ich auch im Gespräch war, oder den Alten. Oder Dieter Wedels Bellheim, den später der Mario Adorf mit großem Erfolg verkörpert hat. Ich habe mich aber für The Power of Run in Amerika entschieden. Wählerisch war ich immer. Das heißt aber nicht, immer richtig gelegen zu haben. Die Nase geht eben nicht immer konform mit der Zukunft. Nach Avalon hätte ich mir 1990 aussuchen können, was ich wollte. Es lag alles auf dem Tisch, aber das meiste war Scheiße. Ich habe mich viel geirrt im Leben, aber auch zehn, elf, zwölf Mal nicht.
Zum Beispiel?
Es waren meisten Doppelpacks: Avalon und Musicbox, Oberst Redl und Bittere Ernte, Faust und Mephisto. In einem Jahr den Chef einer jüdischen Familie und einen War-Criminal – das klafft ganz schön auseinander.
Gab’s mal eine Rolle, die Sie richtig bereut haben.
Ja, gewiss, aber das führte jetzt zu weit.
Der Serienkommissar stünde eigentlich noch an – als Altenteil quasi für altgediente Schauspieler.
Ganz sicher nicht, es hat sich auskommissart. Ich sollte mal den Alten spielen, das habe ich damals nicht getan.
Haben Sie darüber nachgedacht?
Ja, das habe ich. Damals bestand durchaus noch ein Wunsch nach Sicherheit und man hatte mir für deutsche Verhältnisse eine hohe Gage angeboten zu einer Zeit, als es nicht gänzlich gesichert war, immer meine Brötchen auf den Tisch zu kriegen. Trotzdem habe ich abgesagt; jetzt immer noch zu fragen: „Was haben Sie gestern um halb sieben gemacht“ – das wäre mir doch zu wenig. Aber Götz George ist ja auch darüber hinweg gekommen. Ich halte ihn wirklich für einen großartigen Schauspieler und meine, er würde es verdienen, deutlicher über den Schimanski hinaus wahrgenommen zu werden, für seine Charakterrollen, die er ja gespielt hat. Ich wünsche ihm wirklich alles Gute und bin sehr glücklich, dass wir Schauspieler wie ihn haben.
Als Helene Fischer kürzlich zur allerbesten Sendezeit zwei Stunden lang kostenlos ihr Weihnachtsalbum in der ARD bewerben durfte, zeigte sich die Schlagerpopqueen erneut als Opfer und Täter einer gnadenlosen Branche, der im Adventsprogramm unmöglich zu entgehen ist. Nächster Streich: Die Helene-Fischer-Show (Foto: ZDF/Ludewig) am 1. Weihnachtsfeiertag, noch so eine Dauerwerbesendung in der werbefreien Zeit des ZDF.
Von Jan Freitag
Es ist womöglich nur Gerede, Gemunkel, Geschwätz, aber es hält sich doch zäh wie so vieles, das durch die Gerüchteküche wabert: Kommende Woche, an einem Dienstagabend zwischen Mitternacht und drei Uhr früh soll es angeblich im deutschen Vorweihnachtsprogramm ein kleines Zeitfenster von mehreren Minuten geben, in dem Helene Fischer weder singt noch tanzt, moderiert oder sonstwie am Bildschirm zu sehen ist. Gewiss, das scheint bei genauerer Betrachtung mehr Tratsch als Tatsachenbericht zu sein. Aber falls ihnen der Frieden im Land wirklich am Herzen liegt, wären die Spitzen aus Politik, Kultur und Wirtschaft gut beraten, ihm nachzugehen.
Sonst droht der offene Aufruhr.
Helene Fischer nämlich, das zeigen bereits oberflächliche Recherchen im Medienland, ist derzeit ähnlich präsent wie Angela Merkel zu Krisenzeiten oder Joko & Klaas bei Pro7, also eigentlich ständig. Was immer Anfangsdreißigerin anfasst, macht ihr biegsames Organ aus einem biegsamen Resonanzkörper zu Gold, Platin, Kryptonit. Wenn Fräulein Fischers Management ein neues Album errechnet, wird es schon Monate im Voraus als Top-News aller Suchmaschinen vermeldet. Wenn es eins mit Weihnachten drauf ist, engagiert es dafür das Royal Philharmonic Orchestra im Londoner Abbey Road Studio. Wenn Florian Silbereisen sodann zum Adventsfest der 100.000 Lichter ins Erste lädt, räumt er seiner Liebsten dafür reichlich öffentlich-rechtliche Werbezeit nach acht frei.
Weil das der Reklame noch immer nicht genug war, schenkte die ARD ihrem Zugpferd vor zwei Wochen gleich noch zwei weitere Stunden zur besten Sendezeit. Als das konkurrierende ZDF kurz darauf mal wieder samstags im Schulterschluss mit der Springer-Presse sein Herz für Kinder zeigte, half Helene Fischer selbstredend am Telefon mit, das Ansehen ihres Aufmerksamkeitsmultiplikators Bild aufzupolieren. Sie zeigt sich bei Jauch, auf dem Traumschiff, in der Sesamstraße, und falls Fischers PR-Stab sein Premium-Produkt gern abseits ihres süffigen Kerngebiets prominent platzieren will, dann in Til Schweigers Bombast-Tatort am Neujahrstag, kurz nachdem sie abermals zur Helene Fischer Show ins Zweite geladen haben wird – ein Starauflauf sondergleichen, produziert von der Kimmig Entertainment GmbH, der auch die Verleihung jener Branchenpreise von Bambi bis Echo unterliegt, mit denen Helene Fischer seit zehn Jahren überhäuft wird.
Nach dem dauernden Alltagsbeschuss der Schlagerpopqueen, wird ihr Sperrfeuer gen Fest also langsam ein Fall für die Genfer Konventionen. Man kommt an der Frau nicht vorbei. Niemals. Nirgendwo. Es ist ein Rätsel. Und auch wieder keins. Denn als Flüchtlingskind der kriegskalten Achtzigerjahre müsste Jelena Petrowna Fischer aus dem sibirischen Krasnojarsk den rassistischen Lügenpressekrakeelern von Pegida bis AfD eigentlich ein Dorn im germanisch blauen Auge sein – wäre die schöne Helene nicht so deutschrussisch blond und wohlgeformt, zudem ein Musterbeispiel gelungener Assimilation an die hiesige Leitkultur, die so selig von den Schönheiten der eigenen Art singen vermag und dabei alle Sorgen zuhause lässt.
Denn von denen will Helene Fischer nichts hören. Interviews mit ihr sind Lehrstunden in Arglosigkeit, bei denen hinterher alles als ungesagt gilt, was das glattgebügelte Image auch nur oberflächlich anrauen könnte. Ein kleiner Satz zur eigenen Überpräsenz? Gestrichen! Ein offenes Wort zur Last der Berühmtheit? Raus! Selbst ihre Aussage, sie halte sich aus Debatten wie der um die völkischen Brachialrocker Freiwild raus: Nicht freigegeben. „Professionell zu liefern, was erwartet wird, zählt zu meinem Beruf dazu“ – so viel immerhin durfte sie am Ende des Gesprächs zu ihrer Moderation des letztjährigen Echos gesagt haben über eine Industrie, in der Helene Fischer Objekt und Subjekt zugleich ist, Täterin und Opfer, stinkreich und bettelarm in einem. „Ich muss mich auf der Bühne für nichts verbiegen“, sagte die gelenkige Multifunktionschiffre für nahezu jedes Publikumsinteresse vom feuchten Teenagertraum bis zum Fernsehsessel im Seniorenstift noch. Sie glaubt das vermutlich selber.
Ganz gleich, ob in Deutschland oder der großen, weiten Welt – fiktionale Film und Fernsehfiguren werden chronisch durch ungewöhnliche Oldtimer oder anderweitig verrückte Autos aufgehellt. Angesichts der breiten Masse stinknormaler Gebrauchsfahrzeuge ist das mindestens: Merkwürdig
Früher, als die Bilder noch schwarzweiß liefen, waren Pferdestärken nach Schicht verteilt: der Pöbel fuhr Käfer, der Bonze Benz und auch andernorts variierten die Vehikel strikt zwischen dick für oben und dünn für unten. Dann aber, in den materialistischen Eighties, raste ein Bulle namens Crockett im eigenen Ferrari durch Miami und die Regeln klassenspezifischer Motorisierung schienen außer Kraft gesetzt. Mit dem Ergebnis, dass Pkw nun kein authentizitätsstiftendes Requisit mehr sind, sondern Distinktionsmerkmal schlechthin. Mit den absurdesten Folgen.
Denn wer sich durchs Regelprogramm herkömmlicher Kanäle zappt, stößt unentwegt auf Figuren von göttlichen Medizinern bis fidelen Nonnen, von spät verliebten Sekretärinnen bis früh vergreisten Witwern, die ihre Bürgerlichkeit mit total krassen Kisten aufmöbeln. Da parken gewienerte Oldtimer mit Quietschlackierung vor der Reihenhaussiedlung, als drehe die Degeto nur in Beverly Hills, wo es doch meist Suhl ist oder Südschweden. Seltsam. Aber nachvollziehbar.
Denn während Charaktere und Storys handelsüblicher Schmonzetten den Glanz einer Schrankwand in rustikaler Eiche versprühen, konterkarieren Requisiteure die dramaturgische Tristesse besonders in den Auto-Nationen BRD und USA gern mit exaltierten Kraftwagen. Nur Sonnys Testarossa in Miami Vice – der wäre deutschen Produzenten dann doch zu drüber; da fährt Christine Neubauer doch bloß Mini in Pink mit Rennstreifen. Crazy Biedermeier.