Nachdem die erste EM-Woche besonders durch Bilder geprägt war, bleibt die zweite eher im Ohr haften – und das nicht nur, weil Bildschirmgeräusche jeder Temperatur am Freitag auf der FilmTonArt endlich mal ausreichend gewürdigt wurden. Kurz bevor zeitgleich der Jubel des Brexit-Lagers samt Wehklagen ringsum bis München drang, gab es für Hörseher allerlei Erstaunliches zu hören. Dem isländischen Reporter des Spiels gegen Österreich etwa entlockte der Sieg seiner Landsleute Laute wie auf einer effizienten Swingerparty. Bela Réthys süffisanter Sportpatriotismus dagegen machte nicht mal vorm deutschen Schiedsrichter Halt, dem das ARD-Fossil selbst krasse Fehlentscheidungen nationalstolz nachsah, während der sexistische Furor gegen Claudia Neumann nicht so klang, als hätte die erste Frau ein deutsches Länderspiel kommentiert, sondern gefordert, Pädophilie zum Schulfach zu machen.
Frauen im Fußball sind halt noch immer so irritierend wie Fußball auf Sat1 oder Fernsehen ohne Götz George. Das kaum messbare Interesse an den sechs EM-Partien, die dort aufgrund der Parallelität finaler Gruppenspiele liefen, zeugen jedenfalls davon, dass der Sender mit dem Ball sportaffine Zuschauer mindestens so sehr verwirrt wie all die Dialoge hinter vorgehaltener Hand, mit denen Trainer vieler Nationalmannschaften – warum auch immer – verhindern wollen, von professionellen Lippenlesern entlarvt zu werden.
Aber auch in der Politik, die angesichts des britischen Referendums auch diese Woche noch in Schockstarre verbringen wird, irritieren Frauen weiterhin selbst progressive Medien wie die Tagesschau. Der nämlich war vor Wochenfrist zu entnehmen, Virginia Raggi werde Roms „erste weibliche Bürgermeisterin“. Verrückt, nach all den männlichen Bürgermeisterinnen zuvor. Es bleibt dabei: Die Herren der Schöpfung und ein paar servile Damen an ihrer kernigen Seite wollen deren weibliche Geschlechtsgenossinnen nicht am Mikro sehen, sondern am Herd. Damit der treusorgende Ehemann nach Feierabend was Warmes auf dem Tisch hat und saubere Kinder zur Seite. Wenn die denn nicht gerade entführt, geschändet, vernachlässigt werden.
Zu ihrem elften Geburtstag bekommt Annika ihren geliebten Hund “Tabs” geschenkt. Foto: Martin Czernik
Die Frischwoche
27. Juni – 3. Juli
Wer Mittwoch Aktenzeichen XY sieht, könnte nämlich den (falschen) Eindruck gewinnen, Gefahr drohe Minderjährigen nicht durch Autoraser mit mutiertem Y-Chromosom oder falsche Ernährung, für die immer noch mehrheitlich Trägerinnen des intakten XX-Satzes zuständig sind, sondern durch Fremde mit finsterem Blick, die womöglich jene „fünf mysteriösen Fälle“ verschwundener Kinder verantworten, denen Rudi Cerne zur besten Sendezeit auf die Spur gehen will. Das klingt löblich, nährt aber einen fatalen Trend: die Zahl kapitaler Delikte von Mord bis zur Gewalt von und an Jugendlichen befindet sich seit der Wende nahezu durchweg im Sinkflug. Telegene Panikattacken wie XY jedoch sorgen unbeirrt dafür, dass die Bevölkerung mehrheitlich vom Gegenteil überzeugt ist. Gerade Kinder ziehen dabei immer. Geigen drüber, Augen auf, Quote hoch, fertig.
Immerhin ist zwischen Achtel- (bis Montag) und Viertelfinale (ab Donnerstag) gewiss, dass die Sendung auch läuft. Solang unklar ist, wer wann wo gegen wen spielt, lohn sich ansonsten nur dann ein abendlicher Tipp, wenn man auf die Sparte ausweicht. Arte zum Beispiel reist ab heute um 19.30 Uhr durch Italien, meine Liebe und zeigt es – angefangen in Kalabrien – täglich eine Dreiviertelstunde von seiner wirklich apartesten Seite, ohne seifig zu werden. Etwas Ähnliches gelingt im Anschluss mit der Donau, die 3sat sechs Teile am Stück von der Quelle über Eiserne Tor bis ins Delta erkundet.
Weniger idyllisch, dafür umso realer wird es um 22.45 Uhr in der ARD, wo das FilmDebüt im Ersten mit Ester Amramis Erstlingswerk Anderswo um eine Israelin in Berlin auf der Suche nach ihrer Identität. Noch realer, dazu nicht fiktional ist die kompromisslose Dokumentation Florence Fight Club, mit der EinsFestival am Mittwoch um 15 Uhr dem Calcio Storico auf den Grund geht, einer regellosen Form des Fußball, die einmal jährlich ihr bisweilen blutiges Welttreffen Treffen in Florenz feiert. Und tags drauf zeigt Arte das furiose Finale der dänischen Serie Die Erbschaft. Macht große Lust auf die zweite Staffel…
Bis dahin muss man sich in fußballgesättigter Zeit mit den Wiederholungen der Woche begnügen. In Farbe wären das zwei gänzlich verschiedene Filme zweier Epochen: Montag auf EinsFestival (20.15 Uhr) Ein Fall für Pink, Benedict Cumberbatchs erster Fall als Sherlock, in dem die Dominanz des Fernsehens übers Kino endgültig besiegelt wurde. Aus der Blüte des Kinos stammt der morgige Musikklassiker Flashdance auf SuperRTL mit Jennifer Beals als tanzende Schweißerin anno ‘82. What a Feeling! Das auch schwarzweiße Tipps entfachen: Der Kriegsthriller Saboteure (Montag, 20.15 Uhr, Arte) etwa, mit dem Hitchcock 1942 sein Markenzeichen der Suspense begründete. Und danach beim MDR (22.05 Uhr) ein Klassiker politischer Unterwanderung im Unrechtsstaat: Spur der Steine mit Manfred Krug als renitenter Brigadier Balla von 1966 mit anschließender Dokumentation zum Film.
Nein, geschmeidig klangen Deerhoof noch nie in ihrer episch langen Bandgeschichte. Seit sich Rob Fisk und Greg Saunier 1994 vereinigten, lag da immer ein dekonstruktivistisches Scheißegal überm Indierock, der mit Noise noch harmonisch umschrieben wäre. Zugleich jedoch verströmte das erste Dutzend Platten zwischen all den windschiefen Gitarrenriff-Karikaturen und implodierenden Beatgewittern oft eine Anmut, als wollten sie gefällige Liebeslieder schreiben, seien aber leider grad voll des Hasses für ihre Angebeteten. Das lag an der Bassistin Satomi Matsuzaki, die das Soundchaos über Sauniers abstrusen Drums entrückter, fragiler, rissiger sang. Schwer zu glauben also, dass der Widerspruch noch wachsen könnte. Aber er kann.
Das neue Album The Magic ist ein so hinreißendes Durcheinander, dass Lieder darin eigentlich kaum noch auszumachen sind – einfach weil jedes Fragment der tausendteiligen Songstrukturen für sich genommen schöner, reichhaltiger, grandioser ist als so manche Rockhymne, die ernster gemeint ist, jedenfalls ernster auf Hörbarkeit getrimmt. Ein prima Beispiel ist das Track-Doppel in der Mitte, nach dem Garagenbeachpunkgeschrammel Dispossessor flötet Matsukaki das anschließend dahinplötternde I Don’t Want to Set the World on Fire fast unbegleitet in Höhen, wo sie nicht hinsingen kann, was ihr aber herzlich egal ist. Liebe muss so schön sein, wenn sie den ganzen Emokram mal weglässt…
Deerhoof – The Magig (Altin Village & Mine)
Throws
In den ewigen Weiten dessen, was vor Urzeiten mal Weltmusik hieß, ist Sam Genders ein Magier des lässigen Grenzgangs. Mit Tunng digitalisierte der Brite einst den Ethnosound nordischer Prägung von London aus zur Folktronica. Später erweiterten seine Diagrams das Genre um Beats und Bläsersamples zum Artpop. Nun hat er seinen ausgewanderten Tunng-Kumpel Mike Lindsay in Reykjavík besucht und dort etwas ungemein Erfrischendes entdeckt: den gepflegten Unsinn. Auch ihr gemeinsames Projekt Throws wird vom tiefenentspannt souligen Falsett ihres singenden Songwriters geprägt; dazwischen aber sprudeln die irrsten Ideen aus dem gleichnamigen Debütalbum.
Das herrlich überdrehte Schlagzeug des isländischen Trommelderwischs Magnús Trygvason Eliassen zum Beispiel oder die Synthesizer eines Landsmanns, der im Studio nebenan gerade zufällig sein Talent zur pittoresken Disharmonie durchhören ließ und einfach mal ad hoc ins Demotaperecording gebeten wurde. Wenn in Stücke wie Play The Past eine verstimmte Ricky-King-Gitarre unters plätschernde Alleinunterhalterorgelambiente perlt, klingt das zwar zuweilen leicht nach Phil Collins in Bermudashorts. Aber es klingt eben fantastisch. Und die Videos dazu – deluxe!
Throws – Throws (Full Time Hobby)
.Klein
Musikalische Referenzen sind meist eine recht ambivalente Angelegenheit. In Form von Coverversionen können sie das Original zum Beispiel billig kopieren oder es kreativ auf die Spitze treiben, als Sample stumpf die Erfolgspfade anderer austrampeln oder aber eigene Felder fruchtbar machen. Wer die Anleihe ans Bestehende mit wirklich echter, glaubhafter Hingabe verwaltet, formt daraus dann durchaus mehr als Plagiate. Hingabe ist es auch, die den Multiinstrumentalisten Lutz Nikolaus Kratzer antreibt, um aus existierenden Sounds ein Album wie Bengal Sparks zu filtern.
Stilistisch fröhlich inkonsequent legt der Hamburger darauf unter dem Namen .KLEIN seine Funkschleifen über Streichersequenzen und garniert sie mit Hip-Hop, Americana, Indietronic, was immer aus ihm heraus sprudelt. Auch auf seinem dritten Album kann es da passieren, dass Rihanna nach Cake klingt wie im furiosen Nicotin Princess. Oder dass Präriegras durch den New Yorker Underground weht, wenn er für Low Rider den Irrsinn der Beastie Boys schreddert. Im anschließenden Track Pancake Man entsteht gar der Eindruck, Pfannkuchenmänner könnten Banjo spielen. Groß denken, .KLEIN heißen – hinreißender kann man sich kaum bei anderen bedienen.
.Klein – Bengal Sparks
Hype der Woche
Rick Astley
Es gibt da eine Legende im Musikzirkus: Wer eine LP von Jason Donovan auf 45 laufen ließ, bekam Kylie Minogue zu hören, was umgekehrt galt, wenn man die auf Single auf 33 drosselte. Alles ein Brei, den die späten Achtziger als Dancepop servierten. Was jedoch bei entstellter Geschwindigkeit aus Rick Astley geworden wäre, ist nicht überliefert. Wer auch immer sich 1987 sein Debütalbum Whenever You Need Somebody nebst zugehöriger 7# Never Gonna Give You Up gekauft hat, hat exakt einmal reingehört und dann beides in den Müll geworfen, so strunzblöde klang das Vinyl ohne Ricks Tanzschritte und viel buntem Likör intus. Man muss das wissen, wenn der Fastschotte nun sein Comeback feiert. Denn natürlich ist die Platte mit seiner Altersangabe 50 im Titel gereift. Natürlich steckt da Altherrensoulpopt drin, gepaart mit Lebensweisen, was er alles richtig oder falsch gemacht hat. So what? Will man das von jemandem hören, der einem im Idealfall scheißegal war, meist aber eher peinlich? Kann man, weil sein gepresstes Stimmdunkel nun altersgemäß angenehm klingt und der Sound ringsum versiert. Muss man aber auch nicht, dafür gibt es schon genug baugleiche Expopstars, die schon immer ganz gut klangen.
Heute Abend zeigt Arte Domink Grafs preisgekröntes, auch international gepriesenes Historienmelodram Die geliebten Schwestern über die Dreierliebe des Dichters Friedrich Schiller. Dabei ist Deutschlands zurzeit wohl bester Regisseur (Foto: Gerhard Kassner/Berlinale) eigentlich auf was ganz anderes gebucht: TV-Krimis, manchmal sogar skurrile wie Die reichen Leichen, mit denen er vorigen Oktober sogar mal absurden Humor bewies. Ein Gespräch übers Fernsehfilmemachen, Streamingdienste, seine Jugend im Internat und warum die Villenviertel der Reichen so sehr für Filmmorde taugen.
Interview: Jan Freitag
Herr Graf, Die geliebten Schwestern ist ein Historienepos ohne Ermittler fürs Kino, womit Sie ihrem geliebten Fernsehkrimi also gleich doppelt untreu geworden sind. War das Exkurs oder Kurswechsel?
Dominik Graf: Weder noch. Der Polizeifilm ist schon mein Heimat-Terrain, aber ich hab immer Ausflüge in Literaturverfilmung und Liebesfilm unternommen. Und am Ende ist das Kino gegenüber dem Fernsehen lediglich mehr Budget. Andererseits bietet Fernsehen oft die Möglichkeit zu kleineren Filmen ohne Förderung. Das sorgt auch für künstlerische Freiheit.
Sehen Sie als Kreativer den Start des Streaming-Dienstes Netflix da eher als Chance oder Bürde fürs Filmemachen?
Erstmal als Chance. Man muss halt sehen, was es für Inhalte gibt und wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen darauf reagiert. Vielleicht kann Netflix dann ein Regulativ sein, damit das alte TV sich auf seine Stärken besinnt.
Sie würden im Zweifel auch fürs Internet arbeiten?
Kein Problem. Solange es am Ende eine DVD gibt, die ich in Händen halten und mit nach Hause nehmen kann, ist mir das völlig egal.
Wofür arbeiten Sie denn als nächstes – Fernsehen, Kino, Internet?
Ich mache erstmal eine Dokumentation fürs Fernsehen, über den gestorbenen Journalisten Michael Althen, mit dem ich befreundet war. Ein Polizeiruf ist gerade fertig. 2016 kommt ein LKA-Thriller über deutsche Zielfahnder, die geflohene Straftäter im Ausland verfolgen.
Klingt nach dem Testballon einer Reihe.
Das könnte durchaus sein.
Wer dagegen Ihren Krimi Die reichen Leichen sieht, in dem es um den Mord an jemandem geht, der sich für König Ludwig hält, fragt sich als allererstes: Was haben Sie bloß gegen die Menschen am Starnberger See?
Gar nix. Ich finde sie in der Verteilung von sympathischen, einsamen, skurrilen, fröhlichen, traurigen, glamourösen Figuren eigentlich sogar sehr angenehm. Den Gegensatz von finanzieller Goldküste und sozialen Härten im Umfeld des örtlichen Tourismuswahnsinns darzustellen, sollte also gar niemanden verunglimpfen. Im Gegenteil.
Der Eindruck, es wimmelt dort nur so von Freaks und Bonzen, ist also ein falscher?
Absolut – obwohl der erfahrene Polizist seiner jungen Kollegin gleich zu Beginn erklärt, das Klischee von den besoffenen Schnöseln stimme. Wenn man nur an der Oberfläche verbleibt, kann man das natürlich so sehen. Aber unter dem Offenkundigen leben ganz andere Facetten. Dafür muss man bloß mal in die Häuser hinein, statt sie nur von außen zu bestaunen.
Wie tief drin waren Sie denn vorm Dreh – kannten Sie die Gegend bereits?
Na ja, für Münchner ist der Starnberger See der kürzeste Weg zum nächsten Wasser und somit so was wie die städtische Datscha. Ich kenne die Gegend von Kindesbeinen an und war im Sommer mindestens dreimal die Woche dort.
War ihr Bild als Internatskind einer Künstlerfamilie also realistisch oder klischeehaft?
(lacht) Mein Blick war authentisch, aber das Klischee ist es ja auch. Wissen Sie, wir sehen da einen Ort, der vor 100 Jahren zum Tourismussziel verkommen ist und trotz all der Millionäre Mühe hat, genug Steuern einzutreiben. Diesen Querschnitt stellt Autor Sathyan Ramesh, der übrigens aus Köln stammt und vorher nie in Starnberg war, perfekt dar. Aus filmischer Sicht ist daran aber auch ein Mythos bedeutsam, der den See schon vor Ankunft der ersten Touristen umwehte.
Sie meinen den „Kini“ Ludwig II., der scheinbar ungebrochen verehrt wird in Bayern.
Unter anderem. Je tiefer man in diesen Feriensee eintaucht, desto schneller stößt man auf den Mythos dieses Königs des späten 19. Jahrhunderts, dessen Tod ja auch einen ungelösten Kriminalfall darstellt. Als wir die erste Motiv-Begehung gemacht haben, kam ein netter Bayer mit Angel auf uns zu und meinte, „wos mochts‘n ihr do?“ Worauf er ansatzlos die zwanzigminütige Theorie seiner Mordversion zum Besten gab. Der Starnberger Polizeichef wollte sich zu diesen Vorwürfen übrigens nicht äußern (lacht).
Hat sich der Angler als das vorgestellt, was es in Ihrem Film zuhauf gibt: als „Ludist“?
Nein. Aber das ist ja auch die militanteste Form des Enthusiasmus im Sinne der Mordtheorie. Die kennen da kein Pardon. Als wir im Präsidium waren, stand allen Ernstes ein lebensgroßer Aufsteller eines „Guglmanns“ – auch so ein königstreuer Starnberg-Verein – im Eck, der wie ein Kapuzenmann als Bravo-Starschnitt auf die örtliche Polizei niederblickte, um ihre Königstreue zu kontrollieren.
Was sagt denn diese Faszination über die Bayern aus?
Jedenfalls nichts, dass für eine monarchische Sehnsucht stünde. Eher für eine Art mythologischen Popstarkult, den meiner Meinung nach jede Region kennt.
Was ist für einen Regisseur schwieriger: Das Aberwitzige normal oder das Normale aberwitzig zu inszenieren?
Das ist eigentlich ein und dasselbe. Beides bereitet an bestimmten Punkten Vergnügen, erfordert aber auch ständige Aufmerksamkeit, keine der beiden Seiten zu übertreiben. Aber zunächst mal verfilme ich ja die Bücher meiner Autoren, denen ich mich sehr verpflichtet fühle. Der Aberwitz entstammt also der Fantasie anderer, den ich mir wie ein Kleidungsstück anziehe. Alles Weitere kommt durch meine Auslegung und die Spielfreude der Schauspieler.
Die sie hier abermals im Milieu der Reichen zeigen. Warum eignet sich die sprichwörtliche Villa in Gründwald so gut für den Krimi, dass sie immer wieder zum Tatort wird?
Das ist zum Teil ein Erbe des angelsächsischen Krimis, der schon vor Urzeiten gern in kalifornischen Villen und englischen Landschlössern spielte. Was sich hinter den dicken Mauern der Reichen Unerwartetes verbirgt, eignet sich einfach gut für spannende Ermittlungen auf unbekanntem, abgründigem Terrain.
Und bietet dem Pöbel die Chance, der vermeintlich sorglosen Oberschicht mal beim Leiden zuzusehen.
Ich glaube eher, dass es der Gegensatz ist, wenn Reichtum auf brutale Armut trifft und Erhabenheit auf heulendes Elend. Die Villen sind da nur besonders hübsche Panoptiken der Welt in ihrer ganzen Vielfalt. Aber das ist Berlins Zuhälter-Milieu meines Films „Hotte im Paradies“ auch.
Aber um beide Lebenswelten zu erzählen, bedarf es doch nicht zwingend eines Kriminalfalls. Warum wählen Sie dennoch immer wieder dieses Genre, um ihre Geschichten vom sozialen Miteinander zu erzählen?
Weil mir der Polizeifilm einen verlässlichen Rahmen erzählerischer Kontinuität bietet, dessen Regeln man einhalten oder brechen, aber nie ignorieren kann. Ich könnte das Genre zwischen Hamburg, Duisburg, München noch 50 Mal variieren und mir dennoch vermutlich immer treu bleiben.
Wenn alle zwei Jahre um diese Zeit das Fernsehprogramm vollends mit Fußball geflutet wird, stellen sich manchmal ganz ungewohnte Fragen. Was zum Beispiel ist daraus zu folgern, dass ein spürbarer Teil jener 27 Millionen Menschen, die Deutschlands Sieg gegen Polen am Fernseher verfolgt hat, zwar für La Mannschaft war, aber nicht so gern neben jedem der Spieler wohnen würde – dass der Rest vorwiegend aus AfD-Wählern besteht, die allenfalls heimlich vorm Live-Stream im Keller saßen, um Boateng ein Türchen im Herz zu öffnen? Oder doch, dass Alexander Gaulands Partei den Finger manchmal weniger am Puls des Volkes hat als er denkt?
Um solche Fragen zu klären ist dieses Medium momentan allerdings das falsche. Die verantwortliche UEFA nämlich liefert am liebsten Bilder, mit denen der Weltbevölkerung liebste Leibesertüchtigung keine Kratzer in den Lack gehauen wird. Wenn russische Hooligans also auf den Rängen Jagd auf englische machen, bleibt die Kamera stur auf dem Rasen, von wo sie jedoch flugs abdreht, wenn dort ein kroatischer Flitzer mitjubelt, ohne flugs abgeführt zu werden. Andererseits ist sich die Regie des Weltbevölkerungsbildes nicht zu blöde, voll auf Jogi Löws Hand in der Hose zu zoomen, was erst der intellektuell schlichte, aber herzensgute Lukas Podolski mit dem Verweis auf „80 Prozent und ich“, die sich gelegentlich die Eier kraulen, ins rechte Licht rückte.
Drei Tage später übrigens investierte die einst so ehrwürdige Tagesschau geschlagene 20 Sekunden ihrer wertvollen Zeit in den Fahrer des deutschen Teambusses beim Rangieren ins neue Mannschaftshotel, was „echt eng“ war, wie der Reporter dramatisierte. Echt? So echt wie die menschenverachtenden Umwelt- und Gesundheitsfeinde von McDonalds und Coke, die beim sportlichen Großereignis unablässig ihren Profit mehren dürfen? Die Macht der Bilder ist manchmal die Ohnmacht der Relevanz.
Die Frischwoche
20. – 26. Juni
Wie schön ist es da, wenn Bilder von künstlerischer Relevanz so verzaubern, wie am Mittwoch auf Arte. Mit den denkbar schönsten Mitteln kämpfen sie, während bei ARD und Sat1 die letzten zwei Vorrundenspiele laufen, um etwas Aufmerksamkeit des versprengten Häufchens Zuschauer ohne Ballinteresse. Im Berlinale-Beitrag vom vorigen Jahr, der um ein Haar auch bei den Oscars kandidiert hätte, geht es um Die geliebten Schwestern Charlotte und Caroline (Henriette Confurius und Hannah Herzsprung), denen 1788 in Weimar gute Partien besorgt werden sollen. Dummerweise geraten beide jedoch an Friedrich Schiller, mit dem sie nach überlieferten Motiven eine Ménage-à-trois von grandioser Hingabe beginnen.
Im Normalfall wäre das ein weiteres Kostümfest auf dem Markt süffiger Historienmelodramen. Den Unterschied des zweieinhalbstündigen Werkes indes macht einmal mehr Dominik Graf. Nach eigenem Drehbuch sorgt der Regisseur mit seiner berühmten Zoomtechnik für eine dramaturgische Tiefe, als lebe Jane Austen mit Florian Stetter als Dichterfürst im Arthaus, der auch den zweiten Film dieser Woche von Belang adelt: Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut. Blöder Titel, tolle Annäherung ans jüdische Leben in Deutschland, wenn auch zu nachtschlafender Zeit Mittwoch früh um 0.35 Uhr im Ersten.
Darüber hinaus ist das Programmangebot selbst auf Arte naturgemäß arm an Erstausstrahlungen. Empfehlenswert ist daher allenfalls ein wenig Lach- und Sachfernsehen. Ersteres auf 3sat, wo die alten Humor-Homies Oliver Welke und Dietmar Wischmeyer am Freitag um 21.55 Uhr …im Herzen jung sind, wenn sie aus einem Buch lesen, das nie erscheinen wird. Wem die schon heute-show zu überdreht ist, wird an diesem Solo-Programm wenig Spaß haben, sollte also tags drauf die Reportage Entscheidung in Großbritannien im Ersten sehen, wo Andreas Cichowicz die letzen offenen Fragen zum Brexit klärt, der Samstag drauf das Programm ernstzunehmender Kanäle fast so dominiert wie Fußball.
Ansonsten sind wie in der Vorwoche eher Wiederholungen im Angebot. Abgesehen von beiden Teilen Kill Bill auf 3sat (Teil 1 Donnerstag, 23 Uhr, Teil 2 Freitag, 22.55 Uhr), kann man da in Farbe getrost die täglichen Tatorte anführen. Eine Liste ohne Garantie auf Vollständigkeit, angefangen mit Das Gespenst aus Hannover von 2008 um 20.15 Uhr im RBB. Am Dienstag dann der bayerische Klassiker Roulette mit 6 Kugeln anno 1983 (BR, 20.15 Uhr). Der NDR holt am Mittwoch (23.15 Uhr) Manfred Krugs Zeitzünder (1990) aus der Kiste, während der WDR Donnerstag um 20.15 Uhr die rheinisch-sächsische Koproduktion Ihr Kinderlein kommet zeigt und die ARD Freitag um zehn den Münchner Fall Gestern war kein Tag von 2011. Gut 60 Jähre älter ist der Schwarzweißtipp am Montag (Arte, 20.15 Uhr): Winchester 73 mit James Stewart als Gewinner einer Waffe, die danach durch 1000 Hände geht und damit ein Stück amerikanischer Selbstermächtigungsgeschichte schreibt.
Claus Kleber (mit Astro Teller; Foto: Martin Ehleben) mag vielen als Moderator des heute-journal bekannt sein; gut 15 Jahre seiner Karriere war der Volljurist aus Reutlingen als Forscher und Korrespondent in den USA. Beste Voraussetzungen für eine Reportage aus dem Silicon Valley, die am 19. Juni um 23.30 Uhr im ZDF läuft. Ein Gespräch über späte Sendezeiten, Gefühle im Nachrichtenfach und ob die Schöne Neue Welt im kalifornischen Erfindertal auch hässliche Seiten hat.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Kleber, obwohl Sie relativ frisch aus dem Silicon Valley zurückgekehrt sind, ist Ihre Rasur wie immer perfekt.
Claus Kleber: Danke, äh…
Es gab Kollegen, die nach einem Aufenthalt dort völlig zugewachsen heimgekehrt sind.
Ah (lacht), Sie meinen Kai Diekmann.
Der damalige Bild-Chef suchte auch Inspiration und Erkenntnis im Valley. Was unterscheidet Ihren Besuch von den vielen anderer Journalisten?
Wer von deutschen Verlagen dorthin gefahren ist, stellte sich oft die Frage, wie man bekannte Entwicklungen dort nutzen oder kopieren kann. Wir hingegen waren Suchende von etwas, das wir bei der Abfahrt gar nicht kannten. Am meisten hat uns dann überrascht, welch große Rolle persönliche Kontakte spielen. Fast alle Techniken moderner Kommunikation sind da entstanden, und doch muss man offenbar an diesem Ort mit seinen horrenden Mieten sein, um sie zu ersinnen. Bevor die Elektronik den Menschen außerhalb des Valleys erreicht, treffen darin leibhaftige Menschen aufeinander. Deshalb mussten auch wir als Reporter unbedingt hin, um all das zu finden, was wir noch nicht mal erahnt hatten.
Zum Beispiel?
Dass im Silicon Valley Dinge jenseits von Google, Facebook, Netflix Dinge entstehen, die man damit überhaupt nicht assoziiert: Gentechnologie, Life-Science-Medizin, Bionik.
Das Tal entwickelt sich also vom Smartphone zur Naturwissenschaft?
Genau. Die Endgeräte haben eine gewisse Reife erlangt; jetzt geht es darum, wie und in welchem Ausmaß sie unsere Gesellschaft verändern. Ich erinnere mich, vor Jahren als einer der ersten ein iPhone in der Hand gehalten zu haben. Eric Schmidt, als Google-Chef auch im Aufsichtsrat von Apple, hatte es mir damals gegeben und das brandneue Prinzip der App erklärt. Aber während viele mit Privatjets zur Präsentation gefahren sind und total aufgeregt waren, hab ich das Potenzial überhaupt nicht erkannt. Heute wird auf Grundlage solcher Geräte und ihrer Möglichkeiten alles Existierende grundlegend infrage gestellt. Exponential disruption – das ist die Regieanweisung aus dem Silicon Valley, dem sich niemand entziehen kann.
Haben Sie in den 30 Drehtagen vor Ort also wirklich neue Erkenntnisse gemacht oder doch nur ein bekanntes Phänomen neu bebildert?
Ersteres, unbedingt! Es hat mich zum Beispiel total überrascht, wie im Silicon Valley alles ineinander greift. Etwa, dass eine Arzneimittelfirma auf 120 Quadratmetern Laborfläche eine Milliarde Dollar wert werden kann, weil sie mithilfe der Apple-Watch so kontinuierlichen Zugriff auf die körperlichen Daten ihrer Träger hat, dass man damit zum Bruchteil der Kosten klassischer Forschung an einem Medikament gegen Parkinson arbeiten kann. Jeder im Valley ist interessiert daran, inwiefern die Entwicklungen anderer für eigene nutzbar sind und umgekehrt. Darin sehen manche ein Florenz des 21. Jahrhunderts, wo technische, kulturelle, wissenschaftliche, medizinische, künstlerische, gar politische Konstellationen auf engstem Raum entstehen.
Auch Sie scheinen vom Virus kalifornischer Zukunftseuphorie erfasst zu sein. Aber bräuchte der Titel Schöne neue Welt angesichts von Datensammelwut, Ressourcenvergeudung, Machtkonzentration nicht ein Fragezeichen?
Obwohl ich in meinem Alter etwas abgebrühter bin als jüngere Kollegen, haut mich in der Tat vieles schlichtweg um. Aber erst dass beides – die schlimmen Seiten im Sinne Aldous Huxleys und die guten im Sinne der Worte – so rasant an einem Platz entsteht, macht die Faszination aus. Als Reporter wollen wir das zunächst mal dokumentieren, stellen uns aber anders als viele amerikanische Kollegen die Frage, ob der Nutzen jeden Nebeneffekt wert ist. Vor einer Antwort steht jedoch immer das Begreifen. Und dabei will der Film helfen.
Was entspricht denn Ihrem Naturell: Fortschrittsgläubigkeit oder -skeptizismus?
Als Sohn eines Diplom-Ingenieurs und Ex-Schüler eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums bin ich grundsätzlich aufgeschlossen. Als europäischer Journalist mit langjähriger Erfahrung in Amerika sehe ich aber durchaus, wo die Euphorie zu weit geht. Die Verachtung jeder Form von Regulierung, Aufsicht, gar staatlicher Kontrolle ist mir fremd. Und manche Innovation ist schlicht zu wichtig und heikel, um sie zwei, drei Firmen allein zu überlassen. Das widerstrebt dem Spirit vom Valley, aber finanzieller Erfolg gleich inhaltlicher Erfolg – das ist mir zu schlicht. Nicht jede Erfindung ist sinnvoll, nur weil sie gekauft wird.
Zählen Sie als Kunde zu den early adoptern, die Smartphone, Tablet, Handy und PC als erste haben mussten?
Ich bin so ein medium adopter, der zunächst abwartet, dass die Kinderkrankheiten neuer Geräte verschwinden. Mein iPhone-4, das auf deutschen Schulhöfen jedem Kind längst zu peinlich wäre, hab ich gerade erst gegen ein neues Modell getauscht. Ich springe nie als erster, aber halte mich auf dem Laufenden.
Ist das ein beruflicher oder privater Anspruch?
Ich interessiere mich auch persönlich für Technik, aber wie gesagt: es sind grad nicht so sehr die Endgeräte, die das Leben verändern, sondern der Umgang damit. Da ist es meine Aufgabe als Journalist, den Leuten zu zeigen, wie tief diese kleinen technischen Wunderwerke in unser aller Existenz eingreifen. Ich frage mich oft, was wir früher mit all der Zeit angefangen haben, die mit Surfen, Chatten, Katzenvideos draufgeht. Ein Teil der Antwortet lautet: lebenswerter gelebt.
Macht es Ihnen eigentlich Angst, dass besonders die multimedialen Entwicklungen aus dem Silicon Valley Ihren eigenen Berufsstand gefährden?
Da ist was dran. Zugleich hatte ich beruflich nie zuvor solche Möglichkeiten. Wenn ich über die Wasserversorgung im Nildelta berichten will, musste ich mir fast sämtliche Informationen ohne Gewähr, sie zu kriegen, dort unten holen. Heute kann ich vom Schreibtisch aus in wenigen Stunden bequem zusammentragen, wofür man früher Wochen brauchte. Deshalb wundere ich mich immer wieder, wie man früher ein tagesaktuelles Magazin wie das heute-journal hingekriegt hat. So gesehen leben wir im großartigsten Zeitalter des Journalismus. Und wenn wir nicht in der Lage sind, dafür ein Publikum zu interessieren, liegt es gewiss nicht an den neuen Verbreitungstechnologien.
Umso deprimierender muss es doch sein, dass die Angebotslage so gut ist, die Nachfrage aber zumindest im kostenpflichtigen Qualitätsjournalismus kontinuierlich sinkt?
Wissen Sie was? Verschwinden wird vor allem die lieblose Alltagsberichterstattung, wo Minister aus ihren Wagen steigen und erwartbare Antworten auf erwartbare Fragen geben. Das braucht niemand. Auf der anderen Seite haben gut recherchierte, auf allen Kanälen nutzbare Geschichten mittlerweile eine Verbreitung wie nie zuvor. Als die österreichische Regierung kürzlich vorschlug, Flüchtlinge auf einer Mittelmeerinsel zu internieren, hat mir meine Tochter, die Ende 20 ist und nichts mit aktuellen Nachrichten macht, einen Radiobeitrag zu so einer Insel vor der Küste Australiens verlinkt. Erschütternd, großartig, packend, von 2003! Der Chance, so etwas auch 13 Jahre später noch hören zu können, würde ich nachtrauern, öder Routine weniger.
Aber heißt das Zaubermittel im Kampf mit Instant-Entertainment nicht Emotion statt Information, geschweige denn Nutzwert?
Wenn Gefühl heißt, Langeweile zu durchbrechen, ja. Wenn es heißt, auf die Tränendrüse zu drücken, nein. Auch beim heute-journal geht es zunächst um journalistischen Inhalt, danach aber auch um Dramaturgie und Atmosphäre. Um diese Zeit möchte sich kein Zuschauer in die Volkshochschule setzen.
Welche Art von Informationskonsument sind Sie denn selbst?
Vor allem einer, der es nicht leiden kann, wenn Informationen, die fürs Thema wichtig sind, fehlen. Da ist viel Luft nach oben, die Schöne neue Welt hoffentlich nicht hat.
Was hat diese Reportage eigentlich mit Fußball zu tun?
Nichts, warum?
Nichts, genau. Läuft sie deshalb erst kurz vor Mitternacht?
Ach, direkt nach einem EM-Spiel ist kein schlechter Sendeplatz für ein Fußballpublikum, das keineswegs so tumb ist wie manche offenbar glauben. Sachformate werden da erfahrungsgemäß gut eingeschaltet. Aber selbst wenn nicht – der Film wird lange Beine haben. Nach der Erstausstrahlung läuft er auf 3sat, Phoenix, ZDFinfo und nicht zu vergessen: Im Netz, bestimmt auch auf Geräten aus dem Valley.
Sehnsuchtsorte werden erst dann wirklich spannend, wenn sich zwischen Sehnsucht und Ort ein leichtes Unbehagen klemmt. Wie in der Achterbahn etwa oder auf Abenteuerreise. Tel Aviv ist so ein Sehnsuchtsort, jung und viril, aber auch seltsam gefährlich, so scheint es aus der Distanz des Nachrichtenkonsums. Die Menschen vor Ort sind sich dieser Ambivalenz durchaus bewusst und machen gemeinhin das Beste draus. Zum Beispiel: Musik. Oftmals fabelhafte Musik. Wie die von Cut Out Club. Vorigen September brachte das Oktett um Sänger Nitzan Horesh daheim sein gleichnamiges Debütalbum heraus. Nach allerlei Elogen im Heimatland erscheint es jetzt auch bei uns. Endlich!
Denn wie Cut Out Club es schon einsteigt, mit einer Art Bigband-Wave, als träfen sich The Human League mit Seeed zur Jamsession. Grandios platzt da ein krächzendes Saxofon unter den Funk geslappter Gitarren, überall plöttert irgendwas Verwegenes in die Harmonie. Hier mal stilisierte Steeldrums, da mal theatralische Keyboards, überall treibender Bass, ein wunderbarers Stilwirrwarr mit englischen Texten, die sich oberflächlich nicht weiter mit der Ambivalenz ringsum zu befassen scheinen. Sehnsuchtsortsmusik ohne lokale Verwurzelung. Herrlich!
Cut Out Club – Cut Out Club (Granted Records)
Matthew Herbert
Über Musik herrschen ein paar hartnäckige Missverständnisse. Dass sie harmonisch sein müsse; dass ihr eine rhythmische Struktur zugrunde liegen sollte; dass sie auf Anhieb als Musik erkennbar zu sein habe. Wie konservativ, würde Matthew Herbert darüber urteilen. Oder statt zu reden sein neues Album abspielen. Schon in den ersten 20 Jahren seiner Karriere hat der wissenschaftlich geschulte Klanglaborant aus Exeter die wohl sortierte Formenlehre digital dekonstruiert, bis die Töne scheinbar wahllos ineinander prasselten.
Auf A Nude aber befreit er seinen Sound noch vom letzten Rest Rhythmik und erschafft doch etwas, das einem Organismus näher kommt als manche Sinfonie. Schließlich vertont Herbert unseren Körper, den er überwiegend ohne die ordnende Kraft des Taktes bereist. Vom ereignisarmen Schlaf geht die innere Einkehr mit an- und abschwellendem Geräuschpegel übers Erwachen und Essen hin zum Schmerz, bis essenzielle Aktivitäten wie Sex und Stuhlgang die Ruhephase abermals einleiten. Das ist eher Meditation als Musik – aber nie als Gegensatz. Sondern Quintessenz.
Matthew Herbert – A Nude (Accidental Records)
Dani Siciliano
Matthew Herbert hat allerdings durchaus Strophe, Bridge, Refrain im Repertoire. Zusammen mit seiner damaligen Ehefrau Dani Siciliano zum Beispiel entstand in der Werkstatt des Elektropop-Avantgardisten um die Jahrtausendwende ein vergleichsweise gut strukturierter Vocalhouse. Besonders ihre Stimme verhalf den Tracks zu tanzbarer Eleganz. Zusehends in den Hintergrund verbannt, löste sie sich jedoch erst musikalisch, dann auch emotional von Herbert und veröffentlichte zwei selbstbewusste Alben zwischen alternativem Pop und progressivem Soul.
Für den Nachfolger hat sich die amerikanische Klarinettistin mit DJ-Praxis nun zehn Jahre Zeit genommen. Und die haben sich gelohnt! Erneut schickt sie ihren Gesang so weise durch den Stimmmultiplikator, als sänge nicht eine, sondern ein Dutzend Dani Sicilianos über die Facetten der Liebe. Angenehm überfrachtet, dabei nie selbstgefällig, erinnert das selbstbetitelte Album darin an Joan As Police Woman oder Poliça, die dem männlich dominierten Pop mit ebenso sanfter Gewalt Kerben in die Politur hauen, ohne ihn zu zerdeppern.
Dani Siciliano – Dani Siciliano (Circus Company)
Hype der Woche
Bobby Hebb’s Sunny
One Hit Wonder haben was Despektierliches. Mag die Sache mit dem Einzeltreffer noch empirisch nachvollziehbar sein, suggeriert das Wunder, es habe weniger mit der Kunstfertigkeit des Künstlers zu tun als höheren Mächten, Glück, gar Zufall. Nichts von alledem trifft auf Sunny zu. Der Soulsänger Bobby Hebb schaffte es zwar nur mit dem One Hit Wonder an die Spitze, verzeichnet darüber hinaus aber ein bemerkenswertes Gesamtwerk zwischen R’n’B und Jazz. Da ist es nur angebracht, dass das Hamburger Nischenlabel Trocadero den 50. Geburtstag des Evergreens mit einer Retrospektive feiert. Dazu gehören remasterte Reissues eines Früh- und eines Spätewerks von Hebb, vor allem aber eine Sammlung ausgewählter Coverversionen, von denen es insgesamt mehr als 2000 geben soll. Ein schönes Geburtstagsgeschenk – auch wenn Bobby Hebb selbst seit sechs Jahren tot ist.
Ab heute gibt das FilmDebüt im Ersten dem Nachwuchs wieder eine Chance. Ein Regisseur wie Johannes Naber ist zwar über 40 und sein Auftakt Zeit der Kannibalen (zu sehen in der ARD-Mediathek; Foto: Pascal Schmidt/WDR) nicht allzu revolutionär ist. Dennoch bleibt die Plattform eine unerlässliche Talentschmiede des Fernsehens.
Von Jan Freitag
Jedem Anfang, so sagt man, wohnt ein Zauber inne. Und wenn dieser Anfang dann auch noch phonetisch französischen Ursprungs ist, klingt er sogar ziemlich zauberhaft: début. Stellen wir in diesen europameisterschaftsgesättigten Tagen also kurz mal alles aufs verdeutschte Debüt, dann kann es selbst im Umfeld des profanen Fußballs für ein paar Stunden im Frühsommer wirklich hinreißend werden.
Unter der Klammer FilmDebüt im Ersten zeigt die ARD nämlich bereits im 16. Jahr um diese Jahreszeit Erst- oder Zweitlingswerke frischer Regisseure, die dem Leitmedium gelegentlich etwas Außergewöhnliches entlocken, besser noch abtrotzen: Wagemut. Den Wagemut zum Beispiel, überwiegend Filmemacher einfach mal machen zu lassen, die tendenziell halb so alt sind wie der öffentlich-rechtliche Durchschnittszuschauer, um – nun ja – visionäres Fernsehen herzustellen, das ansonsten eher selten ist im Regelprogramm.
Das bedarf insofern auch 2016 der Hervorhebung, als die so genannte Primetime ansonsten von den ewig gleichen Tatort– bis Pilcher-erprobten Namen dominiert wird: Den Hirschbiegels und Huntgeburths, Kehlers und Glasner, Schweigers und Schweighöfers. Seit Benjamin und Dominik Redings Auftaktwerk der Debütantenreihe Oi!Warning 2001 auch international für Furore gesorgt hat, achtet die Branche demnach sehr genau darauf, was ab Mitte Juni sechs Wochen lang dienstags nach den Tagesthemen läuft. Kleine Namen sind auf diesem Platz groß geworden und große noch größer. Die moralische Cannes-Gewinnerin Maren Ade hat 2006 kurz vor elf mit Der Wald vor lauter Bäumen erstmals ein breites Publikum auf sich aufmerksam gemacht. Im Jahr drauf debütierte die versierte Dokumentaristin Aelrun Goette zur selben Zeit mit einem Spielfilm. Und die Schauspielerin Ina Weisse durfte zwölf Monate später an gleicher Stelle mit Der Architekt beweisen, dass sie auch hinter der Kamera Herausragendes leisten kann.
Drei Namen, die zweierlei bezeugen: Im unverdrossen patriarchalisch geprägten Krimi- und Schnulzenland D. gibt es offenbar doch Raum für Frauen mit ungewöhnlichen Themen und Zugängen. Daran dürfen sich dieses Jahr gleich fünf Geschlechtsgenossinnen messen lassen, die den branchenüblichen Anteil weiblicher Regisseure im einstelligen Prozentbereich förmlich vervielfachen. Da wäre die Hamburgerin Frauke Finsterwald, deren Neunzigminütiger Finsterworld nach ein paar Kurz- und Sachfilmen am 19. Juli mit einem hinreißenden Reigen menschlicher Befindlichkeiten nach eigenem Drehbuch glänzt.
Da wäre im Finale (9. August) das melodramatische Märchen Im Spinnenwebhaus von Mara Eibl-Eibesfeldt aus dem Münchner Umland, das den realen Fall von vier Kindern, die nach der Flucht ihrer Mutter auf sich allein gestellt sind, zur schwarzweißen Liebeserklärung an den kindlichen Eigensinn macht. Da wäre Viviane Andereggens Komödie Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut, die das jüdische Leben im Land der Holocaust-Täternachfahren nächste Woche aus Sicht eines Zwölfjährigen schildert. Da wären überhaupt gleich fünf Werke, deren Inhalt auf unterschiedlichste Art mit den (Spät-)Folgen des Holocaust befasst ist.
Da wäre aber auch ein Auftaktfilm, der gestern Abend zeigte, dass es in dieser Reihe gar nicht zwingend um radikale, am besten politisch korrekte Bild- oder Textsprache geht. Zeit der Kannibalen ist ein vielfach preisgekröntes, dramaturgisch jedoch konventionelles Lustspiel um zwei global tätige Unternehmensberater (Devid Striesow, Sebastian Blomberg), die im Luxusgefängnis ihrer Renditeziele Gegenwind kriegen, als ihnen ausgerechnet eine Frau (Katharina Schüttler) innerbetrieblich Konkurrenz macht. Ein toller Film, aber gewiss kein Experiment. Von Regisseur Johannes Naber aus Baden-Baden dürfte man trotzdem – oder gerade deshalb – noch hören. Das FilmDebüt im Ersten einzuleiten ist ein Karrieresprungbrett ohne Beispiel.
Manchmal ist Stillstand ein echter Rückschritt. Gottschalk etwa zum wiederholten Male für seine altbackene Idee von tagesaktueller Talkshow mit „Mensch“ davor die Primetime frei zu räumen, hat nicht nur dem parallel laufenden Tatort allenfalls ein müdes Lächeln entlockt; es interessierte auch im RTL-Publikum kaum eine Sau – da konnte der ewig blonde, geistig längst ergraute Moderator noch so liederlich den Mörder im Ersten spoilern; selbst Grill den Henssler hatte bessere Quoten.
Manchmal ist Stillstand aber auch der bessere Fortschritt. Anstatt die Übertragung der Fußball-Bundesliga wie vor den Lizenzverhandlungen der DFL befürchtet im frei zugänglichen Programm abzuschaffen und durch einen Bayern-Kanal unter Aufsicht von Uli Hoeneß zu ersetzen, darf die Sportschau für einen erklecklichen Teil der 1,2 Milliarden pro Saison bis 2021 weiterhin Konserven des Premiumprodukts zeigen. Noch ein letztes Mal also, erstmals an der Seite von Eurosport, ausnahmsweise, dann wird der Spieltag endgültig auf sieben Kalendertage verteilt, wo dann siebenmal drei Stunden PR für den Rekordmeister eineinhalb Stunden Liveberichterstattung vom schäbigen Rest umrahmen, dessen Namen hier nicht mal der Erwähnung wert sind.
Manchmal ist aber selbst das herzlich egal. Wenn EM ist zum Beispiel. Dann interessiert sich selbst für den furiosen Auftritt von Barack Obama in Jimmy Fallons The Tonight Show oder den nervigen Informationsfluss der Hauptnachrichten keine Sau. Dann kann man die „besten Fußballsongs aller Zeiten“ zwar auf diesem digitalen Musiksender anhören, aber nach Erstausstrahlungen im Regelprogramm von Belang lange suchen.
Immerhin – es gibt sie.
Die Frischwoche
13. – 19. Juni
Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss wäre so eine. Wobei die Anstoßzeit von Florian Mischa Böders Agentengroteske nach eigenem Buch am Donnerstag um 23.05 Uhr ein bisschen den Anschein erweckt, selbst Arte sende zur Fußball-Kernzeit liebere ollere Kamellen. Dabei kann die Geschichte um den tapsigen Kolnarnik, der nach acht Jahren Training im Auftrag der EU endlich Terroristen liquidieren soll, locker mit jedem Vorrundenspiel mithalten.
Benno Führmann spielt diesen Auftragskiller, dem beim ersten Einsatz Mavie Hörbiger als Betrügerin Rosa in die Quere kommt, mit viel Hingabe. Er kann das wunderbar, dieses einäugige Stirnrunzeln zwischen Moritz Bleibtreu und Colin Farrell, wenn alles, wirklich alles schiefgeht. Allerdings anders als hierzulande üblich ohne ulkige Musik, die jeden Kalauer mit plötternder Klarinette ankündigt. Und besonders schön: Die Arbeitssprache Englisch in der transnationalen Kommandozentrale wird nicht in fließendes Deutsch übersetzt, sondern untertitelt. Umso mehr könnten Rechtspopulisten der Marke AfD das Ganze also als Doku missverstehen und für ihren Kampf gegen die EU verwenden.
Dem widmet Arte kurz vor der britischen Volksbefragung morgen einen umfassenden Themenabend, der die ganze Realitätsverachtung des Brexit-Lagers klug auf den Punkt bringt und im Filmporträt Sir Winston (22.45 Uhr) mit dem europäischen Vordenker Churchill kontrastiert, der vor dem vulgärpatriotischen Springteufel Nigel Farage allen Ernstes als konservativ galt. Seltsame alte Welt. Ganz im Gegensatz zur Schönen neuen Welt, die Claus Kleber am Sonntag nach dem weltbewegenden Vorrundenspiel Rumänien vs. Albanien ins Wohnzimmer bringt.
Der frühere USA-Korrespondent hat nämlich sein heute-Studio kurz ins Silicon Valley verlassen. Nicht als erster, aber als Neugierigster, so scheint es. Denn die Reportage fördert wirklich Erstaunliches zutage über das innovativste Tal der Menschheitsgeschichte. Also unbedingt ansehen, auch wenn 23.30 Uhr nicht die perfekte Zeit für so harten Stoff sein mag!
Eine Dreiviertelstunde früher beginnt am Dienstag zuvor immerhin die 16. Ausgabe vom FilmDebüt im Ersten mit Johanns Nabers zweitem Langspielfilm Zeit der Kanibalen. Devid Striesow und Sebastian Blomberg verkörpern darin zwei Finanzjongleure auf der Jagd nach Rendite – bis ihnen in Gestalt von Katharina Schüttler ausgerechnet eine Frau Konkurrenz macht. Witzig. Und neu. Also die Ausnahme während der EM. Von daher gibt es nun Wiederholungen der Woche satt, in Schwarzweiß zum Beispiel Greta Gerwig als entzückend prekärer Retrohipster Frances Ha (Mittwoch, 20.15 Uhr, Arte) von 2012. Oder ein halbes Jahrhundert älter und zwei Stunden später auf Servus: Sidney Lumets legendären Zwölf Geschworenen, der regelmäßig in die Top Ten der besten Filme ever gewählt wird.
Noch zwei Altbestände in Farbe: Sophia Coppolas Lost in Translation (heute, 21.45 Uhr, Eins Plus) oder der erste Tatort mit Helmut Fischer als Kommissar Ludwig Lenz von 1981 namens Im Fadenkreuz, den der damalige Sender BR am Dienstag zur besten Sendezeit zeigt. Und auch der Dokumentartipp ist diesmal ein bisschen fiktional oder umgekehrt: Die Akte Kleist (Dienstag, 22.45 Uhr, RBB), eine spielerische Annäherung an den spektakulären Suizid des Dichters mit Alexander Beyer und Meret Becker als tragisches Liebespaar.
Wer umgeben von Mauern lebt, muss seinen Horizont anderweitig erweitern. Da bietet sich natürlich die Musik an; ein wunderbarer Weg erweiterter Sicht mit einfachen Mitteln – für sich selbst und für andere. Der israelische Singer/Songwriter Ran Nir etwa hat die tägliche Weltflucht im seltsamen Inselstatus seines Heimatlandes zur Kunstform erhoben und macht unterm kryptologischen Kürzel LFNT für Elephant auch auf dem zweiten Album eine Art lässig-theatralischen Alternative, der die Sonnenseiten verschiedener Genres mit klassischen Band-Equipment und etwas ergänzendem Sampling auf bezaubernde Art und Weise verschmilzt. Artrock zum Beispiel, Britpop, Shoegazing, etwas Pathos hier, viel Rhythmus dort.
Wie schon seine Landsleute Umlala oder TheAngelcy pfeift sich der Multi-Instrumentalist auf Time To Bleed fröhlich eins aufs an- und abschwellende Chaos ringsum. Aufgenommen in Israels jüngster Stadt Tel Aviv und der zweitjüngsten Berlin, reibt ihm der versierte Produzent Brian Lucey (Beck, Black Keys) dabei reichlich longdringnebliges Partygefühl unter die rauchige Stimme, mit der Ran Nir schon im Auftaktstück die Titelzeile It’s Gonna Be Alright so oft zusammenhanglos aneinanderreiht, dass klar wird: Hier lebt einer im Hier und Jetzt, losgelöst von den Sorgen des Alltags, ohne sie lächerlich zu machen. Politik? Später! Die Flucht ins Private kann wunderbar sein.
LFNT – Time To Bleed (Cargo Records)
Holy Fuck
Die Abkehr ins Innere kann aber auch klingen wie ein Fiebertraum. Besonders beliebt als Fluchthelfer ist da seit einiger Zeit die Kombination aus discoeskem DJing und technoider Electronica, gepaart mit echtem Bass und schwitzigen Drums. Letztere liefert im kanadischen Quartett Holy Fuck der hypnotische Schlagzeug-Virtuose Matt Schulz, letzteres vor allem der Keyboard-Wizzard Brian Borcherdt, der seine Folk-Gitarre immer mal wieder beiseite legt, um dem digitalem Noise dieser Art ein paar neue Facetten abzuringen. Auf dem vierten Album Congrats klingt das dann meist, als würde eine echte Rockband elektronisch tüchtig nachbearbeitet oder umgekehrt.
Man muss das beat- und basslastige Klanggewitter zwar wohl live erlebt haben, um seine treibende Dynamik vollends zu begreifen. Doch auch die Platte reicht dicke aus, um einen Spirit zu erfassen, der tief aus den Wurzeln des Punk stammt: Experimente durchzuführen wie im plötzlich absurd poppigen Neon Dad. Versuchsanordnungen, die kein konkretes Ergebnis herbeisteuern wollen, sondern die eigenen Möglichkeiten im Praxistest sondieren, bis daraus entweder infernalischer Krach zum Gliederschütteln wird oder wie hier ein gefälliges Popstück zum richtigen Tanzen. Holy Fuck – der Name ist nicht bloß ein krasses Label, es ist der Ausruf aller, die davon ergriffen werden. Und das geht fix.
Holy Fuck – Congrats (Innovative Leisure)
Hype der Woche
Tom Odell
Gott, ist der entzückend, süße 25 und im Zirkus Pop doch abgebrühter als mancher Hochseilartist doppelten Alters. Einem unerlässlichen Bauteil gleich, packt Tom Odell auf dem Nachfolger seines gefeierten Debütalbums einfach wulstige Gitarrensoli übers Titelstück Wrong Crowd, pfeift wie ein Schulkind auf dem Heimweg gen Himmel und treibt das Pathos seiner mild kratzenden Wave-Stimme im Refrain noch zwei Erregungsstufen höher, wenn er sein Superstarleben beklagt, dem er mit jeder Note des Albums Futter gibt. Das erinnert an Populisten: Irgendwas Krasses rausblasen, hinterher halbherzig relativieren, sodann auskosten, was in den Köpfen der Leute flottiert. Hyperfettproduziert von Jim Abbiss (Arctic Monkeys) ist das Werk des englischen Pianisten allerdings in etwa so politisch wie ein Stück dick belegter Pizza. Jeder Track ein sorgsam kalkulierter Ohrwurm für die Generation Kreisch, Schlüpferstürmer vom ersten zum elften Hit. Und was soll man sagen: Es wirkt! Sein Songwriting ist präzise, jeder Geigeneinsatz pointiert, das Gefühl selten unglaubhaft, alles selbstgewiss professionell, ohne kühl zu wirken. Tom Odell ist exakt da, wo er sein will. Nix Wrong Crowd…
Einer der drei Texte ist zuvor auf Zeit-Online erschienen
Skandinavische Serien sorgen gern für besonders grässliche Morde. In Die Erbschaft (donnerstags, 20.15 Uhr, Arte) dagegen schläft die Matriarchin einer dänischen Patchworkgroßfamilie friedlich ein – dann wird zehn Teile unblutig um ihren Nachlass gestritten. Dass das so sehenswert ist, liegt auch an Pernilla August (Foto: Frankie Fouganthin). Star Wars-Fans als Darth Vaders Mama bekannt, steht die schwedische Regisseurin für exzellentes Erzählkino mit famoser Bildsprache. Ein Gespräch.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Pernilla August, wie gut ist Ihr Dänisch?
Pernilla August: (lacht) Ich spreche fast kein Wort, kann aber praktisch alles verstehen.
Weil Sie lange mit dem dänischen Regisseur Bille August verheiratet waren?
Nein, der kann sehr gut Schwedisch. Es liegt wohl eher daran, dass sich beide Sprachen recht ähnlich sind, so wie Deutsch und Holländisch, nehme ich an.
Warum dreht eine Regisseurin vom exzellenten Filmstandort Schweden überhaupt eine Serie fürs dänische Fernsehen?
Weil es da wunderbare Darsteller gibt, die sich geradezu perfekt fürs tolle Drehbuch der dänischen Autoren eignen. Außerdem gab es vom ersten Moment an eine ganz bestimmte Chemie zwischen mir, dem Produzenten Christian Rank und der Serienerfinderin Maya Ilsøe. Erst das hat mich wirklich überzeugt, dieses Projekt zu machen. Bis dahin hatte ich vom Fernsehen mit seinem spezifischen Tempo, der eigenen Bildsprache gar keine Ahnung. Aber auch mit dem Rest des Teams und den Schauspielern entstand sehr schnell etwas Inniges, Vertrautes.
Das passt natürlich hervorragend zum Filmthema Familie.
Jetzt wo Sie es sagen – stimmt (lacht). Deshalb hatte ich wohl auch so gern meine eigene Familie beim Drehen dabei.
Andererseits erscheint die Familie der verstorbenen Bildhauerin Veronika Grønnegaard nach dem überraschenden Auftauchen einer weiteren Tochter keineswegs harmonisch.
Da geht es ja auch ums Erbe.
Dennoch wirkt Familie nicht nur im Fall Ihrer Serie oft ein bisschen wie Krieg. Warum gibt es zwischen totaler Harmonie romantischer Komödien und der Dauerkonfrontation des Problemfilms so wenige Zwischentöne?
Weil ich befürchte, dass dies die Realität ist. In jeder Familie gibt es doch Streit, Neid, Konkurrenzkampf. Zumindest, wenn ein lang gehütetes Geheimnis gelüftet wird wie eine Tochter, die den anderen Verwandten plötzlich einen Teil ihrer Ansprüche streitig zu machen droht. Da kommt halt vieles auf den Tisch.
Ist diese Familie demnach real oder doch bloß die spannendere Fiktion als eine ohne derlei Konflikte?
Sie ist durch und durch fiktional, aber dabei eben nicht unrealistisch. Der Mikrokosmos, seine Psychologie, die sozialen Mechanismen sind ja schon in der Realität ungeheuer faszinierend, aber wir haben das natürlich nochmals verdichtet; es geht schließlich auch um Unterhaltung.
Haben Sie privat denn Erfahrung mit solch innerfamiliären Auseinandersetzungen?
Das nicht so sehr, aber ich wurde bei dieser Arbeit von meiner eigenen Großmutter inspiriert, die eine ebenso starke, dominante Persönlichkeit war wie Veronika Grønnegaard. Für mich ist es ungeheuer wichtig, sowohl als Schauspielerin als auch als Regisseurin irgendwo in der Realität an eine Person oder Situation, andocken zu können. Deshalb habe ich beim Drehen viel über meine Großmutter nachgedacht.
War sie auch eine Künstlerin wie die im Film?
Nein, Psychologin – was allerdings auch eine Kunst ist und bestens zum Thema passt (lacht).
Gab es überhaupt je Filmleute in Ihrer Familie?
Gar keine, nein. Obwohl – die Schwester meiner Oma, glaube ich. Aber das spielte keine Rolle bei meiner Berufswahl.
Die bestand anfangs darin, eine Schauspielerin zu sein. Bis sie vor gut zehn Jahren hinter die Kamera gewechselt sind. Warum?
Ach, dahinter stand kein längerfristiger Plan. Es schloss sich einfach gerade eine Tür – die des Theaters, an dem ich mehr als 25 Jahre gearbeitet hatte. Dadurch bot sich die Möglichkeit, eine andere zu öffnen. Allerdings wusste ich zwar schon immer, irgendwann mal Filme drehen zu wollen; dass es jedoch so früh werden würde, war mir damals noch nicht bewusst. Ein Freund vom mir hatte damals das Skript zu einem Kurzfilm gedreht und fragte mich, ob ich Lust darauf hätte. Die hatte ich.
Und sind Sie heutzutage noch eher Schauspielerin oder schon mehr Regisseurin?
Zum Glück kann ich noch beides zugleich sein, denn ich liebe keins von beiden weniger.
Können Sie sich vorstellen, unter eigener Regie zu spielen?
Sehr gut sogar, ich hoffe das sogar. Fehlt nur noch das passende Buch.
Zum Abschluss: ich kann unmöglich ein Interview mit Pernilla August führen ohne…
… über Star Wars zu sprechen!
Genau.
Nur zu.
Hat der weltweite Erfolg als Mutter von Anakin Skywalker, dem späteren Darth Vader, ihr Leben vor 17 Jahren nachhaltig verändert?
Überhaupt nicht.
Sie wurden nicht öfter auf der Straße erkannt als früher?!
Ach, das konnte damals in Schweden, als die Filme noch brühwarm waren, schon mal passieren. Ansonsten beschränkte sich meine Bekanntheit allenfalls auf ein paar Filmfestivals. Ich bin bis heute sehr glücklich, bei diesem Film mitgemacht zu haben, doch er war eher wie ein leckeres Stück Schokolade als eine sättigende Mahlzeit. Das Ganze hat mir schließlich noch nicht mal zu mehr Arbeit verholfen. Schön wär’s…
Den siebten Teil haben Sie sich aber trotzdem angesehen.
Nein, leider. Das hat aber nichts damit zu tun. Ich hab’s damals einfach vor lauter Arbeit zeitlich nicht geschafft. Jetzt ist er raus aus den Kinos, und fürs kleine Fernsehen ist das Format eigentlich ein bisschen groß.
Das sagt man mittlerweile auch über Fernsehserien wie Die Erbschaft, die das neue Kino sein sollen.
Trotzdem passt sie da definitiv besser rein.
Bio Pernilla August
Wohin ihr Weg führen wird, deutet sich bereits 1982 an, als Pernilla August sieben Jahre nach ihrem Filmdebüt mit 24 in Ingmar Bergmanns Familiendrama Fanny und Alexander mitwirkt. Daheim wird die Stockholmerin mit ambitioniertem Kino rasch zum Star, der durch die Hauptrolle im TV-Mehrteiler Die besten Absichten ihres Mannes Bille August (Das Geisterhaus) Anfang der Neunziger, mehr aber noch in den Prequels von Star Wars als Anakin Skywalkers Mutter weiter wächst. Bald darauf wechselt sie hinter die Kamera und sorgt 2010 mit ihrem ersten Langfilm Bessere Aussichten international für Aufsehen. Pernilla August hat drei Kinder von zwei Filmemachern und lebt in Stockholm.