Es kommt nicht allzu oft vor, dass man sich jenes Festival der Arglosigkeit herbeisehnt, mit dem das ZDF am Mittwoch gern die inhaltlich relevantere Konkurrenz parallel im Ersten kontert. Vorige Woche allerdings wäre der gewohnte Mix aus Aktenzeichen XY, halbgaren Dramen und Marie Brand geradezu von Weltniveau gewesen – verglichen zumindest mit dem, was das Zweite zur besten Sendezeit lieferte: Ein Fußballspiel zweier Teams namens PSV Eindhoven und Atlético Madrid. Für Außenstehende (also die Minderheit, aber immerhin): Das sind zwei Außenseiter der aktuellen Champions League aus Holland und Spanien, die nur deshalb zur seltsamen Ehre einer Live-Übertragung im gebührenfinanzierten Fernsehen kamen, weil es dafür zwar grotesk hohe Millionenbeträge zahlt, aber nur Mittwochsspiele übertragen darf. Da die Bayern bereits tags zuvor im Einsatz gewesen waren, hatte man in Mainz also zwei Optionen: Die Zeit sinnvoll zu nutzen, etwa für eine Dokumentation über die korrupte Klassengesellschaft UEFA. Oder eben irgendwas zeigen, Hauptsache Fußball.
Zur Belohnung gab’s je nach Perspektive fette oder magere 3,57 Millionen Unentwegter, die sich ein dem Vernehmen nach sturzlangweiliges 0:0 antaten und somit eher ein mittelprächtiger Anreiz waren, in dieser Woche an gleicher Stelle die Milliardärsspielzeuge Chelsea und Paris St.-Germain zu sehen. Dann doch lieber Radio hören. Jürgen Domian zum Beispiel, der in seiner allerletzten Saison bei 1Live unverdrossen die Probleme seiner insomnambulen Zuhörer fortschwafelt. Montagnacht jedoch wurde er dabei furchtbar reingelegt, als eine Anruferin während des Gesprächs vorgab, verdroschen zu werden. Das stellte sich später als Fake heraus, war aber ein paar Tage Anlass aufgeregter Berichte. Manchmal ist das Fernsehen doch wahrhaftiger als die vermeintliche Wahrheit da draußen.
Die Frischwoche
29. Februar – 6. März
Meistens jedoch ist es (zumindest aus deutschen Landen) so artifiziell, dass dauernd einheimische Schauspieler in alle Welt geschickt werden, um dort als ortsansässige Kommissare in fließendem Deutsch unter Ausländern (die dann ja Inländer sind) mit inländischem (also irgendwie, äh, deutschem) Akzent Mordfälle zu lösen. Solche Kommissare sind bereits in Bozen, Jerusalem, Athen, Venedig und Istanbul tätig, bald kommen Island, Kroatien, Zürich hinzu, zwischendurch geht es ab Donnerstag im Ersten nach Tel Aviv, wohin die Berliner Jüdin Sara Stein unter der Regie von Matthias Tiefenbach emigriert. Allerdings erst, nachdem sie im Debüt einen Tod in Berlin aufklärt.
Noch ein Klischeegewitter in Postkartenoptik also? Nix da! Trotz des blöden (und zu Beginn sachlich falschen) Titels, bringt Der Tel-Aviv-Krimi etwas Würze in den Krimibrei. Verhandelt wird ja weniger ein Mord als die Identitätssuche der Protagonisten, allen voran Sara, hinreißend ungeschminkt gespielt von Katharina Lorenz. Ebenfalls von seinen Darstellern in düsterem Ambiente lebt Philipp Kadelbachs herausragender ARD-Mittwochsfilm „Auf kurze Distanz“. Tom Schilling ist darin ein verdeckter Ermittler mit serbischen Wurzeln, der in die Wettmafia eingeschleust wird, wo er sich das Vertrauen von Luka (Edin Hasanovic), dem Neffen des Clanchefs erwirbt und fatal hineinschlittert in diese Parallelgesellschaft.
Weniger sinister als glitzernd ist hingegen das Biopic Liberace über den schillernden Hollywood-Popstar, gespielt von Michael Douglas, dem Vox gleich im Anschluss am Donnerstag ein Porträt widmet, dass den Superstar im Schatten seines Vaters Kurt schildert, der ein noch viel größerer Superstar war. Superstarprobleme eben… Erst auf dem Weg dorthin, aber schon erstaunlich weit gekommen, ist – nach deutschen Maßstäben – Alwara Höfels. Nicht so ganz deckungsgleich mit den optischen Ansprüchen an Schauspielerinnen, hat sie diese Woche ihren ersten Einsatz als Kommissarin im neuen Dresdner Tatort, dem sie als Feministin mit Cowboygang ungeheuer intensiv Leben einhaucht – auch dank des Drehbuchs von Ralf Husmann, der dem heimattümelnden Populismus der Pegida-Frontstadt mal augenzwinkernd, mal unverhohlen die Leviten liest.
Vielleicht sollte der Stromberg-Autor auch mal was über die derzeit wirkmächtigsten Populisten des Planeten machen, die Dienstag zuvor gleich in zwölf US-Bundesstaten zur Vorwahl der anstehenden Präsidentschaftswahl stellen. Phoenix steigt um 22.45 Uhr mit Vorberichten ein und überträgt ab 0.45 Uhr live aus den USA. Die Doku der Woche dagegen widmet sich einem Kollegen des Superstarsohn-Leidtragenden Douglas und zeigt ihn als Kerl aus der Bronx: Tony Curtis (Montag, 21.50 Uhr, Arte). Die schwarzweiße Wiederholung setzt an gleicher Stelle kurz darauf (0.35 Uhr) sogar noch etwas früher an: Die Somme. Das Grab der Millionen von 1930 schildert das Schicksal einer deutschen Mutter, die drei Söhne im ersten Weltkrieg verliert. Und in Farbe: Der Mörder ist unter uns (Sonntag, 21.40 Uhr, ZDFneo) mit Christoph Waltz als manischer Profiler, der schon 2003 unter Markus Imbodens Regie andeutet, was in ihm steckt.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten steht das Berliner Electroclashduo Stereo Total für gediegenen Aberwitz, der sich nicht zu ernst nimmt, aber auch nicht mickrig macht in seiner Verspieltheit. Das 12. Studioalbum Les Hormones ist da keine Spur seriöser, gar schlechter – im Gegenteil: Die singende Schlagzeugerin Françoise van Hove, besser bekannt als Cactus, wird geradezu autobiografisch und verarbeitet an der Seite ihres Weggefährten Brezel Göring bei aller Heiterkeit auch ernste Seiten ihres Lebens zwischen französischem Ursprung und deutscher Wahlheimat. Allzu trocken wird das aber, keine Sorge, natürlich dennoch nicht. Ein Gespräch mit wundervollem Akzent.
freitagsmedien: Françoise, in der Ankündigung zu eurer neuen Platte steht, Stereo Total hätten nie an irgendwelchen „Pop-Scheiß“ geglaubt.
Françoise Cactus: Das stimmt. Aber nur, wenn es sich um kommerziellen Pop-Scheiß handelt, dieses durchproduzierte Hightech-Zeug, bei dem es vor allem ums Verkaufen geht. Perfektion tötet den Underground und jeden Trash. Ich glaube an den Pop, aber dafür muss er eigenartig sein, nicht unbedingt besonders verkäuflich oder sonstwie angesagt. Trotzdem waren und sind Stereo Total auf ihre Art immer modern.
Als ihr mit Angie Reed und San Reimo das Album Juke-Box-Alarm gemacht habt, wart ihr sogar fast stilbildend für die elektronische Disco jener Tage, in der ihr euch Ende der 90er angenehm zwischen ulkigem Pop und humorlosem House positioniert hat.
Deshalb wollte es am Anfang wirklich keiner rausbringen. Viele meinten damals, was ist denn das für eine alberne Scheiße?! Mais bon – schließlich haben wir doch ein Label gefunden, und wenn ich mir heute ein paar unserer alten Stücke anhöre, denke ich, die kann man sich wirklich gut anhören. Das klingt weder alt noch unmodern, geschweige denn albern.
Trotzdem klingt auch die neue Platte oft nach musikalischem Dada. Wie ernst sollte man das nehmen?
Bitte nicht zu ernst, aber auch nicht nur leicht. Manche Themen werden ja nur auf leichte Art vorgetragen, handeln aber von den ernsten Dingen des Lebens. Ich versuche da die Waage zu halten.
Nehmen wir das Auftaktstück Zu schön für dich.
Da geht es darum, wie sich Mädchen heutzutage für ein seltsames Schönheitsideal zurichten und quälen, nur um vielleicht Germany’s Next Top Model zu werden. Das finde ich ungeheuer traurig und habe dieses Lied geschrieben; nicht, um eine lustige Geschichte zu erzählen. Trotzdem darf es natürlich ironisch, unterhaltsam, drollig klingen. Ich möchte gern als amüsante Sängerin wahrgenommen werden, habe aber durchaus den Ehrgeiz, dass man meinen Texten etwas anderes als Pointen entnimmt. Deshalb hab ich auf der letzten Platte auch über Frauen in der Musik geschrieben, die die Männerwelt ringsum eigentlich nur stören. Ich habe mir darum vorgenommen, ein Handbuch für Mädchen zu schreiben, die eine Band gründen wollen. Das kenne ich ja noch aus meiner eigenen Anfangszeit.
Überhaupt sind deine Texte offenbar öfter als man meint autobiografisch oder?
Teils, teils. Good night, bad Morning zum Beispiel handelt davon, aufzuwachen und einen Typen neben sich im Bett zu finden, an den man sich nicht erinnert. Das ist mir selbst mal passiert, als ich noch jung war. Ein Schockerlebnis, das ich in dem Lied verarbeite. Manchmal benutze ich also eigene Erlebnisse, bleibe aber immer ein wenig distanziert. Ich würde nie darüber singen, dass ich gerade wirklich Liebeskummer habe. Das ist mir zu privat.
So ganz öffentlich erscheint mir Halt deine Kerze gerade aber auch nicht, in dem es um deine katholische Jugend geht.
Schon. Es geht allerdings gar nicht so sehr um Religiosität, sondern Körperhaltung. Meine Mutter war sehr streng damals, in der Hippiezeit, wo Jugendliche wie ich immer bloß schlaff herumgehangen haben. Halt deine Kerze gerade war da ein Spruch, den ich oft von ihr gehört habe.
Oje, ich hab damit – gerade weil das Stück gleich nach dem S/M-Song Labu Hotelu kommt – irgendwas Sexuelles assoziiert…
(lacht laut) Nein, nein, nein – das ist ganz seriös gemeint. Und in Labu Hotelu ist der Aspekt des Quälens wie in Halt deine Kerze gerade viel bedeutender als irgendwas Sexuelles; deshalb stehen die Stücke so nah beieinander. Ein Glück, dass meine Mutter kein Deutsch kann (lacht noch lauter)… Ich glaube, für schlüpfrige Texte bin ich nicht mehr jung genug.
Wenn man sich dadaistische Bands wie Schnipo Schranke, Die Heiterkeit oder HGichT anhört – lassen die ihre Urahnen Stereo Total eher alt aussehen oder geben die euch neuen Schwung?
Also faktisch sehen wir verglichen damit vielleicht alt aus, aber ich habe da überhaupt keine Komplexe. Und wenn ich mir unser Publikum ansehe, wo die Leute teilweise in zweiter Generation stehen, muss ich mich erst recht nicht alt fühlen. Wir machen stur unser Ding und die Leute können sich das anhören oder es lassen. Und wenn ich mir die Bands, die du genannt hast, anhöre, habe ich doch das Gefühl, wir hätten in gewisser Weise Einfluss auf sie gehabt, mit einfachen Mitteln anspruchsvolle Musik machen.
Wie lang macht ihr das denn noch, 23 Jahre nach eurer ersten Single?
Ich habe jedenfalls nicht vor, bald in Rente zu gehen. Eine meiner Lieblingssängerinnen ist Brigitte Fontaine, die in Deutschland leider kaum jemand kennt. Sie ist fantastisch, bestimmt fast 80 und trotzdem mögen sie auch die Kids. Wir machen weiter, bis sich kein Schwein mehr für uns interessiert.
Das Interview ist vorab auf dem MusikBlog erschienen
LNZNDRF
Unsere Sprache verfügt über putzige Twists, auch abseits der korrekten Schreibweise lesbar zu sein. Auch von Vokabeln befreit merkt man, was die Shirt-Parole FCK CPS von Polizisten hält. Und nicht nur Fans des Genres erkennen in KACRURTOK sogleich KRAUTROCK. Dass sich die Band LNZNDRF daran orientiert, ist dem Buchstabensalat zwar zunächst mal weniger anzumerken als dem Namen des beteiligten Ben Lanz im phonetischen Mix mit Bryan und Scott Devendorf, bekannt als Drum & Bass von The National.
Wer ihr Projektdebüt hört, könnte aber meinen, der ewigen Melancholie überdrüssig, würden sich die zwei Brüder endlich mal locker machen. Im Rahmen des krautrockig Möglichen sprüht das gleichnamige Album nur vor Übermut, der sich hier mit heiteren Fuzzriffs, da mit hedonistischem Geschredder äußert. Und während sich wahre KACRURTOKER unterm Einfluss sedierender Substanzen oft im Chaos verirrten, klingen ihre Epigonen nun wohlgeordnet und melodisch klar. Da bedarf es auch keiner Worte – ob sortiert oder nicht.
LNZNDRF – LNZNDRF (4AD)
Cavern of Anti-Matter
„Worüber man nicht singen kann“, variierte die Hamburger Schulband Tocotronic 1995 den Wiener Philosophen Ludwig Wittgenstein, „darüber muss man schweigen“. Vielleicht hatten Cavern of Anti-Matter ja dieses höchst wahrhaftige Bonmot im Sinn, als sie sich 15 Jahre später nannten wie sie nun heißen. Weitgehend wortlos wirft das Projekt um Stereolab-Gitarrist Tim Gane bedeutungsschweren Breitwandrock in einen Hohlraum schwer greifbarer Substanz, der allen Sinn aufsaugt und so als Soundtrack ohne Film zur Assoziation freigibt.
Für die einen klingt das zehnminütige High-Hats Bring the Hiss demnach, als würde es Sunny Crocketts Ferrari auf Vollspeed durch Miami begleiten, während das halb so lange Blowing my Nose Under Close Observation dabei zu sein scheint, wenn er den Tätern sodann durch sterile Lagerhallen nachspürt. Andere hingegen hören darin eher antiquierten Kriminal Tango im Gewandt der synthetischen Achtziger. Vielleicht sollte man „Anti-Matter“ besser mit „auch egal“ als „Antimaterie“ übersetzen, aber wenn ein Debütalbum ohne feste Genrezuordnung so fabelhaft entertaint, ist das locker zu verschmerzen.
Cavern of Anti-Matter – void beats/invocation trex (Duophonic)
Die Krankenhausserie Code Black (mittwochs, 22.15 Uhr, Pro Sieben/Foto@Pro7) wirkt von der ersten bis zur letzten Minute viel zu schnell und überdreht, um wirklich wahr zu sein. Es sei denn, man ruft sich den gleichnamigen Dokumentarfilm vor Augen, der diesem sehenswerten US-Format vor drei Jahren vorausging – und die Fiktion nun in der Realität erdet.
Von Jan Freitag
Wie verschieden Deutschland und die USA auch 71 Jahre nach dem kulturellen Eroberungsfeldzug des american way of life noch sind – dafür muss man gar nicht unbedingt den Wahlkampf um Washington betrachten oder die Debatte ums amerikanische Waffenrecht; es reicht ein Blick auf Fernsehen. Wer hierzulande in ein fiktionales Krankenhaus eingeliefert wird, bekommt darin nicht erst seit Professor Brinkmanns blütenweißen Einsatzzeiten individuelle Rundumversorgung mit Chefarztvisiten selbst für basisversicherte Kassenpatienten und kompetente Empathie in sonniger Doppelzimmeridylle. Wer hingegen eine Klinik in – sagen wir: L.A. besucht, kann eigentlich schon froh sein, wenn er sich nicht – sagen wir: beim Ausglitschen auf der Blutlache eines Schießerei-Opfers den Hals bricht.
Mit so einem Objekt brutaler Gewalt startet heute Abend auf Pro7 die neue Mediziner-Serie aus dem Mutterland des Genres, das Anfang der Sechziger im General Hospital seinen Anfang nahm und 30 Jahre später erstmals in der Notaufnahme des Emergency Room gelandet ist. Sie heißt Code Black, womit im kalifornischen Gesundheitssystem ein sehr realer Zustand beschrieben wird, der in Stoßzeiten durchaus auch deutsche Großstadtspitäler, aber keinesfalls deren unterhaltsame Entsprechungen am Bildschirm ereilen kann: Weil die Zahl eingelieferter Notfälle sämtliche Kapazitäten des anwesenden Personals sprengt, droht die Erstversorgung komplett zusammenzubrechen. Alarmstufe Rot. Akute Todesgefahr am Ort des Heilens also. Im Landesschnitt keine fünfmal pro Jahr ausgerufen, tritt dieser Code Black am Angels Memorial nahezu täglich ein.
Ausgerechnet in diesem Inferno schulmedizinischer Grenzerfahrung treten vier frische Assistenzärzte ihren Dienst an, der gleich mal mit dem angesprochenen Verbrechensopfer am Verbrechenshotspot L.A. beginnt, dessen Halsschlagader zur Begrüßung Literweise Kunstblut auf die sauberen Kittel der Neuankömmlinge pumpt. In diesem Takt pulsierender Herzen geht es von der ersten bis zur 45. Minuten fast pausenlos weiter. Immer mehr Bedürftige zwischen Leben und Tod landen in der heillos überfüllten Notaufnahme. Immer rasanter wird geflickt und gepflastert, geheult und gerenkt, gestorben und gerettet, bis nach 25 Minuten, 0:45 Uhr Ortszeit, tatsächlich der Code Black ausgerufen wird und das Tempo nochmals anzieht.
Angesichts dieser überfrachteten Dramaturgie am Limit aller menschlichen, technischen, atmosphärischen Parameter könnte man spätestens hier an der Glaubwürdigkeit von Showrunner Michael Seitzman zweifeln – hätte das CBS-Format nicht ein wahrhaftiges Vorbild: die gleichnamige Dokumentation des absurd hektischen Arbeitsalltags am L.A. County Hospital, dem der New Yorker Notfallmediziner Ryan McGarry als Regisseur vom Fach 2013 ein vielfach preisgekrönt Denkmal gesetzt hat. Es ist keinen Herzschlag langsamer als die ausgedachte Variante.
Sicher: wie George Clooneys legendärer ER gehorcht auch die radikalisierte Fassung von heute den Gesetzen des Fernsehens. Das Regime von Schichtleiterin Dr. Leanne Rorish, mit hinreißend verzweifelter Souveränität gespielt von Oscar-Preisträgerin Marcia Gay Harden, ist spannungsgeladen streng, aber voller Raum für genretypische Gefühlsduseleien. Wie eine gut sortierte Boygroup sind die vier neuen Hilfskräfte, allesamt frisch von der Uni, nach den Erfordernissen fortlaufender Fiktionen besetzt: Der durchtrainiert Rehaugen-Hipster Mario (Benjamin Hollingsworth), die exotisch-kompetente Schönheit Malaya (Melanie Chandra), das blonde Geheimnis Christa (Bonnie Somerville) und ein liebenswerter Wonneproppen namens Angus (Harry Ford) sorgen für Anschlussfähigkeit im Massenpublikum, während der hierarchiesprengende Chefpfleger Jesse „Mama“ Salander (Luis Guzmán) mit Alltagswissen, Maschinengewehrschnauze und einem (verliebten?) Herz für Leanne „Papa“ Rorish sozialen Kitt zwischen Halbgott und Helfer, Genie und Wahnsinn, Theorie und Praxis klebt.
Abseits dieser soziokulturellen Klischees des amerikanischen Fernsehmiteinanders aber entwickelt Code Black eine erstaunliche Sogkraft des Authentischen, die gerade aus dessen Absurdität entspringt. Leidlich anspruchsvolle Zuschauer würden es schließlich mit indigniertem Naserümpfen ins Reich der akademischen Fabel verbannen, wenn die allwissende „Papa“ einem eingelieferten Kind ohne jede Untersuchung „Pneumo-Thorax, genetische Disposition“ diagnostiziert, nur weil es aus Norwegen kommt. Und erfolgreich den Kopf eines gestürzte Skateboarders zu drainieren, während man zugleich am Telefon einen Kaiserschnitt im Notfallwagen souffliert, klänge auch eher nach RTL2 als Arte. Im Wissen um McGarrys Dokumentarfilm aber saugt man die Extreme hier auf wie der Wischmopp das Blut vom Klinikboden.
Der war ja noch nie im Einsatz, wenn die Brinkmanns und Bergdoktoren ihr selbstloses Werk am Guten verrichten. Gerade weil sie so aufgeräumt aseptisch sind, wirken hiesige Kliniken daher um vieles artifizieller als die dauernde Rush Hour am Angels Memorial. Um sie erträglich zu machen, gönnt uns die Serie hin und wieder sogar kurze Momente der Einkehr. Das Büro des Chefarztes zum Beispiel, in dem er auf die Frage, wo denn seine Bedenken angesichts eines unzulässigen, aber erfolgreichen Noteingriffs blieben, entspannt antwortet, „in einem Fläschchen Tavor“. Mit Beruhigungsmitteln wie diesem wären auch all die Einrenkungen offener Brüche und Organspendedebatten nach dem Exitus ein wenig erträglicher. Die Realität hat’s in sich.
Der Text ist mit mehr Bildern und Kommentaren vorab auf ZEIT-Online erschienen
So ganz kann es David Kross (Foto: SWR/Brackmann) noch immer nicht glauben, dass er zu den wenigen deutschen Schauspielern zählt, die in den USA mehr als Nazis spielen dürfen. Doch seit der Junge aus Bargteheide bei Hamburg in Detlef Bucks Knallhart ein Bürgerskind im Ghetto gespielt hat, ging es für ihn flugs bis nach Hollywood. Acht Jahre nach Der Vorleser kehrt er als Assistent des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (Ulrich Noethen) im Kampf mit NS-Seilschaften der Nachkriegszeit zurück ins deutsche Fernsehen (heute, 20,15 Uhr). Ein Gespräch über seinen kometenhaften Aufstieg, den General Fritz Bauer und was der Film gegen sein Image als Mr. Nice Guy ausrichten kann.
Interview: Jan Freitag
David Kross, Sie sind tatsächlich erst Mitte 20, stammen aus dem kleinen Bargteheide bei Hamburg.
David Kross: Was man dort höchstens als Autobahnkreuz kennt.
Und sind dennoch einer der international profiliertesten deutschen Schauspieler.
Ach, profiliertesten; sagen wir mal so: Ich arbeite noch (lacht).
Für herausragende Regisseure in wichtigen Produktionen. Wie geht man als Provinzkind Ihres Alters mit diesem Erfolg um?
Instinktiv und spontan. Mein ganzer Werdegang ist mir ja eher passiert, als geplant gewesen zu sein – auch wenn man natürlich nie nur passives Objekt seiner Umstände ist. Nach ein paar kleinen Kindersachen die erste große Rolle gleich mit Detlef Buck zu spielen…
2006 in „Knallhart“, als bürgerliches Kind im rauen Neukölln.
… das war natürlich auch Glück, dessen bin ich mir stets bewusst. Zumal ich damals noch gar kein richtiger Schauspieler war. Einmal die Woche zur Theaterprobe war ja eher wie Fußballtraining; da fühlt man sich in dem Alter doch auch noch nicht wie ein Profi…
Der wurden Sie allerdings seit „Knallhart“ in Windeseile. Kann man sich das als Perpetuum Mobile vorstellen, das einmal in Gang gebracht endlos aufwärts schwingt?
Auf keinen Fall. Gerade am Anfang schwebt man nicht dauernd in einer Wolke der Inspiration toller Regisseure. Die Tatsache, dass mir meine Karriere anfangs eher widerfahren ist, hat zwar eine gewisse Lockerheit gebracht; aber ohne klassische Ausbildung kommt man nur mit Ausdauer, Arbeit, Routine, ein paar Tricks und ständiger Fortbildung weiter. Anders geht es weder schauspielerisch noch stimmlich weiter. Ich war mir meiner Grenzen immer bewusst.
Mussten die besonders solide sein, um als deutscher Teenager mit Welterfolg nicht abzuheben?
Um abzuheben, stelle ich mich selber viel zu oft – manchmal fast ein bisschen viel – infrage; dafür bin ich gar nicht der Typ. Zum anderen ging es nie nur aufwärts; auch ich musste mich mal von Casting zu Casting durchschlagen. Die Realität hat mich am Abheben gehindert.
Wird man nicht wählerisch, wenn gleich am Anfang Hollywood im Portfolio steht?
Vielleicht insofern, als ich noch kein einziges Projekt hatte, für das mir die Motivation gefehlt hätte. Ohne die geht es bei mir nicht; schließlich ist Drehen echte Arbeit.
Zumal Sie oft mehrsprachig drehen, neben Deutsch auch Englisch und Französisch.
Aber nicht, weil ich so ein Sprachtalent hätte, sondern ganz gut Texte lernen und die Aussprache nachahmen kann. Deshalb sind auf dem Filmfest in Cannes viele Franzosen auf mich zugekommen und haben einfach drauflos geplappert, weil sie dachten, ich könne so gut Französisch wie in „Angélique“. Das geht Ulrich Noethen jetzt wohl in Dänemark ähnlich.
Weil er als Titelfigur Fritz Bauer in „Der General“ ein dänisches Interview gibt.
Aber auch kein Wort Dänisch spricht. Zu merken ist das nicht.
Kannten Sie diesen Staatsanwalt im Kampf mit alten Nazi-Seilschaften vorher?
Ja, „Der Vorleser“ handelte ja auch im weitesten Sinne von den Auschwitz-Prozessen, wofür ich mich damals im Jüdischen Museum vorbereitete hatte und auch ein dickes Buch über Fritz Bauer in den Händen hatte. Dennoch bin ich ihm erst jetzt wirklich nahe gekommen; das war ja nicht wirklich meine Zeit.
Und wird es von immer weniger Menschen, je länger sie zurückliegt. Was hat sie heutzutage für eine Relevanz?
Eine große. Der Kampf gegen die Geister der Vergangenheit ist nostalgisch und zugleich aktuell. Mein Opa fand Adenauer toll und hatte vor allem Angst vor Kommunisten. Für den ist es noch heute wichtig und richtig, einen Film zu sehen, der zeigt, wo die Gefahr damals wirklich lag. Und für Spätgeborene wie mich ist es faszinierend, wie dieser Fritz Bauer gegen alle Widerstände durchzieht, wovon er aus tiefster Seele überzeugt ist, selbst wenn es ihn einsam macht. Das hat viele an Whistleblower wie Edward Snowden erinnert und mich schon deshalb so bewegt, weil ich daraufhin in mir selber gesucht, aber nichts gefunden habe, wofür ich mit dieser Konsequenz so komplett einstehen könnte.
Machen Sie Filme, um damit bei sich und anderen etwas zu bewirken?
Zunächst mal gucke ich, ob er mich emotional berührt. Und wenn ich mich daraufhin selbst hinterfrage, kann das durchaus aufs Publikum abstrahlen. Unabhängig davon, dass „Der General“ ein spannender Politthriller ist, zeigt er eben eine Figur, die keinesfalls in Vergessenheit geraten sollte. Was man aber nur in Kontrast zu meiner Figur wirklich versteht, dem vermeintlich mutigen Staatsanwalt an Fritz Bauers Seite, der das Opfer seiner eigenen Ängste vor Kommunisten, Krieg, Unordnung wird.
Also endlich mal nicht so nett ist wie die meisten ihrer sonstigen Figuren.
Ganz genau! Außerdem ist sei ein bisschen älter. Beides eröffnet mir viel bessere Spielmöglichkeiten als Mr. Nice Guy…
Kann man so eine Hauptrolle mit einer Nebenrolle in Steven Spielbergs „Die Gefährten“ vergleicht?
Schwer. Schauspielerisch ist „Der Generell“ natürlich anspruchsvoller und erwachsener. Aber wenn Spielberg anruft, sagt man nicht nein. Ich hab zwei Monate Reitunterricht von den besten Lehrern für fünf Sekunden auf dem Pferd gekriegt; das sind einfach andere Dimensionen der Professionalität als bei uns. Dafür muss der Regisseur noch nicht mal Spielberg heißen. Aber wenn er es ist, sagt man als Deutscher dennoch: Spielberg? Cool!
Das scheint Spielberg ja auch von Kross zu denken, sonst hätte er jemand anderen fragen können. Empfinden Sie sich eigentlich als berühmt?
Phasenweise schon. Aber in Berlin kann ich unerkannt durch die Straßen laufen, und wenn mal einer was sagt, dann eher so beiläufig beim Bäcker, wie gut er den letzten Film fand.
Und wie ist es daheim in Bargteheide oder sind Sie da gar nicht mehr?
Doch, doch. Obwohl meine Eltern mich Weihnachten erstmals in Berlin besucht haben, wofür ich sogar einen Baum gekauft hab, bin ich öfter mal zuhause, sind ja nur eineinhalb Stunden mit dem ICE. Und da bin ich dann nicht der Spielberg-Kross, sondern David von früher.
Noch keine Straße nach Ihnen benannt?
Nee, das wird auch nicht kommen (lacht). Da gibt’s vermutlich ein paar berühmtere als mich, die vor mir dran sind.
Na ja – eine Sozialistin namens Zietz, Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Fegebank und der Fußballer Matti Steinmann.
Gewiss, es zählt zu den ungeschlagenen Evergreens absurder Film- und Fernsehstandards, aber warum Filmhelden selbst im Kampf mit großen Gruppen skrupelloser Filmhelden-Feinde grundsätzlich abwechselnd, also einzeln angegriffen werden, bedarf doch einer genaueren Erklärung.
Von Jan Freitag
Würden die realen Regeln zünftiger Wirtshauskeilereien oder der dritten Halbzeit im Zeitalter gewaltaffiner Hooligans auch am Bildschirm gelten – das der Filmhelden wäre rasch beendet gewesen: weil sie oft einsame Streiter wider das Böse sind, ihm also gern allein entgegen treten, reichte stets eine Handvoll Gangster, um beim kollektiven Angriff Schluss zu machen mit dem Heroismus. Da Helden aber nun mal den Nährboden fast aller Erzählungen sind, pflegen visuelle Medien seit jeher, Attacken jeder Art gegen sie abwechselnd fahren zu lassen. Man kann das schön in jedem Infight à la Karl May sehen: Während Old Shatterhand einen Cowboy erledigt, stehen die 23 anderen allenfalls zappelnd, aber passiv im Kreis herum und warten brav auf ihre Abreibung. Nur warum genau?
Da wäre zunächst die Fürsorgepflicht der Produktion fürs Happyend. Dem würden Ganoven, die zwar jedem Kleinkind im Notfall hinterrücks in den Rücken schössen, aber im Nahkampf plötzlich Sittenstrenge bewiesen, ja beim ersten Heldenkontakt den Garaus machen. Zumal, Grund 2, die Heldentauglichkeit wahrer Helden im Repertoire wirksamer Methoden vom fatalen Leberhaken bis zum spiralförmig eingesprungenen Double-Foot-Side-Kick besteht, Schurken möglichst variabel (man frage da nur mal Terrence Hill und Bud Spencer) unschädlich zu machen. Hinzu käme ein Gebot filmischer Übersichtlichkeit, das die Verantwortlichen (auch aus Kostengründen) von Massenszenen Abstand nehmen lässt. Und da war vom Postulat der Handlungsökonomie, in deren Sinne es sinnvoll ist, das Wesen gewöhnlicher Heldenstoffe (also den Heldenkampf) nicht in zwei, drei Minuten durch frühzeitigen K.O. abzuschöpfen, noch gar nicht die Rede. Also, liebe Gegenspieler: bitte anstellen! Ihr kommt schon noch dran…
In umwälzenden Zeiten wie diesen freut man sich ja manchmal selbst über Nichtigkeiten, sofern sie kurz mal die Erinnerung an beständigere Zeiten wachrufen. Claus Theo Gärtner nämlich, so war gerade zu lesen, dreht an einem neuen Fall für zwei, wenngleich ohne Anwalt, weshalb es doch ein Fall für einen ist, der den greisen Privatdetektiv Matula in eine Seniorenresidenz führt und damit direkt ins Stammpublikum des ZDF. Das lenkt dann allerdings doch nur für Sekunden von der Realität da draußen ab.
In der gewöhnt man sich nämlich an vieles, was eigentlich alles andere als gewöhnlich ist. Die raumgreifende Flüchtlingsdebatte? Nimmt nun mindestens zwei Drittel jeder Tagesschau in Beschlag, Abend für Abend für Abend! 28 Tote beim jüngsten Anschlag in Ankara? Da reichen den heute-Nachrichten hingegen kaum zwei Minuten zum Einstieg! Sondersendungen, Brennpunkte , Hysterie? Dafür müsste schon was an geografisch und atmosphärisch benachbarten Orten passieren, Paris zu Beispiel! Dass die gar nicht so diabolische Popband Eagles of Death Metal dort vorige Woche ihr zerschossenes Konzert vom 13. November beendet hat, war demnach zwar keine Spitzenmeldung, aber immerhin der Frontberichterstattung auf sämtlichen Kanälen wert. Wir leben in einer bizarren Zeit. Fachleute sprechen bereits von einer Epochenwende. Sie verändert alles. Auch die Medien. Besonders die.
Um verbreitet zu werden, bedürfen Informationen jeder Art ja längst keines ordnenden „Mittelpunktes“ mehr, wie „Medium“ im Lateinischen heißt. Jede Botschaft, jeder Bericht jedes noch so dubiose Gerücht wird zusehends ungefiltert aus allen Rohren ins Hirn geschossen. Wer diesen Strom der Mitteilungen kanalisiert, am besten noch auf Papier, gilt da im besten Fall schnell mal als überflüssig, im schlechtesten als verlogen. Alles muss raus! Das findet auch Michelle Spark.
Die Frischwoche
22. – 28. Februar
Sie vertreibt eine Brille, die ihr Umfeld scannt, mit dem digitalen Wissen darüber abgleicht und somit für maximale Transparenz sorgt. Claus Kleber berichtet, Markus Lanz diskutiert, Dunja Hayali lädt zum Praxistest, das außer Kontrolle gerät, als Daten eines Lehrers vorm Schwulenclub im ZDF-Bild erscheinen und seine Existenz vernichten, was den Auftakt einer Eskalationsspirale bis hin zum offenen Terror bildet. Zu futuristisch? In der Tat! Dank der Protagonisten aus 15 echten Formaten wirkt die Story zwar real, ist aber eine Mockumentary namens Operation Naked von Mario Sixtus, die den Teufel vom gläsernen Bürger heute (23.55 Uhr, ZDF) nur scheinbar dokumentarisch an die Wand malt.
Zwei Tage später sprengt dann auch Pro7 (22.15 Uhr) die fiktionale Grenze zur Wirklichkeit. In der Serienadaption des gleichnamigen Dokumentarfilms von Ryan McGarry wird an einem Krankenhaus in L.A. der Code Black ausgerufen: Ärztemangel, Notfallplan, selbst halbfertige Mediziner müssen in den OP. Das Ergebnis ist eine Art radikalisierter Emergency Room, der in den USA für Furore sorgt und das weiße Fernsehballett wohltuend auffrischen könnte. Ein eher graumeliertes Genre wird Mittwoch im Ersten nicht aufgefrischt, aber bereichert: Das Zeitgeschichtsepos. Mit einem entfesselt glaubhaften Ulrich Noethen als Der General porträtiert die Königsdisziplin hiesiger Hauptabendunterhaltung den Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer, der sich fast als einziger Juristen den braunen Seilschaften in der jungen BRD entgegenstellte. Ein fabelhafter Film übers Scheitern der Entnazifizierung, für die sich die schuldhaft verstrickte CDU ruhig mal entschuldigen könnte.
Aber mit der Entschuldigungskultur ist es in der repräsentativen Demokratie nicht allzu weit her. Oder erwartet irgendwer, dass die Fifa Abbitte fürs kriminelle System leistet, das diese Woche mal wieder drei Dokus entlarven? Heute Die Fußball-Mafia im Ersten (22.45 Uhr), morgen Die große Fifa-Story auf Arte (20.15 Uhr), Mittwoch Fifa: Das Foulspiel der Mächtigen im ZDF (23.05 Uhr). Letzteres natürlich nach Übertragung der Champions League, die das ZDF im vollumfänglichen Wissen all der Schweinereien darin nie infrage stellt. The Show must go blablabla.
Aus dem Grund folgt auf Unser Lied für die dicke Bratensoße ESC in Stockholm am Donnerstag (ARD) am Sonntag die Übertragung der Oscars nebst Vorberichten ab 23 Uhr auf Pro7 – diesmal allerdings nicht präsentiert von Steven Gätjen, der drei Tage zuvor mit I can do that seinen nächsten Auftritt im ZDF hat und auf Hollywoods rotem Teppich von keiner geringeren als Annemarie Carpendale ersetzt wird, die sich gewiss etwas weniger für die Filme als die Kleider der Stars interessieren dürfte, aber egal. Die schwarzweiße Wiederholung der Woche stammt da entsprechend aus einer Zeit, als Kostüme noch bedeutsamer waren: Der Herr der sieben Meere (Mittwoch, 14 Uhr Arte), Ursuppe des Freibeuter-Films von 1940 mit Errol Flynn als edler Freibeuter. Der Farbwiederholung hingegen fehlt es völlig an Glamour, aber nicht an Brillanz: Waltz With Bashir (Samstag, 23.05 Uhr, RBB), Ari Folmans hypnotische Comic-Adapton aus dem Nahost-Konflikt von 2008.
Ein liebevoll verwahrlostes Heim, so widerständig wie stilbildend: Der Golden Pudel Club (Foto: JOTO) ist abgebrannt – und mit ihm ein Stück Hamburg, das im Grunde nie eines war. Ein Club-Mausoleum aus gegebenem, todtraurigem, womöglich endgültigem Anlass.
Von Jan Freitag
Worum es sich in unserem Kulturkreis aufrichtig zu trauern lohnt, dafür gibt es gesellschaftlich definierte Regeln. Menschen verdienen selbst dann ein Höchstmaß an Hochachtung und Pietät, wenn ihr Leben kein ganz so vorbildliches war. Bis auf ein paar Tote der Sorte Hitler habe man demnach nur Gutes über sie zu berichten – oder eben nichts. Danach wird es komplizierter: Der abgehauenen Freundin nachtrauern, drei Punkten beim Heimspiel, gar einer verpassten Folge Game of Thrones? Schwierig, als Außenstehender da ordentlich Anteil zu nehmen. Das ist mit Gebäuden seltsam ähnlich.
Das gilt besonders für jene Stadt, die heute womöglich eine Abrissbirne zum Wahrzeichen hätte, wenn es es nochmal neu vergeben werden würde: Hamburg. Hier fallen Verluste an Bausubstanz weniger ins Gewicht. Diese Stadt gönnt sich ein Denkmalschutzamt, dessen vornehmste Aufgabe darin besteht, den rasanten Abriss des steinernen Gedächtnisses lieber larmoyant zu beklagen als zu verhindern. Was weg muss, muss weg, lautet seit dem Stadtbrand anno 1842 die Devise der Pfeffersäcke.
Zwischen Eppendorf, St. Pauli und Barmbek werden noch die schönsten, solidesten Altbauquartiere für seelenlose aufgereihte Rauputzquader geopfert, ohne dass Widerstand lautstark vernehmbar wäre. Was soll da schon der Ausfall einer kleinen Holzbaracke mit Elbblick auslösen. Doch genau um die trauert zurzeit nicht gerade ganz Hamburg, aber doch ein weithin hörbarer Teil. Der Golden Pudel Club ist abgebrannt, eine Immobilie, dessen pittoreske Pracht rein architektonisch allenfalls zwischen Fachwerkimitat und Fahrradhäuschen zu verorten ist. Für den Musikstandort Hamburg jedoch ist seine Bedeutung größer als die hier zelebrierte Beatles-Nostalgie oder ein neues Opernhaus.
Samstagnacht, davon waren die digitalen Netzwerke, aber auch analoge Medien bis weit über die Landesgrenzen hinaus in Echtzeit voll, fing der Dachstuhl Feuer. Die Polizei spricht von Brandstiftung. Bei einer derart morschen Bausubstanz kommt das bei allem gebotenen Optimismus der Vorstufe eines Planierungsauftrags gleich. Nach gut zwei Jahrzehnten am selben, kapitalumtosten Standort ist somit eine Legende zerstört, die so eigentlich nie hätte entstehen dürfen und gerade deshalb so wunderbar ist, war, puhh. Dass ihr materielles Ende zum Heulen ist, wäre mit “untertrieben” demnach geradezu fröhlich umschrieben.
Nirgends sonst in der zusehends durcheventisierten Musical-Metropole voller Beatles-Memorabilien hatte der independente Eigensinn ein liebevoller verwahrlostes Heim mit liebevoller verlotterten Sitten und liebevoller hochmütigem Selbstbewusstsein. Als elektropunkiger Resonanzkörper für die hedonistische Bohème links der Verwertungsmechanik entstanden, war der frühere Schmugglerknast aus dem 19. Jahrhundert Sub- und Leitkultur in einem.
Kultureller Underground und Mainstream, so widerständig wie stilbildend, irgendwie Rot-Grün im Idealzustand. Alles mit den Overground-Anarchisten Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun in prominenter Herbergsvaterfunktion, als befänden plötzlich Asylbewerber in der Ausländerbehörde über Aufenthalt oder Abschiebung.
Zum zukunftsfähigen Sound elaborierter Trash
Pudel, das war die Verkehrung der freien Marktwirtschaft. Bier unter zwei Euro. Auf dem Klo besser nicht hinsetzen. Und morgens nach dem Rauswanken noch mal mit der Bürste unter die Fingernägel. So roch, klang, wirkte ein Ambiente entspannter Arroganz im lebenden Denkmal alternativer Freizeitgestaltung, das in der Geschichtsschreibung bekanntlich gern etwas wunderbarer verklärt wird, als die Wirklichkeit gestattet. So hob es sich ab aus der Masse selbst erklärter Clubs mit mehr Substanz als einem Link auf Hamburgs Marketing-Seiten.
Die synchron übereinandergeschlagenen Beine angemessen affektierter Stammgäste auf der Bank am Eingang, das demütige Abwarten des Bedienungsgesprächs an gähnend leerer Theke, der unvergleichliche Mix zeitgenössischer mit rückwärtsgewandter Popkultur zum zukunftsfähigen Sound elaborierten Trashs – all dies wird es so nicht mehr geben, weil dem Wachsen allerorten längst ebenso wenig Zeit gelassen wird wie in den PR-Kulissen von Berlin und München.
Ob Freizeitpark mit Dino oder verklärte Clubkultur: Das Leben, lehren uns Realität und Fiktion, findet seinen Weg. Es wird also auch diesmal ersatzweise irgendwo etwas Unbequemes, Ungeputztes, Unformatiertes entstehen. Ein Refugium auf Zeit, das die Rendite auf Dauer eine Weile bestehen lässt, um es dann aufzufressen wie einen drögen Keks. Und auch wenn der Verdacht handelsüblicher Warmsanierung angesichts der Rechts-, Besitz- und Logiklage hier nicht greift – die Investorenschlange bei der Zwangsveranstaltung im April dürfte angesichts der erledigten Bretterbude auf dem Filetstück nicht kürzer sein. Dann, so war es bislang zumindest angekündigt, soll der Pudel verkauft werden, weil sich die zwei Besitzer Rocko Schamoni und Wolf Richter zu sehr zerstritten haben, als dass sie ihn zusammen betreiben können.
Egal, was aus dem Gelände wird: Es werden viele davor stehen und um ein Stück Hamburg trauern, das im Grunde nie und gerade deshalb eines war. Tschüss, Pudel. Im Herzen bürsten wir weiter.
Roger Willemsen ist tot, mit gerade mal 60 Jahren. Das klingt zunächst nach einem unerfreulichen Einstieg in einen Text, der die Medienlandschaft mit gewisser Leichtigkeit durchreisen möchte. Deshalb sollten wir es an dieser Stelle mit der Fröhlichkeit südstaatlicher Trauerzüge halten, die den Hinterbliebenen das Leben nicht schwerer machen, als es ohne die Verstorbenen bereits ist, sondern frohgemut dafür danken, was sie hinterlassen. In diesem Fall: Fernsehen mit Niveau, Publizistik zum Niederknien, eine Debattenkultur, die unsere Gesellschaft mit etwas bereichert hat, was selten geworden ist in Zeiten des Hasses: Nonchalance, Witz, Charme, auch Selbstgerechtigkeit, gewiss, aber eine, die auf Neugierde und Klugheit beruht.
Was also hätte Willemsen zu Medienthemen der Vorwoche gesagt: Die Tagesschau zeigt einen zehnsekündigen Handyfilm aus dem Unglückszug von Bad Aibling, in dem viel wackelt, aber wenig zu sehen ist, weshalb der Nachrichtenwert gegen Null tendiert? Womöglich: Blickt durch die Augen des Zuschauers, aber denkt mit eigenem Verstand, ergo: nix gegen Amateurvideos, aber nur, weil es sie eben gibt. Zweites Beispiel: Matthias Schweighöfer produziert, dreht, spielt ab Mai die erste Amazon-Serie in deutscher Sprache, in der es um irgendwas mit Hackern geht? Antwort: Ein Glücksfall fürs Fernsehen, dieser Junge – fröhlich, attraktiv, mitreißend, massenkompatibel, also ideal für den Instantabruf, weshalb sich dann halt andere für nachhaltigere Formate engagieren können! Zuletzt: Pro7 zeigt eine Dating-Show mit weiblichem Single im erotischen Nahkampf mit zwölf rolligen Kerls und nennt sie kopulationsheischend Kiss Bang Love? Vielleicht müsste man den Titel der Vollständigkeit halber um Dschungelcamp erweitern! Das wäre so eine Replik in Willemsen-Manier gewesen.
Die Frischwoche
14. – 20. Februar
Der Hodscha und die Piepenkötter allerdings hätte wohl selbst den Gefühlsintellektuellen aus Bonn sprachlos gemacht. Im Schwall multikultureller Clash-Komödien, der sich auf deutsche Flatscreens ergießt, ist diese am sozialkritischen ARD-Mittwoch von grotesker Schlichtheit. „Handlung“ in Kürze: Stadt am Rhein soll große Moschee kriegen. Wutbürger treiben die Politik zur Gegenwehr. Christliche Bürgermeisterin mit putzigem gerät mit muslimischem Bauherr mit sprechendem Namen aneinander. Am Ende werden Unbelehrbare kleinlaut, Wankelmütige weise and all live happily ever after. Öffentlich-rechtliches Belehrungsentertainment der einfachen Art.
Da könnte es sein, dass Sido in the Box heute (23.10 Uhr, Pro7) der Integrationsdebatte klügere Aspekte entlockt, wenn der zusehends bürgerliche Hass-Rapper als Nachfolger von Oli Schulz an einem unbekannten Ort ausgesetzt wird. Dem Vernehmen nach dürfte es da rustikaler zugehen als dort, wo 25 Minuten zuvor eine hochinteressante Dokumentation spielt. In Milliarden für Millionäre widmet sich die ARD den Reichsten des Landes und wie sie mit staatlicher Unterstützung immer nur noch reicher werden. Das klingt noch bitterer, wenn sich Eva Schöttelndreier anschließend unterm Titel Wie solidarisch ist Deutschland in die soziale Kluft stürzt.
Doch so sehr die derzeit wachsen mag: So tief wie vor 200 Jahren dürfte sie sobald nicht mehr werden. Damals blieb, wer von ganz unten war, für immer ganz unten, während sich die, die ganz oben waren, schon ganz schön ungeschickt anstellen mussten, um abzustürzen. Umso absurder ist „Die Hebamme, mit der Sat1 am Dienstag den Groschenroman um Josephine Preuß als emanzipiertes Wondergirl fortsetzt, das sich in frauenfeindlicherer Zeit gegen männlichen Widerstand behauptet. Warum der renommierte Regiseur Hannu Salonen so einen Müll dreht? Vielleicht aus demselben Grund, warum Roland Suso Richter das gleiche Thema für die ARD ähnlich klischeehaft ins Mittelalter versetzt: Och, warum nicht…
Also besser doch auf Sixx umschalten. Hier läuft Mark Christophers furiose Partykulturstudie Studio 54 über die legendäre New Yorker Disco der Siebziger erstmals als Director’s Cut, den die US-Zensur 1998 gnadenlos zusammengeschnitten hatte. Auch musikalisch, aber weniger exzessiv geht es tags drauf zur gleichen Zeit bei EinsFestival zu, wenn einem Porträt des Multioptionskünstlers Heinz Strunk die Verfilmung seiner Dorfkapellenbiografie Fleisch ist mein Gemüse folgt. Obwohl – das ist ja eigentlich eher eine Wiederholung der Woche, die parallel dazu schwarzweiß auf ZDFkultur zu sehen ist: Katz und Maus, Hans-Jürgen Pohlands satirische Gesellschaftskritik von 1967 nach Günther Grass mit zwei Brandt-Söhnen als merkwürdige Rekruten. In Farbe (Montag, 23.30 Uhr, ServusTV): Dustin Hoffman als Marathon-Mann von 1976 auf der Flucht vor Lawrence Olivier als KZ-Arzt Szell alias Mengele. Und der dokumentarische Wochentipp: Ausgeschlachtet (Donnerstag, 20.15 Uhr, 3sat) über das bizarre System der Organe auf Bestellung für zahlungskräftige Kunden, gefolgt von einer Folge scobel zum Thema.
Mit Andy Grote wird sowas wie das geistig-moralische Gewissen der hanseatischen SPD zum Innensenator. Einer, nach dem man sich nach der nächsten Wahl im und vorm Rathaus (Foto: Mariano Mantel) womöglich noch zurücksehnen könnte.
Von Jan Freitag
Die Innenpolitik, man wagt es seit der rechtspopulistischen Koksnase Ronald B. Schill kaum zu schreiben, war mal liberal besetztes Terrain. Als die FDP Freiheit nicht vornehmlich zur Gewinnmaximierung ihrer Klientel genutzt hat, stellte sie drei Bundesminister in Folge, die sich als Verfechter von Bürger- statt Millionärsrechten sahen. Seit der Ära Kohl jedoch waren Innenpolitiker oft reaktionäre Haudraufs wie das altrechte NSDAP-Mitglied Zimmermann oder der neurechte Burschenschaftler Kanther. Da ist man schnell geneigt, aktuelle Amtsinhaber mit ihren rabiaten Vorgängern gleichzusetzen.
Auch Michael Neumann.
Das aber ist differenzierungsbedürftig. Die Amtszeit des alten Innensenators mag im öffentlichen Bewusstsein von bürokratischer Halsstarrigkeit (Lampedusa-Flüchtlinge), Kommunikationsdesastern (Olympia-Bewerbung) und konservativen Erbstücken (Gefahrenzone) geprägt sein. Und dass unter seiner Ägide „polizeiliche Informationskarteien“ angelegt wurden, in denen offenbar massenhaft unbescholtene Fußballfans auch ohne Tatverdacht als potenziell gewalttätig aktenkundig sind, trübt die Bilanz des Sozialdemokraten aus sozialer wie demokratischer Sicht nachhaltig. Dennoch fällt sie schon deshalb nicht durchweg negativ aus, weil zuletzt eher selten von ihm zu hören war. Für Innenpolitiker gilt das als ebenso wichtiges Gütekriterium wie das Sicherheitsempfinden der Leute. Von denen fühlt sich statistisch nur jeder 20. durch Kriminalität bedroht, wie die Zeit lobt. Unter Neumanns paranoidem CDU-Amtsvorgänger waren es dreimal so viele.
Konstruktives Krisenmanagement
Der Wert zieht seit den „Ereignissen von Köln“, die längs der Reeeperbahn herkunftsbergreifend seit jeher Wochenendalltag sind, nun wieder anziehen; doch in der populistisch vergifteten Flüchtlingsdebatte etwa attestieren Neumann selbst Kritiker des neoliberalen SPD-Kurses ein recht konstruktives Krisenmanagement. Wenn sich Hamburgs CDU, seit vier Jahren schwer auf Machtentzug, bei der nächsten Wahl mit AfD und FDP zum hartrechtsbürgerlichen Block vereinigt, dürfte sich der linke Mainstream daher durchaus nach einem Neumann zurücksehnen.
Mehr aber noch nach einem wie Andy Grote. Der neue Innensenator ist schließlich so etwas wie das geistig-moralische Gewissen der hanseatischen SPD, die im Bundesvergleich naturgemäß eher rechts der FDP steht als links von Gabriel. Schon als Lokalpolitiker im Bezirk Mitte, aber auch noch in staatstragenderer Rolle als dessen Amtsleiter, eilte ihm der Ruf Richtung Rathaus voraus, lieber Politik für Bewohner als Investoren zu machen. Im geldroten Hamburg gilt das eigentlich schon als Kommunismus. In seiner Wahlheimat St. Pauli hingegen, bei dessen FC er selbstredend Mitglied ist, hält man seinen Hang zu Präsenz und Empathie für ein verloren geglaubtes Stück Ethos, mit dem man sonst nicht weit kommt im Ellenbogenzirkus Politik.
Mit sozialdemokratischer Attitüde vom Kiez
Bleibt abzuwarten, wie weit es der Volljurist aus dem Teutoburger Wald, wo ein anderer Germane vor 2000 Jahren massenhaft Römer besiegt haben soll, darin mit seiner geradezu – Achtung! – sozialdemokratischen Attitüde bringt. Das hängt auch davon ab, ob der Bürgermeister weiterhin effektiv vermeidet, dass ihn einer, wenn schon an Wuchs, so doch wenigstens nicht an Strahlkraft überragt. Vielleicht hat Olaf Scholz dafür ja seine Finger in der Pleite vom HSV Hamburg, dessen einst aus Lübeck eingemeindetes Retortenteam exakt fünf Tage nach Grotes Amtsantritt seinen Rückzug aus der Handballbundesliga verkündete. Als Sportsenator kann man ihm das im Zweifel ja anlasten, falls er zu Höherem strebt. Dorthin also, wo an der Elbe leichter kommt, wer in Alsternähe residiert. Andy Grote lebt auf dem Kiez.
Songs from the Bottom? Pop so zu beschreiben, als käme er glaubhaft von Herzen, klingt zunächst mal nach einem Widerspruch. Schließlich ist es die Quintessenz musikalischer Verwertungskultur, Versatzstücke diverser Stile und Emotionen so zu kombinieren, dass sie genreübergreifend wirken, geschmacksneutral und leicht zugänglich. Wenn ausgerechnet Jochen Distelmeyer, der Großintellektuelle des hiesigen Diskurspops, ein Album mit Coversongs kompiliert, die aus seiner Sicht vom Boden der Gefühlswelten ihrer Verfasser stammen, muss man aber doch mal aufmerken. Immerhin kopiert er ja nicht nur The Verves außergewöhnlichen Britpopklassiker Bitter Sweet Symphony oder dessen atmosphärischen Urahnen On The Avenue der Aztec Cameras, sondern auch Lana Del Rey, Britney Spears, sogar den Aprés-Ski-DJ Avicii. Gefühlsböden? Wohl doch eher kalte Kellerlöche.
Nur, was Distelmeyer, inspiriert von seinem herzlich missratenen Romandebüt Otis, daraus macht, ist mehr als bloß Nachsingen. Mit angenehm präziser Gitarre und seinem akklamatorischem Schmusegesang formt er daraus kleine Kunstwerke am oberen Rand des Machbaren im Kosmos des repitiven Pop. Wie zuvor seine (Wahl-)Hamburger Schulkameraden Kristof Schreuf und Rocko Schamoni, strahlt Distelmeyers Plagiatesammlung neben großer Virtuosität eben wunderbaren Eigensinn aus, ohne die Originale zu verunstalten. Das klingt manchmal altersmilde und gefällig, aber immer wunderbar elegant.
Jochen Distelmeyer – Songs from the Bottom, Vol. 1 (Four Music)
GoGo Penguin
Vor Eleganz ganz zappelig ist hingegen die neue Platte von GoGo Penguin aus Manchester. Auf ihrem dritten Album, mit dem sie zum legendären Blue Note Label gewechselt sind, zelebriert das Trio seine akustische Electronica mit teils analogen, teils programmierten Breakbeats, die den Jazz auf eine höhere, zeitgenössische Stufe heben. Man Made Object klingt trotz der klassischen Wurzeln zehn Stücke lang viril und lebendig. Chris Illingworths Piano flattert am Rande des Synthesizers, angetrieben von Nick Blackas Bass. Das ist natürlich nichts für Puristen – weder von der technoiden noch der jazzigen Seite.
Aber es verfeinert die Fertigkeiten der ersten zwei Platten, sich aus dem unerschöpflichen Fundus globaler Musikeinflüsse beinahe alles zusammen zu sammeln, was im verrauchten Kellerclub ebenso funktioniert wie auf einschlägigen Festivals von London über Paris bis Hamburg. Dafür gab’s bislang zu Recht Preise und Huldigungen zuhauf. Blue Note hat dem Vernehmen nach noch zwei weitere Alben bei GoGo Penguin bestellt. Man darf höchst gespannt sein.
GoGo Penguin – Man Made Object (Blue Note)
Hype der Woche
EstA
Battle-Rap ohne Gegner, Gangsta-Rap ohne Gewalt, Mainstream-Rap im Seitenarm des großen Stroms? Der Saarbrücker HipHop-Exnewcomer EstA ist auf seinem zweiten Album ohne die bisweilen bisschen aufdringlichen Halunkenbande um Baba Saad zu hören und dadurch viel, viel unaufgeregter, spannender, abwechslungsreicher, spannender. BestA ist gewiss nichts für Sprechgesangsfeingeister, aber – trotz oder wegen einer gewissen Zotigkeit im – stets unterhaltsam und somit dieswöchiger Spitzenkandidat für den Hype der Woche