Ohne Schuhe über Bucheckern, Lehm oder Glasscherben entdeckt man degenerierte Sinne wieder (@Barfußpark Egestorf). Zu Besuch in einem Barfußpark nahe Hamburg.
Von Jan Freitag
Der Fuß ist ein empfindliches Werkzeug. Was heißt ist: er wurde dazu gemacht. Eingepfercht in enges Schuhwerk, malträtiert mit absurden Absätzen, geformt, gepresst, gestreckt vom Diktat wechselnder Moden. Wir können nicht mehr mit den Zehen tasten, der Ferse rollen, dem Ballen federn. Wir lassen ein Meer aus Rezeptoren verkümmern und ein Viertel unserer Knochen, spüren Schmerz, wo er nicht hingehört, und Scham wenn uns ganz unten wer zu nahe kommt. Degeneriert zu taktilen Autisten, sind uns die Fundamente seltsam fremd, nackt zumal. Barfüße: Kinderkram.
Doch dann – unversehens, unerwartet, Huch! – versinkt man knöcheltief in einer breiigen Masse, tritt nach langen Sekunden braun verschmiert heraus und mit einem Mal werden die Füße wieder zu Körperteilen, Extremitäten, zu sich selbst. So fühlt sich also ein Barfußpark an. Inmitten der Lüneburger Heide gibt es eine dieser Massagebänke der Natur, Trampelpfade fürs Wohlergehen des kompliziertesten aller Glieder. Exakt 50 davon existieren in Deutschland, aber der in Egestorf, am Rande des Naturschutzgebiets, zählt zu den schönsten. Und härtesten. Womit wir beim Wesentlichen wären.
Denn schon die ersten Schritte sind qualvoll, fühlt man sich doch in der Öffentlichkeit ohne Schuhe sonderbar entblößt, abseits von Badegewässern. Also rasch ins Kneipbecken, zum nächsten, dem wahren Schmerz. Grundwassertemperiert beißt er sich durchs Schienbein zum Knie in die Wade und zurück. Ein Playstation-Teeny mit schiefem Basecap gibt schon hier schreiend auf. Das kann ja heiter werden…
Wird es auch: Auf Rasengittersteinen Kieseln, selbst Glasscherben – alles ungewohnt, so ohne Socken, aber nicht ungewöhnlich. Und dann Rindenmulch, ein Gefühl wie auf Flokati, wie Erinnerungen aus Kindtagen. Nur welche? Die nächsten werden klarer: nasser Lehm, Moor, Reisig und Torf, gefolgt von Hängebrücken, Plattenwegen, Hochstelzen, flankiert von lehrreichen Gimmicks zum Hören, Tasten, Riechen von Flora und Fauna. Es sind sensorische Genüsse zwischen Attraktion, Überraschung und Balance in Vorbereitung auf die echten Grenzerfahrungen: Bucheckern etwa (aua?), Heidekraut (aua?!), Tannenzapfen (aua!). Nichts verpflichtet zum Erdulden, überall gibt es Nebenstrecken auf Sand, Holz, Wiese – aber das wäre ja feige…
Dennoch ist der Parcours kein Ort der Kasteiung; er führt über verschüttete Sinne zu einem Gefühl innerer Reinigung. Verkrustet, schlammig, bestens durchblutet sind die Füße nach knapp drei Kilometern Spaziergang auf 30 Fußballfeldern Wald und doch scheint man sauberer als zuvor. Es ist ein Extremsport der Reize, die erdnahe Variante jener Nude Shoes, mit denen die Lifestyleindustrie uns Großstadtkrüppel Natur vorgaukelt, ohne gleich darin zu versinken; Schuhe, die sich tragen, als ginge man ohne. Tut man aber nicht, man tut nur so. Ein Barfußpark dagegen ist echter. Eine Touristenattraktion zwar, aber von Neurologen empfohlen, sogar mitentwickelt, wie hier in Egestorf, ein Naturheilmittel. Verschreiben lassen kann man es sich dennoch nicht. Schade eigentlich.
In Würde zu altern ist – falls man nicht grad jung sterben will – ein Primärziel menschlicher Reifung. Botox mit 47, Harley mit 57, Basecap mit 67 führen ja eher zu Fremdscham als Age Credibility. Man muss sich das mit der Würde ohne nachzuhelfen allerdings auch leisten können. Paul Weller zum Beispiel hätte seit dieser Woche hierzulande gesetzlichen Anspruch auf Rente, sieht jedoch auch ohne plastische Chirurgie und Extensions noch immer aus wie kurz vorm Alnighter anno 79. Vor allem aber macht er seit mittlerweile fast fünf Jahrzehnten meist ziemlich erfolgreich Musik und hat dabei nichts von seiner gediegenen Energie verloren, ohne sich dafür an irgendwelche Modernitätszwänge anzupassen.
Auch sein 17. Solo-Studioalbum (von denen aus Jam- und Style-Council-Zeiten ganz zu schweigen) hat nämlich nichts von dieser zeitlosen Eleganz eingebüßt, mit der er bereits Anfang der 70er R’n’B, Glam und Rock’n’Roll zu einer Melange vermengt hat, die erst ein paar Jahre später Etiketten wie Punk oder Wave auf sich vereinte. Gewiss, auch Saturns Pattern hat seine geriatrischen Längen; zwischen den Zeilen verliert sich der schick ergraute Dandy zuweilen in hochnäsiger Beweihräucherung seiner musikalischen Virilität. Die meisten der neun Stücke machen Wellers psychedelische Sixties-Lässigkeit aber auf famose Art anschlussfähig für die Gegenwart. Live cool, die old.
Paul Weller – Saturns Pattern (Parloaphone)
Leyya
Allumfassende, unentrinnbare, daseinsbestimmende Melodramatik hingegen ist das Privileg der Jugend. Das Londoner Indierock-Quartett The XX hat dieses düstertristdepressivträumerische Lebensgefühl vor ein paar Jahren zu einem nahezu brillanten Debütalbum verdichtet, das zum Trio geschrumpft einen ähnlich schwermütigen Nachfolger präsentierte. Seither klaffte ein Loch im popkulturell wahrnehmbaren Fach elaborierten Trübsinns, das jetzt gestopft wird: mit Leyya. Ein Duo aus – Achtung! – Oberösterreich, das der Melodramatik ein neues Gesicht verleiht, aber auch neuen Schwung.
Ihr Debütalbum Spanish Disco versieht das Hintergrundrauschen pubertierender Existenznöte mit einer irisierenden Mischung aus New Wave, Dreampop und Houseelementen, beschleunigt das Ganze gemessen an The XX allerdings hier und da. Das Ergebnis ist mehr als verdichtete Tristesse mit durchscheinender Frauenstimme, sondern gelegentlich fast dynamisch, im Rahmen des Genres versteht sich, also eigentlich wieder nicht, es ist kompliziert. Leyya sind einfach komprimiertes Gefühl einer Generation, die vom Hipstertum angeödet ist, vom Hamsterrad überfordert und vom Gruppendruck genervt. Paul Weller würde kotzen, und viele jüngeren so: Hach!
Leyya – Spanish Pop (LasVegas Records)
Schluck den Druck
Alle Pillenschmeißer, Discorocker, Wochenendkokser, Alltagsverdränger, Dancefloordynamiker dagegen so: Doppelunddreifachyeah! Zumindest wenn Schluck den Druck den Kaossilator anwirft und die Beats durchs Studio ballert wie alliiertes Sperrfeuer der Spaßguerilla. Zur Erinnerung: Schluck den Druck ist ein Trashtechpop-Duo bis -Trio aus Berlin, dass vor fünf Jahren auf dem eigenen Label Im Rausch mit Freunden ein gleichnamiges Debüt kreierte, mit dem es seither so manchen Tanzboden zur Raserei bringt. Jetzt erscheint ihr zweites Album namens Rave ist Karate und auch das ist der Sound gewordene Aberwitz zum Abgehen.
Aber nicht nur das. Verglichen mit der Erstling ist der Nachfolger atmosphärisch noch immer voll übersteuert, hat aber im Rahmen seines Metiers durchaus ernste Momente, die dem digitalen Umfeld fabelhafte Beat-Kaskaden entlocken, viele davon kreativer, vielfältiger, gar klüger als ein halbes Jahr Disco-Charts zusammen. Flankiert von acht Videos acht verschiedener Künstler(innen) ergibt Rave ist Karate daher ein Gesamtkunstwerk der artifiziellen Gegenwart, das aus fast jeder Note echten Schweiß verdampft. Nichts für Feingeister, es sei denn im Rausch.
Schluck den Druck – Rave ist Karate (Im Rausch mit Freunden)
Tobias Albrecht alias Rocko Schamoni ist das glamouröse Gewissen der Hamburger Subkultur. Als Musiker bringt sein fett orchestrierter Crooner-Sound etwas Glanz in die neonblöde Hamburger Eventkultur, als Clubbetreiber ist sein Golden Pudel eines der letzten Refugien alternativer Party auf St. Pauli. Im Interview am Rande des Schanzenviertels stellt er seine Cover-Album Die Vergessenen (Staatsakt) vor, äußert sich aber natürlich auch zu Verdrängung, Ausverkauf und Gentrification.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Tobias, Rocko, dein neues Album klingt irgendwie sonderbar nach vielem, was man irgendwie kennt, aber nicht so genau zuordnen kann. Sind das durchweg Coversongs?
Rocko Schamoni: Durchweg, genau.
Nach welchen Kriterien hast du sie ausgewählt?
Nach subjektiven. Aus 1500 Titeln, die wir so durchgewühlt haben, mit allem, was es von Schlager über Independent bis Chanson so gibt, sind diese 13 hier hängen geblieben. Das hätten auch ganz andere sein können.
Klingt ein bisschen nach Zufallsgenerator…
Das nicht. Aber wenn man wie ich mit einem Arrangeur wie Sebastian Hoffmann zusammensitzt und eine Auswahl trifft, hat das viel mit Atmosphäre zu tun. Bei manchen Stücken geht halt was in einem los, bei anderen nicht. Ich persönlich hatte Favoriten, die in meinem Leben bedeutsam waren oder die ich schlichtweg für unterrepräsentiert halte. Wir beide kommen ja stark von der Filmmusik her, Soundtracks haben uns schon immer geprägt. Wenn man sich dann Die geheime Weltregierung von Guz vorspielt…
Dem Sänger der Aeronauten.
… dann kommen Leuten wie uns eben schnell mal Streichersätze von Ennio Morricone in den Sinn, die man damit verweben könnte.
Sind die gecoverten Stücke denn werkgetreu interpretiert oder gibt es Mash-ups verschiedener Songs?
Textlich bleiben wir ohnehin strikt am Original. Musikalisch gibt es zumindest live ein paar Mash-ups. Im Studio gäbe es zu viele rechtliche Probleme, wenn du alles munter durcheinander mixt. Die Arbeit wollten wir uns nicht machen.
Steckt in der Idee, ein Coveralbum zu machen, irgendeine Metaebene ans Publikum?
Nee. Der Grund für die ganze Geschichte ist viel einfacher. Vor anderthalb Jahren gab es von den Ruhrfestspielen in Recklinghausen eine Anfrage, ob ich und Sebastian einen musikalischen Abend gestalten wollen. Da hatten wir sofort Lust auf etwas mit Orchester, was sonst selten gespielt wird. Diese Idee hat uns so gut gefallen, dass wir daraus gleich noch eine Platte machen wollten – wofür wir dann eine Crowd-Funding-Action gestartet haben.
Offenbar mit Erfolg.
Im Grunde ja, es gab insgesamt 612 Spender. Aber als wir das Geld beisammen hatten, haben die Ruhrfestspiele wieder abgesagt. Und statt das Geld zurückzuzahlen, haben wir halt wenigstens das mit der Platte gemacht. Ich kann schon verstehen, dass die Leute mit Coversongs gern eine Botschaft verbinden möchten, aber es gibt keinen tieferen Anlass. Wir wollen niemanden in der deutschen Kulturlandschaft aus irgendwas aufwecken. Es geht nicht um die Errettung der hiesigen Popmusik.
Weil genau das aber im Grunde jeder von einem politisch bewussten Künstler wie dir erwartet, könnte so ein Album zumindest als Kurzurlaub vom dauernden Subkultur-Retten klingen…
Vielleicht. Andererseits sind oft kratzbürstige Künstler wie FSK dabei, die immer für was anderes als den Mainstream standen. So gesehen ist es schon auch ein Statement zu dem, was heutzutage die Radiolandschaft dominiert, wo es keine Pflege der vielen guten Künstlern mit tollen Songs gibt, sondern dauernde Reproduktion von Massenware. Wir verweisen da auf die Vielfalt jenseits der fünf Prozent Chartsgedudel, das überall läuft.
Wovon steckt nach deiner Interpretation denn mehr drin – deine Aneignung mit glamourösem Big-Band-Stil oder der Sound des Originals?
Natürlich letzteres. Es bleiben ja deren Songs mit deren Texten. Aber ich mag natürlich diesen Crooner-Sound; wer mit meinen breitbandigen Filmscores nicht zurechtkommt, kann mit der Platte bestimmt nichts anfangen.
Zumal du diese Scores sicher nicht digital im Studio eingespielt hast.
Im Gegenteil: Das ist ein richtiges Orchester, 18 Leute – Streicher, Bläser, das volle Programm, fünf Wochen im Studio. An der Platte ist mal überhaupt nichts digital, da kommt jede Note von echten Musikern mit echten Instrumenten.
Das klingt nicht nach der richtigen Größenordnung für kleine Clubs…
Deshalb treten wir damit ja als erstes im Hamburger Thalia-Theater auf und auch danach in Berlin, Frankfurt, Hannover oder Düsseldorf in großen Sälen.
Also eher nicht im Golden Pudel, deinem eigenen Club unten am Hafen?
Ich fände das toll, aber wenn wir uns darin aufgebaut hätten, würde leider kein Publikum mehr Platz finden. Der Pudel ist doch etwas klein.
Und in seinem Bestand gefährdet, wie man den Medien entnehmen konnte. Was genau ist da los?
Es geht da um eine Teilungsversteigerung, bei der jeder mitbieten kann. Eine ziemlich schwierige Situation für den Pudel, denn damit ist er zu dem geworden, was er nie sein sollte: Ein Spekulationsobjekt.
Aber es gibt doch einen langfristigen Pachtvertrag?
Sogar 13 Jahre, das schon. Aber wenn bei dieser Versteigerung ein Großinvestor aus Russland kommt und unbedingt dieses Stückchen Erde am Wasser haben will, um eine Frittenbude hinzubauen, kann das theoretisch passieren.
Gibt es nicht diverse Nutzungsbeschränkungen?
Schon. Zum einen bauliche; das Haus darf nur so genutzt werde, wie es da steht, in genau dieser Form. Es darf also weder eine Hochhaus an seine Stelle noch eine Tankstelle. Zum anderen ist die kulturelle Nutzung vorgeschrieben, die der Investor aber theoretisch umgehen könnte, wenn er in seiner Frittenbude ab und zu einen Gitarristen in die Ecke stellt. Aber der Pudel ist schon länger an diesem Ort als jeder Streit darum. Deshalb glauben wir, dass es genügend Leute in der Stadt gibt, denen viel daran liegt, dass es den Pudel auch über 2028 hinaus noch geben wird.
Als letztes Refugium einer zusehends ausgedünnten Independentkultur?
Es geht weniger um Independent, als darum, was aus dem Stadtteil insgesamt wird. Und das hat nicht nur mit Musik zu tun, sondern auch mit den Menschen, die hier leben und arbeiten. Der Stadtteil steht vor dem Ausverkauf, alles wird privatisiert, alte, vor allem arme Anwohner werden vertrieben. Dagegen kämpfen wir auch mit dem Pudel.
Mit der ernsten Aussicht auf Erfolg oder auch ein bisschen, um sich wenigstens nicht kampflos ins Unvermeidbare zu ergeben?
Wenn man nicht glaubt, dass sich was verändern lässt, braucht man auch nicht dafür grade zu stehen. Und wenn wir St. Pauli aufgeben, wäre der letzte widerständige Part Hamburgs mit einem Rest von Kanten, Dreck und Unverkäuflichkeit verloren. Es gibt also die Hoffnung, unsere Ideale von einer lebenswerten Stadt für alle durchzusetzen.
Wird das nächste Album dem dann auch wieder musikalisch Ausdruck verleihen?
So weit kann ich grad nicht denken, dafür hat die Arbeit an diesem Projekt zu viel Kraft und Zeit gekostet.
Bleibt da wenigstens noch Luft für eine Fortsetzung von Fraktus?
Da sind wir seit zwei Jahren dran, aber Investoren, Sender, Produzenten zu finden, die so was finanzieren, ist nicht einfach. Für den ersten Teil haben wir 13 Jahre gebraucht! Das wird ein schwerer Weg. Kannst dir ja ausrechnen, wann dann der zweite kommt.
Ungefähr, wenn euer Pachtvertrag für den Pudel Club verlängert wird?
Nach 225 Folgen in zwölf Jahren und Milliarden fröhlicher Zuschauer ist der Vorreiter des jüngsten Sitcom-Booms am Dienstag auch in Deutschland vom Bildschirm abgetreten. Natürlich wird Pro7 noch bis in alle Ewigkeit Wiederholungen senden, doch mehr denn je stellt sich nun die Frage, warum Two and a Half Men eigentlich so absurd erfolgreich waren? Ein Erklärungsversuch.
Von Jan Freitag
Es gibt unzählige Arten zu lachen: Gehässiges und herzliches Gelächter, schallendes und bauchiges, bitteres und blödes, überdrehtes und verstohlenes, falsches wie ehrliches. Lachen, das im Halse stecken bleibt, zu Herzen geht oder nach innen erfolgt. Es gibt also schönes und hässliches Lachen. Das hässlichste aber, schlimmer als jedes schadenfroh sarkastisch hinterhältige Fieslingslachen ist: Lachen vom Band.
Nicht umsonst nennt man es in den USA, wo so eine Tonspur seit 1950 über den Fernsehhumor gekippt wird, Lachkonserve: abgekocht, aseptisch, wenig nachhaltig, ewig haltbar. Da es den Zuschauern vorm Bildschirm schwerfällt, Gefühlen freien Lauf zu lassen, delegieren sie ihre Empfindung an andere. Die Sozialwissenschaft spricht von Interpassivität: Pointe, Plastiklacher, Pulsanstieg samt Spaßgefühl, als habe das Publikum selbst gelacht. Klingt nach einem netten Service in isolierter Zeit. Einerseits. Andererseits signalisieren Lachkonserven auch an ziemlich witzlosen Stellen Humor.
Womit wir in Malibu-Beach wären.
Hier nämlich haben Charly, Alan, Jake und Walden ein Häuschen am Strand, in dem es zwar meist komisch zugeht, aber selten so brüllend, wie das ständige Kunstlachen suggeriert. Beispiele gefällig? „Morgen, Jake, wie willst du deine Eier?“ Antwort: „Im Osternest!“ Hysterisches Lachen. Oder: „Warst du im Bett?“ Antwort: „Nicht in meinem!“ Hysterisches Lachen. Oder: „Ist dir dein Vater plötzlich nicht mehr gut genug?“ Antwort: „Was heißt denn hier plötzlich!“ Hysterisches Lachen. Mal zum Schmunzeln, mal zum Grinsen, nie zum Brüllen – so geht es immerfort, bei Two and half men, der erfolgreichsten Sitcom ihrer Generation.
Zwölf Staffeln, 225 Folgen, gut ein Jahrzehnt lang Quotenkrösus in 40 Ländern, auf ProSieben schon mal ganztätig, Kalauerfutter für Milliarden rund um den Erdball. Mit Fließbandwitzen zum Thema Sex, Saufen, Saufen und Sex schreibt die CBS-Serie seit der Erstausstrahlung am 22. September 2013 Fernsehgeschichte. Genauer: schrieb. Jetzt lief die Story um eine groteske Männer-WG mit Charly Sheen als trinkfreudigem Weiberheld, John Cryer als sein geschiedener Bruder, Angus T. Jones als dessen dicker Sohn Jake und Ashton Kutcher als melodramatischer Milliardär, der die moralisch versiffte Hauptfigur zur neunten Staffel ersetzt hat, zum letzten Mal.
Das ist schon eine Würdigung wert. Kritiker würden sagen: auf dem Weg zur Hölle, Fans hingegen: gen Himmel. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Two and a Half Men hat ja in vielerlei Hinsicht Maßstäbe gesetzt. Wirtschaftlich war die Serie derart erfolgreich, dass Charly Sheen zum Gründungsmitglied des Million-Dollar-Clubs jener Seriendarsteller wurde, die pro Episode siebenstellig verdienen, was der junge Angus zwar nur zu einem Viertel erreichte, damit aber zum bestbezahlten Kinderstar seiner Generation wurde. Personell hatte Chuck Lorres Erfindung auch nach dem Rauswurf des zügellosen Superstars vor gut drei Jahren eine so große Sogwirkung, dass die Liste prominenter Gastauftritte von Sean Penn über Mila Kunis und Megan Fox bis hin zu Arnold Schwarzenegger schier endlos ist. Doch selbst dramaturgisch ging das Format über die Aneinanderreihung derber Zoten hinaus.
Die blutsverwandte Männergruppe war nämlich nicht weniger als ein Abbild der Anschlussblockade ihrer Geschlechtsgenossen ans neue Jahrtausend. Zwischen Spaßgesellschaft, Dauerkrise und Hyperindividualismus wurden nach 9/11 ausgerechnet die Herren der Schöpfung abgehängt. Ausgerechnet diese zweieinhalb Kerle kennzeichnen da drei Archetypen dieser Verkümmerung: Auf der einen Seite Alan, ein Emanzipationsverlierer mit prekärem Job im Gesundheitswesen, dessen Männlichkeit im steten Clinch mit Anspruch und Wirklichkeit liegt. Auf der anderen Charly, ein Adoleszenzverweigerer, der den drohenden Bedeutungsverlust mit verantwortungslosem Sex, reichlich Alkohol und mangelndem Realitätssinn kompensierte. Und mittendrin Jake, der seinem Vater die Coolness des Onkels soufflieren muss und umgekehrt etwas Vernunft, was den heillos verfressenen Teenager zuletzt von der Spielkonsole zur Army führt, also hinein in die letzte Bastion amerikanischen Männlichkeitskults, aber raus aus der Serie.
Besser könnte man die Abwärtsspirale im Way of Life der USA kaum darstellen. Im Kern geht es allerdings nicht um soziokulturelle Relevanz, sondern ein Medieninvestment zur heiteren Entspannung nach Feierabend. Auch im gestrigen Finale ging es also bestenfalls hintergründig um ein Fazit, gar Lösungsansätze für die Zukunft, sondern ausschließlich um die Show. In durften Gaststars wie Arnold Schwarzenegger auftreten, Rückkehrer wie der gereifte Jake und nicht zuletzt Charly, den man zwar nur hüftabwärts von hinten sehen konnte, als umflort von den üblichen Sexwitzchen mit Promille ein fliegendes Klavier auf ihn herniederging und sodann ein zweites auf den Showrunner. Es ist also wirklich zu Ende. Ist es?
„Und alle so Yeah.“ Auf diese vier Worte kann man den Start der Zukunft vor einer Woche ungefähr reduzieren. „So Yeah“ haben in Daniel Bröckerhoffs hipsterbärtig dekorierten Kopf nämlich all jene gesagt, die vom Bahnstreik betroffen waren. Gut, viel mehr hatte der Moderator zum Start von heute+ über den neuerlichen Ausstand ohnehin kaum zu sagen als das, was alle angeblich rufen, aber darum ging es auch nicht in den Nachrichten von morgen. Es ging darum, sich inhaltlich egal, aber ästhetisch angemessen an die Generation Online ranzuwanzen, als sei LeFloid Anchorman des ZDF.
Oder sagen wir: als sei Thomas Gottschalk ein Showmaster, der in Würde altert. Das würde er vielleicht sogar wollen, weshalb er Wetten, dass…? weit vorm Tiefpunkt abgegeben hat. Aber sein aktueller Arbeitgeber RTL hat andere Vorstellungen vom Ruhestand und ließ den Altstar zum Geburtstag albern über die Werbebühne hüpfen, als habe man mit 65 keinen Anstand mehr zu verlieren. Jenseits von gut und böse, nennt man das wohl, ein Zustand, in dem das Fernsehen insgesamt längst angekommen ist – das zeigen nicht zuletzt diese überdrehten Monstermegagutelauneevents à la ESC, mit dem die ARD Samstag wieder sich und die Konturlosigkeit des Mainstreams zelebrierte, für den der veranstaltende ORF allen Ernstes Arabella Kiesbauer als Moderatorin aus der Versenkung gezaubert hat.
Da war es doch erbaulich, als Pfarrer Gereon – kein Scherz: Alter im vorangehenden „Wort zum Sonntag“ von der Reeperbahn betonte, nicht eine perfekte Show mache das Leben lebenswert, „sondern die vielen kleinen Menschlichkeiten“. Dummerweise verhallten die hehren Sonntagsworte des Geistlichen unverzüglich im LED-Gewitter einer Ballermannsause, die statt irgendwann mal zu enden sogar nach Australien expandiert ist. Zu Ende ging dieser Tage hingegen etwas ganz anderes: Epochen. Vorige Woche lief die letzte Folge Mad Men, deren präzise Studie des Grundgerüsts unserer Konsumgesellschaft TV-Geschichte geschrieben hat.
Die Frischwoche
25. – 31. Mai
Ohne allzu präzise irgendwas außer den unverwüstlichen Drang zur Zote zu studieren, endet noch was anderes mit Männern im Titel, zweieinhalb nämlich, die 262 Folgen lang die Vielfalt von Geschlechterstereotypen als Pointenbasis durchdekliniert hat. Dienstag um 20.40 Uhr ist bei Pro7 Schluss – mit dem Auftritt abgetretener Protagonisten und zweier Pianos. Schluss ist zwei Tage später an gleicher Stelle auch endlich mit der Suche von Heidi Klum’s Next Bulimiestute 2015, wenn das abgebrochene Finale nachgeholt wird.
Man merkt schon: die Fernsehwoche wird von eher anspruchslosen Geistern geprägt. Sie sehen dem ZDF wohl auch dabei zu, wenn es die frühere Gastronomie-Sanierung auf RTL als Rach und die Restaurantgründer recycelt, oder wenn RTL2 Jeremy Clarksons benzintriefende Schwanzparade Top Gear ab Sonntag (17 Uhr) statt made in Britain made in USA zeigt. Im sexistischen Temporausch gehen natürlich die paar Perlen unter. Den französischen Dreiteiler In der Haut des Anderen zum Beispiel über einen Pianisten, der mit neuer Identität erwacht und fortan die alte sucht, was Arte am Donnerstag ab 21.45 Uhr am Stück sendet. Und dass Rainer Werner Fassbinder am Sonntag 70 geworden wäre, sollte eigentlich Anlass für eine umfassende Retrospektive sein. Leider ist den Staatssendern der Regieberserker auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod noch zu suspekt für wahre Würdigungen.
So bleibt es Mittwoch beim kurzen Themenabend auf Arte, inklusive Die Ehe der Maria Braun und einem gelungenen Filmporträt im Anschluss, während der BR Schlöndorffs frisch wiederentdeckte Brecht-Adaption Baal mit Fassbinder als saufenden Dichter Sonntag um 22.10 Uhr versteckt. Dass dies im Grunde bereits Gebrauchtwarenempfehlungen sind, zeigt, wie wenig sehenswerte Neuware das Medium anbietet – ist aber ein guter Übergang zu den Wiederholungen der Woche, die ebenfalls mit Volker Schlöndorff einsteigen: Sein Tod eines Handlungsreisenden (Dienstag, 22.15 Uhr, ZDFkultur) hat 1985 Arthur Millers Bühnenstück mit Dustin Hoffman als desillusionierten Vertreter kinotauglich verfilmt. Und am Freitag zeigt ServusTV um 22.15 in schwarzweiß Der dritte Mann von 1949. Besser geht’s nicht. Und alle so Hipphipphurra!
Nirgends können sich Kinder so erwachsen fühlen und Erwachsene gleichsam so jung wie in Småland, dem Rohstoff von Astrid Lingrens Erzählungen einer selbstbewussten Kindheit. Ein Rundreise durch Vergnügungsparks ohne Karussele, liebliche Landschaften und eine Stadt aus Holz zu Pippi Langstrumpfs 70. Geburtstag.
Von Jan Freitag
Ob Steine reden können? Die Frage drängt sich förmlich auf in dieser Kleinstadt am Nordrand Smålands: Eksjö, Inbegriff südschwedischer Betulichkeit, wo das Knüppelpflaster rumpelt als rollten noch Pferdefuhrwerke zum Markt, wo jeder Ziegel Geschichte atmet. „Unsere Steine sind sogar richtig gesprächig“, sagt Christina Giebs in fließendem Deutsch. Sie lacht. „Aber Holz“, fügt die ortskundige, ach: ortsversessene Lehrerin hinzu und ihre Begeisterung schüttelt den ganzen Leib vor Heimatliebe, „Holz redet nicht nur, es erzählt“. Und zwar von mehr als bloß Architektur, Wohnen, Vergangenheit. Holz, wieder dieses Ganzkörperlachen, „Holz hat Gefühle“. Und von denen wolle es berichten.
Also lassen wir es zu Wort kommen, in einem skandinavischen Bilderbuchort, dessen Name von Eingeborenen wie Christina intoniert wird, als gurgele sie dabei mit Magerquark. Aus Eksjö wird also Ähch’hö, unaussprechlich wie dieser zauberhafte Ort in einem verzauberten Land. Småland. Kleines Land. Lindgren-Land, doch dazu später mehr. Zunächst mal geht es um die „Holzstadt“, wie Eksjö genannt wird. Es ist die wohl süßeste all jener nicht allzu großen bis ziemlich kleinen Siedlungen der Provinz, die vornehmlich aus dem schwatzhaften Lieblingsmaterial dieser waldreichen Gegend gefertigt sind. Meist sind es rotweiß getünchte Zungenbrecher à la Hjo, und glaube niemand, Gränna spräche sich auch Gränna aus. Vieles hier ist in seiner schlichten Schönheit schwer begreiflich. Und wenig ist so unbegreiflich schön wie Eksjö. Zumindest im Innern.
Denn wer das Herz dieses sorgsam konservierten Mittelalterfleckens mit seinen kaum 10.000 Bewohnern durchmisst, unternimmt eine kleine Zeitreise durch die lange Vergangenheit einer Gemeinde, die es so gar nicht geben dürfte. Nicht mehr. Zwei Drittel der Altstadt, schwärmt Christina, die es nach 20 ihrer 47 Jahre in Deutschland erst kürzlich wieder heimwärts zog, seien vor 1900 erbaut, ein Viertel gar bis 1850. Und dass der Durchschnitt dieses abrissfreudigen Landes von sechs Prozent so deutlich übertroffen werde, liege weniger an der Verwaltung oder gar Zufall, „es liegt an den Bewohnern“. Einfache Leute, meint Christina fühlbar stolz, die schon zu einer Zeit gegen drohende Wurzelvergessenheit ihrer Stadt protestierten, als etwas Abstraktes wie Denkmalschutz noch gar keinen Platz im Alltag fand.
Im beschaulichen Krusagården nämlich, dem König Gustav VI. Adolf 1954 bei einem Besuch persönlich den ortsüblichen Glücksbaum als symbolischen Brandschutz ins Hofzentrum pflanzte, sollte zehn Jahre zuvor anstelle des alten Handelshofs ein modernes Warenhaus entstehen. Doch es regte sich rasch Widerstand. Heftig. Und erfolgreich. Ohne ihn hätte, wo heute ein Verein älterer Damen inmitten redseligen Holzes Kaffee und Waffeln serviert, fortan schweigsamer Stein regiert. Geschäfte statt Gemütlichkeit. „Es wäre der Anfang vom Ende unserer Seele gewesen“, glaubt Christina. Und zwar lang vorm Beginn ihres Hobbys, in den endlosen Sommerferien dieser winterdunklen Region Besucher durch die Gassen, Winkel, Gebäude zu lenken.
Es sind beredte Zeugen eines Wohnraum gebliebenen Museums, um das sich der Eksjöån schlängelt, als sei der Bach, den selbst zugezogene Schweden oft falsch aussprechen, ein Burggraben. Das städtische Markenzeichen aber sind die reich bepflanzten Innenhöfe, deren Baumbestand wie besagte Königseiche ein magisches Licht auf verwitterte Sitzbänke in wilden Blumenbeeten streut. Liebevoll vernachlässigt, erzählen Dutzende Gården genannten Oasen in der Oase von den Menschen, die darin weiterhin leben, mehr aber noch von jenen, die es einst taten. Vom Hutmacher Axel, dessen militärischer Auftraggeber so gut zahlte, dass der Laubengang im Forssellska Gården noch 100 Jahre später den Wohlstand seines bekanntesten Besitzers bezeugt. Vom Kupferschläger Nils, der dem Fornminnesgården gegenüber des Stadtmuseums schon im 17. Jahrhundert sein uriges Gesicht verlieh. Vom Barbier Johann, der ein paar Meter weiter vor bald 400 Jahren als Bader Kranke heilte, wovon noch heute eine Rasierschüssel über der Tür und putzige Anekdoten von Christina berichten. Und natürlich vom Aschanska Gården, dem ältesten vor Ort, der jedem Stadtbrand getrotzt hat und dennoch aussieht, als hätte man nach dem letzten schlampig renoviert – unprätentiös, aber urgemütlich, wie er sich zwischen die zwei Hauptwege der Altstadt legt.
Fast alles hier wie überall in der Gegend verströmt einen speziellen Duft aus Pragmatismus und Verspieltheit, gestern und heute, aus Fürsorge und Laissez Faire, im Grunde also Erwachsenenwelt und Kindheit – jene Mischung, die Småland auch literarisch prägt. Denn im Rückzugsraum von Eksjö spürt man ebenso wie in den Ortschaften ringsum, wie in ganz Südschweden das, was Astrid Lindgren in ihrer Heimatregion gespürt haben mag, um die Zeitlosigkeit ihrer Geschichten zu grundieren. Wer zum Beispiel Michel liest, der im Herbst 50 Jahre Erstveröffentlichung feiert, findet in der Gemeinde Eksjö all die realen Vorbilder literarischer Orte: Lönneberga, Mariannelund, selbst Katthult, als Dorf und als begehbare Drehkulisse, Michels Fluchtschuppen inklusive. In Småland, wo neben vielen Büchern auch ein Großteil der Filme entstand, wird aus Lindgrens Einfallsreichtum Wirklichkeit und aus ihr wieder Phantasie.
Denn nur hier, so scheint es, konnte die Wechselwirkung von Wahrheit und Fiktion eine solch schöpferische Wucht entfalten. Weshalb daraus wohl nur hier ein wahres Märchenland entstehen konnte wie Astrid Lindgrens Värld am Rande Vimmerbys, wo die Schriftstellerin 1907 zur Welt kam. Und diese Welt eine Stunde östlich von Eksjö ist nicht weniger als der schönste Erlebnispark überhaupt, Schwedens größtes Freilichttheater, dessen sechs Bühnen von früh bis spät die Werke der Nobelpreisträgerin vorführen. Auf Schwedisch zwar, aber das macht den 50.000 Deutschen pro Jahr offenbar nichts aus, die den 76 Schauspielern lauschen, als sprächen sie eine universelle Sprache. In Kulissen, die nicht bloß Hintergründe bilden, sondern Organe eines lebendigen Körpers.
Ronja Räubertochters Matthisburg etwa, in annähernd voller Pracht aus solidem Stein erbaut; die Villa Kunterbunt, statt nur Fassade ein richtiges Haus mit richtigem See, richtigem Piratenschiff und falschem Pferd, das eine der drei jungen Pippi-Darstellerinnen per Seilzug hebt. Oder Michels Bauernhof, als sei die berühmten Serie 1971 hier gedreht worden, statt in der Gegend um Marinannelund, wo die Zeit nach der letzten Klappe stehen geblieben scheint. Dazu Bullerbü und Karlssons Dach, viel Wald und Viehweiden, robuste Spielgeräte aus Astrid Lindgrens Schaffensperiode und bloß am Anfang, mehr Pflicht als Profitmodell, die Merchandisingshops nebst Kino.
Das Einzigartige aber, eine Art Alleinstellungsmerkmal: Supermegamammutloopingbahnen gibt es hier ebenso wenig wie simple Karussells und auch sonst nichts vom überdrehten Entertainment der Marke Disney. Auf diese Reduktion bestand die Autorin bereits 1990, als aus der kostenlosen Miniaturversion ihres Heimatortes peu à peu die große Welt ihrer Figuren wurde. Weil sie Kommerz strikt ablehnte, gibt es auch elf Jahre nach ihrem Tod statt Pommes und Cola nur Gerichte, die auch ihre Protagonisten essen. Deshalb kosten Kaffee und Zimtschnecke keine zwei Euro, deshalb ist das einzige, was keinen Bezug zu den Büchern hat, Pippis selbsternannte Gouvernante Fräulein Prysselius, die nur in den Filmen vorkommt. Und deshalb, das vor allem, ist die einzig echte Sensation hier eine Stille, die für Erinnerung, Besinnlichkeit und doch ein Gefühl von Abenteuer, Freiheit, Renitenz sorgt.
Kein Teich ist umzäunt, kaum ein Weg befestigt und wenn der Vorhang eines Stückes fällt, dürfen, nein: sollen die Zuschauer jede Kulisse betreten. So gerät der Park zum Refugium der Anarchie im verregelten Spaßalltag moderner Freizeitparks. Hier ist definitiv nicht Thomas-und-Annika-Land, hier ist Pippi-Land. Was auch bedeutet: Astrid Lindgrens Värld ist ein Erwachsenenpark für Kinder und umgekehrt Kinderpark für Erwachsene. Und sicher nicht ohne Grund legt die Erfinderin ihrer berühmtesten Figur einen Satz in den Mund, der dieses Paradox betont. „Liebe kleine Krummelus“, sagt Pippi am Ende zu einem der vielen Produkte ihrer unerschöpflichen Vorstellungskraft, „lass uns niemals werden gruss“.
Mit diesem holprigen Reim wünscht sie sich und ihren Freunden, ewig Kinder zu bleiben. Was allerdings – wie Lindgren selbst mal sagte – ein zutiefst erwachsener Wunsch ist. Denn Kinder wollen ja wachsen und zwar schnell. Nur die Großen wünschen sich bisweilen wieder klein zu sein, spätestens dann, wenn sie hier mit Tränen in den Augen die Anfangsmelodien der zeitlosen Filme hören, wenn die Figuren dazu Lindgrens Idee vom selbstbewussten Reifen zelebrieren, wenn Eltern spüren, was diese Bücher aus ihnen gemacht haben und ihre Kinder, wie sie mit ihnen das Gleiche anstellen.
In dieser Welt können also beide beides sein, alt und jung, groß wie klein, erwachsen aufwachsend. Und das teilt Lindgrens Värlt mit der erlebnisreich ereignislosen Nachbarschaft Smålands, in der so wenig passiert und gerade deshalb so viel. In der es rotweiße Holzhäuser gibt wie andernorts Autos, und kostenlose Badestrände wie Parkplätze, aber keine künstliche Unterhaltungsstruktur. Nur Land und Leute. Wer die Landstraße 40 gemächlichen Tempos von Ost nach West und zurück fährt, dem zeigt sich halb Südschweden, ganz Småland, die Gemeinden Eksjö und Vimmerby nicht als Resultate städtebaulicher Prozesse, sondern eigens entworfen für die Bestätigung dessen, was als Bullerbü-Syndrom in den Strom unverwüstlicher Klischees vom idyllischen Nachbarland einfließt.
Das merkwürdige an diesem Klischee aber ist: irgendwie stimmt es, wenigstens ein bisschen. Sofern man sich drauf einlässt und für ein paar Wochen im Sommer sein Alter vergisst, den Alltag, alles. Am Hunsnäsen-See etwa, sagt Christina Giebs, „da ist das möglich“. Einfach ans Ufer setzen, übers gekräuselte Wasser auf Eksjö schauen und sich fühlen wie zu Astrid Lindgrens Zeit. Sie lacht wieder ihr Ganzkörperlachen. So einfach ist das.
Der Text ist vorab in der Süddeutschen Zeitung erschienen
Fachleute behaupten, ohne Peter Urban aus dem betulichen Bramsche würde der glamouröse European Song Contest vermutlich nicht gewertet. Tatsache ist, dass der Moderator aus Hamburg seit 1997 die nüchterne Stimme im Wahnsinn des ESC liefert und den Reiz-Overkill am Samstag in der ARD auch lange nach seiner Pensionierung mit sanfter Ironie erden wird.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Urban, Sie moderieren den Eurovision Song Test schon, seit er noch Grand Prix d’Eurovision de la Chanson hieß. Welchen Begriff benutzen Sie?
Peter Urban: Ich sage Eurovision Song Contest, wie es eben heißt, aber manchmal rutscht noch Grand Prix raus oder man sagt es in der Moderation, um ein wenig Abwechslung zu haben. Sonst wirst du ja affig, bei der langen Bezeichnung.
Richtige Puristen bleiben bei der.
Echte Puristen hängen wahrscheinlich sogar noch das de la Chanson an. Gott ist das lang. Im englischen Bereich hieß es ohnehin immer ESC, nur wir haben den französischen Titel übernommen. Das haben wir irgendwann geändert, weil es einfach frischer klingt.
Kennen Sie Puristen, für die Tradition alles ist und der Grand Prix ein Fels in der Brandung des Schlagers?
Klar kenne ich die, aber schon der Begriff Schlager ist ja zwiespältig. Ob die darauf Wert legen weiß ich nicht, aber es gibt viele, die auf die alte Art des Wettbewerbs beharren. Es ist gerade vor Ort unfassbar, wie viele Fangruppen existieren, die sich teilweise Journalisten nennen, kleine Fanzines, Zeitschriften, Magazine schreiben und in Massen aus ganz Europa ankommen, die bestehen schon auf traditionelle Abläufe. Viele hätten gern die alten Jurys wieder, worüber man sicher streiten könnte; einige Gewinner hätte es mit dem TED nicht gegeben und einige nicht ohne ihn. Aber die Rückkehr zum alten Schlagerambiente ist eher unerwünscht. Es ist ohnehin eher ein deutsches Phänomen, mit dem Vorurteil zu kämpfen zu haben, es sei ein Schlagerwettbewerb, weil deutschsprachige Popmusik bis in die Siebzigerjahre hinein eben Schlager war. Deutscher Pop fängt eigentlich erst mit Udo Lindenberg an und nahm in den Achtzigern Konturen an, aber so was wurde nie hingeschickt. Die meisten anderen Länder haben immer wieder seriöse Künstler entsandt, während es bei uns stets die leichtere Ecke war.
Wo positionieren Sie sich selbst – eher Gesangswettbewerb oder eher Event?
Also Showelemente sind absolut unerlässlich. Es ist ja kein Wettbewerb des Songs allein, sondern eine Fernsehsendung. Da muss logischerweise etwas zum Schauen angeboten werden. Mir wäre allerdings manchmal lieber, die Künstler würden doch mehr Wert auf die Musik legen also auf die hundertste Choreografie, die einem zu den Ohren raushängt. Das wiederholt sich ja alles, völlig langweilig, immer wieder ein paar herumhüpfende Tänzer im Gegensatz zur Musik – das stört mich schon manchmal bei den Darbietungen, wenn es nur ums Gutaussehen geht. Ich hab’s lieber etwas simpler, dafür auf die Musik konzentriert.
Deshalb haben Sie Auftritte wie den der Monsterrocker Lordi so kritisiert.
Nein, da hatte ich nur anzumerken, dass das keine vernünftige Darbietung für ein Familienprogramm sei. Das ist in seinem Genre für ein bestimmtes Publikum eine beliebte Band, aber ob ich das jetzt um neun Uhr Abends sehen will… Meine Tochter war damals sieben – die durfte das nicht sehen und wollte es auch nicht, um keine Albträume zu kriegen. Das war eher eine geschmackliche Frage.
Mit Exzentrik haben Sie keine Probleme.
Im Gegenteil, das ist sehr gut, solange die Musik dazu ein gewisses qualitatives Niveau hält. Im früheren Einerlei fehlte mir das oft, dieses Auf und Ab, die verschiedenen Stile, die Rocksachen. In diesem Jahr gibt es sehr viel Rock, was einen Stil bedient, den es früher nicht gab. Diese musikalische Abwechslung kann von mir aus noch häufiger stattfinden. Ich würde zum Beispiel unsere erfolgreichsten Bands dorthin schicken wie Silbermond, Juli oder einen Xavier Naidoo, der Soul auf Deutsch singt. Das wären doch die besseren Vertreter, ohne jetzt zu sagen, die aktuellen seien schlecht. Roger Cicero ist eine gute Nummer, sie ist originell, vielleicht für den Rest Europas zu schwierig zu verstehen, aber in den letzten Jahren hatten wir mehrfach Dinge dabei, die wir besser nicht hingeschickt hätten. Das lag aber auch am Vorentscheid, wo es nicht das entsprechende Angebot gab. Aber die Musikwirtschaft hat sich auch nicht sonderlich bemüht, etwas Besseres anzubieten.
Sondern – wer hat das Vorschlagsrecht?
Das geschieht in Abstimmung mit den Fernsehredaktionen mit den Unterhaltungschefs der ARD. Da bin ich nicht involviert.
Was hat sich in all den Jahren, die Sie mittlerweile moderieren, gravierend geändert?
Rockbeiträge. Katrina and the Waves gewannen gerade, als ich das erste Mal dabei war, in Dublin. Dass es kein Orchester mehr gab, dass Playbacks benutzt wurden, die den heutigen Stand der Produktionstechnik einfach besser repräsentieren als eine Liveaufführung mit Orchester. Gerade eine Hiphop-Performance kann man live nicht so gut darbieten wie im Studio mit all den Samples. Es hat sich nicht in klarer Linie verändert, sondern in Wellenbewegungen. Als mit Ruslana aus der Ukraine eine rhythmische Ethnonummer gewann, kamen im Jahr darauf fünf ähnliche Beitrage in dem Stil, was natürlich vollkommener Schwachsinn ist, aber diese Tendenzen gibt es immer: wenn etwas erfolgreich war, wird es im nächsten Jahr kopiert oder entwickelt. 2006 hat eine Hardrocknummer gewonnen und prompt gibt’s mehr Rock, aus Andorra, aus Ländern, von denen man es nie erwartet hätte. Aber auch das ist keine klare Linie. Man könnte jetzt das Visuelle, Rhythmische als Trend bezeichnen, aber direkt davor gab es noch diese beiden Brüder aus Dänemark.
Die Olsen Brothers.
Ziemlich mittelalterlich, die da mit Wandergitarren ein hübsches Liedchen sangen. Davor allerdings gewann mit Marie-Anne jemand, der vor allem durch ständige Kostümwechsel Eindruck geschunden hat.
Andererseits spiegeln die Olsens eher das Zuschaueralter wieder, das sicher eher höher ist.
Das stimmt, aber ich kenne da keine Untersuchungen. Die Quoten sind jedenfalls nach wie vor sehr hoch und in Deutschland waren sie das unter jungen Zuschauern besonders, als Stefan Raab antrat, Guildo Horn 1998 oder Max Mutzke in Istanbul. Was über Raab-Schiene kommt, zieht junges Publikum, ich weiß aber nicht wie sich so was im Ausland verhält. In Schweden zum Beispiel ist der Wettbewerb für alle Generationen ein Muss. Die haben schon beim Vorentscheid 70 Prozent, in England dagegen nehmen Jüngere das nur noch als Comedy wahr, was man regelmäßig an deren Beiträgen sieht, was oft nicht ernst zu nehmen ist.
Und das aus dem Flaggschiff des Pop.
Genau. Das ist immer meine Standardfrage: Ihr seid das Mutterland der Popkultur und schert euch nicht um diesen Contest. Das liegt aber auch daran, dass die Musikindustrie dort überhaupt keinen Wert darauf legt. Das merkt man, auch das Fernsehen ist nicht sonderlich engagiert, deswegen gibt es auch in diesem Jahr wieder nur eine dancige Klamauknummer. Die rangeln um die letzten beiden Plätze.
Ist es denn in Deutschland so, dass sich die jungen Leute eher auf dem Hamburger Spielbudenplatz treffen, um die Grand-Prix-Party zu feiern und die Älteren gucken ganz sachlich daheim?
Sicher, gerade in Hamburg ist das ein Großereignis, aber die Massenpartys wird es dieses Jahr in Deutschland eher nicht geben. Die gab es bei Guildo Horn. Aber ob man diese Trennung nach Generationen vornehmen kann, bezweifle ich. Mein eher älterer Finanzberater fragt mich zum Beispiel ständig, ob wir wieder eine Riesenparty machen, zu der er mit seiner Frau gehen kann.
Wo würden Sie es sehen, wenn Sie nicht gerade arbeiten müssten.
Zuhause. Ich suche auch beim Fußball nicht gerade die Massensituation, sondern bleibe privat oder in kleiner Runde.
So wie früher.
So wie früher, auch wenn ich es in den Achtzigern nicht mehr so intensiv verfolgt habe. Am meisten habe ich es, auch wenn mein Musikgeschmack damals ein anderer war, in den Sechzigern gesehen. Aber aus Interesse am sportlichen Wettbewerb. In den Neunzigern gab es dann in Deutschland den Tiefpunkt, als es in einem Jahr nur in den Dritten Programmen übertragen wurde, weil es nicht dabei war. Insofern finde ich gut, dass es so sehr wiederbelebt wurde, und zwar mit Quoten auf höchstem Standard.
Absteigen kann Deutschland nicht mehr.
Nein, wir finanzieren den Wettbewerb als eines von vier Ländern. Ich persönlich bin mit internationaler Rockmusik groß geworden, die auch in meinem normalen Berufsleben als Radiomoderator eine wichtige Rolle spielt. So gesehen kommentiere ich den Grand Prix als Event, wie früher Spiel ohne Grenzen, das macht mir Spaß. Ich sehe es nicht als großes Kulturereignis, das große Entwicklungen für die Popmusik bedeutet.
Die Übertragung erinnert für Sie ohnehin eher an den Alltag – Sie werden ja nicht im Bild zu sehen sein, sondern vor Ort aus der Box moderieren.
In der Tat. Ich bin gar nicht zu sehen, so wie beim Fußball. Aber die Abstimmung macht mir schon am meisten Spaß. Und er Versuch, ein wenig Ironie unterzubringen, damit es nicht allzu ernst bleibt. Da muss man gleichwohl vorsichtig sein, die nationalen Befindlichkeiten nicht zu sehr zu treffen. Ich bekomme nach der Sendung oft Mails von Menschen, die in Deutschland leben, wenn ich etwa das Kleid des armenischen Beitrags schlecht gemacht habe. Die Leute sind da oft ein bisschen zu empfindlich.
Was auch damit zu tun hat, dass die Veranstaltung immer mehr den Charakter einer nationalen Erweckungsveranstaltung annimmt. Gerade bei den neueren Teilnehmern in Osteuropa scheint sich der Sieg zur Frage kollektiver Identität und nationalem Selbstbewusstsein auszuwachsen.
Das hat sich geändert, ganz klar. Die Länder des Balkans empfinden den Wettbewerb als eine Möglichkeit, ihre nationale Identität darzustellen und geben sich unheimliche Mühe. Wie eine Staatsangelegenheit, die von offizieller Seite unterstützt wird. Sie präsentieren ihr Land in der Welt, aber auch ältere Teilnehmer wie die Türkei oder Griechenland – als die das erste Mal gewonnen haben, waren das nationale Eruptionen, des Stolzes. Gerade in einer Zeit, wo man in der riesigen EU unterzugehen droht, kann man so wieder nationale Besonderheit und Größe zeigen. Wie beim Fußball. Nur gelingt es da nicht so vielen, also ist das die neue Methode, mit der sich gerade kleine Länder mal profilieren können.
Stört sie diese Nationalisierung?
Nicht, solange man es in Grenzen hält. In Deutschland ist das oft schwer zu verstehen, diese Euphorie für den Wettbewerb gibt es bei uns nicht.
Und dann hat beim ersten deutschen Sieg auch noch ein internationalistisches Friedenslied gewonnen.
Auch wenn es musikalisch ein Schlagerliedchen war, das allerdings das internationale Friedensthema sehr geschickt aufgepickt hat. Dafür hat Ralph Siegel eben ein Händchen. Auch, als er 1999 in Jerusalem stattfand, schickten wir ein Völkerverständigungslied einer deutsch-türkischen Gruppe hin und landeten auf Platz drei. Sürpriz. Ganz cleveres Ding. Oder als der Wettbewerb in der Ukraine stattfand, steckte das Land gerade in der orangenen Revolution und dieser Erweckungsruf ging auch durch den Wettbewerbsbeitrag.
Sind Sie ein Grand Prix-Patriot?
Also ich freue mich, wenn ein guter Titel gute Plätze erringt und verhalte mich loyal, aber ich habe keine nationale Brille auf. Wenn wir einen tollen Titel haben und vorn landen, freue ich mich. Aber ich habe mich auch über den achten Platz von Michelle gefreut, obwohl das nun wirklich nicht meine Tasse Tee war. Oder als Max Mutzke Achter wurde. Und selbst der fünfte Platz von Stefan Raab, der nicht grad einer der sympathischsten Menschen ist, aber ein sehr cleverer und kluger Mann, hat mich sehr gefreut.
Da stellt sich die Frage, ob die großen alten Nationen des Grand Prix überhaupt je wieder eine Chance haben, durch diese Phalanx osteuropäischer Länder zu dringen, von der oft die Rede ist.
Das sehe ich nicht so. Es gibt sicherlich eine Gemeinschaft füreinander zu stimmen, aber das liegt auch am ähnlichen Musikgeschmack, der etwa auf dem Balkan vorherrscht. Die Russen, die in allen anderen alten Gebieten leben, stimmen natürlich häufig für ihren Beitrag, aber das reicht nicht. Man muss Stimmen aus allen Ländern bekommen, um zu gewinnen. Die Hilfs-, die Bruderstimmen helfen für Platz acht bis zwölf. Unter die ersten zehn zu kommen, die direkte Qualifikation fürs nächste Finale also, ist damit allein nicht zu schaffen. Die automatisch qualifizierten großen Vier wie Frankreich, England, Deutschland kommen ja meist gar nicht so weit. Fürs Gewinnen reichen die Bruderländer nicht aus. Aber die Franzosen, die den Wettbewerb ansonsten immer so furchtbar bierernst nehmen.
Und den Begriff Chanson noch wörtlicher nehmen.
Genau. Strohtrocken. Die haben in diesem Jahr eine lustige Punknummer. Da könnte glatt mal ein Titel aus so einem Land gewinnen.
So gesehen verliert der Grand Prix zusehends den Charakter, den ihm der Moderator des deutschen Vorentscheids, Thomas Hermanns, verliehen hat: Bayreuth der Popmusik.
(lacht) Oh je, also er meinte das sicher auch wegen des Glamours.
Und wegen des Trutzigen der Veranstaltung.
Ein Fels in der Brandung, voller Tradition. Mag sein. Aber Hermanns gehört auch zu den Leuten, die sich bei jedem Detail auskennen und auch an Dingen erfreuen können, die nur echte Fans erdulden. Er und Georg Uecker können sich den ganzen Abend vor Publikum über den Grand Prix unterhalten, ohne dass man die Show überhaupt bräuchte. Wunderbar.
Sehen Sie den Wettbewerb auch als ein großes kulturelles Festival an?
Nein, eher wie eine Europameisterschaft. Oder wie Games without Frontieres, das es als Spiel ohne Grenzen zu meiner Jugendzeit noch im Fernsehen gab. also eine Sportveranstaltung mit spielerischem Charakter. So sieht es bei uns aus. Aber durch meine Tätigkeit als Kommentator habe ich herausgefunden, welche ungeheure Bedeutung sie in anderen Ländern spielt. Als es erstmals in Irland stattfand – mein Gott, wir wurden da wie Staatsgäste behandelt und mit Motorradkonvois zur Halle geleitet. Selbst in Dänemark war es ein absolutes nationales Ereignis.
Wächst die Euphorie umgekehrt proportional zur Größe des Landes?
Da ist was dran. In Birmingham dagegen ging die Show im Alltag fast unter.
Was dann wohl passiert, wenn Malta mal gewinnt.
Unglaublich, unvorstellbar, Ausnahmezustand.
Und wer gewinnt dieses Jahr?
Ganz schwer einzuschätzen. Und ich habe auch noch nie richtig gelegen mit einem Tipp; deshalb würde ich darauf nicht allzu viel geben. Aber es ist auch schwer vorherzusagen, gerade weil es live gesungen ist, das hat mit den Studioversionen, die man vorher zu hören kriegt, oft wenig zu tun.
Noch eine Existenzberechtigung der Sendung: Live wird immer seltener im Fernsehen.
In der Tat. Leider. Bei Stefan Raab dagegen wird immer live gesungen, das finde ich super.
Und deswegen treten bei TV Total auch stets die größten Stars auf.
Sehen Sie. Früher hieß es oft, live kriegen wir technisch nicht hin. Alles Quatsch. Man muss sich nur ein bisschen Mühe geben, wenigstens Halbplayback.
Seit Montag ist das gute alte Nachtmagazin im Zweiten 21 Jahre nach Nina Ruge Geschichte. Stattdessen will das ZDF mit heute+ junge Zuschauer übers Netz vor den Fernseher ziehen. Das Rezept: Infotainment im Pseudohipstersprech statt echter Nachrichten, von Netznudisten wie Daniel Bröckerhoff, die sich doch etwas besser mit tainment als Info auskennen.
Von Jan Freitag
Da steht er nun, mitten im Raum, wie ein Hologramm in Krieg der Sterne, nur nicht so körnig wie Prinzessin Leia. Wir schreiben das Jahr 2015, Daniel Bröckerhoff ist also gut zu sehen, als er im Greenscreen-Großstadtverkehr eine Premiere feiert: Heute Nacht ist 22 Jahre nach Nina Ruges erstem Auftritt im ZDF seit Montagabend Geschichte. Die nachrichtliche Geisterstunde heißt nun:heute+. Die Sendung soll fortan alles grundlegend anders machen als die Ahnherren aus dem analogen Regelprogramm. News der Generation Internet, Instant-Infos für Bröckerhoffs Peergroup. Fern der weihevollen Würde von Anchormen wie Claus Kleber, der dem Nachwuchsmoderator ein possierliches Werbevideo gedreht hat, in dem sich der Platzhirsch herrlich selbstgerecht über den Frischling mokiert: Ohne Krawatte?! Ohne Tisch?!? Crazy!!!!
Genauso trat der Neue am alten Sendeplatz gestern tatsächlich auf, um 23 Uhr live in der ZDF-Mediathek, 50 Minuten später im traditionellen Fernsehkanal. Das Hemd guckt dem öffentlich-rechtlichen Newcomer von auch schon fast 40 Jahren lässig aus der verwaschenen Jeans, die Hände stecken hipstergerecht in tief sitzenden Hosentaschen, als er de Zuschauer zu den “neuen Nachrichten im ZDF” begrüßt. Die heißen, der Reihe nach: Flüchtlingspolitik, Klimawandel, irgendwas mit Drogen, dazu die übliche Dosis Bahnstreik, ein bisschen Krieg (IS im Irak), ein bisschen Popkultur (LED-Radtouren durch Berlin), fertig nach 15 Minuten.
Die informationelle Revolution ist ganz schön kurz. Vor allem aber ist sie alles Mögliche, aber nicht informativ. Fünf meinungslastige Beiträge in einer Viertelstunde plus Newsblock und Eigenwerbung – das bietet allenfalls Raum für Kasuistik und Häppchen. Zwei iranische Asylbewerber erzählen von ihrer Ankunft in Deutschland, ein kenianischer Schlepper erzählt vom Schleppen, ein substituierter Junkie vom Substituieren. Kontext? Metaebene? Relevanz? Zweitrangig! Zusätzlich geht es um menschelnde Modethemen, wie diese Radfahrer, die als LED-beleuchtete Critical Mass durch die Hauptstadtnacht rollen – nachhaltig wie Bubble Tea. Ab und zu mögen Statistikfetzen übers Touchpad wehen; zur Illustration globaler Fluchtwege sagen drei haltlose Sätze eines Betroffenen in Nairobi ebenso wenig übers globale Megathema aus wie sechs künftige Engpässe im Kühlschrank, die, ja genau, der Klimawandel zu verantworten hat. Kaffee wird irgendwann knapp? Armes Kreuzberg.
Die Frage also lautet: Bekommen die öffentlich-rechtlichen Gebühreneintreiber mit dem banalen Mix aus Logo, LeFloid und Tagesschau24 die Jugend weg von RTL oder Instagram zurück vor den Fernseher, der längst kein Fernseher mehr ist, sondern ein Flatscreen zum Anfassen, gern in Form eines Smartphones mit beiläufiger Telefonfunktion, jedenfalls mobil, das heißt, nicht fest installiert, im Wohnzimmer gar, sondern überall und nirgendwo und immerzu und überhaupt und war das jetzt eigentlich zu viel Wort und Schwall und Kraut und Rüben und Zackzackzack in mehr als 500 Zeichen, die übrigens an einem uralten Netbook entstanden sind, Baujahr ungefähr, pardon: approximately 2009, also multimediahistorisch Steinzeit, gewinnt man – zurück zur Frage – multitaskinggeschulte Digital Natives der auch schon wieder dritten Generation auf diese Weise also zurück fürs klassische Programm?
Die Antwort muss anspruchsvollen Sachkonsumenten durchaus Angst bereiten, denn sie lautet: langfristig vermutlich schon, wenn auch die Premiere im stationären Fernsehen eine schwache Quote von 660.000 Zuschauern aufwies. Der moderierende Netznudist Bröckerhoff glänzt weniger durch Eloquenz und Kenntnistiefe als durch optische Zielgruppenanschlussfähigkeit und 44.800 Tweets für 10.300 Follower. Wenn er den nächsten Bahnstreik verkündet, bedient sein “und alle so Yeah” das Pro7-Publikum wie die urbane Partycrowd, der auch seine vielen Versprecher im Onlinedebüt herzlich egal sein dürften – in der anschließenden Fernsehfassung waren diese wie von Geisterhand geglättet. Vielleicht macht es seine Co-Moderatorin Eva-Maria Lemke besser, mit der sich Bröckerhoff täglich abwechselt.
heute+ will nicht informieren, sondern um seiner selbst Willen crossmedial sein, bis der Server dampft. Deshalb werden einige Beiträge schon vor Sendungsbeginn online veröffentlicht; deshalb darf bei Facebook und Twitter fleißig Einfluss genommen werden auf Sendung, Inhalt, Moderatoren, alles “in Echtzeit, immer verfügbar”, wie die Redaktion wirbt. “Ich hoffe”, beendete Daniel Bröckerhoff die Show, “wir haben niemanden zu sehr verstört”. Doch, sie haben. All jene, die durch Nachrichten etwas von der Welt erfahren wollen, anstatt sie bloß youtubegerecht zubereitet zu bekommen wie einen netten Videoclip. Claus Kleber, übernehmen Sie, zur Not auch mit Krawatte!
Letztgültige Wahrheiten brauchten schon immer etwas Zeit, um anerkannt zu werden. Für jene, dass die Erde keine Scheibe sei, kam man lange aufs Schafott. Dass der Mensch vom Affen stammt, galt noch vor Jahrzehnten als Ketzerei. Ganz zu schweigen von Prügel, die Kindern erst seit kurzem doch weniger gut tun als Worte. Man muss es Pro7 also nachsehen, dass es sich mit Zähnen, Klauen, bald gar Juristen gegen die Erkenntnis fortschrittlicher Wesen wehrt, Heidi Klums Entertainment sei schädlich fürs die junge Zielgruppe.
Bis auch der Privatkanal vom Baum der Erkenntnis kostet, wird er also glauben, nur halbnackte, willenlose, dürrgekotzte Mädchen sind auch gute Mädchen. Da kann der Psychiater Manfred Lütz noch so klagen, Germany’s Next Topmodel nehme deren Tod „eiskalt“ in Kauf, was eine Studie des Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen mit 214 essgestörten Menschen insofern stützt, als ein Drittel beteuert, Klums Show habe „sehr starken Einfluss“ auf ihre Krankheit. Und was macht Pro7? Verweist auf Werbung für Sport und gesunde Ernährung!
Na ja, wer sein Programm so konsequent nach dem Bedarf schlichter Gemüter ausrichtet, hat es halt nicht so mit Verantwortungsgefühl, Wahrheitsliebe und ähnlichen Störfaktoren des Entertainments. Ohne die schafft man es halt besser, Jugendliche vom Tochscreen zum Bildschirm zu locken. Und wenn es wie Donnerstag beim GNTM-Finale eine Bombendrohung gibt, bricht das Klum-Imperium stoisch ab, evakuiert à la Titanic erst die wertvollen Gäste, VIPs genannt, und wiederholt die Show zwei Wochen später, als sei nichts gewesen – nur nicht live natürlich. Sicher ist sicher ist lukrativer…
So kühl hätte ein anderer, allerdings abgedankter Quotenloser nie reagiert. Schon deshalb ist Jan Böhmermanns Lob zum 65. Geburtstag von Thomas Gottschalk nicht nur wohlwollend, sondern wahr: Selbst wenn es der Veteran versuchen würde, schwärmte sein legitimer Nachfolger, könne Deutschlands „letzter echter großer Fernsehentertainer“ nicht verbergen, „dass er die Menschen mag“.
Die Frischwoche
18. – 24. Mai
Auf dem Gabentisch liegen aber nicht nur warme Worte, sondern auch eine als Geburtstagsshow getarnte Gratisreklame, die RTL am Jubeltag sicher zufällig nach Gottschalks Autobiografie Herbstblond betitelt. Aber wen stört derart offene Schleichwerbung schon angesichts eines TV-Fossils, das uns so wohlig an bessere Fernsehzeiten erinnert.
Solche zum Beispiel, in denen Eurovision Song Contest noch Grand Prix d’Eurovision de la Chanson hieß und echte Lieder präsentierte statt Marschmusik kapitalistischer Verwertungslogik. Am Samstag, live im Ersten aus Wien, sehen wir also abermals Beine statt Harmonien, nicht Texte, nur Dekolletees – was ein guter Übergang zur Unverschämtheit der Woche ist. Sie heißt Zum Teufel mit der Wahrheit, klaut schamlos die ausgelutschte Idee einer Frau, die dank magischer Kräfte zwanghaft die Wahrheit sagt und besetzt es mit Bettina Zimmermann, die auch mit 40 wie ein bulimischer Teeny durch ihre Filmchen stöckelt.
Für Fernsehen mit mehr Inhalt als Optik muss man schon ins Spartenprogramm abtauchen. Zu Arte etwa, wo Freitag (20.15 Uhr) Axel Ranischs Coming-of-Age-Drama Ich fühl mich Disco um ein weniger wohlgeformtes Muttersöhnchen läuft, das nach Muttis Tod mit sich, seinem Vater und der Welt ringsum klarkommen muss, was von tragikomischer Originalität ist. Noch weiter ab vom Schuss findet sich ab Donnerstag die Sitcom Im Knast. Klingt plump, ist aber ein liebenswertes Stück Low-Budget-Fiction mit Denis Moschitto als einer von drei Insassen, die sich mit wechselnden Gaststars auf ZDFneo durch den Gefängnisalltag wurschteln.
So richtig tief abwärts – zum Pay-TV-Kanal RTLcrime – muss man parallel um 21 Uhr zur furiosen Provinzgroteske Braunschlag mit Robert Palfrader als verschlagener Bürgermeister einer österreichischen Kommune, was ARZDF offenbar zu besonders war. Besser platziert ist da der dokumentarische Tipp dieser Tage, Mittwoch um 20.15 Uhr im MDR: Rechte Gewalt, ein erhellender Film über braune Schnittstellen vor und hinter den Stadiontoren. Mit rechtem Fanatismus hat auch die schwarzweiße Wiederholung der Woche zu tun: George Clooneys Good Night, and Good Luck von 2005, der Donnerstag (1.55 Uhr, ARD) die Zeit der McCarthy-Ära im Stil der 50er ästhetisiert. Älter, aber in Farbe: Luchino Viscontis todessehnsüchtiges Tod in Venedig anno 1971 (Montag, 20.15 Uhr, Arte), ein Meilenstein der homophilen Emanzipation.
Den uralten Grenzpanoramaweg zwischen der Steiermark und Slowenien mit einem Esel zu wandern, ist ein besonderes Erlebnis. Weil man die Natur in ungewohnter Intensität erlebt. Und weil Kinder endlich mal jemanden dabei haben, der noch störrischer ist als sie.
Von Jan Freitag
Heidi bockt. Gut, das ist sie ihrem Renommee auch schuldig; Heidi ist ein gemeiner Hausesel und somit zum Starrsinn förmlich berufen. Aber was dieses Exemplar grad veranstaltet, gibt dem Begriff des Störrischen eine neue Dimension. Heidi bockt nicht nur, sie verweigert jede Zusammenarbeit, da helfen die engelsgleichsten Zungen nicht. Ende. Keinen Zentimeter geht es an dieser steilen Stelle den Schotterweg hinauf, und natürlich hat sich das eigensinnige Tier dafür einen Platz im Sonnenschein ausgesucht, alpine Sommerhitze zur Mittagszeit, zwischen Mischwald und Blumenwiese weht kein Lüftchen, von Schatten ganz zu schweigen. Mit Heidi zu wandern ist eine echte Grenzerfahrung.
In jeder Hinsicht.
Denn Equus asinus asinus, wie auch dieser Esel akademisch heißt, bockt nicht auf irgendeinem Weg, sondern hoch droben, wo sich Österreich und Slowenien auf einem Bergkamm begegnen. Grenzpanoramaweg heißt die Strecke offiziell. Seit der Alpenverein den historischen Verkehrspass von 130 Kilometern Länge nach Jahrzehnten Eisernen Vorhangs restauriert hat, kann man ihn gemütlich wandern oder strammen Schrittes laufen, entspannt mit leichtem Gepäck oder körperlich zehrend per Mountainbike. Doch wer den Weg mit Heidis Artgenossen geht, macht andere Grenzerfahrungen: Physisch, psychisch, oft meditativ, manchmal erschöpfend, meist wunderschön, jedenfalls unvergesslich.
Und dafür sorgt Horst Wagner. Ein rustikaler Kerl mit mächtigen Händen und ledrigem Lächeln, einst Ingenieur von Beruf, den 16 Stunden Dienst an der IT-Branche, aber nicht der eigenen Lebenslust aus der Stadt in die Südweststeiermark geführt hat. In die Idylle des Daseins ohne Tempo, ohne Stress. Fünf Esel hat er sich gekauft und zu Begleitern ausgebildet, die Gästen den Urlaub – nun ja, nicht vereinfachen, aber doch bereichern.
Esel, sagt er zur halbstündigen Einführung, die er ohne Ironie „Führerschein“ nennt, „sind neugierig, ängstlich, verfressen“, vor allem letzteres. Als Herdentier sei es grundsätzlich kooperativ, aber ebenso grundsätzlich dickköpfig, also schwer lenkbar. Wer es dennoch versucht, solle sich daher an exakte Regeln halten: Zum Anhalten „Steeh“ sagen, statt wild am Zaumzeug zu zerren. Bei übertriebener Folgeleistung nicht vorwärts ziehen, sondern leicht von hinten antreiben. Zwischenzeitliches Grasen durch Sicherheitsabstand zum Wegesrand unterbinden, im Misserfolgsfall aber gewähren lassen und – rückblickend wirkt Horst Winklers Grinsen verdächtig – „mit Geduld und Zuneigung zum Weitergehen motivieren“.
Geduld, Zuneigung, Ohrenblick, Sicherheitsabstand – klingt alles machbar. Bis zu besagtem Schotterweg, Kilometer Null von rund 18, eine halbe Stunde nach dem Start. Totalblockade. Wie eingemauert steht Heidi am Ackerrain, kaut genüsslich am saftigen Bewuchs und zeigt gleich mal, wer fortan Herr im Haus ist: Nicht der sportliche Stadtbewohner dahinter. Auch nicht seine ebenfalls zupackende Frau. Und schon gar nicht ihr kleines Kind mit dem Stock zur Hand, das es mit mantrischem „Nein“ versehen sanft aufs Hinterteil der Dame in schwarzgrau patscht, knapp unterhalb der hölzernen Kiepe, die scheinbar spielend das Reisegepäck staut. Heidi rules. Und das wird sich die nächsten drei Tage nicht ändern, niemals.
Zum Glück.
Mit dem Esel durch unwegsames, aber gangbares Gelände zu trotten, ist eines der bezauberndsten Erlebnisse, das man naturnah haben kann. So eindrücklich, dass sich der strömende Schweiß dreißigprozentiger Anstiege über knorriges Wurzelwerk am Körper anfühlt wie das nötige Schmieröl einer belastbaren Maschine. Dass man bald beginnt, die Eselohrsignale – zurückgelegt: zornig; nach vorne: Neugier; aufrecht: alles okay – auch bei Menschen zu suchen. Dass selbst ein infernalisches Gewitter auf 1000 Metern Höhe klingt wie der perfekte Soundtrack eines Abenteuers fürs ewige Langzeitgedächtnis. Als explodiere der Berg, entladen sich die Blitze auf dem Gebirgskamm zeitgleich in mächtigem Donner, doch was Fünfjährigen sonst eine Heidenangst verpasste – hier sorgt es für jene Motivation, die Horst Winkler erwähnt hat. Es gleicht einem Wunder, welche Wirkung Esel auf Kinder haben.
Die nämlich kriegen womöglich erstmals im kurzen Leben das seltsame Gefühl, da sei allen Ernstes jemand bockiger ist als sie selbst. Der Starrsinn des Lastentiers lässt die Kooperationsbereitschaft Heranwachsender auf ein sensationelles Maß wachsen. Johnny motzt praktisch nie auf dieser beschwerlich schönen Reise. Er tut es nicht, als die Sonne vom Himmel brennt. Er tut es ebenso wenig, als sich die Himmelsschleusen mit warmem Starkregen öffnen. Er tut es kaum, als Heidi dem ausgelaugten Jungen über Stunden das Aufsitzen verweigert und das fast bis zur Dämmerung.
Trotzdem ist es eine Erleichterung, gegen Abend den Berghof Siebenegg zu erreichen, müde und froh, Heidi über Nacht in bäuerliche Obhut zu geben, gleichsam beseelt von soviel unmittelbarem Naturerleben. Und wie intensiv es war, erkennt erst wirklich, wer auf dem Rückweg zwei Tage später ein paar der Stationen des Hinwegs passiert. Der gewaltige Ameisenhügel an der süßen Waldkirche St. Pongratzen, drei gekreuzte Birken am Kapunerkogl, das verwitterte Grenzschild auf slowenischer Seite – all dies ist im Kopf hängengeblieben, vertieft wie man in die Umgebung zuvor war. Wann man in welchem Land ist, erschließt sich in solch friedlichen Zeiten oft nur an fremdsprachigen Hinweisschildern, aber eine Grenzerfahrung ist dieser Ausritt dennoch. Und bei der Abreise bockt Heidi auch beim nächsten Gast. Wie beruhigend. In jeder Hinsicht.
Der Text ist vorab in der Süddeutschen Zeitung erschienen