Vor genau 20 Jahren hat der amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen (Foto: Das blaue Sofa/Club Bertelsmann) mit seinem Weltbestseller Hitlers willige Vollstrecker das Bild vom Holocaust nachhaltig verändert. Zum Jubiläum des wohl einflussreichsten Sachbuchs seiner Zeit dokumentiert freitagsmedien ein Interview, in dem der damals 57-Jährige seine Faszination für Genozide und seine familiäre Verbindung zum Thema schildert.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Mr. Goldhagen, lieben Sie eigentlich Ihre Arbeit?
Daniel Jonah Goldhagen: Nun, als Politologe erledige ich meine Arbeit, weil es notwendig ist. Sie begann mit dem Holocaust, hat sich jetzt auf alle Genozide der Welt ausgeweitet und ganz ehrlich: so sehr sie mir am Herzen liegt, macht es mich nicht glücklich, sie zu erledigen. Deshalb bin ich sehr darauf bedacht, Arbeit als Arbeit zu verstehen. Nicht mehr.
Würden wir also abends ein Glas Wein trinken, käme sie nicht zur Sprache.
Doch, sobald Sie mich fragen. Aber Sie können Monate meiner Freizeit mit mir verbringen, ohne auf meine Arbeit zu sprechen zu kommen. Mein Leben und meine Arbeit sind absolut unterschiedliche Dinge. Da können Sie meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen fragen. Ob Sie es glauben oder nicht: den Großteil meiner Zeit verbringe ich mit amerikanischer oder internationaler Politik, mit Kultur, Architektur, Dinge, deren Beschäftigung viel fröhlichere Angelegenheiten sind.
In der Öffentlichkeit gelten Sie als das Gegenteil, voll fokussiert auf dieses eine Thema: Völkermord.
Das ist nur zu verständlich. Und genau deshalb sagen auch viele Menschen, die mich das erste Mal treffen, Sie hätten mich missmutig und trübsinnig erwartet. Tatsächlich bin ich das genaue Gegenteil und zum Glück mache ich live auch eher diesen Eindruck.
Was fasziniert Sie dann so an den Abgründen der menschlichen Natur?
Faszination ist der falsche Ausdruck. Massenmord und Genozid sind die Hauptprobleme tödlicher Gewalt überhaupt, bleiben als solche aber unerkannt. Gemessen an den Opferzahlen ist Völkermord die weit größere Geißel als der Krieg. Mehr als 100 Millionen Tote machen es unerlässlich, die Ursachen zu erforschen, denn es ist ebenso unerlässlich, das Sterben auf politischem Wege zu stoppen. Nichtsdestotrotz wendet die Staatengemeinschaft die meiste Energie dafür auf, die Todesraten auf den Straßen der USA oder Deutschlands zu verringern, statt sie auf das millionenfache Abschlachten weltweit zu konzentrieren. Dieses Missverhältnis versuche ich durch meine Arbeit aufzulösen, schließlich habe ich meine Studien, meine Erkenntnisse, meine Materialien, um den Menschen beim Lernen zu helfen. Das hat nichts mit Faszination zu tun, es ist eine Pflicht.
Erschöpft die nicht manchmal den Menschen Daniel Goldhagen, wenn er sich ständig mit den fürchterlichsten Auswüchsen menschlicher Natur befasst?
Nein, denn wenn ich mich mit diesen Themen beschäftige, begegne ich meinem Arbeitsgegenstand meist sehr unvoreingenommen. Als Sozialwissenschaftler arbeite ich so sachlich wie möglich, suche nach Belegen meiner Thesen, gewinne daraus einen Sinn und versuche eine daraus passende, effektive Politik abzuleiten. Dennoch gibt es Momente, in denen das schwer ist. Von all den Gräueln zu erfahren, um die es in meinem Buch geht, besonders gegen Kinder, bringt meine Distanz zum Forschungsgegenstand schon mal ins Wanken. Gerade in diesem Projekt, wo ich im Anschluss an das Buch einen Film gemacht habe, der uns an Orte der entsetzlichsten Taten führt, wo ich mit Opfern und Tätern spreche, Massengräber besuche, sogar an der Exhumierung von Toten teilnehme, deren Verwandte dabei stehen; diese Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind furchtbar. Davon unbeeindruckt zu bleiben ist fast unmöglich.
So wie jener Moment, als Sie mit Ihrem Vater Erich Goldhagen, jenen Ort in der der Ukraine besucht haben, wo er dem Holocaust als Zehnjähriger nur knapp entkam. Waren Sie dort als Wissenschaftlicher oder Hinterbliebener?
Zunächst als Wissenschaftler. Aber als ich mit meinem Vater auf dem Massengrab von Kossiv stand, wo rund 2000 Juden verscharrt wurden, verschwand alle wissenschaftliche Distanz hinter der unmittelbaren Nähe, genau dort zu stehen, wo viele Verwandte von mir ruhen.
Wo liegen die Unterschiede im Massenmord der Vor- und Nachkriegsgeschichte?
Es gab eine Verschiebung der Lokalisierung. Vor 1945 waren Völkermorde oft grenzüberschreitende Ereignisse. Danach wurden sie fast vollständig zu nationalen Angelegenheiten, innerhalb souveräner Staaten. Genau das ist der kritische Punkt: Die Weltgemeinschaft von heute respektiert die Souveränität nicht nur, sie verteidigt sie wo immer es geht. Trotz aller internationalen Abkommen muss das Handeln innerhalb geschlossener Grenzen folglich in der Regel keine Eingriffe von außen fürchten.
Noch immer?
Mehr denn je. Souveränität sorgt für Straffreiheit derer, die ihre eigene Bevölkerung schlachtet. Deswegen müssen wir das Prinzip der Souveränität grundsätzlich überarbeiten und wenn nötig abschaffen. Sie sollte also weniger als die der Staaten in ihrem Handeln, sondern als die der Menschen darin aufgefasst werden. Wenn Regierungen ihre Landsleute auslöschen, muss per Definitionem auch die Souveränität enden, dass wir also nicht nur intervenieren können, sondern müssen.
Reicht das internationale Straf- und Interventionsrecht dafür aus?
Das hat hier versagt. Gegen viele Staaten, die Genozidversuche unternommen haben, hat die Staatengemeinschaft nahezu nichts unternommen. Sie verfügt auch nicht über ein geeignetes Präventionsinstrumentarium. Die militärische NATO-Intervention in Bosnien, die Milosevic letztlich an den Verhandlungstisch brachte und den Genozid gestoppt hat, wurde von internationalen Rechtsexperten gar als illegal eingestuft. Alle zivilisierten Nationen lehnen jede Art von Genozid strikt ab, doch es gibt ihn fast überall auf der Welt, ohne dass einer dieser Staaten dagegen konsequent einträte. Das ist Zynismus.
Aber die Weltgemeinschaft interveniert doch regelmäßig, wenn es zu Bürgerkriegen mit all den Folgen kommt.
Wie konnte es dann zum Völkermord im Sudan kommen? 400.000 Menschen hingemetzelt, 2,5 Millionen vertrieben, und das von dem Regime, das zuvor im Süden noch mehr getötet und vertrieben hat. Laut UN-Charta müssten alle Staaten so reagieren, als würden die Kinder von Darfur bei uns vernichtet. Hier sollten wir den US-Präsidenten, Ihre Kanzlerin, alle politischen Führer fragen: Wie viele afrikanische Leben zählt eines bei euch? Zehn? Tausend? Mehr? Wie viele Opfer sind nötig, um ein europäisches zu riskieren? Die Gleichung sollte eins zu eins lauten. Es geht hier nicht um Geopolitik, es geht nicht um Diplomatie, es geht um Menschenleben.
Halten Sie die westlichen Regierungen für ignorant oder handlungsunfähig?
Sie wissen jedenfalls genau, was vorgeht in der Welt. Dieses ewige „Nie wieder“ der Weltgemeinschaft empfinde ich als Hohn. Jeder Fernsehzuschauer weiß, was in Darfur vor sich geht. In Bosnien hat man gesehen, was die Bombardierung von einigen Schlüsselzielen gebracht hat – in drei Wochen, nachdem man zuvor drei Jahre untätig verschreiten ließ.
Sollte das Militär also mehr als Ultima Ration sein?
Nein, aber eine unabdingbare Möglichkeit. Meine Arbeit zeigt, dass jeder Genozid mit Entscheidungen einzelner Männer oder kleinen Führungsgruppen beginnt. Es sind also keineswegs immer lang währende ethnische Spannungen, die sich wie von allein entladen und außer Kontrolle geraten. Nichts an einem Völkermord ist spontan, er ist Politik, vollzogen von ihren Entscheidungsträgern. Bei Genozid entledigen sich politischer Führer unliebsamer Bevölkerungsgruppen. Das nenne ich „Eliminatorismus“. Er bleibt ein erfolgreicher Faktor nationaler Machtpolitik, solange es keine internationalen Kräfte dagegen gibt. Um die Kosten dieser eliminatorischen Kosten-Nutzen-Rechnungen hoch zu treiben, muss ein Präventionssystem wirkungsvoller Abschreckung geschaffen werden.
Ist das eine Frage des Geldes?
Des Willens. Der Einsatz ist Abschreckung, die gibt es fast umsonst. Man muss die Täter wissen lassen, dass sie am Ende verlieren, weil Verfolgung, Anklage und Verurteilung für ihre Taten zum institutionellen Standard werden, nicht zur Aushandlungssache.
Darauf weist derzeit allerdings wenig hin. Sind Sie trotzdem weiterhin ein Philanthrop, glauben Sie an das Gute im Menschen?
Sonst würde ich meine wissenschaftlichen Erkenntnisse ja nicht in konkrete Vorschläge an das politische Handeln der Verantwortlichen ummünzen. Bei meinen Recherchen für die Dokumentation habe ich gesehen, wie dankbar die Menschen vor Ort waren, dass ihr Leid thematisiert wurde, dass es auch außerhalb der betroffenen Gruppe als etwas wahrgenommen wird, das nicht einfach so geschieht, sondern kalkuliertem Handeln entspringt, das man bekämpfen kann.
Dem RTL-Biopic Duell der Brüder übers Schisma der Sportartikelkonzerne Adidas und Puma Schleichwerbung nachzuweisen, fiele gewiss schwer. Dennoch warf die 113-minütige Präsenz der drei berühmten Streifen am Karfreitag zur besten Sendezeit (noch bis Freitag in der RTL-Mediathek) Fragen auf. Eine Spurensuche im Trüben des offenen und nicht so offenen Product Placements.
Von Jan Freitag
Schuhe von Adidas sind wirklich die Wucht. Verhalfen dem farbigen Jesse Owen 1936 zum vierfachen Olympiagold im finsteren Herz der Rasseideologie. Gewannen den Fußballer des (beinahe) gleichen Landes 18 Jahre später das WM-Finale im Wolkenbruch von Bern. Hatten aber auch einen äußerst sympathischen Erfinder, der zwar oft verbissen wirkte, wenn er sein Schuhwerk perfektionierte, aber zum Niederknien süß war: Adolf Dassler, genannt Adi.
Gut, im wahren Leben war der Sportbekleidungspionier zwar weniger attraktiv als jener Ken Duken, der ihm im RTL-Film Duell der Brüder das Gesicht leiht – kleiner, gewöhnlicher, also – mit Verlaub – unansehnlicher als sein Darsteller; aber visuelle Medien wie das Fernsehen dürfen sich ihre Realität ja durchaus schöner filmen als sie ist. Deshalb hat Adolfs Bruder Rudolf optisch ebenso wenig mit Torben Liebrecht gemein, der den anderen Part der „Schuhfabrik Gebrüder Dassler“ spielt, bevor sie sich 1948 in zwei Global Player spaltet.
Adidas und Puma.
Bevor es zum Schisma kommt, zeichnet RTL ein recht präzises, meist unterhaltsames, erstaunlich kritisches Porträt zweier Alphatiere: Hier Adi, ein betriebsblinder Opportunist, der aus unpolitischem Idealismus mit den Nazis paktiert, aber moralisch die Kurve kriegt. Dort Rudi, ein viriler Karriereist, der die Kurve verpasst und mit der weniger erfolgreichen Marke Puma Vorlieb nehmen muss, die erst Jahrzehnte später die Zugkraft der innerdörflichen Konkurrenz erreicht.
Womit wir bei einem Aspekt des Blockbusters wären, der die drei, vier fünfminütigen Werbeblöcke dazwischen auf ein, zwei Stunden Sendezeit ausdehnt. Der brillante Tüftler und sein geschäftstüchtiger Bruder aus Herzogenaurach streiten sich nämlich nicht nur um grundverschiedene Lebenswürfe, sondern ein Konsumgut von globaler Bedeutung, das dabei fast permanent in Wort und Bild inszeniert wird: Der berühmte Lederschuh mit den drei Streifen, ein echtes Qualitätsprodukt, wie Regisseur Oliver Dommenget und Autor Christian Schnalke unablässig versichern. Von einem Helden der Arbeit innbrünstig verbessert, bis das Unmögliche möglich wird: Owens Seriensieger, Deutschland Weltmeister, der Sport revolutioniert.
Nach dem CGI-animierten Finale gegen die übermächtigen Ungarn, das Helmut Rahn auch dank Dasslers Stollenschuhen entscheidet, fehlt eigentlich nur noch „Super, Adidas“ im Abspann, den man ruhig mal auf Vertreter des Weltkonzerns hin durchforsten sollte. Nach der Eloge auf die Konzerngründer, von denen sich der spätere Adidas-Chef fast zum Textilheiligen entwickelt, steht nämlich die Frage im Raum: Wo endet telegene Mythenbildung deutscher Wirtschaftspioniere und wo beginnt profane Schleichwerbung? Anders gefragt: Müssten 113 Minuten Primetime-Event rund um Adidas (und ein bisschen Puma) nicht als Product Placement gekennzeichnet werden, wie es für dramaturgisch integrierte Markenware Art vorgeschrieben ist? Antwort: Nein.
Aber…
Als 2005 ein System illegaler Schleichwerbung in der ARD-Soap Marienhof aufflog, verbot der 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag fünf Jahre später derlei Sonderwerbeformen. Zumindest den Öffentlich-Rechtlichen, denen fortan allenfalls sachwertige „Produktbeistellungen“ gestattet blieben. Privatsender hingegen dürfen weiter fröhlich platzieren. Sofern es sich um kommerzielle Eigenproduktionen, Livesport oder „leichte Unterhaltung“ handelt und weder zum Kauf drängt noch die redaktionelle Unabhängigkeit behelligt, erscheint seither mehrmals kurz ein „P“ in Flatscreen-Eck – fertig ist die ganz legale PR, von der sich Vermarkter nach einem DWDL-Bericht zwei Prozent mehr Umsatz erhofften. Als der Münchner Marketing-Professor Carsten Rennhak daraufhin jedoch mal eins der vielen Importformate in Augenschein nahm, zeigte sich die Schwäche der vermeintlichen Publikumsstärkung. Bei der Ausstrahlung des Kinoablegers von Sex and the City stieß er auf 119 Marken und Dienstleistungen, von denen ein Viertel inhaltlich integriert, visuell gezeigt und namentlich genannt wird, also nichts anderes ist als: Reklame. Ein „P“ war nirgends zu sehen.
Das eint die US-Serie mit dem deutsche Duell zweier Brüder, deren Produkt nicht nur ständig werbewirksam ins Bild rückt, sondern geradezu romantisiert wird. Wenn der versonnene Tüftler Adi geigenumflort drei Finger in einen Farbeimer taucht und die Schuhe des zufällig anwesenden Stürmers garniert, wird aus dem frisch erfundenen Logo ein haptisches Erlebnis. Um sich ins Unterbewusstsein potenzieller Kunden zu graben, bedarf es da gar keiner aktuellen Sneaker-Editionen oder auch nur der Nennung des Firmennamens; es reicht die pure Präsenz von Erfinder und Erfindung. Diese Unterwanderungstechnik heißt im Fachjargon „Creative Placement“ – dramaturgisch eingebundene Markenpräsenz, mit der die Bachelorette ganz nebenbei bestimmte Kartoffelchips anbietet oder Dschungelcamp-Bewohner laut von Burgern eine bestimmten Kette träumen.
Beides hat RTL bezahlt und kenntlich gemacht. Adi Dasslers Ware hingegen profitiert nur inoffiziell von der Präsenz. Das teilt der Film mit Biopics, die andere Wirtschaftswunderlinge im aufrechten Kampf gegen konservative Zweifler heroisieren: Beate Uhse, Carl Benz, Margarete Steiff, zuletzt Kurt Landauer, der von jenen Nazis, die seinerzeit gute Geschäfte mit den Dasslers machten, ins Exil getrieben wurde. Nichts gegen eine Würdigung des legendären Bayern-Präsidenten, aber das ARD-Porträt betrieb 2014 massive Publicity für einen Fußballkonzern, der dank seiner Zugkraft fürs Milliardenprodukt ohnehin nach Kräften bevorzugt wird.
So prominent, wie jedes Freundschaftsspiel, jeder Beckenbauer-Cup, jede noch so fade Bundesligakonserve gezeigt wird, bedarf es da schon einiger Phantasie, geldwerte Gegenleistungen des Rekordmeisters auszuschließen. Das bleibt zwar wie beim „Duell der Brüder“ Spekulation. Doch wenn das Erste im Herbst ein eigenes Biopic über die Dasslers zeigt, werden die Premiumpartner FCB und Adidas sogar parallel aufgewertet. Abermals ohne „P“ im Bildschirmeck.
Es ist schwer auszumachen, worüber man sich dieser Tage mehr wundern soll: Die Tatsache, dass verheerende Anschläge wie der in Brüssel langsam zur Normalität werden. Oder dass wir sie auch wirklich als solche empfinden. Verglichen mit der Reaktion auf den Pariser Gewaltexzess vor gut vier Monaten jedenfalls kehrte diesmal selbst auf dem Boulevard erstaunlich rasch Ruhe ein, und auch die vielen Brennpunkte wirkten wie das anschließende Nachbereiten in den Talkshows eher routiniert als sonderlich ergriffen. Der Turbo-Journalismus unserer Tage gibt zwar noch immer ohne Vorglühen eine Weile Vollgas, aber diese Weile wird kürzer und die Kürze zusehends abgebrüht.
Dennoch stand die vergangene Woche natürlich voll und ganz im Zeichen des Terrors, der dieses Land zurzeit auf fast allen Ebenen im Atem hält – ob damit nun der im Namen Allahs gemeint ist oder der Nation, was beide weit mehr miteinander gemeinsam hat als der AfD lieb sein dürfte. Umso erstaunlicher ist es, dass ein Urteil vom Oberlandesgericht München der seltsam geläuterten Bild-Zeitung verboten hat, die übelsten Hetzer sozialer Netzwerke weiterhin an den Pranger der Schande zu stellen. Vielleicht ja, weil so ein Instrument seinerseits zum schmutzigen Repertoire populistischer Maulhelden à la Pegida gehört. Vielleicht aber auch, da der Justiz daran gelegen ist, einfach mal für etwas Ruhe im Karton zu sorgen.
Wobei etwas Ruhe auch kein Allheilmittel ist im Kampf gegen radikalisierte Massen. Vor gar allzu nicht langer Zeit nämlich war so wenig Lärm gegen Rechtsradikale hörbar, dass ein paar von ihnen nahezu unbehelligt die furchtbarste Mordserie der deutschen Nachkriegszeit begehen konnten. Und da es um den NSU-Prozess vorm Münchner Landgericht ebenfalls immer ruhiger wird, ist es wieder mal am Fernsehen, Laut zu geben gegen das Vergessen – und sei es in aller Stille.
Die Frischwoche
28. März – 3. April
Mitten in Deutschland heißt eine Filmtrilogie, die den braunen Terror mitsamt seiner blutigen Folgen so geräuschlos fiktionalisiert, dass es nur so aus dem Fernseher schreit. Wie im baugleichen Projekt Dreileben (2011) hat die ARD drei Regisseure gebeten, dasselbe Thema individuell zu bebildern. Zum Auftakt skizziert Christian Schwochow, wie die Täterin Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe) den Uwes (Albrecht Schuch, Sebastian Urzendowsky) aus der national befreiten Zone Jena in die Illegalität folgt, ohne dabei den üblichen Verachtungsfuror abzurufen. In der Woche drauf dann widmen sich Züli Aladağ und Florian Cossen Opfern und Ermittlern, wovon an dieser Stelle noch die Rede sein wird. Denn alle drei sind Filme zum Heulen, Filme der Wut, heilsame Filme wider die Ignoranz von Staat, Medien, Justiz und Mainstream, die jeder, wirklich jeder sehen sollte, nein: Muss!
Dasselbe gilt natürlich auch für den neuen Fall von Sherlock Benedict Cumberbatch als modernisierte Fassung des angestaubten Detektivs, dessen ungewohnt mystischer, also gar nicht so rationaler Fall um eine Wiederauferstehung jedoch nur eine Art Transitfolge für die vierte Staffel im nächsten Jahr ist. Ob Heike Makatsch hingegen mehr ist als ihr eigenes Special, bleibt fraglich. Heute zumindest schenkt ihr das Erste eine Sonderladung PR, wenn sie als Kommissarin Ellen Berlinger nach 14 Jahren London ins tüderige Freiburg zurückkehrt, um dort einen angeblichen Selbstmord im Jobcenter aufzuklären.
Der Event genannte Tatort indes ist zu konventionell, die Hauptfigur zu hübsch, alles irgendwie zu irgendwas wie ein Star als Zugpferd, das am Ende wohl doch einige Anschlussfolgen rechtfertigt. Die hatte sich das Münchner Duo Leitmayr/Batic spätestens 1995 verdient, als es vier Jahre nach seinem kaum bemerkten Debüt noch jung und ungrau Dominik Grafs prämierten Fall Frau Bu lacht zur Krimilegende spielte. Die farbige Wiederholung der Woche leitet am Samstag um 20.15 Uhr aber nicht nur eine BR-Nacht voller Filme des dienstältesten Männerteams ein, sondern auch den gelungenen Jubiläums-Tatort tags drauf.
Dagegen ist die schwarzweiße Wiederholung – nicht zuletzt im Kontrast zum BBC-Meisterwerk dieser Tage – höchstens ein Fall für Nostalgiker, nicht Ästheten. Dabei weist Sherlock Holmes und das Halsband des Todes von 1962 (Dienstag, 1.35, ARD) zwar Christopher Lee (mit Senta Berger) als Titelfigur ein, bleibt ansonsten aber fulminanter Quatsch mit Soße. Das ist Freitag auf RTL auch Die Piraten, aber trotzdem lecker. Vor allem, weil der Animationsfilm um einen Freibeuter, der ausgerechnet Charles Darwins Schiff kapert, von den Aardman-Studios gemacht wurde, die sonst für Wallace & Gromit zuständig sind. Soße ganz ohne Quatsch hingegen tischt der DVD-Tipp auf: Cowspiracy (polyband, 16,99 Euro), eine Umweltdoku, die die verheerenden Auswirkungen der Viehwirtschaft preisgekrönt aufdeckt.
Gut zwei Monate vor der Fußball-EM in Frankreich verlosen die freitagsmedien wieder Sammelalben von Panini mitsamt jeweils zehn Bildertüten. Um die Gewinnfrage zu beantworten, muss man nur die folgende Reportage vom Sammelfieber zur Europameisterschaft vor zwölf Jahren in Portugal lesen und ein bisschen Glück haben.
Die Frage steht am Ende des Textes
Von Jan Freitag
Malina steht auf Findet Nemo und findet ihren Liebling fast täglich. Besonders die “Glitzis” haben es der Schülerin aus St. Pauli angetan. Ihren Freundinnen auch, also wird getauscht und die seltenen glitzernden Metallic-Sticker mit dem Clownsfisch stehen hoch im Kurs. Stefan steht dagegen mehr so auf Fußball, logisch. Gerade vor Welt- und Europmeisterschaften juckt es ihm in den Fingern. Dann trifft er sich, wie in den Jahren zuvor, mit Kumpels und feilscht um Doppelte brasilianische Verteidiger oder europäische Verbandswappen. Malina und Stefan sind sich in ihrer Leidenschaft für Sammelklebebilder also ziemlich ähnlich – und doch grundverschieden: Malina ist ein achtjähriges Mädchen und finanziell abhängig – von Stefan. Denn Stefan, Burmeister mit Nachnamen, ist Malinas Vater, 35 Jahre alt und als Bestatter vergleichsweise kaufkräftig. Als dieser Stefan so alt war wie Tochter Malina, Ende der Siebziger, erlebte das Einkleben von WM-Bildern in Sammelalben einen ersten Höhepunkt: Argentina ’78, die Schmach von Cordoba, klingelt’s?
Damals, als Deutschland gegen Österreich verlor und Hersteller Panini zum zweiten Mal deutsche Fußballfans mit in Tüten verpackten Bildern versorgte, hießen Fußballer noch Karl-Heinz, Horst und ganz selten Bum oder Kevin. Sie erinnerten optisch oft an polnische Gewerkschaftsführer und kosteten im Tütenverbund 25 Pfennig. Jetzt sind es 50 Cent. Es hat sich viel gewandelt im Klebebilderkosmos. Aber es gibt Konstanten: Noch immer bilden Präpubertierende vor Kiosken Rudel, investieren ihre Barschaft in Haftbelege aktueller Sportereignisse, angelaufener Blockbuster oder angesagter Comics. Noch immer ist der rare Topstar auch eine Chance für Außenseiter, sich in der Clique Respekt zu erwerben: Tausche einen Zidane gegen zwei Portugiesen!
Vor allem aber sind Sportserien – neben Walt Disneys Kreaturen – noch immer ein äußerst einträgliches Geschäft. Eine Milliarde Tüten wirft Quasimonopolist Panini Jahr für Jahr von Italien aus auf derzeit 80 nationale Märkte – Barbie bis Bundesliga, Pokemon bis Potter, Manga bis Tierbabys. Nur die britische Marke Merlin hält mit Yu-Gi-Oh oder Spongebob mit. Respekt, meint Birgit Barner, Marketingmanagerin bei Panini, “da waren die schneller als wir”. Ganz im Gegensatz zu Bergmann, Americana, Sicker, Eikon, Ulli Bilderdienst und wie sie alle hießen. Die ehemaligen Konkurrenten waren obenauf, als es auch Bonanza und Pelé waren. Inzwischen ist der Markt bereinigt, Panini schluckt eine Lizenz und eine Firma nach der anderen. Erst 2002 erwischte es den Stuttgarter Dino-Verlag samt der Rechte an Star Wars, Simpsons und GSZS. Und das ist nicht der einzige Generationenwechsel. Zwar zählt, wer vor 50 Jahren als Bub Margarinebilder in dicke Bände geleimt hat, kaum zu den späteren WM-Paninisten, doch wer vor knapp 20 Jahren auf dem Pausenhof mit Briegel, Krankl, Platini handelte, könnte bei der EM 2004 durchaus wieder mitmischen, zumal Ferrero seit 1982 seine Schokoriegel unbeirrt mit deutschen Nationalspielern bestückt.
Und natürlich ist auch Panini in Portugal wieder dabei. Nicht im selben Umfang wie zum letzten globalen Turnier, aber doch auflagenstärker als etwa zur Champions League. Mehr als die Hälfte der Bildchensammler sind sechs- bis vierzehnjährige Mädchen und Jungen. Sie haben, so Paninis PR-Frau Barner, Lion King zum weltweit bestverkauften Album gemacht. Dass die vorige WM auf Platz zwei landete, ist dagegen auch Käufern wie Stefan Burmeister zu verdanken: “Fast jeder Vierte”, so Barner, “ist über 25 und Fußballfan.” Die Gründe sind vielfältig: im Zuge einer beginnenden Midlifecrisis, aus Liebe zum Sport oder, wie es Andreas Steinle vom Hamburger Trendbüro formuliert, aus “tief sitzender Befriedigung des Besitzens” und einer nachdenklichen “Beschäftigung mit der Vergangenheit”. 1978 zum Beispiel, als Panini und Americana deutsche Schulhöfe eroberten. Auf dem Titelblatt vom längst bankrotten Verlag aus München: Berti Vogts auf Kinnhöhe von Kaltz, Maier, Rüssmann, Hand an der Naht wie beim Bund. Im Inneren war für Vornamen so wenig Platz wie für andere Farben als Mattblau und Blassrot. Vier Jahre später sahen die Bilder schon nicht mehr aus wie vom gymnasialen Fotokurs. Man erfährt sogar, dass Breitner aus Kolbermoor stammt und Paul heißt. Aber was ist das im Vergleich zu heute.
Im Band zur laufenden Bundesligasaison haben die Spieler Biografien, nicht selten das Zeug zum Mädchenschwarm, oft eigene Homepages und selten deutsche Pässe. Nur die Probleme der Jugend sind die gleichen. Wo ein Zwölfjähriger anno ’82 vergeblich Horst Hrubesch herbeisehnte und auf zehn Jean-Marie Pfaffs sitzen blieb, haben sich heute zwar die Namen, nicht aber die Relationen geändert. Manipulation? “Natürlich nicht”, behauptet Birgit Barner. Es gebe keine Verknappungen, eher Überschüsse, weil jede Serie auf einem Bogen gedruckt wird und Freiflächen gefüllt werden. Selbst wenn das stimmt, steckt der junge Sammler in der Klemme. Weiterkaufen? Teuer! Nachbestellen? Undenkbar! Aber leere Felder erst recht. “Männer wollen was komplett und Frauen was Schönes haben”, vorverurteilt Max Goldt sammelnde Gemüter – und vergaß dabei den Jagdtrieb. Das beste Beispiel ist Gerd Päsler. Der 51-Jährige hat seit seiner Kindheit gut 3.000 Alben komplettiert – vom kaiserlichen Zigarettenbild bis zu Barbie 2000. “Für mich ist das ein Stück vom Leben.” Und das bündelt er in einem Katalog, den der Dortmunder in 3. Auflage herausgibt. “Cards und Tütenbilder”, die Bibel der Szene. Experten wie Päsler sammeln nicht wahllos, mit zwei von 100 Fehlenden pro Tüte (unter Kennern ein Erfolg); sie setzen auf Onlinebörsen wie “stickerbasar”, “die-bildersammler” oder “klebebildchen”, lokale Tauschbörsen – und eBay. 1.600 Einträge bringt dort das Stichwort Panini.
Eine Tüte UFO 1973 geht für 3,20 Euro über die virtuelle Theke, 120 nummerierte Nemo-Sticker kosten 13 Euro, 100 EM-Tüten über 30 Euro. Profis brauchen keinen Sammelkick, der stört nur den Vollständigkeitstick. “Ich kaufe fast nur bei eBay”, sagt auch Wolfgang Prochocki, Postler aus Herne. Zum Kiosk geht einer wie er selten. Zu teuer, zu unsicher, zu kindisch sei das. Mit 75.000 Stickern in 300 Alben hat Prochocki eine der größten Kollektionen selbstklebender Bilder und bietet auf seiner Homepage 6.000 Doppelte zum Tausch. Nicht schlecht, bei mehr als 650 Alben, seit Panini 1971 das Abziehbildprinzip einführte. “Es ist eine Art Sport”, meint er und erklärt die Regeln: Zwei Alben kaufen, nichts eintragen, Gratissticker und Werbung im Heft lassen, sauber kleben. Bei der WM 1958 war der Debütant, damals 8, gelassener. Was nicht im Ofen der Eltern endete, wurde beim Zielwerfen entwertet. Jetzt sagt er stolz, “Herr der Ringe” mit “dreimal Tauschen ohne Kaufen voll bekommen” zu haben.
Prochocki ist ein Sammler der alten Schule. Er sammelt um des Sammelns Willen, nicht wie Stefan Burmeister als Event oder wie Tochter Malina, weil sie Nemo so niedlich findet. Es sei eben ein Mix aus Beschäftigungstherapie, Sinnsuche und Kommunikation, meint Trendexperte Steinle. Bei Wiederholungstätern wie Stefan Burmeister kommt ein weiteres Motiv hinzu: Angst vorm Erwachsenwerden. Bis zur WM 2002 steckte das Klebefieber in ihm und schlief. “Plötzlich merkte ich, dass ich nicht allein bin”, beschreibt er sein Coming-out. In seinem alternativen Wohnprojekt fand er sechs Gleichgesinnte, dealte fortan aus dicken Stapeln, lachte über Paninis Drohung, die Serie aus Protest gegen falsche Schiedsrichterpfiffe gegen die Squadra Azzurra zu stoppen, und wartete vergebens auf die zu spät gelieferten Iren. Auch das gehört dazu, denn für jedes Bild sind Verträge mit Verband, Sponsoren und Spieler nötig. Bei der anstehenden EM fehlen deshalb Oli Kahn und halb Dänemark. Rund 1.000 Euro Lizenzgebühr pro Spieler sind einigen offenbar zu wenig.
Sammelbilder haben also auch ernste Seiten – nicht vor dem Krieg, als Tabak und Margarine mit Bildern von Kanonen oder deutscher Leitkultur bestückt waren. Auch heute steigern Sticker das Image von Süßigkeiten, heizen Filme schon vorm Kinostart an oder untertiteln – wie in Israel – Soldaten mit Sätzen wie “Die IDF verteidigt uns und wird Frieden bringen”. Und erinnert sich jemand an die Titanic-Beilage mit Rudis leidenden Spielern zum Aufkleben? Das fand nicht jeder witzig. Im Grunde genommen ist Klebebilder-Sammeln aber eine friedliche Passion meist männlicher Normalbürger. Sie sorgen dafür, dass der Panini-Bilderdienst in Modena Nachbestellungen nur im Schichtdienst bewältig, WM für WM. Sie freuen sich, dass man beim Schokoriegel Duplo von außen schon die Motive erkennt. Sie spinnen Verschwörungstheorien über den gezielten Mangel einzelner Bilder, um die Käufer bei der Stange zu halten. Sie glauben trotzdem, die Motive landen nach einem errechnetem Zufallsprinzip in der Tüte – schließlich sind Doppelte eine Art Währung, Tauschen ist der halbe Spaß. Und Nachkaufen gilt nicht.
FRAGE
Wo ereignete sich die Schmach von Cordoba?
Antworten bitte mit Versandadresse an janfreitag@gmx.net.
Es gibt da ein ungeschriebenes, aber vergleichsweise ehernes Popgesetz: Wer die Bühne auch im Spätherbst der Karriere nicht freiwillig räumt, wird beinahe zwangsläufig altersmilde. Ausnahmen von Iggy bis Bowie bestätigen da nur jene Regel, der James nun eine Art Unterparagraf hinzufügt. Vor 35 Jahren hat das Quartett Dance und Rock mit etwas Rechnereinsatz zu jenem Madchester-Sound vermengt, ohne den Britpop heute unvorstellbar scheint. Bereits Anfang der Neunziger jedoch begann die Band um Sänger Tim Booth, ihre experimentelle Kantigkeit so zu glätten, dass sie chartstauglich wurde. Heute aber geht sie in aufgestockter Originalbesetzung den umgekehrten Weg.
Mit psychedelisch flatternden Synths und bläserflankiertem Choralgesang machen James den Zwischenstopp allzu bunter Klamotten und Arrangements ebenso vergessen wie die überanstrengte Neugründung vor neun Jahren, als Booth seinen Platz im Kreise alten Freunde und neuer Sounds erst noch finden musste. Wie kaum ein Alterswerk sonst, verbindet Girls At The End Of The World somit Nostalgie und Neuanfang zu einem selbstbewussten Album, das wieder mehr nach Stone Roses klingt, weniger nach Coldplay. Spätherbstliche Frühlingsgefühle, auch mal schön.
James – Girls At The End Of The World (Infectious)
Iggy Pop
Spätherbstliche Altersmilde ist Iggy Pop auch im biblischen Bühnenalter von 69 Jahren fremd wie ein ordentlicher Haarschnitt oder Unterhautfettgewebe. Im Gesicht jene Kraterlandschaft, die fünf Jahrzehnte hochtouriges Bühnenleben so mit sich bringen, entspringt dem jungen Geist im alterslosen Leib abzüglich biochemisch bedingter Kompromisse ein musikalischer Furor, den man vielen seiner zahmen Enkel nur wünschen kann. Jene Post Pop Depression also, die das 20. Soloalbum seit The Idiot 1977 im Titel trägt, ist für den Unzerstörbaren des Punkrock daher mehr Anklage als Eigendiagnose.
Wenn er die German Days von heute im Krautrockambiente seiner Berliner Tage besingt oder zum dystopischen Bass ein American Valhalla sucht, wirkt sein pathetischer Bariton nie rückständig, geschweige denn larmoyant; es verleiht diesem James Newell Osterberg aus Michigan nur jenen Ausdruck, der seiner Renitenz seit Stooges-Zeiten gebührt. Daran können selbst die Streicher in Nick-Cave-Gedächtnis-Songs wie Sunday und seine vorherigen, eher missratenen Alterswerke nicht rütteln: Iggy Pop wird auch mit 169 wohl noch jedes Harmoniebedürfnis virtuos zerschreddern.
Iggy Pop – Post Pop Depression (Caroline)
Hype der Woche
Gwen Stefani
Die mit Abstand größte Enttäuschung einstiger Hoffnungen des Pop seit Michael Jackson ist eine Kopie der Kopie der Kopie, die dem Original halsaufwärts zwar auf schenkelerweichende Weise ähnelt, ansonsten aber nichts damit zu tun hat: Gwen Stefani. Als Sängerin der Skatepunks No Doubt hat das kalifornische Kraftpaket mal jedes Blondinenklischee zwischen den Muskelpaketen ihres Waschbrettbauchs zerquetscht und somit ein paar bildschöne Grautöne ins Schwarzweiß des aufkommenden Gendermainstreaming gemalt. 20 Jahre später ist Gwen Stefani zwar immer noch bildschön, aber nichts davon ist echt – weder Brüste noch Attitüde geschweige denn die Musik. Maskenhaft und stromlinienförmig verkauft sie auf ihrem dritten Soloalbum eine Art Spotify gewordenen Verrat an allem, was die Musikbiz-Reflektion Don’t Speak noch selbstkritisch verarbeitet hatte: Mit Fließbandkörper und Fließbandgesten macht die Fließbandfolie Fließbandpop für rein optische Ansprüche. Silikon raus, Seele rein, dann sind wir bei Adele, das ist die Gegenwart, du bist Geschichte.
Selten zuvor war der Hype um eine deutsche Band vorm Erscheinen des offiziellen Debütalbums größer als beim Kölner Rock-Quartett AnnenMayKantereit (Foto@Fabien J Raclet). Minutenschnell ausverkaufte Hallen, Abertausende textsicherer Fans, ein vorprogrammierter Charts-Einstieg – und das mit überaus analoger Musik, die mit grandioser Stimme und viel Melancholie zwischen Mumford & Sons und Rio Reiser daherkommt. Ein Gespräch mit Sänger Henning May über Vorschusslorbeeren, Radiogedudel und Zivilisationsmüdigkeit.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Nachdem AnnenMayKantereit bereits eine ganze Weile schwer gehypt werden, gebt ihr erst jetzt euer Debütalbum heraus…
Henning May: Na ja, es gab vorher schon eine Platte, aber das war eher so ein selbstverlegtes Demo, das wir ohne unsere Instrumente richtig zu beherrschen auf einem stillgelegten Bahndamm aufgenommen hatten. Eher ein Testlauf fürs Studioalbum eigentlich, worauf wir uns eineinhalb Jahre vorbereitet haben. Wir setzen uns ja nicht ins Studio und schreiben Lieder, sondern schreiben Lieder und spielen die im Studio sozusagen live ein.
Warum?
Weil wir der Überzeugung sind, dass sich gute Songs setzen und festigen müssen. Deshalb hat das auch so lange gebraucht, bis wir was Studiotaugliches beisammen hatten.
Ist das auch ein Grund dafür, dass euch so irrsinnig viele Vorschusslorbeeren von Seiten der Fans und Medien verabreicht werden, diese Live-Attitüde?
Das hoffe ich zumindest. Im Studio sind wir blutige Anfänger, weshalb wir uns alle Aufmerksamkeit offenbar auf der Bühne erarbeitet, besser: erspielt haben. Wir hatten ja allein 2015 rund 120 Konzerte.
Wichtig für euren Erfolg vorm Debüt war aber auch eure massive Präsenz im Internet.
Die darf man auf keinen Fall außer Acht lassen. Unser Fotograf hat eine ganze Reihe liebevoller Videos gedreht, die man permanent bei Youtube abrufen kann, das spielt natürlich stark mit rein. Das klingt jetzt vielleicht pathetisch, aber es ist diesbezüglich ein Novum in der Musikgeschichte, dass selbst Bands wie wir die Möglichkeit haben, am eigenen Facebook-Profil sehr genau ablesen zu können, wo unsere Videos besonders geliket werden und daraufhin zu entscheiden, ob wir gezielt in der Stadt auftreten könnten. So sind wir überhaupt erst richtig rausgekommen aus Köln. Wegen der 80 bis 90 Likes in Berlin etwa sind wir dort in einem Café aufgetreten und wie viele Zuschauer kamen?
80 bis 90?
Exakt. Das war vor gar nicht so langer Zeit noch völlig unmöglich.
Das klingt jetzt allerdings etwas konzeptioneller als eure Musik atomsphärisch wirkt, die ja eher impulsiv klingt.
Ich glaube, wir machen zwar impulsive, aber auch wohlüberlegte Musik. Was nicht heißt, für alles einen Masterplan zu haben, aber unsere Lieder gut durchzudenken. Man muss seine Möglichkeiten nutzen, und wenn eine davon ist, ein gut besuchtes Konzert zu haben – warum nicht?
Aber warum kommt euer Sound denn gerade beim jüngeren Publikum so gut an, das ja überwiegend elektronisch sozialisiert ist?
Das müsste man natürlich das Publikum fragen, aber ich glaube, dass es gegenwärtig viel erlogene Musik von Menschen gibt, die sie weder selber machen noch dahinter stehen. Deshalb ist es für viele womöglich eine willkommene Abwechslung, selbst gemachte Musik überzeugter Musiker auf echten Instrumenten über wahre Gefühle zu hören.
Entspringt der Impuls, euch zu hören, also einer Art Zivilisationsmüdigkeit?
Das würde ich nicht überinterpretieren, aber auch nicht ausschließen, weil es zum Beispiel auf mich selbst absolut zutrifft. Ich bin definitiv erschöpft von Radiogedudel, Synthesizern, Laptopsounds und hab zusehends Bock auf reale Bässe und richtigen Gesang.
Ein Gesang, der in eurem Fall schwer an Rio Reiser erinnert.
Auch das würde ich nicht überinterpretieren, zumal die anderen drei im Gegensatz zu mir gar keinen Draht zu Ton, Steine, Scherben haben. Aber stimmt schon: für mich spielt deren Musik, die schon mein Vater viel gehört hat, eine so große Rolle, dass sie womöglich manchmal durchklingt. Diesen Einfluss darf man allerdings nicht als Imitation missverstehen. Und während Rio Reiser sehr politische Liebesmusik gemacht hat, machen wir eher alltägliche Gefühlsmusik. Also: Inspiration ja, Vorbild nein.
Ist es eine Richtungsentscheidung, unpolitische Texte zu singen?
Nein, es ist einfach die Art, mit der wir uns derzeit ausdrücken. Wer zwanghaft politisch sein will, gerät in große Gefahr, großen Scheiß zu fabrizieren. Natürlich unterhalten wir uns viel über Politik, aber weil ich persönlich so viel politische Musik Kacke finde, bin ich sehr vorsichtig damit, selber welche zu schreiben; das klingt oft selbstgerecht, von oben herab, parolenhaft. Und ich bin ein großer Gegner von Parolen. Dass Nazis Scheiße sind, darauf kann sich zwar jeder einigen, aber mit „Nazis raus!“ brüllen kommt niemand weiter. Ich singe das, was ich singen muss, und wenn das irgendwann mal politische Lieder sind, ist das schön, muss aber auch nicht sein. Dafür bin ich mir meiner eigenen Meinung auch vielfach noch zu unsicher. Ich möchte daher nicht für eine, geschweige denn meine Generation singen.
Um Tocotronic abzuwandeln, du willst nicht Teil einer Jugendbewegung sein?
Ich liebe Tocotronic, besonders die alten Sachen. Deshalb ist es sogar mein langgehegter Traum, Teil einer Jugendbewegung zu sein. Aber die Zeiten sind vorbei, dass sich eine Generation oder auch nur messbare Teile davon ideologisch oder sonstwie auf einen Nenner einigen können. Unsere Epoche ist so stark von Diversivität geprägt, dass es allenfalls noch klitzekleine Bewegungen gibt. Trotzdem bin ich als Jugendlicher mit Che-Guevara-T-Shirts rumgerannt, aber das ist vorbei. Ich glaube, den anderen in der Band geht das ähnlich.
Die anderen in der Band sind Christopher Annen, Severin Kantereit und Malte Huck. Müsstet ihr da nicht eigentlich AnnenMayKantereitHuck heißen?
Nein, weil der Name etwas Historisches ist, keine Zustandsbeschreibung. Wir haben ihn uns vor fünf Jahren gegeben, als wir noch zu dritt waren. Wenn wir anders hießen, würden wir uns ja auch nicht umbenennen, weil sich die Band vergrößert hätte. Für uns hört sich der Name ohnehin nicht mehr an wie drei Namen, sondern ein zusammengewachsener Kunstbegriff. Viele wissen ja ohnehin nicht, dass der was mit Nachnamen zu tun hat, sondern denken, das heißt der Junge mit der Gitarre auf Schwedisch oder so.
Und Malte Huck sieht das genauso?
Ja, auch für den war es nie eine Option, im Namen aufzutauchen. Er ist der Richtige und Beste für uns, das weiß er, dafür bedarf es keiner Worte. Wir sind vier Freunde, und drei davon kennen sich halt schon etwas länger.
Dramaturgisch ist die günstig produzierte ZDFneo-Serie Blockbustaz um einen Großstadtloser im Plattenbau nicht weiter der Rede wert, steht aber für einen Trend im Fernsehen: Alte und neue Medien gehen immer öfter seltsame Allianzen ein, von denen alle profitieren. Vermeintlich.
Von Jan Freitag
Fernsehen ist auch nicht mehr, was es mal war. Statt an den Lagerfeuern von Witta Pohl über Gottschalk bis Waldemar Hartmann vor sich hin zu köcheln, wird es von Durchlauferhitzern wie Joko und Klaas auf zappelnder Flamme weichgekocht. Wo einst Grundig-Röhren grobkörnig flimmerten, surren Flat-, Second-, Splitscreens nun schärfer als die Realität. Und dann tummeln sich dort auch noch Gestalten wie Joyce Ilg: niedlich, neu, also Terabytes entfernt vom Leitmedium früherer Tage und doch genau darin äußerst präsent.
Nach ersten Soap-Ausflügen anno 2005, gefolgt vom vollen Weichspülprogramm zwischen Kochshow, Wok-WM und Markus Lanz, ist die freche Kölnerin mit den tollen Locken jetzt Teil einer Serie an der Grenze vom altem zum neuen Medium. Sie heißt „Blockbustaz“, erzählt den Alltag dreier Plattenbaugewächse in der Heimat von Joyce Ilg, die sich darin mit ihrem arbeitsscheuen Freund samt kiffendem Kumpel herumplagt und gewann 2014 das Onlinevoting des TVLab von ZDFneo.
Ab Dienstag geht es mit einem Personal in Serie, das nicht recht ins Regelprogramm passt. Da wäre Sascha Reimann, als Ferric MC ein Großer im hiesigen HipHop, der bereits zwei Tatorte hinter sich hat und damit weit mehr Dreherfahrung als der berufsjugendliche Rapper Eko Fresh aus Joyce Ilgs Nachbarschaft, die ebenfalls woanders hingehört. Zu Facebook nämlich, wo ihr Kanal mit leidlich lustigen Streetcomedyclips 1,1 Millionen Abonnenten zählt, mehr als ARD, ZDF, RTL und Sat1 zusammen.
Da das schauspielerische Talent der drei Hauptdarsteller mangels Ausbildung und ausreichender Praxis limitiert ist, muss es also einen anderen Grund geben, sie aus der Freiheit ihrer Biotope in den Käfig fester Sendezeiten zu locken. Er lautet: Crossmedia – der Versuch, digitale und analoge Plattformen zum Vorteil aller zu vernetzen. Gerade das ZDF ist mit seinem Zuschauerschnitt oberhalb der 60 Jahre zwingend darauf angewiesen, sein künftiges Publikum dort zu finden, wo es die meiste Zeit verbringt: Im Netz, wo ab Herbst auch der öffentlich-rechtliche Jugendkanal seinen Platz haben wird.
Hier sucht das siechende Leitmedium seit drei Jahren abgesehen von der branchenüblichen Homepage auch fiktional sein crossmediales Heil. Damals ging die interaktive Arte-Serie „About:Kate“ um ein eine multimedial gestresste Berlinerin zugleich als App auf Sendung. Doch während es dafür Lob und Clicks hagelte, ging die Millionärswahl kurze Zeit später auf Pro7 baden, als das Finale des karitativen Castings online versendet werden musste, so mies waren Niveau und Quoten. Womit bewiesen wäre: Internet und Fernsehen mögen sich immer besser ergänzen; ein Liebespaar sind sie bislang nicht.
Beispiele wie Joyce Ilg zeigen allerdings, dass die Grenze durchlässiger wird. Den Anfang machte vor zehn Jahren Katrin Bauerfeind, als die Moderatorin dank hinreißender Auftritte im fabelhaften Netzmagazin Ehrensenf über 3sat zu Film und Fernsehen wechselte, wo sie zum Star gereift ist. Während ihr Weg ins Analoge allerdings qualitativ begründet war, ist es bei überdrehten Clickmillionären von BarbieLovesLipsticks bis LeFloid eher reine Quantität, die Gastauftritte bei GZSZ oder eigene Gamingshows auf EinsPlus rechtfertigt.
Und so wie sich der vorjährige Kanzlerinnen-Interviewer über die gebührenfinanzierte Sendezeit mit Querverwertung im eigenen Youtube-Kanal freut, dürften Joyce Ilg und Eko Fresh über gut bezahlte ZDF-Werbung freuen, die auf ihre Hauptkarrieren abstrahlt. Verstärkt wird sie durch Gaststars wie Moritz Bleibtreu und Jürgen Drews, die ihrerseits vom Auftritt in der drolligen, oft lustigen, insgesamt aber doch arg klischeebeladenen Geschichte um einen urbanen Loser zwischen Faulheitsstolz und HipHop-Karriere profitieren. Ob es wirklich für alle nur zum Lachen ist, wenn ein Spielsüchtiger dabei sein Kleinkind als Pfand fürs Bier hinterlegt, das später im Haschdunst des Onkels Ballermannfernsehen glotzt, sei mal dahingestellt. Aber Humor ist heute ohnehin, wenn das Internet lacht. Und das ist bekanntlich leicht zu erheitern.
Zur Demokratie gehört die Kritik daran zwingend dazu. Man darf Parlamentswahlen demnach gern für manipulativ halten, elitengesteuert, sogar überflüssig – mangelndes Entertainment ist ihm nur noch selten vorzuwerfen. Der deutsche Supersunday etwa bot vor einer Woche zumindest öffentlich-rechtlich feinste Unterhaltung mit kompetenter Berichterstattung vor allem im Ersten, gefolgt von einer hinreißend klugen Anne Will im Anschluss, der das ZDF – nach gewohnt debiler Primetime-Verseifung – die gehaltvolle Maybrit Illner entgegenstellte. Gewiss, die Stimmverteilung attestiert bis zu einem Viertel der Wähler in drei Ländern zwar eher das Niveau von Inga Lindström als der Talkshowgastgeberinnen, aber sei’s drum: die freiheitlich demokratische Grundordnung muss (und kann) auch geistige Schlichtheit schlucken.
Sie puffert ja auch seit Jahrzehnten das Schattenboxen wider die Rundfunkgebühr ab, das gerade in die gefühlt 2763. Runde ging und auch im laufenden Prozess nicht mit dem Aus dessen enden wird, was Kritiker als Zwangsabgabe missverstehen, letztlich aber eine Art kollektiver Investition in die letzten Reste eines unabhängigen Fernsehjournalismus ist. Gut, dass damit auch patriotisch enthemmtes Jubelpersertum wie im lückenlos gezeigten Wintersport finanziert wird, hat mit Journalismus wenig zu tun, aber damit ist es ja seit Sonntag endlich so vorbei wie mit dem Rosenverkäufer namens Bachelor, der RTL im Finale Minusquoten bescherte.
Vorbei ist es auch mit Franz Beckenbauer als Sky-Experte, was weniger schade ist als die Frage aufwirft, wie sich der ebenso selbstgerechte wie undurchsichtige Fußballpatriarch so lang am Mikro eines ernstzunehmenden Senders halten konnte. Weit bedauerlicher ist dagegen, dass Carlo Rola keines mehr zur Hand nehmen wird: Herztod mit 57, heißt es über den Regisseur, der eine Art platonischer Symbiose mit Iris Berben gebildet und praktisch jeden ihrer 2763 Filme verfasst, gedreht, produziert hat. Seine Familiendramen (Die Krupps) und Reihenkrimis (Rosa Roth) bilden dabei eine Art zeitgenössisches Vermächtnis des alten Leitmediums …
Die Frischwoche
21. – 27. März
… und somit den Gegenentwurf zu dem, was das ZDF auf seinem Ableger Neo versucht: Internet und Fernsehen zu vereinen. Am Dienstag (22.30 Uhr) geht Blockbustaz mit dem Rapper Eko Fresh als stinkfauler, aber herzenswarmer Kiffer im Kölner Plattenbau in Serie, was sich berechenbar der Netzgemeinde anbiedert – dafür steht auch der HipHop-Star Ferris MC als Sols Kumpel, mehr aber noch Joyce Ilg als fürsorglich-prollige Freundin, deren Facebook-Kanal gut eine Million Abonnenten hat; dennoch hat sich der Sieger des TVLab 2014 im Kreise illustrer Gaststars von Frederick Lau bis Moritz Bleibtreu spürbar vom Schülervideo-Niveau des Pilotfilms emanzipiert.
Die Zielgruppe jedoch dürfte sich höchstens zur Mediathek verirren. Im Regelprogramm wird sie ja selbst den Abriss ihrer eigenen Digitalexistenz am Dienstag beim Partnerkanal wohl ignorieren. Zu blöd eigentlich – ab 8.15 Uhr feiert ZDFinfo einen 16stündigen Nerd-Tag mit Dokus von Teenager in sozialen Netzwerken (16 Uhr) über Das größte Geheimnis der Spiele-Industrie (20.15 Uhr) bis hin zum CCC-Porträt Hacker, Freaks und Funktionäre. Während sich die Spartenkanäle also ums Publikum von morgen abmühen, bedienen die großen Sender parallel dazu jenes von (vor)gestern. Das RTL-Biopic Duell der Brüder um die Spaltung der Familie Dassler in Adidas und Puma vor 70 Jahren (mit anschließender Doku) bietet mit Ken Duken und Torben Liebrecht zwar zwei furiose Streithammel auf, verläuft sich ansonsten aber in der branchenüblichen Opulenz überdekorierter Zeitgeschichte, während Das Geheimnis der Hebamme zeitgleich im Ersten zwar von sich behauptet, das populäre Sujet anspruchsvoller als zuletzt Sat1 zu verarbeiten, am Ende aber doch nur die wichtige Klientel der Mittelalterfans mit Schauwert versorgt.
Dann doch lieber echtes Eye-Candy wie Tut, Donnerstag und Freitag, jeweils 22.15 Uhr, bei Vox – die auf zwei Filme verdichtete US-Miniserie übers Leben des legendären Pharaos Tutanchamun, das dank Ben Kingsley abzüglich der brachialen Musik echt beeindruckend und vergleichsweise realistisch sein soll. Zumindest letzteres gilt gewiss nicht für A Girl Walks Home Alone At Night, ein dystopischer Vampirfilm aus den USA (Montag, 23.15 Uhr, NDR) der nicht nur von einer Frau gedreht wurde, was im Horrorgenre extrem selten ist, sondern auch ungewohnt feministische Töne anschlägt. Auf seine Art immerhin emanzipatorisch war die farbige Wiederholung der Woche (Freitag, 0.00 Uhr, Kabel1) Rocky Horror Picture Show von 1975, wohingegen der schwarzweiße Tipp immerhin Freiheitsliebe im Bann maximaler Unfreiheit zum Gegenstand hat: Das Narrenschiff skizzierte 1965 mit Vivien Leigh in ihrer letzten Rolle die Weltgesellschaft am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung bei einer Fahrt von Südamerika nach Bremerhaven. In diese Zeit passt auch die Doku der Woche: Das Ende des erhabenen Staates (Dienstag, 20.15 Uhr, Arte) über den Zerfall des Osmanischen Reiches und wie es das 20. Jahrhundert geprägt hat. Und zum Abschluss noch der DVD-Tipp: Die dritte Staffel der grandiosen Serie Die Brücke gibt es jetzt für 29.99 Euro (Edel) auch zu kaufen.
Mit viel Hingabe, großer Empathie und liebenswerter Bodenständigkeit hat sich Wotan Wilke Möhring zum absoluten Sympathieträger des deutschen Films gemausert, der brachiale Komödien mit „Männer“ im Titel ebenso hinreißend verkörpert wie bleischwere Sozialdramen. Kein Wunder, dass er auch als Tatort-Kommissar aktiv ist – der sich im neuen Fall nicht nur mit Islamisten auseinandersetzen muss, sondern nach dem Ausstieg von Petra Schmidt-Schaller auch mit neuer Partnerin (Foto: NDR). Ein Gespräch über knisternde Kolleginnen, leichte Stoffe und was er von seinen drei Kindern gelernt hat.
Interview: Jan Freitag
Herr Möhring, ist Ihnen Dirk Matthies ein Begriff?
Wotan Wilke Möhring: Nee, wer ist das?
Großstadtrevier?
Ah ja, dieser Polizist, genau. Ich brauche immer Bilder, um mich zu erinnern. Namen reichen da oft nicht. Was ist mit dem?
Der fährt seit fast 30 Jahren mit wechselnden Partnerinnen auf Streife, bei denen es oft knistert, aber nie so richtig funkt…
Also wenn Sie da auf Falke und Lorenz im „Tatort“ ansprechen – da hat das ja zum Schluss schon ein bisschen mehr als geknistert.
Wird sich das mit Franziska Weisz als Julia Grosz wiederholen und somit zum Running Gag des Hamburger Tatort?
Auszuschließen ist das nicht, weil so ein bisschen Knistern die Spannung erhöht, aber geplant ist da nix. Wir lassen uns da von der Entwicklung treiben.
Was wird die Neue denn an Ihrer Figur verändern?
Einiges. Schon weil er nicht mehr nur eigenen Geheimnissen nachspürt, sondern auch ihren. Warum macht diese hochqualifizierte Polizistin in so einen kleinen Flughafenjob? Das dürfte ihn auch als Typ verändern.
Welcher Typ im Sinne von Mann ist dieser Falke denn bislang?
Ein physischer, empathischer, loyaler seinen Freunden und Prinzipien gegenüber, darin ist er mir durchaus verwandt. Andererseits ist er ein ungebundener, vereinsamter Mann, mit einem eklatanten Missverhältnis von privater und beruflicher Erfüllung, voller Sehnsüchte, deren Wert verblasst, sobald sie sich erfüllen. Deshalb stürzt er sich aus seiner Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, voll in die Arbeit. Darin ähneln wir uns nun überhaupt nicht; ein lonely wolf bin ich mit drei kleinen Kindern sicher nicht. Außerdem ist er kein Fußballfan und ich bin noch heiser von Dortmunds gestrigem Spiel gegen Tottenham.
Was ihn weniger zu jenem Typus liebenswerter Proll macht, den Sie sonst gerne spielen.
Und das, obwohl er aus einer echt harten Ecke in Hamburg-Billstedt kommt, in der drohender Tiefgang gern mit Gewalt, Lautstärke oder Humor überspielt wird, typisch männlich eben, wobei der Scherz bekanntlich das Loch ist, aus dem die Wahrheit pfeift. Solche Typen spiele ich in der Tat gern, zumal Prolls gern unterschätzt werden, und unterschätzte Rollen mag ich. Ich hab als Old Shatterhand zwar grad einen großen Helden in einer großen Geschichte abgedreht, bevorzuge aber einfache Charaktere einfacher Geschichten mit einfachem Kern: Liebe, Schmerz, Verzweiflung, das menschliche Wollen gegen das göttliche Sollen als Destillat unseres Lebens. Ich mag die Zerrissenheit im Einfachen lieber als verkopfte Erzählungen.
Ist das der Grund, warum Sie kaum Berührungsängste mit leichten Stoffen haben?
Das mag sein. So lange du deiner Figur mit dem nötigen Ernst begegnest, kannst du jede spielen. Deine Figur genießt grandiose Freiheiten, wenn sie doof oder klischeebehaftet gezeichnet ist.
Was so weit geht, dass viele Ihrer Filme schon im Titel „Mann“ und „männlich“ durch deklinieren, also humoristisch eher niedere Instinkte ansprechen.
Aber auch da haben meine Figuren alle Sehnsüchte, Ernsthaftigkeit, Tiefe, weshalb sie nicht dauernd oben ohne rumlaufen, sondern kommunizieren. Trotzdem kriege ich gerade mit dem Alter zunehmend Lust auf schwere, unmännliche Stoffe wie Der letzte schöne Tag, wo die Mutter meiner Kinder plötzlich stirbt.
Spielt man so etwas anders, wenn man selbst welche hat?
Absolut. Zumal ich keine Schauspielschule besucht habe und daher ohnehin intuitiver agiere. Filmemachen ist zwar keine Therapie, aber so, wie ich was von zuhause zum Drehen nehme, nehme ich auch was vom Drehen mit heim; das hilft mir sehr bei der Reflektion meines täglichen Handelns und lässt mich erkennen, wie wertvoll es ist, was man hat. Als ich kürzlich mal vier Wochen in Andalusien war, hab ich mich richtig gefreut, den deutschen Wald wiederzusehen.
Ist das bodenständig oder menschlich?
Beides, hat aber mit Heimatduselei wenig zu tun; ich liebe New York ja fast so wie den Pott, aber je mehr du um die Welt reist, desto schöner erscheint dein Zuhause, denn morgen kann schon alles vorbei sein. Um das zu erkennen, helfen reale Dramen wie „Das Leben ist nichts für Feiglinge“ mehr als Komödien. Dennoch nehme ich von jedem Projekt etwas mit, und sei es die Erkenntnis, dass ich bestimmte Rollen besonders beherrsche. Für die wirst du ja ausgewählt, weil du bist wie du bist, und wenn du im Fußball als Verteidiger besser bist, kannst du es gern mal über die sechs in den Sturm rutschen; deine Position bleibt hinten. Dass muss man auch als Schauspieler akzeptieren und kann sich darüber freuen, für bestimmte Charaktere sofort auf dem Zettel zu sein.
Stört es dennoch, wegen der Oberfläche oder des guten Namens angefragt zu werden?
Nein. Stören tun mich schlechte Bücher. Nur dann sage ich ab.
Muss man sich leisten können…
Stimmt, aber Filmemachen ist ja anders als Olympia: Dabei sein ist nicht alles.
Und wenn Tarantino anruft oder eine Fernsehserie wie Homeland, deren fünfte Staffel voller deutscher Schauspieler ist?
Gut, das ist noch mal ne andere Nummer, aber selbst das würde ich nicht tun, nur um meine kleinen Eitelkeiten zu befriedigen. Die wollen zwar auch gefüttert werden, aber wenn ich wählen müsste zwischen Hollywood um Hollywoods willen und einem lang geplanten Urlaub mit meiner Familie, würde ich den jetzt nicht umstandslos absagen. Andererseits bietet internationales Kino Möglichkeiten, die man nicht ungenutzt lassen kann. Ich will meinen Horizont ja nicht verkleinern, sondern erweitern. Umso wichtiger ist es, zu wissen, wo man herkommt und wo man hinwill.
Und wo wollen Sie hin?
Das ist mit drei Kindern schwerer zu beschreiben denn je. Die Welt wird plötzlich so groß, es gibt so viel zu erleben und höchstens mal physisch ein „genug“. Wenn man alle drei Tage mit einem breiten Grinsen ins Bett geht, ist schon viel gewonnen.
Konzeptalben sind oft Kopfgeburten. Bemüht durchdacht und dadurch wenig spontan, reiten sie ein Thema gern aus anstatt viele Themen ineinander fließen zu lassen wie ein gut komponiertes Festmahl. Konzeptalben sind da eher zerkochter Eintopf. Es sei denn, man vertont wie die britische Band The Magnetic North Landstriche, mit denen die Mitglieder etwas Innerliches verbinden, Gefühle zum Beispiel, Erinnerungen. Beim gefeierten Debüt waren es vor vier Jahren die schottischen Orkney Islands, zu denen die Londoner ein vielgängiges Klangmenü bereitet haben, das auch deshalb lange im Unterbewusstsein hängen blieb, weil es der Gitarrist Gawain Erland Cooper aus seiner Kindheit kannte und liebte. Nun hat sich das Trio die Heimat des Multiinstrumentalisten Simon Tong (The Verve, Blur) vorgenommen: West Lancashire.
Auch Prospect Of Skelmersdale klingt wie ein Besuch in einer Heimat, hier der Nordwesten Englands, den man wie einen dunklen Wald betritt, bis dieser Soundtrack seine Hand ausstreckt und mit sanften Worten der Zuversicht von Sängerin Hannah Peel darin herumführt. Mit hüpfenden Gitarrenpicks, hallenden Drums und spannenden Synthieflächen erinnert das manchmal an The XX, entwickelt aus der unterschwelligen Tristesse aber ungeheuer viel Energie voller Geigen, die sedieren, wenn es zu aufregend wird, und erhellen, wo Trübsinn droht. Eine Platte wie eine Lichttherapie, voller Wärme, Kraft und Indiesound. Das beste im sperrigen Alternative-Fach dieser Tage.
The Magnetic North – Prospect Of Skelmersdale (Full Time Hobby)
Underworld
Es ist Fluch und Segen einer Band zugleich, wenn sie untrennbar mit einem Song verbunden werden, der schon lange zurückliegt. Im Fall der Walisischen Elektropioniere Underworld ist es ohne Frage Born Slippy, die zeitlose Hymne gut gelaunter Selbstzerstörung aus dem Drogenepos Trainspotting, was auch schon wieder zwei Jahrzehnte her ist. Man kommt also nicht umhin, auch beim neunten Album Barbara Barbara, we face a shining future unwillkürlich Tauchgänge durchs Kneipenklo im Kopf zu haben oder sonstige Horrortrips der schottischen Filmjunkies. Der nölige Gesang von Frontmann Karl Hyde, die getragenen Bass-Flächen, all das synthetisch Fließende dessen, was erst seit Underworld Progressive House genannt wird – alles lässt sich irgendwie auf die eigenen Wurzeln zurückführen.
Und ist doch gleichermaßen stets ein Teil ihrer eigenen Modernisierung. Wie eh und je lullt einen der Sound des zum Duo geschrumpften Trios ein und taucht alles ringsum in hypnotische Lässigkeit. Stücke wie If Rah etwa beginnen, schwellen an, schwellen ab und enden auf eine gleichförmige Art und Weise wie ein technoides Mantra, klangreduziert und stets ein wenig nostalgisch, als habe man das alles schon tausendmal gehört. Dennoch lässt es einen nicht wieder los, gräbt sich ins Rückenmark, mäandert dort ein wenig herum und wechselt dann fast unmerklich zum nächsten von sieben langen Tracks, der das Prozedere dann abermals wiederholt. Barbara Barbara ist Unterwanderungsmusik. Fies eigentlich. Aber auch großartig.
Underworld – Barbara Barbara, we face a shining future (Caroline)
Hype der Woche
Killerpilze
Auch Schülerbands werden mal erwachsen. Sicher, die alten Zeiten, super, wir bleiben immer Kumpels, rocken einfach immer weiter, wie früher, als wir noch bayerischen Teenager waren und irgendwie zufällig ins Rampenlicht gespült wurden, als junge, wilde, hungrige Indiepopband mit Kraft und Perspektive. Tja. Vier, fünf Stilwellen und sieben Platten später hat sich das Trio nun endgültig in Posterboys verwandelt und produziert Posterboyzeugs wie HIGH, knitterfrei und radiotauglich, noch immer mit diesem hübschen Schimmer angepasster Renitenz von damals, aber, ach, dann kommen diese furchtbaren Ohohoh-Choräle zum Selbstfindungsgefasel und man denkt sich, vielleicht interessiert sich noch die kleine Schwester dafür, wenn Killerpilze Wir sind immer noch jung singbrüllen. Seid ihr noch. Aber trotzdem fast so alt wie Matthias Reim.