ZEIT-Porträt »Was bewegt … Paul Wesjohann«, Wiesenhof AG

Herr der Hühner

Aus »Die Zeit« Nr. 3/2013

Von Jan Freitag

Der Chef der größten Geflügelschlachterei in Europa, Peter Wesjohann, ist von Skandalen umgeben, genießt aber sogar bei Tierschützern Respekt.

Fabian Freese klopft an, zweimal, dreimal, eher zart als hörbar. Reine Höflichkeit, sagt der Geflügelmäster fröhlich. Und wird plötzlich ernst: »Und zur Warnung: Achtung, wir kommen!« Nichts soll die schreckhaften Tiere ängstigen, nichts die Hühnernerven dehnen. Dann öffnet Freese die Tür mit dem staubverblendeten Fenster, und was im fahlen Licht ewiger Dämmerung auftaucht, macht den Gebrauch guter Manieren noch seltsamer als ohnehin, im Umgang mit unserem täglich Brot.

Denn unterm gedämpften Gackern Abertausender Schnäbel dringt strenger Ammoniakgeruch in die Nase. Und dann der Staub: Federdick legt er sich auf die Atemwege. So riecht, so klingt, so ist es, wenn der Bauer zum Produzenten wird und Landwirtschaft Industrie. Die Hühnerhölle, flüstert das Gewissen, sie liegt hier, beim Zulieferer Freese. Der Hühnerhimmel, entgegnet sein Zulieferer Peter Wesjohann, er sei da, wo die Norddeutsche Tiefebene besonders flach ist, gar nicht so fern. »Sehen Sie«, versonnen blickt der Vorstandsvorsitzende von PHW, Europas größtem Geflügelschlachter, in seinem Ganzkörperoverall durch das stoische Federvieh, »die zwei da vorn spielen richtig«.

Es ist ein Substrat aller Ernährungswidersprüche, das sich hier in drei Minuten Frontalunterricht Massentierhaltung zeigt. Ein Kulturkampf um 38.000 Hühner auf 1.760 Quadratmetern Betonboden, die kaum je ein Sonnenstrahl erreicht. Er beginnt mit der Frage, was zuerst da war: Henne oder Ei. Und dann sei da noch eine andere, vergleichbare Frage: ob die industrielle Fleischproduktion zuerst da war oder der Bedarf nach immer mehr immer billigerem Fleisch. Peter Wesjohann deckt diesen Bedarf – im gigantischen Maßstab, marktbeherrschend. Bei radikalen Tierschützern hat ihn das zur skandalumtosten Hassfigur Nummer eins gemacht. Er ist der Mann, der Hühner quält und Saisonkräfte ausbeutet, Grundwasser verpestet und die Gesundheit gefährdet. Und der mit all diesen Missetaten zum Branchenkönig wurde, zum Umsatzmilliardär, zum reichen Privatmann.

Die Antwort auf die Frage nach der Henne und dem Ei bleibt Wesjohann schuldig. »Ich bin ja nicht Gott.« Für die nach Angebot und Nachfrage braucht der Katholik ein bisschen länger. »Ich sach mo so«, beginnt er im Platt seiner Gegend und doziert über Domestizierung und Evolution, Hungerwinter und Wirtschaftswunder, wo ein »gewisses Angebot« eben eine »gewisse Nachfrage« bedient habe. Und wie er so erzählt, landet Wesjohann bei seinem Großvater Paul, der als Knecht ins arme Rechterfeld kam, bis ihm sein Bauer 1932 die Haltung eigenen Federviehs erlaubte, woraus ein Landhandel erwuchs. 80 Jahre später führt die Replik des Enkels vom Neuaufbau nach Kriegsgefangenschaft und Wachstum in der Freiheit über die Markenbildung der Sechziger weiter zum Stabwechsel im Folgejahrzehnt. Sie endet auch nicht 1987, als die Söhne Paul-Heinz und Erich die befreundete Lohmann & Co. AG kauften und aus der regionalen Paul Wesjohann & Co. ein dreimal größeres Schwergewicht mit Milliardenumsatz formten, das sie elf Jahre später aufteilten: PHW hier, EW-Gruppe da, benannt nach den Initialen ihrer Besitzer. Neue Riesen am Esstisch.

Peter Wesjohann erzählt von Gott und der Welt, den rissigen Händen des Firmengründers und höherer Handelsschule des Sohns. Er erzählt, bis die Eingangsfrage vergessen ist, womit Wesjohann gut leben kann. Denn der Hühnerbaron mit drei Dutzend Firmenzweigen auf fast allen Kontinenten mag riesige Teile des hiesigen Geflügelverbrauchs decken und auch sonst alle Branchenfelder von Tierarznei bis Futterzusatz beackern – er ist im Innern zerrissen. Den grübelnden Tierfreund im profitsüchtigen Aberwitz intensiver Agrarwirtschaft nimmt man ihm ab. Leise schwärmt er von Eukalyptus im Gebläse oder Sterilität wie im OP. Und weil ihnen weder Hitze noch Greifvögel zusetzten, »haben die Tiere es hier besser als wir Menschen«. Wären es bloß nicht so viele.

Eins von drei Hähnchen auf unseren Tellern, gut 240 Millionen, werden von 800 PHW-Partnern wie diesem im Kreis Vechta auf Schlachtmaß gebracht. Dazu ein Viertel aller Puten plus die Hälfte der Enten aus deutschen Landen. Pro Jahr vermarktet die Geflügelsparte Wiesenhof eine halbe Million Tonnen Fleisch: filetiert, paniert, als Ganzes oder Wurst. Wissenschaftlich optimiert, nehmen die Küken von einst am Ende ihrer fünf Wochen bis zu 100 Gramm zu. Täglich. Stolz zeigt Wesjohann die Armatur der 500.000-Euro-Anlage: 24,2 Grad Celsius, 71 Prozent Luftfeuchtigkeit, 3.110 Gramm Kraftfutter bisher, automatisch ergänzt um Vitamine und Impfstoffe von AD3E-Forte bis ND Hitcher. Es sind die Codes der Effizienz für 7,5 Aufzuchten pro Jahr.

Und so technisch deren Zutaten klingen, so entzückt redet ihr Beimischer von »Tophygiene, Topimpfmanagement, Topkontrolle«. Alles für »gesunde« Hühner aus »anständiger Haltung«.  Aber ist sie auch artgerecht? Der Bankkaufmann mit BWL-Diplom und Praxiszeit an der Supermarktkasse wird energisch: »Wir sind tiergerecht!« Artgerecht sei freie Wildbahn, »da stirbt jedes zweite Tier«. Bei ihm betrügen die »Abgänge« keine drei Prozent. Mit 1.600 Gramm Futter pro Kilo Fleisch sei die Ökobilanz zudem der ressourcenintensiven Biomast vergleichbar und die Bauernhofidylle sowieso Sozialromantik. »Unser Vieh hat Wasser, Futter, keine Leiden.« Für grüne Extremforderungen »müsste man dem Huhn halb Deutschland überlassen«.

Man merkt es schon: Bei diesem Thema ist Weshojann leicht reizbar. Doch es ist nicht seine Art, zu explodieren. Er ist ruhig, berechenbar – so bodenständig wie seine Region. Sagt man. Und stets klingt es respektvoll. »Ehrlich, fleißig, mit Rückgrat«, so sieht ihn Vater Paul-Heinz, der nebenan ein Büro hat. »Zuverlässig, kameradschaftlich, kümmert sich«, so sieht ihn Klaus Brengelmann, der dem Ex-Kreisligisten im Vorstand der örtlichen SV Arminia beisitzt. »Integer, geerdet, regional verwurzelt«, so sieht ihn Werders Marketingchef Klaus Filbry, der Wiesenhof auf Bremens Erstligabrust gelotst hat. »Angenehm, selbstkritisch, zuverlässig«, so sieht ihn Edmund Haferbeck von der Tierschutzorganisation Peta. Sogar der.

Sonst lässt Haferbeck nämlich kein gutes Haar an Wesjohann. Doch unter den »skrupellosen Brutalos der Branche«, sagt er, hinterfrage Wesjohann immerhin »als Einziger sein Tun«. Welch ein Lob! Gemeinhin hocken Kritiker wie Kritisierte ja tief in ihren Gräben. Geredet wird über-, selten miteinander. Die einen fluteten das Netz mit Videos gefolterten Federviehs, die anderen wetterten über Fehlinformation und halten mit einem eigenen YouTube-Kanal dagegen. Das ARD-Magazin Report berichtete vom Grauen in einigen Ställen, später verweigerte Wiesenhof ARD-Reportern den Zutritt zur Pressekonferenz. So lief es oft und gehörig schief.

Wesjohann begreift das. Darum krempelt er den Familienbetrieb um, seit sein Vater ihn vor 13 Jahren bat, nicht für Aldi Süd nach England zu gehen. Schon zuvor war das Prinzip Integration, bei dem vom Ei bis zur Einzelhandelsrampe allein die Mast ausgelagert ist, überaus rentabel. Doch der Neue verdoppelte die Mitarbeiterzahl auf 5.300 und katapultierte den Umsatz auf 2,23 Milliarden.

Während Mitbewerber wie der französische Branchenvize Doux trotz europaweit steigenden Geflügelhungers pleitegingen und kleine wie Stolle im Nachbardorf an Investoren verkauft wurden, wächst bei PHW alles: Absatz, Export, Gewinn. Auch weil Wesjohann »Geldverschwendung hasst«. Als CEO, den seine drei jüngeren Geschwister – das erwähnt er mehrmals – ständig abwählen könnten, zahlt sich der 43-Jährige ein Salär, »von dem ich nur gut leben kann«. Keine Jacht, kaum Luxus, ein großes statt nobles Auto, das Haus gut gedämmt, nicht repräsentabel. »Unser Geld soll in der Gruppe arbeiten«, sagt er. 1,2 Milliarden Euro hat er seit 1999 investiert, in Anlagen und Expansion, in Wachstum und Marktmacht, aber auch ins Tierwohl. Seiner Verantwortung will Wesjohann nicht nur mit »radikaler Aufarbeitung jedes Fehlers« gerecht werden, sondern auch durch die Information der Öffentlichkeit. Nach zwei Generationen Austernpolitik stellt sich dieser schüchterne Mann mit den schmalen Schultern der Presse.

Er sponsert Werder Bremen und führt kritische Fans durch die Ställe. Als Gesprächspartner sucht er den Dialog, sogar mit Peta und der ARD. Als Trikotsponsor lotst er kritische Werder-Fans durch gläserne Ställe. Als Chef verweist er, anders als sein Vater, der jeden Vorwurf billiger Leiharbeit mit Vertragsfreiheit der Subunternehmer abbügelt, diplomatisch auf Zwänge in Stoßzeiten und 90 Prozent Festverträge. Als Laudator begrüßt er ein Symposium seiner Ernährungsstiftung zum »Shitschtorm«, dem sich die Fleischindustrie stellen müsse. Und wenn er da die Hände nervös zum Merkel-Herz faltet, wirkt er zwar seltsam deplatziert; doch derlei Präsenz trug dazu bei, die Markenbekanntheit auf 86 Prozent zu erhöhen. Das habe auch Kehrseiten, sagt er im dunkel getäfelten Vorstandsbüro vor Bildern seiner zwei Söhne und einer Landkarte vom Standort Polen: »Als einzige Fleischmarke sind wir die ideale Zielscheibe.« Da täten Treffer unter die Gürtellinie »im System politischer, publizistischer Interessen« doppelt weh, »und zwar persönlich«.

Denn seine Bilanz könne sich doch sehen lassen; lang bevor es Gesetz wurde, sei sein Futter frei von Antibiotika, tierischem Eiweiß und Gentechnik gewesen. Freiwillig setze er auf Ökostrom, Herkunftsgarantie, Nachhaltigkeit. Etwa mit dem »Privathuhn«, das Wiesenhof 100.000 Mal die Woche verkauft. Verglichen mit fünf Millionen insgesamt ist das teurere Hybrid zwischen konventionell und bio indes ein Nischenprodukt. Ganz zu schweigen vom echten Bioprodukt, das bleischwer im Kühlfach liege. »Aber hey«, sagt Peter Wesjohann fast locker, »wir sind auf dem richtigen Weg.« Ginge Wiesenhof darauf allein zu weit, stiege nur die Zahl billiger Importe von jenseits deutscher Tierschutzstandards. »Aber ich hab die Verantwortung, ein ordentliches Angebot für anständige, bezahlbare Lebensmittel zu machen.«

Klingt oldenburgisch, bodenständig, sorgsam. Den Ammoniakgeruch muss man sich kurz wegdenken.

Advertisement

Portmeirion/Wales – Drehort von The Prisoner

„Urlaub in Gefangenschaft“

Frankfurter Rundschau Nr. 30/2012

Von Jan Freitag

Das nordwalisische Dorf Portmeirion ist ein irrealer Ort. So irreal, dass die psychedelischste Serie aller Zeiten darin stattfand und nichts verändern musste. „Nummer 6“ lebt hier noch heute.

Langeweile kann ein kreativer Quell sein. Clough Williams-Ellis langweilte sich. „Furchtbar sogar“, erinnert sich sein Enkel. Im Original klingt es noch gelangweilter, wie sein Großvater empfand, vor bald einem Jahrhundert auf der Architekturakademie: „He was terribly bored“, sagt Robin Llywelyn und ist dabei so schwer zu verstehen wie sein Name, wie der Ort seiner Arbeit, seiner ganzen Existenz: Portmeirion. Einer, den es im Grunde gar nicht gibt.

Und auch nicht gäbe, hätte Clough, wie ihn jeder nennt, das Studium nicht abgebrochen, um seinen Traum vom lebenden Handwerk an der walisischen Nordküste umzusetzen. Dort wo die Menschen seltsamen Dialekt sprechen, noch seltsamere Namen tragen, sogar ein wenig merkwürdig aussehen wie Robin, mit den drei gegenläufigen Streifemustern unter der Dirigentenfrisur. Vor allem aber: seltsame Häuser errichten. „Architectural Mongrels eines Jägers und Sammlers“, nennt er sie, gebastelt aus Fenstern der Bank of England, Steinen des zerbombten Bristols, Quadern der benachbarten Burgruine, Pflanzen vom ganzen Globus. Nur wer das Mosaik mit eigenen Augen sieht, kann dieses Dorf an diesem Ort verstehen. Beinahe.

Denn Portmeirion ist nicht bloß eine Häufung irdener Domizile, sondern Kunst. Eher Objekt als Siedlung, mehr erschaffen als gebaut. Wer den Triumphal Arch am Nordwestrand oder das Gate House weiter südlich durchläuft, erreicht eine verwunschene Welt. Den mäandernden Weg Richtung Bucht entlang passiert man begehbare Landschaftsgemälde in Technicolor, gesäumt von Treppen, Mauern, Arkaden, Kolonnaden im Filmkulissenstil, überragt von Fassaden, die in ihrer bonbonbunten Verspieltheit Alices Wunderland entsprungen scheinen. Geträumt, entworfen, realisiert von einem Mann wie aus Romanen von Charles Dickens.

Im Jahr 1925 kaufte sich Clough eine Schmiede nebst Schieferhafen und gestaltete die Einöde am Rande des Snowdonia-Nationalparks um. Stein für Stein, Beet für Beet, Cottage für Cottage schuf der visuelle Visionär an der süßen Steilküste sein Nachhaltigkeitsideal. Im Jahr drauf taufte er das erste von zwei Dutzend Gebäuden Neptune, und als der Pastorensohn sah, dass sich sein Modell nicht von allein finanziert, „hat er eben ein Hotel draus gemacht“, wie Enkel Robin erzählt. Auf 50 Hektar wuchs es fortan zum Ensemble – jedes Jahr größer, jedes Jahr bizarrer, jedes Jahr mediterraner und dabei very britisch.

Licht und Luft, Symmetrie und Vielfalt, ein Hauch von Mittelmeer am Nordseestrand im hermetischen Ambiente mit Perspektive – das war es, was Clough wollte. Das war es auch, was Patrick McGoohan suchte für das Skurrilste, was Fernsehen je geschaffen hat: The Prisoner. In der psychedelischen Atmosphäre Portmeirion fand der Hauptdarsteller und Regisseur das perfekte Ambiente für seine klaustrophobische Serie um einen grundlos entführten Agenten. Bis zu 13 Millionen BBC-Zuschauer sagen zu, als „Nummer 6“, wie das Format hierzulande hieß, 17 Folgen lang versuchte, seinem Freiluftgefängnisses mit allem Komfort zu entfliehen.

Doch der Star war nicht „Nummer 6“, wie das Format hierzulande hieß, weder die paradoxen Dialoge, Kostüme, Bräuche im Village, noch ein riesiger Gummiball, der als Strafinstanz durchs Dorf waberte. Es war Portmeirion. Das ist auch 45 Jahre nach Drehbeginn zu spüren. Erst recht, seit 2009 ein Remake entstand – in Namibia statt in Portmeirion. Doch grad das hat dem alten Spielort einen Popularitätsschub verschafft. Von 250.000 Besuchern kämen die meisten wegen der Serie, weiß Robin, den Regisseur McGoohan einst aus den Büschen verjagte, wenn der Achtjährige die Arbeit störte. Wer jetzt eins der 33 Appartements diesseits der 20 ruhigeren Zimmer und Suiten im Strandhotel mietet, wohnt nicht nur im Flair früherer Tage samt Messingarmatur, Samtvorhänge und 24 Stunden Prisoner im Fernseher, sondern über, unter, neben den Besuchern die sich durchs Filmset staunen. Das Hotel ist der Drehort ist Portmeirion ist sein Publikum ist das Hotel. Und seit dem Remake trifft man noch mehr Kenner, die inmitten der Kulisse „I’m not a number, I’m a free man“ murmeln wie die grauhaarige Frau in der Townhall, wo der berühmteste Seriensatz fiel.

Man trifft Japaner, die sich an der Piazza mit Pool fotografieren. Man trifft Pepitahüte und Basecaps, britische Spleens und amerikanische Großspur. Man trifft sogar eine pfälzische Reisegruppe, der die Serie fremd ist. Nur Margot Rieschmann hat sie gesehen. Erinnern kann sich die damals 13-Jährge aber nur noch an „diesen ekligen Gummiball“. Den gibt’s für 14,99 Pfund. Im Prisoner-Shop, wo der entführte Agent einst erwachte. Sonst trifft man hier kaum Deutsche, aber Liz und Paul aus Liverpool, die allein 2011 zum dritten Mal Nostalgie tanken. Das täte auch Not, sagt Paul. Denn das Remake sei furchtbar: „Zu düster, zu grau, zu wenig Portmeirion.“ Das Verschrobene, dem George Harrison verfallen war; das Surreale, Grundlage vieler Musikvideos; eine Britishness, die den ersten Prince of Wales 1930, die Symbiose aus Natur und Wohnen, Rhododendren und Landhausstil, der sein Nachfolger Charles folgte – alles verweht vom Wüstensand.

Vor allem aber fehlt der Neuverfilmung die Aura der Fluchten und Bauten, die Kupferkuppel des Green Dome, das eingemauerte Schiff, auf dem Nr. 6 zu fliehen versucht, all die optischen Scheinriesen, die durch falsche Fenster, kleine Türen, dürre Säulen wachsen. Und der Glockenturm natürlich, dem ein Sturm die Zeiger abriss. Vielleicht will Meurig Jones, der Manager, sie mal ersetzen. „Vielleicht aber auch nicht“, sagt er. „Es ist ja ein zeitloser Ort.“

PORTMEIRION, Gwynedd, LL48 6ER, Wales, Tel: +44(0)1766-770000

www.portmeirion-village.com


Bryan Cranston, 15. Oktober 2012, London

janbreaksbadUmsonst ist der Tod

Weil ein gelungener Tatort selbst mit Wiederholungen noch super Einschaltquoten erzielt, machen es die freitagsmedien heute mal wie das Erste Programm und wiederholen ein Interview vom Frühjahr: Mit Bryan Cranston, der zurzeit freitags auf Arte als Walter White Richtung Finale der besten Serie aller Zeiten zusteuert: Breaking Bad

Von Jan Freitag

Ja das ist er! Nein, das kann er nicht sein! Doch, er ist es: Bryan Cranston, das Gesicht von Walter White, dem Hauptdarsteller von Breaking Bad, der vielleicht besten Fernsehserie unserer Tage. Die Geschichte eines krebskranken Chemielehrers, der aus Sorge um seine Familie vom Superspießer zum Drogenbaron wird, läuft mittlerweile in mehr als 30 Ländern der Erde. Die vierte Staffel läuft jetzt endlich auch in Deutschland an. Bryan Cranston aus dem sonnigen Kalifornien hat zwar denselben Vollbart wie sein Walter White aus dem heißen New Mexiko, aber er lacht in den ersten vier Minuten Interview mehr als seine Alter Ego in vier Staffeln.

freitagsmedien: Mr. Cranston, hatten Sie zwischen den Dreharbeiten zu Breaking Bad die Zeit, sich das Fernsehduell Ihrer Präsidentschaftskandidaten anzusehen?

Bryan Cranston: Natürlich! Und wenn ich es einrichten kann, sehe ich morgen auch die nächste.

Weil es eine Bürgerpflicht ist, sich zu informieren, oder weil es gutes politisches Entertainment ist?

Sowohl als auch. Ich bin wie die meisten Amerikaner eben neugierig, wie sich die Bewerber auf dem Weg ins Amt präsentieren. Auf uns als Wähler des Führers der freien Welt lastet zu viel Verantwortung, um da den Überblick zu verlieren.

Beeinflusst das auch Ihre Wahlentscheidung?

Nicht wirklich. Ich habe, wie die meisten Zuschauer, meine Wahl längst getroffen.

Nämlich?

Für den amtierenden und nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Der sich – wie sein Kontrahent Romney – permanent an die Mittelschicht wendet. Wenn man den beiden so zuhört, scheint die kurz vorm Untergang zu stehen.

Das passt eben zur allgemeinen Stimmung im Land. Es gibt da in der Tat große Herausforderungen, denn seit dem Crash von 2007 drehen sich die Räder des Fortschritts langsamer und es herrscht in Amerika wie fast überall in der Welt große Apathie. Dennoch gibt es nicht nur bei uns so viel Uneinigkeit und Spaltung, vor allem aber so viele falsche Schuldzuweisungen, dass ein guter Ausgang zunehmend unwahrscheinlich wirkt.

Aber das betrifft doch keinesfalls nur die bürgerliche Mitte.

In der Tat. Die ganze Mystifizierung der größten gesellschaftlichen Gruppe scheint mir doch eher taktischer Natur zu sein. Sie ist ja in erster Linie eine ökonomische Größenordnung, eine Art neuer Arbeiterklasse, die früher stärker im Fokus stand. Heute dreht sich alles um die bürgerliche Mitte.

Die andererseits oft abschätzig betrachtet wird, als etwas Mediokres.

Das ist bei uns etwas anderes als vielleicht in Europa. Die Mittelklasse bildet schon wegen ihrer Größe das Rückrat jeder Nation, aber hierzulande entsteht darin noch der Stolz darauf, sein Leben aufrecht mit ehrlicher Arbeit zu bestreiten. Deshalb, so heißt es, müsse sie unterstützt werden, statt ihr immer neue Steuern aufzubürden. Deshalb muss sie sich aber auch um schwächere Schichten kümmern, was Barack Obama mit der allgemeinen Gesundheitsversicherung ja versucht. Jede fortschrittliche Nation, die ich respektiere, hat eine. Auch Deutschland besitzt ein System, dass nicht nur einigen, sondern allen Bürgern eine solide Grundversorgung gewährleistet. Diese Solidarität sollte auch unsere Mittelschicht zeigen.

Da wäre Walter White sicher Ihrer Meinung!

Wenigstens zu Beginn der Serie. Denn was ihn überhaupt in den späteren Abwärtsstrudel gezogen hat, ist ja der Bedarf nach einem Zweitjob, um seinem behinderten Sohn eine Behandlung zukommen zu lassen, die von der Versicherung nicht gezahlt wird. Dass die erste Staffel auf dem Höhepunkt der ersten Finanzkrise angelaufen ist, mag ein Zufall sein, aber dass die Sorge um seine Familie, später auch die Kosten seiner eigenen Krebstherapie Walter White immer tiefer in die Kriminalität zieht, macht Breaking Bad fraglos zum Sinnbild des Abstiegs der Klasse, aus der er stammt.

Was macht ihn noch zu einem ihrer typischen Vertreter – seine Herkunft, sein Leben, seine Gewohnheiten?

Sein Auto (lacht!). Nein im Ernst – ich glaube, es ist diese Mischung aus dem Wunsch aufzusteigen und drin zu bleiben bei der gleichzeitigen Erkenntnis, dass letzteres in Amerika zusehends unmöglich ist. Egal, in welcher Schicht du steckst – in der Regel bleibst du dort den Rest deines Lebens. Anders gesagt: wer arm geboren wird, bleibt arm, wer reich geboren wird, bleibt reich. Genau das macht Breaking Bad so interessant, denn Walt steigt tatsächlich auf! Und wie! Aus der Mittelschicht direkt in die Upper Class! Aber mal ehrlich: ist er darin glücklicher?

Immerhin ist er einflussreicher, reicher, mächtiger.

Trotzdem will er tief im Innern sein altes Dasein zurück. Er will wieder anderen Wissen vermitteln statt Drogen, er will seine Familie wie sie mal war. Unterbewusst wird ihm klar, dass Einfluss, Reichtum, Erfolg keinesfalls glücklicher machen. Das ist womöglich seine sehr bürgerliche Sicht der Dinge.

Immerhin beruhigt Geld ungemein.

Schon. Aber um nur zu beruhigen und nicht übermütig zu machen, ist ganz wichtig, dass man langsam zu Geld kommt, dass es ein Prozess ist. Sprechen Sie mal mit Leuten, die aus dem Nichts nach ganz oben kommen, Lotto-Millionäre zum Beispiel. Ich habe gelesen, dass 85 Prozent von denen nach dem Jackpot ärmer sind als zuvor.

Sind Sie selbst dank Ihrer Karriere aufgestiegen?

Ökonomisch auf jedem Fall. Ich war ja nicht mal Mittelklasse, sondern Unterschicht. Meine Eltern haben sich getrennt als ich zwölf war, woraufhin sie ihr Haus verloren haben. Wir hatten so wenig Geld, dass ich ein Jahr bei meinen Großeltern leben musste. Eine harte Zeit, aber ich sehe sie jetzt mit anderen Augen. Denn sie hat mir ein Arbeitsethos vermittelt, von dem ich noch heute zehre: umsonst ist der Tod! Die Welt schuldet dir gar nichts! Wenn du was willst, arbeite dafür! All dies gelernt zu haben, macht mich dankbar.

Dann sind Walt und Sie beide Aufsteiger, nur von verschiedenen Ausgangspunkten.

So gesehen schon. Ich gehöre heute zur Oberschicht, da mache ich mir nichts vor. Aber ich bin behutsam dorthin aufgestiegen. Deshalb – hoffe ich zumindest – macht mich mein Geld nicht wie Walt gieriger, sondern klüger. Denn das Beste, was man sich in unserer Zeit mit Geld kaufen kann, sind ja nicht Dinge des Überflusses, sondern Zeit. Sie, vor allem aber ihr Mangel, sind die Beherrscher unserer aller Leben.

Zeit gilt als wertvollste Ressource unserer Epoche.

Und zwar ganz egal, ob in der Unter-, Mittel- oder Oberschicht: Wer keinen Job hat, entwertet Zeit durch Nichtstun, wer doch einen hat, arbeitet überwiegend so viel, dass er ständig mit seiner Zeit jonglieren muss. Von der will schließlich jeder ein Stück: Dein Boss, deine Familie, die Gemeinde, du selbst. Da ist es eine gewaltige Aufgabe, Zeit eigenständig und unabhängig zu verwalten. Diese Möglichkeit bezeichne ich als meinen größten Reichtum. Und das auch wertschätzen zu können, ist vielleicht ein bürgerliches Element in mir.

Sprechen Sie eigentlich Deutsch.

Nur eins: (auf Deutsch) Nein.

Dann kennen Sie das Wort Spießer nicht?

Leider nicht, aber es klingt interessant.

Es ist die Steigerung des Bürgerlichen zur Mittelmäßigkeit, Angepassten, Ängstlichen und Konformen.

Dann war ich nie ein Spießer.

Und Walter?

Schwer zu sagen. Er war deprimiert von den vergebenen Chancen im Leben, seiner Furcht zu scheitern, von seinem unterdrückten Potenzial. Deshalb ist es ein so interessanter Aspekt der Geschichte, dass er ausgerechnet Lehrer wurde, denn die sind bei uns zuhause zutiefst respektiert. Das mag sich nicht unbedingt in den Gehältern ausdrücken, aber in ihrem guten Ruf. In den USA gelten Lehrer förmlich als unkritisierbar. Diese Mischung aus Selbstzweifel und Anerkennung, verpassten Chancen, einem guten Leben und der Art, wie das alles in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt wird, macht Breaking Bad womöglich so erfolgreich.

Das erklärt vielleicht den Erfolg in den USA, aber nicht unbedingt in mehr als 30 Ländern, in denen die Serie nicht selten als beste Fernsehserie aller Zeiten gilt.

Das hat mit Identifikation und Fallhöhe zu tun. Breaking Bad ist die Geschichte Mannes aus der Mitte der Gesellschaft, der fürs Auskommen seiner Familie hart arbeitet, bis sein Leben durch eine Krankheit, die alle treffen kann, ins Wanken gerät. Nennen Sie mir einen Erwachsenen in ihrem Umfeld, der keinen Angehörigen oder Bekannten durch Krebs verloren hat! Diesen unvermittelten Sturz aus der Normalität können die Zuschauer so gut nachempfinden, dass ihn selbst sein Ausweg ins Verbrechen kaum Sympathien kostet.

Zumindest anfangs.

Fast bis zum Schluss sogar! Seine Methoden mag nicht jeder nachempfinden, seine Verzweiflung schon. Deshalb gilt er bis tief in die 4. Staffel hinein für viele noch als Good Guy. Das ist die perfekte Voraussetzung einer guten Serie.

Was macht sie dann brillant?

Dass der Sympathieträger radikaler auf die andere Seite wechselt als in jeder anderen Serie. Walter macht nämlich etwas viel zu Kühnes für einen, wie sagten Sie – Spießer: er riskiert etwas, sogar alles. Er nimmt zum ersten Mal sein Schicksal in die eigene Hand.

Würden Sie das auch tun?

Selbstverständlich, darin ähneln wir uns. Ich würde alles tun, um meine Familie zu retten.

Auch Drogen verkaufen?

Gott, nein! (lacht) Ich würde aktiv werden, sozusagen vom Subjekt zum Objekt, aber doch nicht meine Seele verkaufen wie Walter. Andererseits zeigt Breaking Bad eindrucksvoll, was geschehen kann, wenn sich die Dinge verselbständigen. Vielleicht kann das, was Walter passiert, also doch jedem passieren. Da schlummert etwas in jedem von uns. Jeder hat das Potenzial, um gefährlich zu werden.

Also auch zum Mörder?

Jedenfalls um zu töten. Sofern es die Umstände erlauben. Immer wenn die eigene Existenz umzustürzen droht, wenn alles um einen zusammenbricht, manchmal auch nur, wenn sich etwas Grundlegendes sehr plötzlich ändert, kann dieses Potenzial wachgerufen werden. Denken Sie an Ruanda, Serbien, an all die Amokläufe ganz normaler Menschen; wenn sich Faktoren, die einzeln folgenlos bleiben, zu einer einzigen Katastrophe bündeln, ist selbst inmitten der Zivilisation fast alles möglich. Entscheidend ist nur, was man als Einzelner zu tun bereit ist, was man noch zu verlieren hat. Nehmen Sie eine simple Kneipenschlägerei: Wer die gewinnt, hängt selten von den Muskeln ab, sondern Willensstärke und Verzweiflung. Darum würde ich bei solchen Streitereien eher auf den Kleinsten wetten, sonst hätte er sich doch gar nicht drauf eingelassen.

Sie würden also im Zweifel auf sich wetten.

Wenn ich ausreichend wütend und hoffnungslos bin, allemal. Das alles steckt ja auch in mir. Meine Umstände sind derzeit nur zu gefestigt, aber wenn alles zusammenkäme, könnte auch ich ausbrechen aus meiner Normalität. Ich könnte töten.

Ist das die Grundvoraussetzung, um einen Charakter wie Walter White zu spielen?

Ich glaube, die wichtigste Voraussetzung, um so etwas glaubhaft verkörpern zu können, ist, zu sich und anderen ehrlich zu sein. Die meisten halten Walts Situation für hypothetisch. Nur – das ist sie nur bis zu dem Punkt, wo der nötige Anstoß daraus Realität macht. Wenn ich Sie beim Abendessen frage, was Sie für eine Million Dollar tun würden, kämen sehr theoretische Antworten dabei heraus, vielleicht lustige, aber kaum ultimative. Wenn ich das Geld aber vor Ihnen auf den Tisch lege, kriegt das Spiel sofort eine neue Wendung. Oder nehmen wir’s etwas kleiner: Wenn ich frage, ob ich Ihnen eins in die Fresse hauen darf?

Lehne ich dankend ab.

Und wenn ich dafür, sagen wir: 25.000 Dollar auf den Tisch lege.

Sie würden hart zuschlagen?

Normal hart.

Nur mit der Faust?

Ohne Hilfsmittel.

Dann los!

Sehen Sie! Solche Debatten sind nicht moralischer Natur; es geht darin immer um Aushandlungen zu einer bestimmten Währung.

Sie meinen Geld?

Nicht immer, aber sobald es ins Spiel kommt, verändert sich unser Verhalten. Wir alle sind fähig zur Bescheidenheit, Größenwahn plus alles, was dazwischen liegt. Und in unserer Gesellschaft kann einen Stapel Banknoten nun mal jede Überzeugung mit einem Fingerschnipsen umwerfen.

Es passt zu Breaking Bad, dass Sie ausnahmslos Beispiele wählen, die von Gewalt handeln. Ist die neben der Fallhöhe des Hauptdarstellers das Kernthema der Serie?

Nein, das wäre zu eindimensional. Gewalt ist ein dramaturgisches Mittel der Serie, um das wichtigere Kernthema zu visualisieren: Verführung. Wenn ich sage, der Ort, an dem Sie geboren sind, ist einer der schönsten Plätze, an dem ich je war, fühlen Sie sich geschmeichelt und kaufen mir danach vielleicht die größte Lüge ab. Man kann Menschen mit den einfachsten Mitteln manipulieren. Menschen sind Manipulatoren. Menschen im Fernsehen besonders. Das ganze Fernsehen ist Manipulation.

Sie sehen sich als Manipulator?

Das ist mein Job! Wenn ich Walter White spiele, wie ich ihn spiele, manipuliere ich das Publikum, indem ich es einfach gut unterhalte, indem ich es vielleicht zum nachdenken bringe, indem ich, wie eingangs erwähnt, der Gesellschaft durch Walt einen Spiegel vorhalte.

Haben Sie überhaupt irgendwas mit ihm gemeinsam?

Nichts, was für die Serie von Bedeutung ist. Was ich bloß spielerisch tue, macht er mit seiner gesamten Existenz: Walter versucht jemand zu sein, der er nicht sein kann. Dabei geht ihm mit jedem Schritt in diese Arena, für die ihm eigentlich das Rüstzeug fehlt, ein weiteres Stück seiner Seele verloren, bis sie im Laufe der Serie so gealtert ist, dass sie ihn langsam von innen zersetzt.

Deshalb sieht er in der Serie so viel älter aus als Sie in Natura.

Oh, danke! Gut, das zu hören. Meine Seele ist offenbar jünger geblieben, obwohl ich äußerlich ebenso altere wie er. Und falls doch einige seiner Abgründe in mir stecken, tue ich alles, um sie nicht herauszulassen; ich will weder verhaftet noch getötet werden oder auch nur gefürchtet. Dafür lernt man ja von klein auf: Sei nett! Sei freundlich! Teil dein Spielzeug! Senk deine Stimme! Warte, bis du dran bist! Solche Selbstkontrollen zählen zur Grundausstattung unserer Erziehung, weil wir eben nicht als soziale Wesen auf die Welt kommen, sondern als komplette Egoisten. Für Babys dreht sich die ganze Welt nur um sie selbst. Von daher glaube ich, Menschen, die eine Wendung wie Walt machen, entwickeln sich ein Stück weit zurück.

Wenn man Ihrem Produzenten Vince Gilligan glaubt, dann entwickelt sich Walter White sogar so weit zurück, dass er nicht überleben darf. Mr. Cranston, sterben Sie im Finale?

Das könnte ich Ihnen nicht mal sagen, wenn ich wollte; selbst wir Schauspieler erfahren erst kurz vorn Drehen jeder Folge, wie sie genau aussieht. Ehrlich! Aber es ist schwer vorstellbar, dass sein Leben nach dem Finale einfach normal weitergeht.

Ihr eigenes wird sogar besser weitergehen als bisher. Nachdem Sie bis Breaking Bad vor allem in TV-Serien wie Malcom Mittendrin gewirkt haben, ist das Kino auf Sie aufmerksam geworden.

Das ist richtig. Ich mache aber auch weiter mit Leidenschaft gutes Fernsehen.

Viele behaupten ohnehin, die großen Erzählungen von HBO bis AMC übertreffen längst die des Kinos.

Stimmt, TV ist das neue Kino. Dort laufen mittlerweile mehr umfassende, befriedigende Dramen als auf der Leinwand. Nehmen Sie nur Mad Men, Justified, Damages, Dexter, brillant! Aber es gab schon immer gutes Fernsehen, das wird heute oft vergessen.

Was war die Serie Ihrer Kindheit?

Zum Beispiel die Andy Griffith Show. Was hab ich die geliebt! Das war schon damals großes Fernsehen. Fast so groß wie Breaking Bad.


Krankheit heißt Leiden

Was im Alltag zu Halsverstopfung führen würde, ist in Film und Fernsehen die Regel. Dort schluckt man Pillen stets ohne Wasser.

Von Jan Freitag

Angenommen, der Kopf pocht, das Herz ruckt, die Leber ruft, eine Pille muss her – welcher zivilisierte Mensch würde sie ohne Gleitmittel runterquälen? Keiner bei Verstand oder abseits der Wüste Gobi. Warum also nimmt im Film niemand je wie im Beipackzettel gefordert etwas Flüssigkeit zur Tablette – aus Kostengründen, Wassermangel, Doofheit? Klingt wenig stichhaltig. Und doch ist der ruckartig Richtung Nacken geworfene Kopf eine der zentralen „Was-bin-ich?“-Gesten des Fernsehens. Als hülfe der Trägheitssatz sperrigen Dingen beim Durchdringen enger Kanäle. Bleibt als Erklärung der küchenmedizinische Mythos, dass Schmerz per Ersatzschmerz verdrängbar ist. Deshalb beißt man sich beim Tätowierer ja gern die Lippe blutig, prügelt bei der Bleientfernung ohne Narkose auf den Saloontresen ein oder beißt – um die Pein auf den Verursacher zu übertragen – auf Zahnarztfinger. Selbstkasteiung könnte allerdings auch mitspielen, 20 Minuten Schluckkampf als Ablassleid für Alkohol und ähnliche Vortagssünden. Anderseits macht Schmerz, wie Christian Morgenstern dichtete „Menschen nicht groß, sondern klein“. Vielleicht hilft er ja auch beim Pillenschrumpfen. Darauf ein Glas Spülwasser.


Dallas 2013

Dallas, die Fortsetzung, ab 22. Februar 2013, 22.15 Uhr, RTL

„Dallas“ ist zurück – und auch wieder nicht. In den Achtzigern war die erfolgreichste Serie ihrer Zeit ein Stück Gegenwartskultur, die Fortsetzung (ab Dienstag, 22.15 Uhr, RTL) ist nur ein Versuch, damit Quote zu machen.

Wer früher fernsah, fand einen entspannten Kapitalismus vor: Unternehmer waren verantwortungsvolle Patriarchen im grauen Dreiteiler, denen Versorgung, Wettbewerb, sichere Preise und selbst das Wohl Ärmerer am Herzen lag. Das System war nicht der Fehler, es hatte zuweilen welche – Ölkrise hin, Flick-Affäre her. In den Siebzigerjahren bekam der zuständige Heimatfilm zwar Konkurrenz vom kritischen Disaster Movie doch im Großen und Ganzen war das Verhältnis zur Marktwirtschaft gut. Böse Kapitalisten waren daher überwiegend Nebenfiguren guter Kapitalisten. So weit, so kaptialismusfreundlich.

Und dann kam J.R.

John Ross Ewing, um genau zu sein, ältester Sohn eines texanischen Ölbarons, der seine ersten Quellen noch mit bloßer Hand gebohrt hatte. Mit Larry Hagman rückte der kapitalistische Exzess erstmals vom Sidekick zum Hauptdarsteller eines Massenprogramms auf und „Dallas“ ins Pantheon jener Formate, die den Zeitgeist zugleich verarbeitet und verändert haben. Mit ihr wurde der Kapitalismus zum Systemfehler selbst, und auch das macht die 357 Folgen zum erfolgreichsten Format der Ära des stagnierenden Aufbruchs, in dem die freie Marktwirtschaft an sich selbst berauscht zu implodieren begann. Damals, von 1978 bis 1991, eine bewegende, eine einmalige Zeit.

Und jetzt ist gestern heute, jetzt ist sie zurück und mit ihr die Bewohner der Southfork Ranch: Sue Ellen und Bobby, Cliff Barnes und Lucy, Ray Krebbs und natürlich er: J.R., allesamt gespielt von den alten Darstellern, allesamt synchronisiert von den alten Stimmen, allesamt versehen mit den alten Eigenschaften, alle irgendwie Achtziger: durchaus unterhaltsame Starthilfen des kollektiven Erinnerns, angenehm nostalgisch, ungemein überflüssig.

Denn Fernsehen, das Zuschauer nicht bloß zählen, sondern erreichen will, ist stets ein Fernsehen seiner Epoche. Es kennzeichnet deren Zeitgeist und wird von ihm gekennzeichnet. Es ist relevant, nicht redundant. „Dallas“ 1978 hat den Aufbruch des Unternehmertums ins Finanzkapital mit einer Dynastie im Ringen zwischen Familiensinn und Profitdenken versinnbildlicht; „Dallas“ 2012 dagegen versinnbildlicht gar nichts, außer dem durchschaubaren Ziel, tradierte Charaktere qua Fortsetzung – keinem Remake! – im neuen Look gegenwartstauglich zu machen.

Und so ist Bobby Ewing, der Gute, noch immer ein Guter, der alternative Energie fördert, was Christopher als Sohn mit warmen Augen unterstützt, während der Fiesling J.R. weiter ein Fiesling ist, dem nur sein Sohn John Ross mit harten Augen das Wasser reichen kann. Es geht um Öl auf Ewing-Grund, den Mama Miss Elli testamentarisch zur bohrfreien Zone erklärt hat, es geht um Intrigen zwischen Konkurrenten, die oft verwandt sind, es geht darum, dass Öl dicker ist als Blut dicker ist als Wasser, das man nur im Bourbon trinkt. All dies ist Braten mit dicker Soße wie früher, als Mutti mittags am Herd stand, und doch ist es leichte Kost ohne kreative Rezepte, ohne neue Gewürze, ohne Esprit, dafür mit Models Mitte zwanzig, die neben Schönheitspflege, Sprachkursen, Kampftraining noch eben ihr Geologiestudium absolvieren, bevor sie den Serienhelden heiraten.

Interessant in dieser Stangendramaturgie amerikanischen Stromlinienfernsehens ist allenfalls, dass der erste Serienheld überhaupt mit ausnahmslos negativen Wesenseigenschaften nahtlos an den Cliffhanger von 1991 anknüpft, wo J.R. gescheitert im Büro sitzt und einsam übers Leben sinniert. Zwei Jahrzehnte später sitzt er stark ergraut im Pflegeheim und sinniert depressiv über scheinbar gar nichts, bis ihm sein Filius um ein paar fiese Tricks bittet – und Zack: ist J.R. wieder da. Wie immer. Und eben nicht.

Denn es fehlt die Atmosphäre aus Größenwahn und Selbstreflexion von einst. Es fehlt die klar konturierte Freund-Feind-Perspektive des Kalten Krieges. Es fehlt vor allem das Alleinstellungsmerkmal grotesken Reichtums, der seinerzeit ein echtes Novum serieller Fiktion darstellte, heute aber Handlungsrahmen jeder zweiten Telenovela ist. Es fehlt also die Mixtur aus Voyeurismus und Fallhöhe, Ekel und Anziehungskraft, mit der „Dallas“ dienstags, Punkt 21.45 Uhr, Zuschauerzahlen erzielte, die es nur im dualen System gab. Kein Wunder, dass es nun bei RTL läuft.

Auf Southfork mögen also immer noch Cowboyhüte auf Köpfen thronen, deren Denken von dem robuster Kuhhirten weiter entfernt ist als Linda Grays Sue Ellen vom würdevollen Altern; als Fortsetzung zerstört die Ästhetik all die schönen Erinnerung an die eigene Sehvergangenheit, als man J.R. so herrlich hasslieben konnte wie niemanden zuvor. Dabei versprüht er als einziger das Charisma von einst. In der zweiten Staffel wird er sterben wie kürzlich sein Alter Ego Larry Hagman. Von Dallas bleibt dann nur noch der Waschbrettbauch seines Filmsohns.