Der Boom larmoyanter weißer Männer mit Wandergitarre ist ungebrochen, seit Folkbands wie Mumfords & Sons das Privileg der Unansehnlichkeit ins Popbiz reimportiert haben und ein nöliger Junge namens Passenger damit im Alleingang riesige Hallen füllte. Am Anfang dieser immer noch leicht merkwürdigen Entwicklung aber stand ein anderer: Bon Iver. Schon vor zehn Jahren gruppierte der amerikanische Organist Justin Vernon ein Kollektiv talentierter Singer/Songwriter um sich und entzog dem Mackergewerbe Bühnenshow damit eine so große Portion Testosteron, dass man glauben wollte, dessen Zeit sei endgültig abgelaufen.
Das ist sie natürlich nicht, aber besonders Bon Ivers zweites Album ist und bleibt ein Monolith männlicher Reflexion zu hinreißenden Melodien. Schwer, da das Niveau zu halten. Und in der Tat reicht das neue Album 22, A Million bei Weitem nicht an seinen Vorgänger an. Dennoch vollführt es abermals etwas Wundervolles: Mit gläserner, beinahe durchsichtiger Stimme und einer oft geschmeidigen, noch öfter aber kratzigen, verwaschenen Musik im Rücken Kraft zu versprühen, die eher aufmuntert als deprimiert wie das selbstmitleidige Gefasel ihrer Kollegen.
Bon Iver – 22, A Million (Jagjaguwar)
Heim
Es gibt Dinge, die man immer erst dann richtig zu fürchten lernt, wenn eigentlich alles gut zu sein scheint. Regen zum Beispiel beim Sommerfest am See oder Sonne, wo die Nacht gerade saftig zum Tag gemacht wird. Manche nennen das dann Pessimismus, andere eher Realitätssinn, wir nennen es an dieser Stelle einfach mal HEIM. Und zwar nicht im Sinne von „Heimat“, sondern des bayerischen Indierocktrios. Dessen zweites Album mit dem absurd kosmopolitischen Titel Palm Beach beginnt nämlich so hinreißend lässig, dass man angesichts der Herkunft befürchtet, es garniert sein Westcoastgebräu zwischen Dinosaur Jr. und den Melvins nun mit Dictionary-Englisch.
Doch kaum ist die erste Rückkopplung verklungen, singt Denny Thasler „Ich glaube alles, was ich sage / ich bleib‘ genau der, der ich bin“ und die Überraschung ist perfekt: deutscher Garagengrunge mit Texten, die davon zeugen, was die Band dahinter empfindet, nicht, was ein paar vage Vermarktungsmöglichkeiten im fremdsprachigen Ausland in Aussicht stellen könnte. Die Poesie ist dann am Ende gar nicht so herausragend, sondern einfach glaubhaft von Herzen erzählt und authentisch. Im Ganzen allerdings sprüht Palm Beach so sehr vor Charme und Kraft und Kreativität, dass man endlich mal nicht neidisch übers Wasser dorthin blickt, wo alternativer Sound wirklich zuhause ist. Mit HEIM hat er hier kurz mal eine Heimat gefunden.
Heim – Palm Beach (Tapete)
A Tribe Called Red
Wer versucht, A Tribe Called Red zu beschreiben, sollte sich einen Begriff wie Gefasel hingegen besser verkneifen. Kaum eine Band ist politischer als das multiethnische Soundkollektiv aus den Weiten Kanadas. Und nur wenige Musiker definieren ihren Sound aktivistischer als Ian “DJ NDN” Campeau, Tim “2oolman” Hill und Bear Witness. Ihr musikalisches Revier mag eine hypnotische Mischung aus HipHop, Dubstep, Dance und experimenteller Electronica sein; thematisch ist auch auf der dritten Platte We Are The Halluci Nation jeder Track eine polyphone Anklageschrift gegen die herrschenden Verhältnisse.
Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Systemkritik nicht nur in den Kopf, sondern ohne Umwege ins Blut geht, vor allem aber: dass die indigenen Gesänge unter hochenergetischen Technosequenzen nie folkloristisch klingen. Die 15 Stücke inklusive eher proklamativem In- und Outro sind frei schwingende Beweise für die partielle Vereinbarkeit von Entertainment und Botschaft, von Hedonismus und Politik. Und wenn das Trio mit Gastmusikern von Yaslin Bey über Tanya Tagaq bis hin zum Ethnoaktivisten John Trudell die Schlagzahl hochfährt wie in R.E.D. oder The Virus, beginnen die Boxen förmlich zu brennen. Weltmusik war gestern, heute ist Tribe Called Red.
A Tribe Called Red – We Are The Halluci Nation (Radicalizd Record)
Hype der Woche
Lukas Rieger
Wir wollen an dieser Stelle kurz im Kaffeesatz wühlen: Lukas Rieger, bildhübsch(zurechtgemacht)es Dutzendgesicht plastinierten Pops Konstruktionsjahr 2016 wird sein heute erscheinendes Debütalbum Compass (Jetpack Musik) in den nächsten vier, fünf Jahren drei, viermal identisch covern, seine Fan-Schar auf Instagram oder musical.ly damit gen Siebenstelligkeit steigern, nach den anschließenden zwei, drei Flops mit den üblichen Schmalzbrotbelägen à la “your words cut deeper than a knife” ein, zwei Ausflüge in HipHop oder Rock machen, infolge abermaligen Versagens verschiedene Drogen und falsche Freunde ausprobieren, um wenigstens damit noch kurz mal die Schlagzeilen (ge)fallsüchtiger Gossipmedien zu entern, und dann, sagen wir im Herbst 2021, wenn er zumindest dem Alter nach endlich erwachsen ist, im Fernsehgarten enden, wo er sein frühes Zeugs dann immerhin vor der ZDF-Zielgruppe 66+ Playback trällern darf, und niemand, wirklich niemand mit dem geringsten Hauch von Niveau, Anspruch oder Moral wird diesem menschlichen Machwerk auch nur die geringste Träne nachweinen außer seine Mudda. Punkt.
Mit 40 zählt Florian Hager (Foto: SWR/Stephanie Gagel) nicht unbedingt zur Zielgruppe des Jugendangebots von ARD und ZDF, das am 1. Oktober online geht. Andererseits kennt kein Medienmacher mit Einfluss die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährige besser. Schließlich hat der Schwabe bei Arte die Neuen Medien verantwortet oder ZDFkultur aufgebaut, das ebenso wie EinsPlus nun dem neuen Internetkanal weicht. Ein Gespräch über verbotene Inhalte, junge Nutzungsgewohnheiten, politische Einflussnahme und warum man den Begriff „jung“ mal neu definieren müsste.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Hager, wenn der öffentlich-rechtliche Jugendkanal noch mehr junge Fernsehzuschauer ins Netz lockt – ist das dann nicht der Todesstoß fürs alte Leitmedium?
Florian Hager: Gute Frage, klare Antwort: Auf keinen Fall! Als Teil beider Welten war und bin ich nie der Meinung, dass ein Medium das andere ablöst. Das Gemeinschaftserlebnis ganzer Familien, die zusammen Nachrichten, Sport, Shows oder Filme gucken, wird es auch weiter gehen. Bis zum Vorjahr ist die Nutzung des Fernsehens altersübergreifend sogar gestiegen und hält sich nun auf konstant hohem Niveau. Nur weil der Internetkonsum der Zielgruppe 14 bis 29 rasant wächst, was sich ja bei mir fortsetzt, der mit Ende 30 auch nicht mehr strikt dem linearen Programm am großen Bildschirm folgt, heißt das noch lange nicht, dass es ausstirbt.
Aber könnte nicht genau das der Fall sein, wenn Ihr Jugendkanal die erste Generation, deren frühkindliche Medienprägung nicht vornehmlich vom alten Bildschirm stammt, weiter auf den Touchscreen lockt…
Diese Generation zurückzuholen, halte ich für utopisch. Deshalb ist es nicht unsere Aufgabe, sie ans klassische Fernsehen heranzuführen, sondern mit anspruchsvollen öffentlich-rechtlichen Angeboten auf den Plattformen zu versorgen, auf denen sie sich aufhalten.
Damit nehmen sie der Generation Multimedia, die beim Fernsehen nebenbei am Second Screen surft und chattet, aber doch unwiederbringlich den First Screen?
Ich glaube zwar nicht an die langfristige, nachhaltige, substanzielle Interaktion zwischen den Endgeräten, aber Sie sprechen mir aus der Seele: mein voriger Sender Arte zeigt ja, dass die umfangreiche Nutzung des gelungenen Netzauftrittes ohne das eine Prozent Marktanteil am Bildschirm unmöglich wäre. Aus Erfolgsgesichtspunkten wäre ein TV-Kanal sicher zuträglich gewesen. Das Gute ist aber jetzt, dass wir gezwungen sind, uns ganz neu aufzustellen.
Aber schreibt der Staatsvertrag nicht explizit vor, dass öffentlich-rechtliche Netzinhalte einzig ergänzenden Charakter zum Fernsehprogramm haben dürfen?
In der Tat. Und da unsere Aufgabe in den vergangenen Monaten vor allem darin bestand, mit den politischen Gremien genau darüber zu verhandeln, können wir erst Ende nächsten Jahres starten. Andererseits haben die Ministerpräsidenten vor einem Jahr ja selbst darauf bestanden, dass der Jugendkanal online only entsteht. Nach alter Rechtslage wäre das gar nicht möglich, weshalb der Staatsvertrag im Dezember mit einem Passus zum Jugendangebot verändert werden soll, was dann allerdings noch durch die Landesparlamente muss.
Das wäre der juristische Einfluss; welchen inhaltlichen versucht die Politik zu nehmen?
Keinen, Null, alles andere hielte ich auch für bedenklich. Wir haben unsererseits zugesichert, alle Genres abzubilden, also kein erweitertes Youtube mit Filmen in Dauerschleife zu sein, aber die Politik macht uns keine inhaltlichen Vorgaben.
Mir fehlt da gerade die Phantasie, dass sich ein Horst Seehofer freiwillig aus allen programmatischen Fragen raushält…
Ist aber so.
Gab es denn Versuche, dem Kanal Angebote wie nostalgische Shows und Serien für ältere Zuschauer zu untersagen, um dem Fernsehen kein Publikum abzuwerben?
Auch da gab es reichlich Kritik, aber keine Einflussnahme. Selbst von unserer privaten Konkurrenz nicht, die natürlich stark daran interessiert ist, uns auf Information und Kultur zu beschränken. Der Auftrag ist daher ebenso klar definiert wie die Zielgruppe.
Wie genau lautet dieser Auftrag, in den sie stolze 45 Millionen Euro stecken dürfen?
Stolz klingt jetzt, als hätte ich die bar auf dem Tisch, um sie nach Gutdünken herauszublasen; trotz der neun ARD-Anstalten und dem ZDF im Rücken halte ich diese Summe für ein derartiges Projekt nicht für überdimensioniert, aber wir werden damit sehr gut arbeiten können.
Mit welchem sichtbaren Ergebnis?
Umfassender, ständig verfügbarer, permanent wechselnder Content, den man über unsere App, vor allem aber die üblichen Plattformen der Zielgruppe – also Youtube, Facebook, Instagram, Snapchat oder auch Twitch oder Minecraft – auf dem Smartphone abrufen kann. Inhaltlich wollen wir nicht nur Abspielstation, sondern Aktivierungsplattform sein, im eigenen Angebot aber auch fiktionale Kaufproduktionen, vor allem Serien on demand anbieten, die bislang auf der Negativliste stehen.
Klingt ein bisschen nach Netflix…
Nein, nein. Dafür fehlt uns schon das Budget. Unsere Aufgabe ist ein möglichst breit aufgestelltes Bewegtbild, also auch ein eigenes Angebot auf Youtube, das strategischer vorgeht als die bisherigen Angebote von ARD und ZDF in der Hoffnung, einfach online gestellte Fernsehinhalte würden sich von alleine viral verbreiten. Wir suchen grad neue Köpfe und Formate für ein Portfolio mit Substanz und Haltung, das in der Zielgruppe zunächst nicht als peinlich empfunden wird; mit so viel Demut müssen wir mittlerweile da rangehen.
Um nicht als peinlich zu gelten, müssen Sie sich aber auch den Gepflogenheiten der digital natives anpassen – also eher Clips als Filme und Knalleffekte als Sachlichkeit oder?
Natürlich produzieren wir auch kurztaktigere, unterhaltsame Inhalte, aber eben auch längere, informative. Unser Ziel ist eine nachhaltige Reichweite, keine schnellen Clicks.
So ganz ohne werden auch Sie nicht auskommen, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Wir wollen keine schnelle Aufmerksamkeit, sondern nachhaltige Reichweite; schnelle Clicks sind da eher hinderlich. Nichtsdestotrotz werden wir Formatumfänge des Fernsehens überwinden. Nachrichtensendungen etwa haben eine feste Länge, weshalb weniger Wichtiges an nachrichtenarmen Tagen mit der gleichen Ernsthaftigkeit verlesen wird, wie Bedeutsames an nachrichtenreichen Tagen weggelassen. Von dem Zwang können wir uns befreien.
Apropos: Ist es Ihnen nicht ein wenig unangenehm, dass Sie das Fernsehen vom einzigen Sender befreien, der abseits von Oper und Schlager noch Musik zeigt – ZDFkultur?
Als einer, der am Start dieses Senders mit beteiligt war, bin ich voll auf Ihrer Seite: ZDFkultur reißt ein Loch ins Programm, zumal es noch keine Einigung mit Urheberrechtevertretern von Gema bis GVL gibt, wie wir Musik ohne Fernsehverwertung zeigen dürfen. Da müssen wir auch mit den Labels neue Wege finden, aber mit anspruchsvoller Musik werden da eher neue eröffnet als alte geschlossen. Wir wollen also auch die große Gruppe jener bedienen, die sich jenseits des Mainstreams aufhalten.
Also eher Tracks als N-Joy?
Tracks ist eine tolle Sendung, spricht aber eher jung gebliebene Nostalgiker und ältere Musiknerds an, also Leute wie mich. Aber da bedarf es ohnehin einer Neudefinition der Begrifflichkeiten; selbst ein vergleichsweise junger Star wie Jan Böhmermann trifft eher den oberen Rand der angestrebten Zuschauerschicht unseres Angebots. Uns geht‘s um Inhalte, Köpfe und Formate.
Oh Gott, jetzt ist es amtlich, was der Boulevard schon zu raunen begann, als Angelina Jolie und Brad Pitt noch taufrisch liiert waren: Brangelina sind Geschichte. Für Celebritymedien von taff über Instyle bis hin zum ARZDF-Frühstücksfernsehen ist das ein Verlust wie einst der Bestand eines Stapels Kriegsanleihen der unterlegenen Kriegsnation. In den vergangenen zehn, zwölf Jahren hat die Yellowpress schließlich ein gutes Drittel ihrer, hüstel, Arbeitskraft aufs glamouröseste aller Glamourpaare verwandt und jetzt – Aus? Einfach so? Ohne redaktionelle Konsultationen oder zumindest die Bitte um Stellungnahme aus dem Burda-Verlag? Nun ja, ein paar Monate lang wird der insinuierte Rosenkrieg schon noch dauern, bevor das Genre bei der Suche nach einer vergleichbar glitzernden Mischung aus Sex’n’Politics die nächste Sau über den Boulevard jagt.
Kandidaten?
Heidi Klum könnte Guido Maria Kretschmer umdrehen, Donald Trump seine Familie für Miley Cyrus verlassen. Oder wie wär’s mit einer quirligen Kreuzbeziehung aus den Geissens und den Windsors? Das böte jedenfalls reichlich Stoff für eine zünftige Fiktionalisierung auf dem Serienmarkt, der – inszeniert vielleicht von Steven Spielberg – die unendliche Dominanz von Game of Thrones beim Emmy-Award durchbrechen könnte. Zwölf der wichtigsten TV-Preise hat das Fantasy-Epos grad in L.A. geholt, insgesamt also 38. Da muss man fast dankbar sein, dass mittlerweile nicht auch welche für die schauspielerische Leistung darunter sind, um die es im Aufmarsch der Spezialeffekte ja nun wirklich nie geht.
Interessant bei der Verleihung vor einer Woche war aber vor allem, dass lineares Fernsehen in den Siegerlisten praktisch nicht vorkam. Abgeräumt haben Pay-TV und Streamingdienste von HBO bis Netflix, was dem Leitmedium ein niederschmetterndes Zeugnis ausstellt, verdichtet im tollen Nachruf der Süddeutschen Zeitung, mit Zimmer frei! sei ein „Relikt des guten alten Fernsehens“ verschwunden, „das noch Quatsch mit Tiefgang kombinierte und nicht Belanglosigkeit mit Zynismus“.
Gute Nacht.
Die Frischwoche
26. September – 2. Oktober
Durch die gut zu kommen ein anderes Relikt ab Sonntag nicht mehr wünschen wird. Dann moderiert Thomas Roth letztmals die „Tagesthemen“ und man möchte sagen: endlich. Denn mit seiner biederen Weißköpfigkeit kennzeichnet Roth einen Fernsehtypus, der schon beim Amtsantritt 2013 antiquiert war und seither rasant gealtert ist. Wie er sich staatstragend zu geben versuchte und dabei bloß steif war. Wie er sich locker zu geben versuchte und dabei zu Stein erstarrte. Wie das ganze Konstrukt aus schnauzbärtiger Seriosität und plastinierter Ödnis alles Mögliche bewirkte, aber nicht gut durch die Nacht zu kommen. Da wird auch dem letzten ARD-Gremlin klar, was Außenstehende schon wussten, als Thomas Roth Studiochef in New York war: Ingo Zamperoni hätte schon damals kommen müssen. Umso mehr freuen wir uns, dass er es nun tut.
Dem Ersten fehlt er dann allerdings schmerzlich in den USA, wo die heiße Phase des Präsidentschaftswahlkampfs heute Nacht mit dem TV-Duell Trump vs. Clinton zu sieden beginnt. Phoenix überträgt mit Vorberichten und Dokus ab 23 Uhr deutscher Zeit live, wobei es gegen halb drei richtig losgeht. Und nebenbei Futter für die Jubiläumssendung von extra 3 liefert. Am Mittwoch um 23 Uhr feiert das Satireformat mit Gästen und Archivschätzen 40. Geburtstag im NDR. Zuvor widmet sich der ARD-Themenabend „Cyber-Grooming“, leichter verständlich als Internet-Anbahnung. Zum Auftakt wird die Lena Urzendowsky in ihrer ersten (aber gewiss nicht letzten) Rolle Opfer im Spielfilm Das weiße Kaninchen Opfer dunkler Netzmächte.
Den Feind im eigenen Leib beschreibt dagegen die heutige 3sat-Doku Das dunkle Gen, in der sich ein depressiver Neurologe um 22.25 Uhr auf die Suche nach der physischen Grundlage seiner Krankheit macht. Mit Selbstzweifeln so gar nichts am Hut scheint der Star eines Vox-Abends am Donnerstag zu haben: Mark Wahlberg. Nach seiner hinreißenden Komödie Ted mit einem durch und durch vulgären Plüschbären zur Seite, widmet der Sender dem Fahrstuhl-Schauspieler ein Porträt. Und auch Netflix schildert eine Person von Belang: Amanda Knox. Ab Freitag zeigt der Streamingdienst eine herausragende Doku über die US-Studentin, die ihre Mitbewohnerin ermordet haben soll.
Nochmals USA: Der Dallas Buyers Club (Dienstag, 22.45 Uhr, ARD) erzählt nicht nur die halbreale Story des homophoben Rodeo-Reiters Ron nach, der 1985 an HIV erkrankt und fortan verbotene Heilmittel aus Mexico in die USA schmuggelt; er hat aus dem Surfertyp Matthew McConaughey einen Schauspieler gemacht. Das gleiche Sönke Wortmanns Der bewegte Mann, der Til Schweiger in der Wiederholung der Woche am Dienstag, 0.55 Uhr, ARD, ganz kurz mal aus dem tiefen Tal irrelevanter Selbstüberschätzung holte. Sehr kurz. Langlebig ist demgegenüber der schwarzweiße Tipp: Hitchcocks Psycho (Sonntag, 0.35 Uhr, NDR) von 1960 – partout nicht totzukriegen.
Der Club ist normalerweise Brachland. Außer Hormon- oder Alkoholspiegeln wächst dort in der Regel nicht allzu viel, rings um den Dancefloor ist es halt arm an Sonnenlicht und fruchtbarer Erde. Nichts könnte einer Platte mit technoider Clubatmosphäre daher ferner sein als ein Cover mit Wildblumen drauf wie sie das Debütalbum des dänischen DJs Sukuoia zieren. Wer allerdings genauer hinsieht, erkennt darauf, wo genau das Unkraut wächst: in einer Zimmerecke mit Auslegeware nämlich, vom Blitzlicht eiskalt erwischt wie ein verschrecktes Reh im Vorstadtvorgarten. Sie stehen also ausgerechnet da, wo sonst nichts Organisches steht, und das ist ein ziemlich fantastisches Bild einer ziemlich fantastischen Platte.
Sie heißt flac und ist das Ergebnis der unermüdlichen Fleißarbeit eines 23-jährigen Kopenhageners mit dem Klarnamen Patrick Bech-Madsen, der die Szene seiner Heimatstadt seit geraumer Zeit mit einer Art hypnotisierenden Electronica elektrisiert, die dringend raus ins Grüne will wie eine Biene im Wohnzimmer. Sekuoias Harmonien sind schließlich von so fröhlicher Verspieltheit, dass die Disco dagegen wie ein Knast daherkommt. Nach fast wavigem Einstieg in Rayenne geraten die neun Stücke zwar gelegentlich genregemäß etwas cheesy, doch allein das träumerisch tänzelnde Beau mit seinen Xylophonschnipseln oder mehr noch das drumsamplebefeuerte Bashard am Ende haben die Substanz zum Ohrwurm im einzeltrackfeindlichen Clubkosmos. Überdachte Flora, artifizielle Fauna, Gewächshaus Partyzone, hinreißend.
Secuoia – flac (Humming Records)
La Femme
Und wenn an dieser Stelle schon vom Ort des Entstehens in Korrelation mit dem der Verbreitung die Rede ist, darf man beides bei La Femme nicht verschweigen. Ihr Synth-Pop hat seinen Ursprung schließlich im sommerverwöhnten Surfer-Paradies Biarritz, wo sich der Gitarrist Sacha Got vor sechs Jahren mit dem Keyboarder Marlon Magnée zusammentat. Das Lebensgefühl dieses Sehnsuchtsorts der Sechziger hat auch nach dem Umzug ins virile Paris tiefe Spuren hinterlassen. Ergänzt um drei Taktinstrumentalisten und Sängerin Clémence Quélennec erwuchs aus der atlantischen Keimzelle ein Sextett, das den psychedelischen Teil der Sixties krachend in die Garage von heute übertrug.
Der zweiten Platte haben sie nun zwar den Punk ausgetrieben, aber um hypnotische Electronica ergänzt. Mystére wirkt daher, wie es heißt: Unberechenbar, flatternd, zerzaust – ein Panoptikum französischer Trendhalsen von Plastic Bertrand über Cassius bis Daft Punk, vermengt mit einem halben Dutzend Gastsängerinnen, die der Konstruktion krächzender Saxofone und irrer Konsolen-Spielereien schön die Mackerposen austreiben. Dem DJ einer gediegenen Strandparty kann man das getrost mit jenem Satz in die Hand drücken, den er hasst wie keinen zweiten: Kannst du durchlaufen lassen.
Wie schon in München 7 spielt Monika Gruber ab heute um 23.30 Uhr im Ersten und tags drauf um 19.30 Uhr beim BR auch in Moni’s Grill an der Seite von Christine Neubauer, führt in dem Hybrid aus Kochsoap und Talkshow allerdings echte Interviews mit echten Stars. Ein Gespräch über Frauenpower, Imagewechsel und verwandte Kellner.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Gruber, Frau Neubaer – um mal kritisch zu beginnen: Was hat der Apostroph bitte in Moni’s Grill zu suchen?
Monika Gruber: Schlimm, gell. Eine Unsitte, besonders in München. American Style…
Christine Neubauer: Wir wollen halt international sein, dagegen kann man sich kaum wehren.
Die Serie bleibt dennoch regional verankert, mit Ihnen als bayerisches Paar der Gegensätze.
Gruber: Wir sind schon unterschiedlich, haben aber wie in München 7 Gemeinsamkeiten. Hart für unsere Ziele zu arbeiten zum Beispiel, kein Privatleben zu haben.
Neubauer: Ich in der Küche, du in der Wirtschaft, sieben Tage die Woche.
Gruber: Nebenbei Haus, Kinder – so wie viele Familienbetriebe dieser Branche. Wir haben sogar noch unsere Mama an der Backe, die dauernd auf Pornoseiten surft, aber kaum Unterstützung von Männern.
Neubauer: Dass es bei dieser Nähe zu Zwistigkeiten kommt, ist da dann gar nicht der Dramaturgie geschuldet, sondern absolut realistisch. Zumal unter Schwestern.
Gruber: Aber wenn uns jemand an den Karren pisst, stehen wir zusammen. Das ist eine Frage des Vertrauens, das unter Verwandten erstmal größer ist. Ich hab 14 Jahre in der Gastronomie gearbeitet und dort gemerkt, wie viel besser das in ausländischen Restaurants funktioniert, weil die fast nur Verwandte einstellen. Da b’scheißt man sich nicht.
Wie ist es mit Ihrer gastronomischen Erfahrung, Frau Neubauer?
Neubauer: Null. Ich koche gern, aber nur privat. Deshalb hab ich auch ein paar Tage bei Alfons Schuhbeck hospitiert, damit meine Handgriffe am Herd auch dann so aussehen, als hätte ich die tausendmal gemacht, wenn ich mit der großen Klappe meiner Serienschwester mithalten muss.
Gruber: Was heißt hier Serienschwester – die Moni im Film ist der Moni in echt nicht nur dem Namen nach ähnlich. Wie hauen beide gern Sachen raus, das hat mir der Franz Xaver Bogner schon auf’s Maul geschrieben.
Ist der Eindruck dann falsch, den heiteren Part spielt die Köchin, während die Kellnerin durchaus sachliche Interviews mit Stars wie Hella von Sinnen zum Einstieg führen?
Gruber: Stimmt schon, ich bin ja auch privat nicht lustig. Mein Privatleben ist halt so fad, das läuft ins Öde hinein…
Neubauer: (lacht laut) Privat sind die größten Komiker gern große Grantler.
Gruber: Den lustigen Part übernimmt Sarah Camp als Mutter; im Vergleich zu ihr sind wir totale Spießer, aber insofern sehr moderne Frauen, als sie den Laden schmeißen: G’schäft, Familie, Bürokratie, Freundschaft, alles mit Männern als Hindernisse oder Accessoires.
Frau Gruber war noch nie als Talk-Host zu sehen, Frau Neubauer dagegen mehrheitlich in leichteren Heimatstoffen. Soll diese Serie ein bisschen an Ihrem Image schrauben?
Neubauer: Nein, denn dieses Image beruht einzig und allein auf Vorurteilen. Deshalb hab ich mich eine Weile zurückgezogen, um zu schauen, wie lange es sich noch hält.
Und?
Neubauer: Es sind nur noch wenige, die von mir behaupten, bloß leichte Sachen zu machen. „Moni’s Grill“ entspricht schließlich meinem wahren Ich als Schauspielerin.
Gruber: Das Komödiantische, Urbayerische steht dir wirklich gut, hab ich seit der „Löwengrube“ vor 25 Jahren immer gesagt. Deshalb finde ich super, dass du heimgekehrt bist.
Neubauer: Es ist eine Rückkehr zu meinen Wurzeln und Stärken, kein Imagewechsel.
Gruber: Bei mir wäre es schon einer. Weil ich kein Talker bin, hat mich die Rolle extrem gestresst; ich war neugierig, aber auch nervös. Die neun Gäste der ersten sieben Folgen kamen innerhalb einer Woche zu mir und ich wollte mit jedem ein echtes Gespräch führen.
Neubauer: Die Weppers zum Beispiel wollten unbedingt guten Wein trinken. Währenddessen ist wirklich in der Küche gekocht worden. Da war alles echt.
Haben Sie denn dafür vorab bei Götz Alsmann und Christine Westermann hospitiert?
Gruber: Nein, so gern ich Zimmer frei! mag. Ich wollte nichts kopieren. Mir war wichtiger, was viele Talkmaster verlernt haben: Zuhören, also eher reagieren als Fragen abarbeiten. Das kann sehr spannend sein.
Aber auch entgleiten…
Gruber: Da hat mich gleich Hella von Sinnen auf die Probe gestellt; wenn die zu erzählen beginnt, ist vieles dabei, was man so nicht im BR zeigen kann. Die scheißt sich gar nix!
Übersetzt: ihr ist alles egal?
Neubauer: Nein, aber sie will es nicht allen recht machen. Das schätze ich sehr.
Gruber: Grad in unserer Empörungskultur übertriebener Political Correctness, wo es Briefe hagelt, man dürfe doch nicht mehr über Vegetarier lästern, Lactose-Intoleranz oder Marianne und Michael. Hella sagt, was ihr auf der Zunge liegt. Tolle Frau.
Nach welchen Kriterien wurde sie denn ausgewählt?
Neubauer: Die Redaktion wollte vor allem Leute, die nicht schon tausendmal in Talkrunden saßen. Und Bücher oder Platten werden bei uns auch keine vorgestellt.
Gruber: Dem BR-Publikum muss sie ein Begriff sein und mir das Gefühl geben, wir hätten uns was zu sagen.
Haben Sie denn jetzt Blut geleckt und wollen öfter talken?
Gruber: Ja, zumal wir so überhaupt auf die Sendung gekommen sind. Die Idee war ursprünglich, zwei Leute zum Essen einzuladen, von denen ich nicht weiß, wer es sein wird.
Wenn würden Sie beide sich persönlich gern mal einladen?
Gruber: Donald Trump!
Neubauer: Oder Til Schweiger, nicht nur, weil er so prominent ist, sondern in „Moni’s Grill“ alle Schweiger heißen. Da würden Realität und Fiktion witzig verschwimmen.
Gruber: Barbara Schöneberger, auch wenn ich selber dann nicht mehr zu Wort komme. Oder welche, die man so ein bisschen vergessen hat. Die Kessler-Zwillinge zum Beispiel.
Neubauer: Und Arnold Schwarzenegger, der hängt ja ohnehin dauernd beim Schuhbeck rum.
Gruber: Ich fände auch Florian Silbereisen toll, mit oder ohne seine Helene.
Neubauer: Immer toll, jemandem kennenzulernen, von dem man ein falsches Bild hat…
Seit dem Welterfolg Toni Erdmann steht Peter Simonischek unter besonderer Beobachtung. Im ARD-Mittwochsfilm Bergfried wäre Wegsehen zwar besser, aber der Burgschauspieler allein macht das Kriegsverbrecher-Melodram nach teilweise realen Motiven dann doch einigermaßen sehenswert.
Von Jan Freitag
Burgschauspieler haben’s auch nicht leicht. Schon der Begriff klingt mythisch beladen, beinah märchenhaft, so als würden Burgschauspieler stets unter tropfenden Kandelabern spielen statt im profanen Kunstlicht, das längst ja auch durchs namensgebende Burgtheater scheint. Trotzdem wird dessen Personal seit Kaisers Zeiten überhöht wie Wagners Bayreuth: Will Quadflieg und Curt Jürgens, Adele Sandrock und Jane Tilden, O.W. Fischer und Boy Gobert – sie alle konnten die salbungsvolle Erhabenheit der Bühne an Wiens Ringstraße vor die Kamera retten, agierten dort aber oft mit einer Theatralik, die nunmehr antiquiert daherkommt.
Davor sind auch aktuelle Burgschauspieler selten gefeit: Martin Wuttke etwa, August Diehl, Udo Samel – oder Peter Simonischek. Geboren in der steirischen Einöde war das Internatskind über Jahrzehnte ein herausragender Darsteller sperriger Bühnenklassiker, der es in Film und Fernsehen nie so ganz über den Sidekick hinausschaffte; zu maniriert wirkte sein Spiel für die Gegenwart, zu getragen der Auftritt zwischen den wahren Helden. Da reichte es oft eher für Adlige und Tatverdächtige in Historienevents oder Krimis als für die Berliner Schule. Abseits der weltwichtigsten Bretter schien zwischen Derrick und Ludwig II. schlichtweg kein Platz zu sein für den herausragenden Mimen mit der würdevoll ergrauten Dirigentenmatte.
Dann kam Maren Ade.
Die Großregisseurin unverstellter Wahrhaftigkeit besetzte ihn als Titelfigur ihrer grandiosen Generationenkomödie Toni Erdmann und gebar damit einen ungewohnten Simonischek: Bis an den Rand der Karikatur realistisch, dabei oft durch pure Präsenz lustig und dennoch von einer Tiefe durchdrungen, die ebenso zu Tränen der Freude wie der Ergriffenheit rührt. Da liegt sie nun, die Messlatte – hoch droben auf dem Niveau von Cannes bis Hollywood, wo der Film bald um den Auslands-Oscar kämpfen dürfte. Auch sein neues Werk muss sie nehmen, obwohl es gewiss lange vorm globalen Jubelsturm über Ades Transformation seiner Filmpersönlichkeit im Kasten war.
Er heißt Bergfried und reißt die Hürde – soviel vorweg – recht deutlich. Das Melodram von Autorenfilmer Jo Baier, der gern mal zwischen Mach- (Die Heimkehr) und Meisterwerk (Wambo) pendelt, versucht sich an der vielfach erzählten Aufarbeitung deutscher NS-Verbrechen. Anfang der Achtziger quartiert sich der geheimnisvolle Italiener Salvatore ins österreichische Alpennest Arnbrunn ein, um dort jenen SS-Schergen zu finden, der einst sein Dorf als Strafaktion im Partisanenkrieg niedermetzeln ließ – wofür Baier in der Realität das Vorbild des niedergemetzelten Dörfchens Sant‘ Anna die Stazzema fand. Verfolgt von Martin Gschlachts bedächtiger Kamera, stromert der einzig Überlebende nun 40 Jahre später durch ein feindlich gesinntes Umfeld voller Stammtischgewächse, die weder von Fremden noch von der Moderne geschweige denn von damals irgendwas wissen wollen.
Das ist vom Gedanken her spannend und relevant. In der Umsetzung hingegen begräbt Baiers Buch die Geschichte mit jeder Minute mehr unter einer dicken Schicht Theatralik, Pathos, Bedeutsamkeit. Jenen drei Faktoren also, die Simonischeks Karriere auf der Bühne unvergleichlich machen, im Film hingegen kompliziert, seit er darin vor 25 Jahren im Heimatschinken Wildfeuer unter der Regie desselben Jo Baiers erstmals ein breiteres Publikum auf sich aufmerksam machte. Umso erstaunlich, dass ausgerechnet in diesem Panoptikum überzeichneter Charaktere ausgerechnet sein Oberscharführer für Authentizität sorgt.
Während Fabrizio Bucci als Salvatore schlicht zu schön ist für die Rolle des Rächers, dem natürlich die Tochter des Gesuchten namens Erna (Katharina Haudum) verfällt, während Gisela Schneeberger ihre Haushälterin Frieda mehr persifliert als verkörpert und Randfiguren wie der körperbehinderte Mann einer promiskuitiven Wirtin offenbar eher Siegfried als Bergfried im Hinterkopf hatten, erdet der Burgschauspieler von 70 Jahren das ständige Overacting mit minimalistischer Präzision. Wenn sein Grantler liebevoll mit dem Enkelsohn spielt, wird die Nähe des Bösen zur Normalität fast körperlich spürbar; wenn er die Welt in tonlosen Dreiwortsätzen wie „Gehst‘ noch weg?“ (zur Tochter) oder „die ist zu!“ (zur Tür) wissen lässt, dass sie ihn nicht mehr sonderlich interessiert, ist das TV-Theater von eindringlicher Größe.
Vielleicht kriegt er für dieses herausragende Talent, mit sehr sehr wenig sehr sehr viel zum Ausdruck zu bringen, bald ja auch wieder bessere Bücher. Muss ja nicht gleich eines von Maren Ade sein…
Er hat es wieder getan, er kann‘s halt nicht lassen, er ist schlicht zu machtgeil für die Auslastung des Gehirns: Horst Seehofer hat gefühlt zum 275. Mal die Zusammenlegung von ARD und ZDF gefordert. Seine medial besten Buddys Bild und RTL sind da natürlich sofort auf diesen mit „populistisch“ eher zaghaft umschriebenen AfD-Zug gesprungen. Dass er politisch irreal ist, soziokulturell verwerflich und juristischer Quatsch – egal! Hauptsache, die CSU fischt fleißig am rechten Rand. Dabei wäre es dringend angebracht, das öffentlich-rechtliche System gründlich zu reformieren. Fort von Pöstchenschieberei, Pensionenirrsinn und einer Programmstruktur, die Niveau allenfalls auf zwei, drei Primetimeplätzen parkt und ansonsten immer wieder den gleichen, wohlgefälligen, geriatrischen Quatsch reproduziert.
Zum Beispiel, deutsche Schauspieler als ausländische Ermittler unter Eingeborene mit ortsansässigem Akzent zu schicken, um hiesige Befindlichkeiten im dortigen Urlaubsambiente zu verhandeln. Zwischen Kroatien und Island zieht die Krimi-Karawane da grad nach Lissabon. Den Kommissar spielt Jürgen Tarrach, der das große Erdbeben in Portugals Hauptstadt von 1755 live erlebt hat, ölig gegrillte Meeresfrüchte liebt und seit der EM Vollbart trägt. Was als nächstes kommt? Ein Namibia-Krimi mit Heino Ferch als Inspektor von Lüderitz, der zum Auftakt in Deutschsüdwest Ritualmorde an Kolonialnachfahren löst. der Budapest-Krimi mit Béla Réthy als Opfer einer radikalen Sekte, die Hauptmännin Márta Szölösznölszny (Nina Kunzendorf) im Alleingang zerschlägt. Dazu Anke Engelke als heiter bis tödliche Dirigentin Klárá Slangsdóttir, die nach der Orchesterprobe von ihrem umgebauten Fischtrawler aus Sexualverbrecher auf den Färöer Inseln jagt.
Falls die Komödiantin dahinter dazu Interviews gibt, muss Reportern kleinerer Medien jedoch bewusst sein, dass sie nur der Großpresse von FAZ bis Zeit Audienz gewährt wie beim PR-Termin für den ARD-Politthriller Tödliche Geheimnisse, wo sie eine (ausgerechnet) Journalistin spielt. Da lobt man sich Engelkes Kollegen Thomas Gottschalk, der sich zwar für den besten Entertainer aller Zeiten hält, aber immer ein bisschen für alle da sein wollte. Kein Wunder, dass er beim gestrigen Finale von Zimmer frei! mit großer Lust am Medium den letzten WG-Bewerber gab.
Die Frischwoche
19. – 25. September
Nächsten Sonntag um 22.45 Uhr steigt noch die Abschiedsparty im WDR mit allerlei Mitbewohnern von Clueso über Anne Will bis Armin Rohde; dann ist das Aufwärmprogramm für den unvergleichlichen Dittsche im Anschluss nach 20 Jahren Geschichte. Wobei auch der Unterschichtenphilosoph aus Hamburg verschwindet – allerdings nur auf einen anderen Sendeplatz, von dem noch zu klären sein wird, ob er der bessere ist: Die 25. Staffel startet am Freitag um 23.30 Uhr, leitet das Wochenende also eher ein als aus. Und weil sie auch am neuen Termin live gesendet wird, lässt sich nur mutmaßen, was darin zu sehen, hören, riechen ist.
Es dürfte nach zwölf Jahren und zehnmonatiger Pause aber weiterhin die Quintessenz intelligenten Aberwitzes sein, den Olli Dittrich am 29. Februar 2004 irgendwo zwischen Altsozi und Neurechtem zur Kunstform erhob. Auch 2016 sieht sich sein Dittsche nämlich als Epizentrum des Weltgeschehens und verzieht dabei nie auch nur den kleinsten Muskel selbstironischer Reflexion. Deutschlands einzig wahre Alternative, sie steht für weitere zwölf Folgen am fettigen Imbiss-Tresen im feinen Eppendorf.
Der zweite Sendeplatzwechsel lässt dich hingegen nur im Kontrast einordnen: Heute um 18.50 Uhr wandert Francis Fulton-Smith als „Dr. Kleist“ vom Haupt- zum Vorabend der ARD, was sogar noch egaler ist als Moni’s Grill (Donnerstag, 23.30 Uhr) an gleicher Stelle, wo Monika Gruber und Christine Neubauer ein scheußliches Hybrid aus Talkshow und Kochsoap in den Sand setzen. Was FFS verzapft, wird nämlich erst am Dienstag deutlich, wenn er nach FJS in der Spiegel-Affäre zur Geisterstunde im NDR als Der Gute Göring glänzt. Was die Frage nach sich zieht: Warum bastelt der Macho mit Herz parallel so vehement am Klischee seiner selbst?
Und versucht es stattdessen nicht mal wie Orlando Bloom im südafrikanischen Verschwörungskrimi Zulu (heute, 22.15 Uhr, ZDF) oder George Clooney als durchgeknallter Veteran in der Antikriegsgroteske Männer, die auf Ziegen starren (Mittwoch, 22.15 Uhr, Eins Plus) mit einem echten Imagewechsel? Wobei wir da bereits bei den Wiederholungen der Woche wären, die ebenfalls mit einem wandelnden Stereotyp beginnen. Marilyn Monroe als Berufsblondine in Wie angelt man sich einen Millionär von 1953 (Freitag, 23.15 Uhr, BR). In seiner schwarzweißen Pracht kehrte 2003 die Raumpatrouille Orion ins Kino zurück, was heute auf Tele5 zu sehen ist. Und dokumentarisch wären diesmal gleich zwei Tipps zu nennen: der Themenabend Atomkraft am Dienstag auf Arte mit einer Doku über den Ersatzstoff Thorium und warum uns die ersetzten Stoffe noch Jahrtausende zusetzen. Dazu das tolle Porträt (Dienstag, 22.30 Uhr) des streitbaren Volksmusikers Hubert von Goisern im BR.
Was immer auch über HipHop an Klischees existiert – all das Gangsterhafte, Blingblingbesetzte, CNNsurrogative, Wackelärschige, Popaffine, Geldgeile, Befreiende, Fesselnde: Man kann das in jahrelanger Exegese der Abermillionen Raps, die jedes Jahr den Lagerbestand von Abermilliarden anderer erweitern, bestätigen oder widerlegen, je nach Herangehensweise. Man kann aber auch einfach mal Mykki Blanco zuhören und sich selbst Track für Track für Track dabei beobachten, wie der Kopf von ganz allein geräumt wird. Denn was der schwule Transvestit diffuser Hautfarbe da in seinem/ihrem Debütalbum Mykki fabriziert, ist die endgültige Sprengung aller Grenzen des Genres.
Produziert von Woodkid und Jeremiah Meece, walzt es der Performance-Künstler aus New York so variabel aus, dass alles andere verglichen damit irgendwie stereotyp und fade wirkt. In seinem Aberwitz erinnert das dann manchmal an Busta Rhymes, in der überdrehten Künstlichkeit wiederum an Plastikpop der Marke Dragostea din tei, überall scheppert und flattert und weht irgendwas Verschrobenes unter den Sprechgesang, der seltsam blechern, diffus, geschlechtslos umherirrt. In dieser Platte wird alles so virtuos mit nichts verbunden und nichts mit allem, dass am Ende niemand mehr weiß – war das jetzt bedeutsam, war es relevant, gar gut? Es war! Auch, weil es das nicht zwanghaft sein will…
Mykki Blanco – Mykki (!K7)
The Boys You Know
Es geschieht nicht oft, dass Bands aus dem deutschsprachigen Raum ihre Herkunft verleugnen, wenn sie auf Englisch singen. Die Hardrock-Fossilien Scorpions tun es zwar trotz niedersächsischer Intonation, das Hamburger Softpopduo Boy hingegen wegen der Aktzentfreiheit. Ansonsten aber fallen zurzeit nur The Boys You Know auf, deren Wiener Wurzeln allenfalls aus den Namen sprechen: Thomas Hangweyrer, Wolfgang Möstl, hörbar alpine Kaliber. Ihr College-Rock indes klingt vom Gesang bis in die Bläsesequenzen hinein so amerikanisch, als wäre er vor 30 Jahren unter der Sonne Kaliforniens entstanden.
Parallel zu neuen Platten alter Powerpopstars wie Dinosaur Jr. und Teenage Fanclub ist Elephant Terrible eine verträumt coole Reminiszenz an die Westcoastrock-Ära der Neunziger, als Männer erstmals alternativen Rock mit Gitarrensoli garnieren durften, ohne in Mackerposen zu erstarren. Jeder der neun Songs mahnt das aufgestaute Testosteron der neuen Maskulinität daher, bitte in den Drüsen zu bleiben und lieber entspannt beim Bier gen Abendhimmel zu blicken als, sagen wir, die Harley anzuschmeißen. Allein dafür schönen Dank!
The Boys You Know – Elephant Terrible (wohnzimmer records)
Robbing Millions
Man hört ja selten Gutes aus Molenbeek. Weltweit als Keimzelle islamistischen Terrors europäischer Prägung verschrien, dringt aus dem Brüsseler Stadtteil allenfalls das desillusionierte Allahu Akbar desperater Integrationsverlierer an die Öffentlichkeit. Aber Musik? Dafür muss man an Betonburgen und Schlagzeilen vorbei schon genauer lauschen. Doch wer es tut, taucht in einen Mikrokosmos, der aller Todessehnsucht ringsum funkensprühend Märsche purer Lebensfreude bläst. Der eingeborene Jazzgitarrist Lucien Fraipont und ein befreundeter Cartoonist namens Gaspard Ryelandt haben sich zum elektronischen Duo Robbing Millions vereint.
Und es ist nicht allein so, dass es auch im hellsten Sonnenlicht noch besonders strahlen würde; an klischeehaft tristen Brennpunkten wie ihrem gleicht ihr Auftritt einer Supernova kreativer Energie. Abgemischt vom New Yorker Studio-Wizzard Nicolas Vernhes (Deerhunter), bringen sie ein gleichnamiges Debütalbum zum Leuchten, dessen psychedelischer Faulenzerpop mit absurdem Doppelfalsett in englischer Sprache symphonisch und gleichsam minimalistisch klingt. Ein himmlischer Hoffnungsschimmer aus dem sprichwörtlichen Höllenloch.
Robbing Millions – Robbing Millions (PIAS)
Hype der Woche
Die Antwoord
Aus welchem Höllenloch Die Antwoord einst gekrochen sind, dürfte all jenen, die ihre Kinder schon immer vor denen gewarnt haben, schlaflose Nächte bereiten. Geografisch ist es erst mal Südafrika, das ja auch so ein Land am Rande des Wahnsinns ist. Atmosphärisch ist es für die Einen ein satanischer Abgrund verstörender Inszenierungen, für andere der Himmel kreativer Vielfalt ohne Geschmacks- und Soundgrenzen. Auf ihrem vierten Album Mount Ninji And Da Nice Time Kid (Kobalt) oszilliert das rappende Ehepaar ¥o-Landi und Ninja nebst DJ Hi-Tek wieder furios zwischen HipHop, Techno, Punk und Grime, mischen dem Irrsinn diesmal allerdings noch mehr ethnische Klänge wie Kwaito bei. Die Videos dazu sind gemeinhin Feuerwerke diabolischer Diesseitszerstörung. Doch das Besondere: für solche Bilder im Kopf braucht man überhaupt keine visuellen Anreize; es reicht, sich voll und ganz auf dieses Meisterwerk des Clutureclashs einzulassen.
Wäre die US-Serie High Maintenance nicht von HBO, sondern der ARD, geriete die Story eines New Yorker Grasdealers gewiss pädagogisch, aber wohl weniger unterhaltsam. Auf Sky On Demand zeigt die Fortsetzung eines Web-Erfolgs ab heute die lustigen Seiten der Sucht, ohne sie lächerlich zu machen.
Von Jan Freitag
Wenn fremdsprachige Fiktion vor deutschem Publikum läuft, werden ihre Titel verblüffend vielfältig verunstaltet. Mal geht dabei die Logik flöten (Die Hard/Stirb langsam), mal der gute Geschmack (Glass Bottom Boat/Spion in Spitzenhöschen). Meist jedoch gehen dem Übersetzer aber schlicht die Pferde durch, wenn aus Stripes die Militärkomödie Ich glaub‘, mich knutscht ein Elch! wird. Schon deshalb ist zu begrüßen, dass der Titeltrend wieder zum Original geht. Andernfalls hieße Pulp Fiction womöglich „Schundliteratur“, Scrubs in etwa „Arztkittel“ und High Maintenance gar „Wartungsintensiv“. Und das würde dem neuen Stern am Fernsehhimmel nun wirklich nicht gerecht werden.
Heute geht er auf, hierzulande zunächst auf Englisch bei Sky On Demand und Go, ab Frühjahr dann zusätzlich in deutscher Fassung. Doch auch dann dürfte die hinreißende HBO-Serie über einen New Yorker Grasdealer so heißen, wie es schon seit vier Jahren die Online-Welt begeistert. Im Herbst 2012 hatte sich der rührige Filmemacher Ben Sinclair persönlich zum Antihelden seiner eigenen Sammlung abgeschlossener Episoden gemacht, in denen er durch die bezaubernden Backsteinfluchten von Brooklyn fährt, um Kunden aller Schichten, Couleur und Kreise mit jenem Stoff zu versorgen, den hierzulande eigentlich nur die bierseligsten Dampfplauderer der CSU noch für gefährlicher halten als Alkohol.
So gesehen ist es ein Segen, dass High Maintenance beim kosmopolitischen Bezahlsender statt in der provinziellen ARD läuft; andernfalls könnte der Bayerische Rundfunk die vermittelte Botschaft als willkommenen Anlass nehmen, sich mal wieder wie einst bei schwulen Küssen und Hildebrandts Attacken aus dem Gemeinschaftsprogramm zu klinken. Schließlich enthalten die sechs halbstündigen Fortsetzungen der 19 Netz-Folgen alles Mögliche: präzise Gesellschaftsanalysen, kluge Typbeschreibungen, seriöse Sozialkritik, versetzt mit bissigem Humor und stichhaltigen Dialogen, alles in allem also Fernsehunterhaltung auf hohem Niveau. Was jedoch in jeder halbstündigen Episoden fehlt, ist die branchenübliche Verarbeitung sämtlicher Klischees über Marihuana nebst seiner Nutznießer zum Zwecke der Warnung.
Es beginnt schon beim Ben Sinclair, der nicht nur Hauptfigur, sondern – gemeinsam mit seiner Ehefrau Katja Blichfeld – Autor, Regisseur, Produzent in Personalunion ist. Zum Auftakt betritt sein Händler illegaler Drogen die TV-Bühne bei einem Friseur, der den unprätentiösen Vollbartträger mit dem schütteren Haupthaar gleich mal in die Welt des Kleinbürger einweist: „Ich bin Barbier, kein Magier“, kommentiert er den Wunsch einer nicht coolen Frisur. Dann setzt er den uncoolen Helm auf die fliehende Stirn und radelt zum ersten Kunden: Einen muskelbepackten Tagedieb, der die Ware partout aus dem Kleingeldglas bezahlen will. So weit, so sterotyp.
Doch im Anschluss beliefert The Guy, wie er überall genannt wird, gesellige Bohemiens und schwule It-Boys, zielstrebige Manager und herzlose Trump-Fans, Künstler, Arbeiter, Freaks, also alles, was New York an Abnehmern der Alltagsdroge Marihuana bereithält. Und mittendrin ihr Alltagsdrogenversorger, der dem Aberwitz ringsum mit einer Mimik zwischen Skepsis, Routine, Empathie und Geschäftssinn begegnet. Der dem muslimischen Mädchen das gewünschte Gras verweigert und reiferen Klienten Ecstasy. Der ohnehin mehr Pädagoge ist als jener Todesengel, den artverwandte Fiktionen von Blow bis Breaking Bad gern konstruieren. Der andererseits über die Arglosigkeit einer dealenden Witwe hinausgeht, indem er die Abgründe realer Rauschsucht bei allem Spaß doch ernster nimmt als Weed.
Wörtlich übersetzt heißt High Maintenance eben „Pflegebedürftigkeit“. Und ihrer nimmt sich The Guy mit einem Stoff an, aus dem gewiss nicht nur Träume sind, der aber vergleichsweise harmlos für Weltfluchten sorgt, die ihm selber eher fremd sind. „Sie haben Drogen in unser Haus gebracht“, schnauzt der Vater des Mädchens seinen Nachbarn an, bei dem sie sich das Gras ersatzweise besorgt hat. „Das sind keine Drogen“, entgegnet der gut situierte Bestager von nebenan lachend, „das ist Gras“. Aus deutscher Herstellung käme hier ein aufklärender Dialog, bei HBO beginnt der Abspann.
Mathangi „Maya“ Arulpragasam, bekannter unterm nom de guerre M.I.A., ist einer der umstrittensten, aber auch einflussreichsten Popstars von heute. Die Tochter eines tamilischen Freiheitskämpfers, geboren 1975 in London, aufgewachsen in Sri Lanka, kämpft meist mit klarer Botschaft für die Freiheit der Unterdrückten in aller Welt. Ihr ethnisch angetriebener Grime-HipHop war dafür bereits vier Platten lang der richtige Motor. Nun erscheint das fünfte Album namens AIM. Die alte Wut hat die globale Stilikone dabei hinübergerettet, allerdings eingekleidet in zuweilen eingängigere Rhythmen. Ein Gespräch über Vogellieder, Albumschlachten, Horizonterweiterung und wie die Gesellschaft ihre Beziehung zerstört hat.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Maya, deine Lieder sprechen seit jeher alles in klaren Worten an und plötzlich singst du auf deiner neuen Platte im Bird Song von Vögeln. Was genau ist damit gemeint?
M.I.A.: Eigentlich genau das, wonach es klingt: Es geht um Vögel.
Keine Metaebene, um etwas Größeres zu beschreiben?
(lacht) Natürlich ist da eine, aber ich werde sie dir nicht sagen. Man muss auch mal Raum für die eigene Interpretation lassen. Fühl dich inspiriert!
Zumal du ansonsten fast durchweg explizit politisch bist in deinen Texten.
Auch auf diesem Album?
Etwa nicht? Es hagelt auch hier ständig Verweise auf System, Freedom, Borders…
Trotzdem ist vieles in den Texten privat und handelt von mir persönlich. Dennoch ist am Ende natürlich auch das politisch, wie ja eigentlich alles politisch ist. Zu 100 Prozent sogar, so leid es mir tut. Ich sehe das ja schon in meinem Umfeld, wo alle Menschen sich ständig den politischen Verhältnissen anpassen müssen. Alles gerät ständig in den Einflussbereich von Macht und Geld, das kann selbst im intimsten Bereich des Lebens niemand kontrollieren. Wobei beides nur scheinbar der Selbstermächtigung des Menschen dient; tatsächlich sorgt es für Fremdbestimmung – so sehr man das Politische auch aus seinem Alltag herauszuhalten versucht. Ich kenne so viele Leute mit tollen Ideen und viel kreativer Energie; sobald es aber darum geht, die Miete zahlen zu müssen, gerät man in die Fänge von Macht und Geld. Darüber erzähle ich auch auf dieser Platte in meinen Songs.
Mit der Intention, die Verhältnisse zu beschreiben oder zu verändern?
Dazu muss ich vorweg nehmen, dass dieses Album zu einem interessanten Zeitpunkt meines Lebens gemacht habe. Für meine ersten drei Platten bin ich ja abseits aller Erfolge furchtbar bestraft worden – politisch, persönlich, beruflich.
Inwiefern?
Als ich danach Matangi gemacht habe, das ich politisch, künstlerisch, musikalisch wirklich gelungen finde, war es ziemlich unter, weshalb sich viele Leute über seinen Misserfolg amüsiert haben – nicht Nr. 1? Hahaha! Ich frage mich fortwährend, was ich zu sagen habe, nicht wie viel ich davon verkaufen kann; Musik nach Zahlen, statt Inhalten zu bewerten, ist falsch. Umso mehr habe ich es als unfair empfunden, das vierte Album so an kommerziellen Kriterien zu messen, weshalb ich lange Zeit keine Lust hatte, ein neues zu machen. Aber als die Flüchtlingsfrage so sehr ins allgemeine Bewusstsein der Masse vordrang, konnte ich als Kind mit Migrationswurzeln ebenso wie als Künstlerin meinen Mund nicht halten, zumal gerade, als ich Borders schrieb, auch noch eine private Liebesbeziehung aus politischen Gründen zerbrach.
Echt jetzt?
Die allgemeine Stimmung hatte zumindest Einfluss darauf. Sie war und ist so entzweiend, dass die Beziehung einer dunkelhäutigen Frau wie mir zu einem weißen Mann wie meinem Mann von außen unter Druck geriet. Ganz gewöhnliche Differenzen unter Liebenden bekamen plötzlich eine gesellschaftliche Komponente und wurden so verstärkt. Erst in dieser Stimmung wurde uns bewusst, wie sehr es in Großbritannien noch üblich ist, dass Weiße unter Weißen bleiben und Farbige unter Farbigen. Alles andere erschien uns plötzlich zusehends als ferner Traum.
Den auch Musik nicht realisieren kann?
Schön wär’s.
Welchen Einfluss kann sie auf die Verhältnisse ausüben?
Große, in doppelter Hinsicht. Wegen einiger meiner Texte erhalte ich in den USA nur schwer ein Visum, weil sie dort offenbar als irgendwie bedrohlich wahrgenommen wird. Darum kann ich mein Kind nicht besuchen, wenn es dort mit seinem amerikanischen Pass Urlaub macht; obwohl ich hier in England Steuern zahle, behindert meine Musik also meine eigene Freizügigkeit. Andererseits kann und will sie den Horizont anderer erweitern und ihnen sagen: werdet was immer ihr sein möchtest, geht wohin ihr wollt, seid undefinierbar! Das ist schließlich auch meine Story. Auch im Verhältnis zur Musikindustrie übrigens, die immer wieder versucht hat, mich zu definieren und daran gescheitert hat.
Warum?
Unter anderem, weil ich zehn Jahre in Sri Lanka gelebt habe und dadurch einen anderen Blick auf die westliche Welt habe. Ich bewerte Dinge anders als Eingeborene. Das möchte ich weitergeben.
Bist du in diesem Sinne einflussreich?
Bis zu einem gewissen Grad vielleicht, auch wenn ich dafür nicht das entsprechende Feedback kriege.
Immerhin hat dich das Time-Magazine mal unter die einflussreichsten 100 Menschen der Welt gewählt.
Das stimmt, aber das lag wohl vor allem am Zeitpunkt, zu dem ich bekannt wurde. Damals gab es noch kein klares Raster für meine Art Popmusik, weshalb ich mehrere andere zusammenführt habe, vermittelt übers Internet, das sich damals gerade mit Smartphones, Apps und sozialen Netzwerken gewaltige Verbreitungsnetze geschaffen hatte. Von 2005 bis 2009 habe ich viel Zeit darauf verwendet, einen Sound und einen Look zu kreieren, der das undefinierbar Multikulturelle zum Stilmittel erhebt.
Ganz bewusst?
Schon. Aber erst, als beides dann plötzlich von der Subkultur zum Mainstream wurde, geriet ich in diese Time-Liste. Da kamen ein paar Dinge eher zufällig zusammen, die mich zur Königin eines Trends machten, der dann allerdings schnell wieder ausverkauft wurde an größere Popstars und größere Marken der dominierenden Kulturkreise, die noch mehr Geld daraus machen konnten als ich.
Wie also hat sich in diesem Prozess deine Musik entwickelt vom Debüt Arular über den Durchbruch mit Kala bis zum aktuellen AIM?
Das erste handelte im Grunde davon, morgens aufzuwachen, angepisst zu sein von der Welt da draußen und darüber nachzudenken, wie man das selber wohl ändern könnte. Das zweite Album macht sich auf dem Weg in diese Welt da draußen, um sie zu verstehen und Leute zu finden, die ebenso angepisst sind. Das dritte Album dann zieht mit ihnen gemeinsam in die Schlacht. Im vierten Album findet man sich im Krankenhaus wieder, leckt sich die Wunden der Schlacht, spürt aber auch, sie überlebt zu haben. Hier setzt das fünfte Album an, sammelt die Scherben auf und geht weiter vorwärts.
Hast du die erste Schlacht also gewonnen oder verloren?
Weiß ich gar nicht so genau. Aber ich habe ihn begonnen, das zählt. Und die wichtigste Erkenntnis ist sowieso eine andere: Wie viele Schlachten du auch nach außen hin führst, wie oft du auch am System scheiterst – wenn du den Kreis durchbrechen willst, musst du auch die nötigen Schlachten gegen dich selber schlagen.
Ist das die Message der einflussreichen M.I.A.?
Das ist die Message des Menschen Maya: Wenn du etwas für andere ändern willst, vergiss nicht, dich selbst zu verändern.