Posted: October 31, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Der Halbgott von Eisenach
Seit nunmehr zehn Jahren lautet das Synonym für lieblos inszeniertes, inhaltlich anspruchsloses, konservativ ideologisches Fernsehen: Dr. Kleist. Am Dienstag ging das ARD-Märchen vom kernigen Alltagshelden Francis Fulton-Smith als perfekter Arzt, Gatte, Vater, Mensch in die 5. Staffel und wieder fragt sich: Warum tun sich das viele Millionen vernunftbegabter Zuschauer Woche für Woche an?
Von Jan Freitag
Das Fernsehen gilt bekanntlich als Seismograph des Zeitgeistes. Wenn eine Patientin also im Idyll ihres Einzelzimmers nicht weiß „wie ich Ihnen danken soll, Herr Doktor“, worauf der entgegnet, es sei doch viel wichtiger, „dass Sie mehr Zeit auf sich verwenden“, dann wissen wir: Da läuft gerade ein Heimatfilm der piefigen Fünfzigerjahre. Zu dumm, dass dieser hier ein halbes Jahrhundert später spielt, Teil einer aktuellen Fernsehserie ist und viel, viel ernster gemeint ist als je zuvor. Mit dem Zeitgeistseismographen ist das eben so eine Sache.
Denn Dr. Kleist rettet, heilt, liebt und managt im Hier und Jetzt. Und das seit nunmehr 65 Folgen. In der 1. wollte die Hauptstadtklinik des ARD-Arztes für den leidigen Profit 20 Betten streichen, was der Charmeur mit Kanten sodann lautstark anprangerte. Ins betuliche Eisenach setzte er sich aber nicht deshalb ab, sondern weil seine Frau bei einem Unfall starb, nachdem er noch fix einem Suizid vom Krankenhausdach (an einer Hand) vereiteln durfte. So fing vor sieben Jahren alles an, zwischen Berliner Hölle und Thüringer Himmel.
Seither ist Familie Dr. Kleist ein Quotenkrösus, den auch in Staffel V locker sechs Millionen Anspruchslose verfolgten werden, ein Zuschauermagnet wie das gänzlich geschmacklose Leipziger Krankenhausallerlei In aller Freundschaft. Dabei galt das Genre 2004 als klinisch halbtot. Von St. Angela über Bergdoktor bis zu den Stefanies und Onkel Docs lief das Haltbarkeitsdatum des TV-Arztes ab, während halbrealer Zynismus und Heiterkeit von Dr. House bis Doctor’s Diary noch auf sich warten lassen sollten. Der Streit um Gesundheitsreform und Praxisgebühr aber, sagte der damalige ARD-Programmchef Günter Struve einst zum Start, sorge für Bedarf nach einem Doktor wie dem aus Eisenach. Nicht gerade, so Dr. Struve, weil sein Titelgenosse Dr. Kleist derlei Probleme angemessen fiktionalisiere. Nein – weil sich der Mensch im Mediziner nicht in „politische Theorie verstrickt, sondern eine Praxis aufmacht, um konkret zu helfen“.
In ihr vereinigt der Internist nicht nur alle Attribute des multifunktionellen Altruisten, ist also nicht nur Kenner und Könner aller sozialen wie fachlichen Gebiete – der fürsorglich-kantige Heldendarsteller Francis Fulton-Smith macht seine Figur zum Allheilmittel sämtlicher Wehwehchen einer Gesellschaft, die sich nach emotional-kompetenter Führung sehnt. Sein Doktor bündelt die Sehnsüchte seiner Patienten, indem er Bürokraten (also auch Politiker) hasst, Menschen (also auch Zuschauer) liebt und die Familie (also uns alle) vergöttert.
In dieser Welt sind Kinder gütig lenkbar, Väter sensible Zupacker, Mütter erfolgreiche Instinktwesen und Wolken am Himmel Boten lösbarer Probleme. Denn die gibt es in jeder Episode, die Verbotene Liebe heißen und Endlich vereint, Familienglück oder auch mal – huiuiui – Tödliche Gefahr. Sie handeln von den Sollbruchstellen bürgerlicher Ideale, von Unfällen, Streits und Gefahren, die im Panorama der Wartburg dräuen, jenes nationale Erweckungsmonument in einer gottlosen Zeit. Gut, dass der Problemlöser Christian heißt.
Seine Sogwirkung lässt sich allerdings nicht nur mit Eskapismus erklären, der Fernsehflucht vom Alltag; bei Familie Dr. Kleist sucht das Publikum die Beherrschbarkeit einer Zeit, als Ehefrauen den Titel des Gatten trugen, gepaart mit einer Gegenwart, in der Schulrektorinnen unter 40 volljährige Söhne haben, deren Drogenkonsum im Mehrgenerationenpatchworkhaus besiegt wird. Als gäbe es eine Resettaste, die das Böse von der Festplatte der Moderne löscht. Auf die drückt man auch in ähnlich antagonistischen Formaten wie der baugleichen Nonnensause Um Himmels Willen im fiktiven Kloster Kaltenthal, die seit zehn Jahren sensationelle Zuschauerzahlen verbucht. Zumindest bei Senioren, wo auch Dr. Kleist am innigsten geliebt wird.
Auch in seiner aktuellen Staffel dürfte also Christians neue Frau irgendwann in weiß geheiratet werden und nie ferngesehen, dafür im Auto per Freisprechanlage telefoniert, also Verantwortung getragen für Mensch, Natur, das Großeganze, vor allem aber die Familie. Zwischendurch wird es um Liebe, Zank, Versöhnung, Wehwehchen gehen die sehr wahrscheinlich in einer Art von Finale kulminieren, das einst eine frühere Staffel beendet hat. Als Christian Kleist darin erfährt, Großvater zu werden, kriegt seine blutjunge Tochter sofort den genregemäßen Heiratsantrag vom werdenden Papa, bis die blutjunge Oma in spe alias Christina Plate sagt: „Ich freu mich auf das Baby, es wird in einer glücklichen Familie groß werden.“
In dieser Komplexität hat das vermeintlich Gute wohl nie existiert. Im Fernsehen jedoch bündelt es sich in einem Arzt, der selbst beim Fremdgehen moralisch makellos bleibt, da er eben ein ganzer Kerl ist, der Schwächen zeigt und seinem besten Freund „ich liebe dich“ ins Gesicht sagen kann. So ist er, der moderne Mann. „Rufen Sie mich an“, bat er die Patientin im Pilotfilm. Ach hätten wir doch die Nummer.
Posted: October 30, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Was wollen Sie hören?
Lou Reed zu interviewen, so hieß es in Fachkreisen, sei in etwa so ergiebig wie mit Notrufsäulen zu plaudern. Jetzt ist der schlecht gelaunteste Rockstar aller Zeiten gestorben und mit ihm ein Stück wegweisenster Musik der 1960er und 70er Jahre. Um an beide – das Genie, den Grantler – zu erinnern, dokumentieren die freitagsmedien hier ihr Interview vom Anfang des Jahrhunderts in einem Berliner Hotel, wo Lou Reed mal so richtig zeigte, was geschieht, wenn er keine Lust auf Interviews hat. Trotzdem: Danke Lou. Für alles!
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Mr. Reed, Sie leben, gut das zu sehen.
Lou Reed: Was zur Hölle meinen Sie?
Dass Sie voriges Jahr ihn den Medien als tot gemeldet wurden.
Yeah, gemeldet [er macht eine lange Pause]. Die Nachrichten…
Was ist mit denen?
Ich hab denen noch nie vertraut.
Obwohl Todesmeldungen bei einem Rockmusiker mit Ihrer Biografie ab einem bestimmten Alter ja nichts Ungewöhnliches sind.
[Lou Reed sagt nichts, lächelt nicht, blickt irgendwie ins Leere]
Wie kam es zu dieser Falschmeldung?
[denkt lange nach] Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht. Wollen wir über Musik sprechen?
Gern. Ihr neues Album The Raven variiert die Gedichten Edgar Allan Poe musikalisch. Wie kam es dazu?
Interesse. Ich fand Poes Geschichten schon als Kind spannend. Und die Filme mit Vincent Price sind auch aus heutiger Sicht grandios. Das war’s.
Aber warum dann die musikalische Interpretation?
Interesse, wie gesagt. Ich mag Spannung, Musik braucht Spannung und Edgar Allan Poe schafft es manchmal auf wenigen Seiten Geschichten zu entwerfen, die aufregender und gehaltvoller sind als dicke Romane. Haben Sie The Raven mal gelesen? Das sind eigentlich nur ein paar Zeilen, alles in Versform. Wenn man so will, hat seine Musik bislang nur auf die Vertonung gewartet.
Das Ergebnis steht also irgendwo zwischen Poesie und Musik. Gilt das für Ihre Karriere insgesamt auch?
[Reed blickt wieder ins Leere, dann lange ohne zu reden in meine Augen] Wahrscheinlich.
Haben Sie sich auch in Ihrer Rock’n’Roll-Phase als Dichter empfunden?
Was heißt “haben” – Rock’n’Roll ist nicht meine Vergangenheit, sondern meine Gegenwart.
Also – ein Dichter?
Alle Texte sind Gedichte. Lyrics sind Reime, Gedichte reimen sich. Das macht letztlich jeden wohl überlegten Song zu Poesie. Was wollen Sie hören?
Ob Gedichte mehr sind als Worte, die sich reimen, Worte, die auf etwas Höheres verweisen.
[Wartet wieder lange] Mal so, mal so. Ich habe Lieder gemacht, die auf etwas Höheres verweisen, und welche, die einfach so irgendetwas beschreiben, was mir durch den Kopf geht oder vor meinen Augen passiert ist.
Die Mischung macht’s.
Kommt auf die Platte an. [Pause]. Aber ja, manchmal.
Haben Sie deshalb alte Stücke wie Perfect Day, in dem es nun wirklich um Dinge geht, die Ihnen 1973 so durch den Kopf gegangen sind, neu interpretiert?
Perfect Day passte einfach gut ins Konzept.
Das da wäre?
Haben Sie das Album gehört?
Natürlich.
Gut. Nächste Frage [sein Manager, jedenfalls irgendwer im Raum, der bislang keinen Ton gesagt hat und unablässig auf sein Handy blickt, ruft ihm etwas Unverständliches aus der Ecke zu]. Okay, letzte Frage.
Oh, wirklich? Sie haben jetzt allein solo 19 Platten aufgenommen. Was könnte Sie je daran hindern, weitere zu machen?
Weiß nicht, fällt mir nichts ein.
Krankheit, der Tod?
Der auf jeden Fall. Danke, nett, Sie getroffen zu haben [Geht zum Mann mit in der Ecke]
Posted: October 29, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 2 dienstagsmarthe |
Wann immer Fachleute aus Politik, Wirtschaft, Kultur oder Wissen für bestimmte Nachrichten zum Interview gebeten werden, ereignet sich ein absurdes Schauspiel: Sie laufen erstmal vorbei
Wer öffentlich-rechtliche News sieht, wundert sich regelmäßig über ein sonderbares Schauspiel. Wann immer Tagesschau (und seltern: heute) Fachleute aus Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Kultur zum Interview bitten, läuft die sachkundige Person aus irgendeiner Ecke irgendeines Sachkundigenhabitats (Parlament, Universitätsflur, solche Sachen) erstmal zielstrebig auf die Kamera zu, blickt dabei allerdings stur am Objektiv vorbei, steht nach dem nächsten Schnitt plötzlich doch davor und redet. Merkwürdig. Könnte man meinen. Mit etwas Phantasie erkennt man allerdings ebenso dramaturgische wie pragmatische Gründe für diese Art Show.
Denn natürlich ist die scheinbar zufällige Begegnung zunächst ein Trick, um zwischen Publikum und Gesprächspartner eine visuelle Beziehung aufzubauen, die letzteren als echte Person mit menschlichen Regungen abseits des Statements darstellt – und in nachrichtenarmen Zeiten sogar noch Sendezeit überbrückt. Noch wichtiger indes: Durch diese Art der Kontaktaufnahme können sich beide Seiten in ein recht positives Licht stellen. Der Interviewte, indem er beschäftigt, agil, irgendwie schwer zu erwischen wirkt; der Interviewer, indem er suggeriert, das Interview sei nicht – was natürlich der Fall ist – über die zuständige Pressestelle organisiert, sondern Ergebnis einer knüppelharten Recherche, an deren Ende der Interviewte quasi abgefangen wurde, um die Geschichte zu bereichern. Eine win-win-win-win-Situation.
Posted: October 28, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
21. – 27. Oktober
Die vergangene Woche war öffentlich-rechtlich eine der offenen Fragen. Als das ZDF verkündete, inka! Anfang November vom Sender zu nehmen, blieb ja zunächst mal weit weniger ungewiss, warum die sagenhaft missratene Talkshow abgesetzt, sondern warum sie überhaupt erst angesetzt wurde. Des Weiteren offen ist, weshalb der inhaltlich verantwortliche Programmchef Norbert Himmler seiner entliehenen Bauernkuppelmutter Bause dennoch „für die tolle Zusammenarbeit“ dankte, um sie sogleich durch den fernsehästhetischen Aberwitz Topfgeldjäger zu ersetzen.
Doch auch das Erste ließ Dinge ungeklärt. Da verkündete so transparent wie stolz, von den 12,81 Euro Rundfunkbeitrag, den die ARD Monat für Monat von jedem Haushalt kassiert, würden immerhin 15 Cent für Tatort und Polizeiruf aufgewendet, also einer weniger als für Redaktion ARD Aktuell inklusive der Tagesschau. Was allerdings für die Schmonzettenfabrik Degeto (44 Cent) oder „Unterhaltung“ inkluive dem, was die Dritten so unter Heimatpflege verstehen (66 Cent), ausgegeben wird, dazu muss sich das interessierte Publikum schon selbst in die Quellenanalyse (http://www.ard.de/home/intern/die-ard/17_98_Euro_Rundfunkbeitrag/309602/index.html) begeben. Wirkt halt doch irgendwie staatsauftragsgerechter, soziokulturell relevantere Posten zu lancieren, etwa 16 Cent fürs wichtige Werk der Auslandskorrespondenten.
Die im Übrigen auch Ihren Teil dazu beigetragen haben, das Tagesschau-Volumen am vorigen Donnerstag über Merkels Handy-Affäre auf satte 10:08 Sekunden zu strecken. Was Volker Herres offenbar dicke ausreichte, weshalb er gegen die Entscheidung seiner Chefredakteure zu einen nachfolgenden Brennpunkt ein Veto einlegte. Dass das mit Sorgen um die Quote der nachfolgenden Deutsche-Meister-Sause Kai Pflaumes aber auch mal gar nichts zu tun hatte, ist dem ARD-Programmdirektor da natürlich vorbehaltlos zu glauben. Gut, die lag trotzdem deutlich unter den Erwartungen, aber immer noch leicht oberhalb der nächsten Demontage einer früheren Nr. 1 bei einem Moderator, der schon immer das Letzte war: Boris Beckers erbarmungswürdiger Auftritt Oliver Pochers Hampelkasper mit Fliegenklatschen am Hut in Immer auf die Kleinen.
Die Frischwoche
28. Oktober – 3. November
Und das Bemitleidenswerteste: Der aufgeschwemmt selbstentblößte Ex-Tennisstar wird so was wieder und wieder und wieder tun. So wie der spindeldürr selbstverliebte Ex-Nurdieliebezähler wieder und wieder und wieder Deutsche Meister suchen darf. Nach der Samstagsfortsetzung nochmals diesen Donnerstag und wer weiß: vielleicht ja bald täglich. In der ARD ist schließlich so einiges möglich – sogar richtig gutes Fernsehen. Die brillante DDR-Fiktion Weissensee zum Beispiel; obwohl, nee, die wird morgen durch Familie Dr. Kleist ersetzt… Dann der hochwertige Mittwochsfilm; obwohl, nee, der liefert morgen mit Komasaufen eher fade Kost über ein scharfes Thema… Oder hausgemachter Sonntagskrimi, diesmal am neuen Tatort Erfurt; obwohl, nee, das bislang jüngste Ermittlerteam Kramme/Mücke/Levshin mag zusammengenommen kaum älter sein als, sagen wir: die Münchner Kollegen Batic/Leitmeyer allein, bleibt aber dramaturgisch – verglichen mit dem, was denen Dominik Graf gestern aufs graue Haupt geschrieben hat – doch ziemlich konventionell. Also das heutige TV-Drama Blutgeld mit dem beeindruckenden Max Riemelt als Opfer HIV-verseuchter Blutkonserven?
Obwohl, nee, das läuft im ZDF.
Wie überhaupt das Zweite dieser Tage punktet. Freitag etwa mit der 5. Staffel Mad Men, auch wenn derart kreative Importserien wie so oft erst gegen Mitternacht laufen wie auch das neue Magazin des brachial genialen Moderators Jan Böhmermann, ab Donnerstag bei ZDFneo. Aber keine Frage, auch aus Mainz gibt es die handelsübliche Schmierseife satt. Ab Samstag vorm Hauptfilm zum Beispiel irgendwas Altbackenes mit einem schicken Pfarrer, der neben allerlei Schäfchen auch noch vier Kinder allein großzieht, was fortan zehn Folgen lang die öffentlich-rechtliche Idee modernen Fernsehens verkörpert, während ein gewisser Michael Requardt als Der Firmenretter tags drauf (17.55 Uhr) ganz offen kommerzielles Help-TV klaut und auch die zehnteilige Dokusoap Junior Docs über neun Assistenzärzte in vier Hamburger Kliniken ab Donnerstagabend bei ZDFneo eher privatzuschauerkompatibel geraten dürfte.
Dann doch lieber gleich das Original: RTL2 zeigt ab heute die ersten vier Staffeln von The Walking Dead und zwar quasi an einem Stück, mit täglichen Mehrfachfolgen ab elf Uhr nachts. Für schwächere Mägen mit lebendigen statt untoten Hirnen darüber, empfiehlt sich allerdings wohl doch eher der morgige Themenabend Banken, Banker, Bankster auf Arte. Oder am Mittwoch die zuweilen brüllend komische, weil puppenflankierte Jeff Dunham Show auf Nick und Comedy Central.
Dabei müsste man an dieser Stelle doch eigentlich technikolorierte Western, Freibeuter in gestreiften Hosen, solche Sachen ankündigen – aber irgendwie hielt es nicht ein Sender für angeraten, Burt Lancaster zum 100. Geburtstag am Samstag auch nur eine Wiederholung zu gönnen. Dafür zeigt Arte tags drauf um 17.30 Uhr zum ebenso runden Wiegenfest des Komponisten Benjamin Britten dessen War Requiem von 2012. Weil das Fernsehen da offenbar dubiosen Gesetzen gehorcht, empfiehlt der Tipp der Woche also einen anderen Anthony: Quinn nämlich, Hauptdarsteller von Fellinis brillantem Schausteller-Drama La Strada, von 1954, heute um 20.15 Uhr auf Arte, gefolgt von La dolce Vita übrigens. Schwarzweiße Filmherrlichkeit.
Posted: October 26, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 6 wochenendreportage |
Radeln in der Autostadt
Radwegebenutzungspflicht im Nadelöhr: Die Hamburger Sternbrücke. Foto: Freitag
Das Fahrrad gilt als Fortbewegungsmittel der Zukunft schlechthin: klimaneutral, zügig, gesund. Es gibt also keinen Grund, seine Benutzung zu behindern. Theoretisch. Ein Praxistest mit dem ADFC durch Hamburg aber zeigt: der Weg ist noch weit.
Von Jan Freitag
Allein schon diese Kreuzung, Merja Spott schüttelt verständnislos den Kopf: total überdimensioniert, Treffpunkt zweier Schwerverkehrstrassen im schönsten Altbauviertel, das Ganze bei Tempo 50 entlang einer schicken Einkaufsstraße und dann überall „Schleppkurven“ für maximales Abbiegetempo: derart kompromisslose Autogerechtigkeit in einer Perle wie Eppendorf – die Verkehrsreferentin der Hamburger Zweigstelle vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, kurz ADFC, steigt entgeistert vom robusten Velo: „So was gibt’s wohl nur bei uns.“ In Hamburg nämlich. Der fahrradfreundlichsten Stadt, wie Behörden und Marketing gern. Der fahradfeindlichsten Stadt, wie Betroffene, Grüne, diverse Studien gegenhalten. Und dazwischen: Merja Spott, Geografin in Diensten des Vereins für die Rechte unmotorisierter Zweiräder. Ein wenig für sich selbst also. Vor allem aber für hunderttausende Radler einer Metropole vorm Verkehrsinfarkt. In einem Land mit Benzin im Blut. Auf einem Planeten mit ökologisch ernstem Problem. Am Brennpunkt dessen also, was für die Republik konstituierender ist als Flagge, Demokratie und Fußball in einem: Mobilität.
Die ist auch Merja Spott wichtig, wenngleich anders als dem Durchschnitt im Staat der 40 Millionen Kraftfahrzeuge. Deshalb bittet die Lobbyistin einer neuen Verkehrspolitik zur kleinen praktischen Begutachtung ihrer Wahlheimat. Denn auch in Hamburg, sagt sie drei Jahre nach ihrem Umzug aus Berlin, „bewegt sich langsam ein wenig“. Mehr Radstreifen auf der Fahrbahn etwa, bessere Leitsysteme und dann das erfolgreiche Stadtrad. Zugleich aber könne man „die verkehrspolitischen Probleme einer Großstadt nirgends auf engerem Raum erleben“. Das beginnt schon auf jener viel zu großen Kreuzung im betulichen Eppendorf. Dort wo alles dicht beieinander liegt: Wasser, Wald und Hauptverkehrsadern, Shopping, Arbeit und Gründerzeitvillen. Der Wohlstand ist hoch, das Wohnprinzip heißt Eigentum, Gentrifikation meldet Vollzug – ideale Voraussetzung für urbane Landlust-Leser mit grünem Gewissen. Und dann dieser Radweg, Merja Spott bremst scharf: Keine 80 Zentimeter breit, uralt und holprig. „Hamburger Standard“, nennt sie das typische Exemplar dessen, was dem vorkriegsprägenden Pedalverkehr in der automobilen Nachkriegszeit unter die Reifen asphaltiert wurde. Ein Mountainbike weicht lieber auf den Fußweg aus, als Merja Spott den Kernsatz zeitgenössischer Mobilmachung spricht: „Der gehört eigentlich auf die Straße.“
Nur: hier darf er nicht. Die Regel heißt „Radwegebenutzungspflicht“ und trennt klapprige Drahtesel ebenso wie rasende Kuriere vom Alltagsstau nebenan. Das zugehörige Schild begleitet die Testfahrt künftig wie episch lange Ampelphasen oder dreiste Falschparker und meist ist es illegal: 1997 nämlich erklärte eine StVO-Novelle Radwege zur Ausnahme. Ausrufezeichen. Bis dato gehörten Radler auf den Radweg. Punkt. Seither gehören sie auf die Straße. Komma. Denn wo genau, hängt von einer diffusen Gefahrenlage ab. Für wen auch immer. In Hamburg hieß das: für Radler. Denn obwohl die Neuregelung das Gegenteil wollte, pflasterten die Ämter ihre Bürgersteige mit dem weißen Rad auf blauem Grund, gern überm Pictogramm einer Frau plus Kind zur gemeinsamen Nutzung. Egal wie eng es ist. Und es ist oft eng, auf dem Weg nach St. Pauli, wo der Radanteil am Verkehr mit 18 Prozent halb so hoch liegt beim Primus Münster, aber sechs überm Stadtschnitt. Selbst am Rand vielspuriger Querungen zum City-Ring 2 klemmen Radwege unsichtbar zwischen Gebüsch und Kantstein, den die Autos wie üblich in Alsternähe in epischen Fahrspaßkurven passieren. Und wo es mal breiter wird, sogar eben, rauscht ein Rechtsabbieger so wild ums Eck, dass Merja Spott nur die Vollbremsung bleibt.
Hamburg mag mit 560 Kilometern Deutschlands längstes Radwegenetz haben; da das Gros baulich abgetrennt ist, werden seine Nutzer von Kraftfahrern oft erst bemerkt, wenn sie sich fast berühren. Ausgerechnet in Europas schnellster Stadt, wie eine Forbes-Studie ergab (www.forbes.com/2008/04/21/europe-commute-congestion-forbeslife-cx_po_0421congestion.html), tickt die Verwaltung wie zu Zeiten, als Autobahnen noch visionär waren. Innovativere Städte wie Kopenhagen, Münster, gar Berlin holen Räder konsequent auf die Straße, abgetrennt von Linien, Schutzstreifen genannt. Die zuständige Verkehrsbehörde verweist dabei auf „historisch begründete“ Fahradunfreundlichkeit an großen Kreuzungen und „hohe Kfz-Belastungen“, die in zahlreichen Straßen „wenig Spielraum für grundlegendere Verbesserungen“ ließen, versteift sich aber immer wieder auf den Radweg als zentrale Route für Pedaleros. Und dann kommt auch noch Willkür hinzu. Etwa, wenn mitten im Eppendorfer Wohngebiet plötzlich Tempo 50 herrscht, was Räder auf den Fußweg verbannt, wo sich Merja Spott auf 100 Metern dreimal Passanten aus dem Weg klingeln darf.
Aber immerhin bleibt hier noch Zeit für Warnsignale. Auf dem geteilten Radweg unter einer Brücke im berühmten Schanzenviertel hilft nur Absteigen, um sich nicht im Fußvolk des Nadelöhrs zu verkeilen. Weil die Bahn hier bald alles abreißt, gilt die Gefahrenlage aus Bürokratensicht, Mirja Spott lächelt bitter, als „temporär hinnehmbar“. Und dann kommt ihr noch ein Mountainbike auf falscher Seite entgegen. Da macht sich die Lobbyistin nichts vor: Auch ihre Klientel ist fehlbar. Radler rasen, Radler träumen, Radler sind wie alle schwer berechenbar. Nur dass man sie in Hamburg dabei auch noch auf ruinierte, rückständige, oft rechtswidrige Wege zwingt. „Die Lösung wäre Regeltempo 30 statt 50“, sagt Merja Spott, weiß aber um den PS-süchtigen Boulevard, der dagegen sofort Sturm schriebe.
Also bleibt ihr nur die Hoffnung auf kollektive Empathie: Radler mit weniger Angst vor Autos, Autofahrer mit mehr Respekt vor Radlern, beide bis auf Tunnel und Brücken auf Augenhöhe. Eine Stunde Testfahrt durch Hamburgs Mitte gibt ihr Recht, auch wenn der Verkehr an einem Ferientag wie diesem ungewohnt ruhig ist. Fünf total zugeparkte Radwege, vier genommene Vorfahrten, davon drei durch Kraftfahrzeuge bei zwei Kontakten und einem Autofahrer, der dennoch hupt. Dazu mehrere Dutzend illegaler Benutzungspflichten, die auch bei Laubhaufen, Schlaglöchern oder Baustellen selten aufgehoben werden, und natürlich eine rote Ampel nach der anderen, da grüne Wellen Autos vorbehalten bleiben. Aber auch keine ernste Lebensgefahr. Eigentlich ein guter Tag.
Mehr Bilder, Filme und Kommentare: http://www.zeit.de/mobilitaet/2013-10/hamburg-radfahren-verkehr
Posted: October 24, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Der Sprengmeister
Dass die Kölner Firma ActionConcept 20 Jahre alt wird, liegt an der RTL-Serie Alarm für Cobra 11, die mittlerweile in mehr als 100 Ländern läuft. Und an Hermann Joha. Der Ex-Stuntman hat deutsche Action weltweit konkurrenzfähig gemacht. Und sein Unternehmen zu einem der Weltmarktführer in Sachen Special Effects, vor allem, weil sein Topprodukt um eine gänzlich sinnfreie, aber stets explosive Autobahnpolizei heute in die 23. Staffel geht.
Von Jan Freitag
Bäääng! Einführung. Booom! Füllhandlung. Baaammm! Auflösung. Die wöchentliche Dosis Cobra 11 ist in der Regel schnell erklärt: Eine Explosion zu Beginn, etwa zwei in der Mitte, mindestens drei am Ende, dazwischen nur das Nötigste an Sinn und Verstand zum Maximum an Blut, Schweiß und Testosteron – es ist nicht grad die Quintessenz intelligenten Fernsehens, was die fiktive Autobahnpolizei ab heute auch in Staffel 23 (in Worten: dreiundzwanzig!) abliefert. Aber wer will denn schon so was, bei RTL? Hermann Joha jedenfalls will es nicht. Der Produzent will Entertainment, Spaß. Und Erfolg. Darum klingt es auch ziemlich ernst, wenn er sein Topprodukt „die geilste Achterbahn am Abend“ nennt, einen „Rummelplatz“. Trotz all der Raserei, Inhaltsleere und mimischen Tristesse ist Alarm für Cobra 11 nämlich ein Bombengeschäft. 21 Jahre nach der Gründung seiner Firma ActionConcept, läuft die Serie schließlich in gut 100 Ländern und hat Special Effects made in Germany somit global wettbewerbsfähig gemacht. Alles dank Hermann Joha: Herz, Hirn, Leber, Niere eines Genres, das es vor ihm im Grunde gar nicht gab. Kein Wunder. Joha ist vom Fach.
Denn als der Unterfranke das Fernsehen 1992 erstmals mit brennenden Autos versorgte, war er selbst noch Stuntman, der Autorennen fuhr, Helikopter flog, Motorenartistik betrieb, kurz: all das tat, was zum Kern von Cobra 11 wurde. Er sei durchaus ein „Adrenalin-Junkie“, wie der 53-Jährige einräumt, „aber kein Draufgänger“. Was zählt, sei das kontrollierte Risiko mit Restnervenkitzel. Das durfte er erstmals im RTL-Film Der Clown unter Beweis stellen. 1997 besorgte Joha dessen „Second Unit“, die parallel zur Hauptkamera das Drumherum bebildert: Karambolagen vor allem, Unglücke, alles was knallt. Und der hemdsärmelige, aber perfektionistische Joha war darin so versiert, dass sein erster Blockbuster gemeinsam mit dem zeitgleich produzierten Cobra 11-Pilotfilm 20 Millionen Zuschauer erreichte. „Wir hatten plötzlich zwei Serien, die von Null auf 100 explodiert sind“. Mit seriellen Prügelarien wie Lasko oder Actionkrachern der Marke Turbo und Tacho ging es dann – abgesehen von einem Knick in der Internetblase – nur bergauf.
Doch ohne Cobra 11, das weiß auch Joha, wäre sein Unternehmen „eher klein und übersichtlich“. Der Umsatz würde deutlich unter 30 Millionen rutschen, die Mitarbeiterzahl weiter sinken und RTL womöglich seine Beteiligung abstoßen. Dem Fernsehen bliebe so zwar Oliver Pocher als ernst gemeinten Schauspieler erspart, der zum Auftakt der neuen Staffel sogar sterben darf. Aber eben auch eine echte Attraktion. Denn die kleine GmbH ist nicht nur auf 140 Märkten aktiv, sondern hat 2012 auch zum siebten Mal in Hollywood den Taurus World Stunt Award gewonnen, eine Art TV-Oscar der Actionszene, wie üblich für Cobra 11. Dennoch dreht die Werbekrise auch beim Hauptabnehmer RTL an der Kostenschraube – auch wenn Hermann Joha, der Berufsjugendliche mit ergrauter Fönfrisur, lieber von „Budget-Optimierung“ spricht, „ohne an production value einzubüßen“. Aber kürzer treten muss man auch in Köln-Hürth, wo vieles entsteht, was im Privatfernsehen kracht, scheppert, fliegt und brennt. Auf rund 25.000 Quadratmetern Fläche fertigt das „Full-Service Produktionsunternehmen für Action-Formate“ vollständige Filme bis zur Endabnahme. Hier liegen zu Spitzenzeiten 800 Lohnsteuerkarten und Weihnachten noch immer an die 100 im Büro, wie Joha den Personalstand schildert. Hier entstehen Serienbeiträge, die in der Herstellung schon mal den doppelten Minutenpreis einer Tatort-Folge kosten. Und ganz in der Nähe ist die Firma Hauptkundin der größten Filmautobahn Deutschlands.
Die „Film + Test Location“ Aldenhoven ist ohne Zweifel Johas liebster Arbeitsplatz, Garant des „Fun-Faktors“ seiner Ware, wie er immer wieder betont. 2300 Meter kontrollierte Raserei auf vier Spuren, Standstreifen, Nothaltebucht, Parkplatz inklusive. Ein Eldorado fiktionaler Beschleunigung, auch wenn Joha selber nicht mehr ins Cockpit steigt. Ob er noch mal mehr machen möchte, als ab und an eine Kleinrolle im eigenen Film zu besetzen – ein wenig Action unter eigener Regie vielleicht? „Um Gottes Willen“, sagt da das kinderlose Arbeitstier. Jetzt lacht er doch. Man wird halt ruhiger, jenseits der 50. Aber auch im Arte-Alter seien für Dialogfilme andere zuständig. Obwohl er die Liebesschnulze „Pretty Woman“ locker zwanzigmal gesehen habe und Sergio Leones grandios ereignisloses „Spiel mir das Lied vom Tod“ als „Mutter aller Filme“ bezeichnet, bleibt der Sprengmeister des deutschen Fernsehens ein unverbesserlicher Action-Fan, der lieber Fachbücher liest als schwere Romanstoffe. „Du wirst immer nur in einer Sache wirklich gut“, so lautet sein Credo. Und auch wenn es nicht jedem Feuilletonisten passt: Im Actionfach ist es Hermann Joha. Fast konkurrenzlos. „Cobra 11“ sei dank. Oder besser: ist schuld.
Posted: October 23, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Der Schausprecher
Auf der Straße wird Christian Brückner eher selten erkannt – es sei denn, er beginnt zu sprechen. Dann hat man sofort Robert De Niro, Martin Sheen, Harvey Keitel oder all die Dokumentationen von Guido Knopp vor Augen: Brückner ist Deutschlands bekanntester Synchron- und Off-Sprecher. 1943 im schlesischen Waldenburg geboren und aufgewachsen in Köln, wollte er zunächst Schauspieler werden, lieh aber nach anfänglichen Bühnen- und Filmrollen schon Ende der 60er Jahre Warren Beatty seine Stimme und schaffte mit Taxi Driver 1976 den Durchbruch. Bis auf dessen Titelfigur Robert de Niro synchronisiert der zweifache Vater mittlerweile jedoch selten, sondern konzentriert sich auf seinen eigenen Hörbuch-Verlag und tritt gelegentlich im Fernsehen auf, zuletzt zu seinem 70. Geburtstag im ARD-Melodram Liebe am Fjord als reifer Mann zwischen zwei Freundinnen
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Brückner, Sie haben ja ein richtiges Gesicht.
Christian Brückner: Schon immer an derselben Stelle.
Und ein ziemlich attraktives dazu.
Oh, danke.
Ist es für Sie trotz einiger Erfahrungen vor der Kamera noch ungewohnt, es zu zeigen?
Es ist zumindest ein völlig anderes Arbeiten. Und das, obwohl ein großer Teil meiner Tätigkeit durchaus öffentlich stattfindet. Ich bin ja oft im Zusammenhang mit Literatur und Musik auf Podien oder Bühnen präsent.
Werden Sie dennoch häufiger an Ihrer Stimme erkannt als am Gesicht?
In der Tat, obwohl ich mittlerweile erstaunlich oft auch optisch erkannt werde.
Dann erklären Sie doch bitte, warum Sie trotz ihrer Optik, dieser Stimme, schauspielerischer Ausbildung und wachsender Bekanntheit so selten am Bildschirm zu sehen sind?
Diese Frage hab ich mir nie gestellt. Weil es von meiner Art Karriere, ohne von einer Sackgasse zu sprechen, nicht ohne weiteres zurückgeht; das war zwar nicht von vorneherein eine Richtungsentscheidung, aber irgendwann war sie okay. Was jetzt allerdings die meiste meiner Zeit konsumiert, ist der Verlag, den ich mit meiner Frau betreibe.
Hörspiele.
Nee, nee, nee – Hörbücher, das ist ein gehöriger Unterschied, eins zu eins vorgetragene Literatur. Hörspiele bilden eine Minderheit.
Lesen Sie das meiste selbst?
Nicht das meiste, aber einiges. Aber schon Verwaltung und Vertrieb erfordern im Zweipersonenbetrieb eine Energie, die ich mir nicht hätte vorstellen können. Ein ungeheurer Zeitfresser.
Der Sie an anderen Aufgaben wie Synchronisation und Schauspiel hindert?
Hindern klingt so negativ. Ich habe weder Agenten noch Manager, bin also voll von den Angeboten abhängig. Und das hier
Für das ARD-Melodram Zwei Sommer.
… habe ich halt mal angenommen. Mit großem Vergnügen und Interesse.
Warum noch mal genau?
Vor allem wegen der Überredungskunst des Regisseurs Matthias Tiefenbacher. Und ganz ehrlich: es war äußerst verlockend, unter diesem wunderbaren Schauspieleranleiter eine so große Rolle mit so großen Kollegen wie Hannelore Elsner zu so einer Sendezeit zu kriegen.
Und was wollte der Regisseur von Ihnen – vor allem diese liebesfilmtaugliche Stimme?
Nein, er hatte einen alten Film von mir gesehen, in dem er mich überzeugend fand. Da fühlt man sich als Quereinsteiger schon sehr geschätzt.
Auch geschmeichelt?
Und wie! Aber meine Stimme wird ihm schon auch gefallen haben.
Unterscheiden sich die beiden Techniken des Spielens und Sprechens grundlegend?
Gar nicht so sehr. Schauspielen ist für mich, mit der Stimme Präsenz zeigen – ob rein akustisch über die sprachliche Interpretation eines gelesenen Buches oder dessen Visualisierung vor der Kamera. Mir ist es relativ egal, ob mir die Leute zuhören oder zusehen; nennen Sie mich Schausprecher. Aber Film ist natürlich der größere Entwurf im Vergleich zum Lesen, mit viel mehr Drumherum, mit Mimik, Gestik.
Die bei Ihnen im Vergleich zur Stimme – Hand aufs Herz – oft unsicher wirken.
Das ist ja auch kein Wunder, wenn man neben einem Profi wie Hannelore Elsner agiert. Mir fehlt da einfach die Praxis vor der Kamera. Andererseits agiere ich auch beim Sprechen sehr physisch, bewege mich im Raum, spiele wirklich, statt nur zu lesen.
Ist das üblich?
Eher die Ausnahme.
Auch ein Defizit?
Ich glaube, ja. Und werfe manchen meiner Kollegen durchaus vor, dass sie insbesondere die Sache des Synchronisierens nicht ernst genug nehmen. Das hat was mit dem Selbstverständnis zu tun. Die Synchronisation ist in einem Land wie unserem, wo fast alles übersetzt wird, ähnlich wesentlich wie die Originalstimme; trotzdem sehen sich viele verglichen mit denen, die sie synchronisieren, als nachgeordnet an. Aber vielleicht tun sie das ja, weil wir in Zeiten der Digitalisierung zusehends alleine im Studio sitzen.
Früher wurde gemeinsam synchronisiert?
Und miteinander. Im Ensemble kriegt man auch beim Synchronisieren das Gefühl, wichtiger Bestandteil des Films zu sein. Aber mal ehrlich: ich kann gar nicht mehr viel über die Branche urteilen; so exzessiv ich das früher gemacht habe, so selten tue ich es heute. Höchstens mal einen de Niro. Vielleicht habe ich ja deshalb – Sie werden lachen – beim Betreten des Studios leichtes Lampenfieber.
Hat das mit der Bedeutung des Originals zu tun, einem der größten Hollywoodstars aller Zeiten?
Nein, denn wenn ich Filme vorab im Original sehe, frage ich mich eigentlich immer, wie das denn bitteschön zu übersetzen sein soll – egal, ob de Niro oder sonst wer.
Haben Sie ihn mal getroffen?
Ich hab ihn sogar mal interviewt, für Premiere. War sehr witzig.
Und wer hat die schönere Stimme?
(lacht) Also ich vermute mal, dass meine Stimme nicht wegen ihrer Schönheit, sondern der Ähnlichkeit zu seiner gewählt wurde; schließlich hat Martin Scorcese seinerzeit bei „Taxi Driver“ ein richtiges Synchroncasting gemacht, das ich am Ende gewonnen habe.
Ist es üblich, dass amerikanische Regisseure die ausländischen Stimmen auswählen?
Überhaupt nicht, aber Scorcese legt stets eine ungewöhnliche Sorgfalt an den Tag. Auch deshalb sind seine Filme so gut.
Gibt es übersetzte Filme, die besser sind als das Original?
Gewiss sogar. Aber da ich nie fernsehe, also kaum Vergleichsmöglichkeiten habe, fällt mir grad keiner ein. Warum wollen Sie bloß so viel über Dinge reden, die ich gar nicht mehr mache?
Weil Sie fürs Publikum nun mal de Niros Stimme sind, kein Schauspieler.
Aber Vorleser.
Und gut gebuchter Dokumentarsprecher. Droht Ihnen seit dem Rückzug Guido Knopps vom ZDF die Altersarmut?
Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Zumal ich auch weiter im Off tätig bin, gerade vorige Woche für zwei Naturfilme des NDR über den Kongo. So etwas ist neben Hörbüchern meine liebste Aufgabe.
Obwohl Ihre Filmfrau in Zwei Sommer mal zu Ihrer Filmgeliebten Hannelore Elsner sagt, Ihre Figur rede dauernd wie im Hollywoodfilm.
Ach, das war so eine kleine Sottise. Die konnte sich das Drehbuch nicht verkneifen. Und es passt ja auch gut zur Rolle.
Waren Sie mit der eigentlich zufrieden?
Das weiß ich gar nicht. Weil ich nämlich neben der Kunst immer auch das Künstliche sehe, mag ich meine Filme hinterher ebenso wenig schauen, wie ich meine Lesungen hören kann.
Aber braucht nicht gerade die Literatur-Lesung ein bisschen Pathos?
Absolut, dennoch würde es mich stören. Zehn Jahre später geht das, aber dieser Film ist viel zu frisch. Obwohl: Ein Stück davon hab ich gesehen und sage mal: ist okay.
Hatten Sie denn anfangs keine Angst, als auf dem Drehbuch Liebe am Fjord stand?
Ich kannte das gar nicht. Aber als mich der Regisseur instruiert hat, konnte ich damit angstfrei umgehen.
Wovor haben Sie sonst Angst – schwere Rachitis?
(lacht) Nein, selbst, wenn sie meine Sprecherkarriere beenden würde; das wäre dann eben so. Angst habe ich höchstens vor Stillstand. Sich nicht zu bewegen heißt Rückschritt.
Posted: October 22, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 2 dienstagsmarthe |
Ständig mit Kriminellen zu tun zu haben, scheint auch auf die Ermittler abzufärben. Warum sonst wohl landet jeder davon mindestens einmal wegen Mordverdachts im Knast?
Jetzt also auch Boerne. In gefühlt 2764. Tatorten hat der Gerichtsmediziner bereits Kapitalverbrecher im Raum Münster stellen geholfen. Immer stand er unzweifelhaft auf der Seite des Guten, als schnöseliger Kontrast zum aufrechten Kommissar Thiel zwar mit Sympathiedefizit versehen, aber stets gesetzestreu. Am Sonntag aber hat es auch ihn erwischt: Mordverdacht. Folgenlos, versteht sich, zumindest juristisch, und doch reiht sich Jan-Josef Liefers somit in die unendliche Reihe jener Serienschauspieler, deren Serienermittler selbst zu vermeintlichen Tätern werden. Komisch.
Denn tatsächlich sind inhaftierte Polizisten und ähnliche Rechtshelfer in etwa so verbreitet wie bekennende Schwule im Profifußball. Von den Abertausend Anzeigen gegen Beamte im Einsatz kommt es ja nur bei einer Handvoll pro Jahr zur Eröffnung eines Verfahrens, von Untersuchungshaft ganz zu schweigen. Das legt den Verdacht nahe, der deutsche Krimi gaukle dem Publikum eine staatstragende Scheinwirklichkeit unvoreingenommener Strafverfolgung auch der eigenen Leute vor. Dabei ist es sogar noch schlimmer: Weil letztlich jeder TV-Bulle im Happyend entlastet wird, zeigt sich die Judikative als fähig zur Fehlerkorrektur, ohne die weiße Weste der Exekutive zu beflecken. So funktioniert mediale Systemstärkung; auch wenn wir dem Elitenzögling Boerne die Freiheit natürlich von Herzen gönnen.
Posted: October 21, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
14. – 20. Oktober
Tiere und Kinder, so lautet ein Lehrsatz der Publikumsakquise, gehen eigentlich immer. Mittlerweile aber muss man ihn wohl etwas erweitern: Kinder in Not und Untiere gehen nämlich noch viel, viel besser. Was erklärt, warum das ZDF vorige Woche die Eltern der kleinen (so sagt man zur televisionären Empathiesteigerung) Maddie (so heißt ein ewig vermisstes Mädchen) zu Aktenzeichen XY (so heißt die zugehörige Empörungszentrifuge) einlud. Ergebnis waren – nein, natürlich keinerlei zielführende Hinweise – aber satte 7,26 Millionen Zuschauer einer Sendung, deren einziger Daseinszweck seit jeher die Verbreitung von Furcht zu Quotenzwecken ist.
Bei Johannes B. Kerner ist es dagegen eher Belanglosigkeit.
Er war mal ein ganz guter Sportreporter, wurde zum etwas besseren Talkhost, er funktionierte jedoch am besten als Showmaster. In dieser Funktion kehrte er Donnerstag nach vier verlorenen Jahren bei einem Kanal, dessen Name uns grad entfallen ist, ins Zweite zurück und zeigte in einer Abendsause, deren Titel wir ebenfalls kurzfristig vergessen haben, warum JBK in einem Alter, wo all die Rosenthals und Kulenkampffs vor ihm erst richtig begonnen hatten, wie bedeutungslos man mit 48 sein kann. Denn banaler, billiger, berechenbarer als das, was er abermals im ZDF wegmoderiert, kann Fernsehen kaum sein.
Wobei – das Fachblatt für spießbürgerliche Brut-und-Boden-Pflege namens LandLust beweist ja Monat für Monat, wie man exakt damit Rekordergebnis an Rekordergebnis reiht. Dass das vorige Quartal mit gut einer Million verkaufter Exemplare erfolgreicher war als jedes erfolgreichste Quartal zuvor, wäre indes nicht halb so grotesk, wenn ein famoses Blatt wie das Interview-Magazin Galore nicht parallel die Neuerscheinung als App bekannt gegeben hätte, was zwar nach langer Zwangspause eine schöne Nachricht ist, aber auch belegt, dass für echten Journalismus selbst auf Hochglanz im Backrezeptfegefeuer sinnloser Stadtfluchtheftchen kein Platz bleibt.
Und dann sucht auch noch Ingo Zamperoni, einzige Lockerungsübung der Tagesthemen-Versteifung seit Thomas Roths Amtsantritt, als WDR-Korrespondent das Weite in Washington. Keine allzu schöne Nachricht für die Nachrichten eines Mediums, das mit Wolfgang Joops Wechsel in die Jury von Heidi Klums Magersüchtigencasting 2014 zur Breaking-News wurde. Noch vor den Trägern des Comedy-Preises an Samstag, die aber eigentlich auch nur RTL selbst interessieren…
Die Frischwoche
21. – 27. Oktober
… wo man ab heute übrigens wieder für monogame Milchkuhzüchter aus Malzow oder magenkranke Melkschemelschnitzer mit Mutterkomplex die passende Bäuerin sucht. Das ist in seiner Debilität weiterhin nicht zu überbieten, suggeriert aber wenigstens keine einzige Sendesekunde lang, etwas anderes als Unterhaltung für Unterhaltungsresistente zu machen. Davon könnte sich das ZDF also parallel ein Scheibchen vom brunftigen Blutwurstbauern aus Bergisch-Gladbach abschneiden, wenn Veronica Ferres als Lena Fauch erneut glaubt, weil sie in einer Rolle mal keine Kinder aus den Fängen von Entführern/Scheidungsvätern/Bombenkesseln holt, hätte sie ihr Portfolio erweitert.
Ein Grund mehr also auf Arte umzuschalten, wo Nicolas Roegs Psychodrama Wenn die Gondeln Trauer tragen trotz des Alters von 40 Jahren in jeder einzelnen Sendesekunde moderner wirkt als sämtliche 2568 Minuten mit der Ferres auf allen Kanälen zusammen. Ähnliches gilt natürlich auch fürs Staffelfinale von Weissensee, Dienstag im Ersten, das 2014 nach der Wende weitergeht, ab nächster Woche aber erstmal durch Familie Dr. Kleist ersetzt wird. Verglichen damit gerät die 23. (dreiundzwanzigste! (XXIII!!!)) Staffel von Cobra 11 ab Donnerstag glatt zu gehaltvollem Fernsehen. Oder SOKO Leipzig, das tags drauf zwar erst in die 13. Runde geht, dafür aber mit dem ostdeutschen Grüßaugust Achim Menzel als Polizeitechniker verdeutlicht, wie wenig Güte für gute Gagen genügen. Oder jene Sülze, die uns das Erste unterm tiefgründigen Titel Liebe am Fjord am Abend als Melodram vorsetzt, wo Hannelore Elser und Robert de Niros, nein – bloß seine Stimme (Christian Brückner) eine vertrackte Dreiecksbeziehung so staksig verkörpern. Oder. Oder. Oder.
Da zappt man doch erleichtert zurück zu Arte, wo Senta Berger zeitgleich als Eva Prohacek beweist: Alter schützt doch nicht vor Niveau. Der Kulturkanal glänzt aber diese Woche nicht nur mit Krimifiktion à la Unter Verdacht, sondern wie gewohnt durch Sachfilme. Die grandiose Dokumentation Akte Zarah Leander etwa, wo der NS-Star Mittwoch um 22.20 Uhr im Stile japanischer Anime seziert wird. Zeit-Geschichte als Comic, wie sie ZDFkultur schon zwei Stunden früher und den ganzen Abend zelebriert – so was dürften sich auch die Muttersender gern mal trauen. Die aber trauen sich höchstens solide Tatorte wie den aus Bayern am Sonntag zu. Immerhin. Bleibt der Tipp der Woche, diesmal Dienstag um 20.15 Uhr, wo – man muss auch mal jönne könne – RTL Nitro mit Blair Witch Project den vielleicht einzigen Film zeigt, dessen deutsche Übersetzung besser ist als das Original.
Posted: October 18, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik |
Pose oder Statement
Vor gut einem Jahr gab es zwischen SZ und Zeit eine kleine Debatte darüber, wie politisch Indipendent sein darf, kann, muss. Braucht politischer Indierock die große Theorie, um zu wirken? Die Süddeutsche meinte damals ja und warf den neuen Alben von Kreisky, 206 und Ja, Panik stumpfe Anti-Haltung vor. Die Zeit sah das etwas anders, der Standpunkt freitagsmedien heute nochmals dokumentiert (der SZ-Text ist leider nicht mehr online).
Von Jan Freitag
Im Indierock Reputation zu erlangen, ist kompliziert. Rage Against The Machine mögen auch abseits der Musik gegen Staat und Kapital wüten – beim Soli-Konzert im autonomen Zentrum hat sich die Band für ihre männliche Attitüde zu rechtfertigen. Green Days Körper sind von Skate-Unfällen und Nazi-Prügel gezeichnet – das Publikum mosert über MTV-Präsenz. Und Dylan? Ewig unantastbar, legt er Chinas Regime seine Playlist zum Abnicken vor. Pfui, Bob!
Drei Künstler, drei Beispiele, die zeigen: wer das vorträgt, was man grob Protestsongs nennt, hat es beim Fan nicht zwingend leichter als beim Gegner. Auch in der Musik gilt zwar: Je höher der Druck von außen, desto größer der Zusammenhalt im Innern. Doch 20 Jahre nach Francis Fukuyamas These vom Ende aller Ideologie frisst die Revolution nicht nur ihre Kinder, es kommt zum Kannibalismus. Manu Chao, so heißt es selbst auf Seiten potenzieller Mitkämpfer? Folklore! Diskurspop? Elitenbespaßung! Punk? Waren nicht die Sex Pistols gecastet?
Und dann kommen drei deutschsprachige Alternative-Bands daher und tun, als seien sie gegen Konsum, Kapitalismus, militärisch-industrielle Komplexe, all so was. „Zackiger Zorn“ titelte die „Süddeutsche“ anlässlich ihrer Platten und wurde darunter noch unfreundlicher zu Ja, Panik, Kreisky, 206. Die neue Generation dissidenter Gitarrenbands sei so harm- wie haltlos. „Wie kann man mit so plumper pubertärer Wut so leicht durchkommen“, fragt Jens-Christian Rabe. Und man möchte zurückfragen, wie alt der Autor wohl ist – so alt, dass er der haschduseligen Woodstocknostalgie anhängt? Oder so jung, dass ihm jede Positionierung im postmodernen Positionseinerlei grundlegend suspekt ist? Aber Altersfragen sind polemisch…
Wichtiger ist, was der sprachbegabte SZ-Experte von den Gegenständen seiner Kritik eigentlich erwartet? Genauer: wer war eigentlich besser als Rabes Antipoden, deren Alben im Feuilleton grad für ein Gefühl sorgen, da begehre noch wer mit den Methoden des Rock auf? Die Deutschrock-Poesie eines partiell widerständigen Udo Lindenberg etwa? Das kathartische Endzeitgewitter brachialer Doom-Metal-Männerbünde von Sodom bis Slayer? Der subtile Ungehorsam eines Manfred Krug, der seine Protagonisten am 1. Mai am Marx-Engels-Platz nach Liebe statt Sozialismus suchen ließ? Papas Rock-Around-The-Clock-Renitenz, zu der er so merkwürdig schweigt? Oder doch die ganz großen Vollzeitsystemverweigerer von Eisler bis Wader, Biermann bis Reiser, Busch bis Baez?
Jens-Christian Rabe legt die hohen Latten und misst die Nachwuchsrevoltierer am Tocotronic, Kristof Schreuf, Bob Dylan, dem vor allem. Während die ersten beiden dadurch Relevanz erzeugen, dass sie aus dem „Nein“ des Punk ein surreales „Ja“ texten, sei die Generation Dylan, so suggeriert Rabe, bei allem Anti auch mal für etwas ist. Die aktuellen Alben von Kreisky (Trouble), 206 (Republik der Heiserkeit) und Ja, Panik (DMD KIU LIDT) dagegen sind immer bloß eins: dagegen.
Das mag aus kulturwissenschaftlicher Sicht tragfähig sein, im Rahmen der Musikkritik ist der Vergleich so statthaft wie zwischen, sagen wir: Thomas Müntzer und Andreas Baader. Die Protestebenen haben sich ja verschoben. Während der Politfolk einst Teil einer bewegten Zeit war, bewegen sich die Jugend heute lieber an der Wii. Während einst niemand gern darüber sprach, dass die Welt den Bach runter geht, tut es heute jeder – und macht weiter wie bisher. Zeitungen gehen Pleite wo Lifestylemagazine florieren, RTL ist Marktführer, Apple sowieso, und die Ehe ist der Jugend wichtiger als Protest. Ist es da wirklich „wütend wie eine zerrissene Jeans“, wenn drei Teenager den Perspektivenpool Spielkonsole und Spaß am Kapitalismus um plakative Konsumkritik erweitern wie es das Elektroclash-Trio 1000Robota tun? Jens-Christian Rabe findet schon.
Dabei ist in der Marktwirtschaft zwar viel von Umdenken die Rede; finanziert werden soll es mit mehr Binnennachfrage. Kein Wunder, dass Konsumkritik zur Dystopie verkommt. Wie sollen weltweit Windräder für den steigenden Energiebedarf wachsen, wenn die Rendite fehlt? Stinksaure Postpunks von Turbostaat bis Von Spar würden „Fickt euch!“ grölen und daran erinnern, dass Geld nicht satt, sondern hungrig macht. Das aber würde Jens-Christian Rabe nur akzeptieren, wenn sie ab Strophe zwei ein Hegelsches System des Sittlichen entwerfen. Mindestens.
Konsumkritik ist die Atomkritik der Nachkriegszeit ist die Nationalismus-Kritik der Vorkriegszeit ist die Militarismuskritik der Kaiserzeit ist die Feudalkritik der Bismarckzeit. Je desperater abweichende Meinungen seiner Zeit sind, desto weniger können sie sich nun mal mit dezidierter Theorievermittlung aufhalten. Partisanen werden sich mit ihren Besatzern eher selten über die Zeit nach dem Häuserkampf austauschen. Und der faschistischen Kontinuität des Wirtschaftswunders kam man besser nicht mit Marcuse, Bloch, Marx. Die 68er schafften es parolenhaft pampig.
Denn Systemkritik hat den Nachteil, dass Systemkritisierte ihr nicht zuhören. Und da keiner (außer die CSU) behauptet, das Klima sei für radikale Gesellschaftsentwürfe günstig, wird auch keiner (außer die SZ) behaupten, dass radikale Kräfte mit viel Gerede vorankämen. Soll man da die paar Wutbürger des Indierock der Pose verdächtigen, bloß weil sie, wie Rabe fragt, „nicht Silbermond sind“? Die Antwort: Ja! Sie geben schließlich etwas auf. Erfolg etwa. Auch wenn Ja, Panik bisweilen radiotauglich klingen, beugen sie Verkäufen mit kryptischer Metaphorik vor. Wo Franz A. Wenzl, zersägt von Martin Offenhubers psychotischer Gitarre und Gregor Tischbauers trotzigem Bass, mit Wiener Schmäh singt, „Ich will gar nicht zu viel wissen / ich bin zugeschissen genug“, ohne an anderer Stelle von Liebe zu schweigen, biedern sich Kreisky dem Kunden in etwa so charmant an wie feuchte Putzfeudel. Und 206, drei existenzialistische Avantgardepunks aus Halle, mögen gelegentlich ins Pathos verfallen – wo findet er denn statt? Vor der Suprakultur jener Hipsters, die sich von Subkulturen die Accessoires klauen? Vor echten Punks (also nicht Pink mit Pistols-Push-up)? Auf autonomen Demo-Wagen? Nein, er tut es trotz bester Kritiken (auch in der ZEIT) vor zwei Dutzend Zuhörern im Nebenraum eines Hamburger Clubs. Pose will Anerkennung, Pose will Liebe. Wenn beides ausbleibt, wird sie zum Statement.
http://www.zeit.de/kultur/musik/2011-04/diskurs-protest-pop-replik
http://www.kreisky.net/?c=tagebuch