Während der Spitzenfußball auch hierzulande grad aus dem Sommer-Urlaub zurückkehrt (den Bayern München mit freundlicher Hilfe der üblichen Fernsehkanäle allerdings zum Geldverdienen in China genutzt hat), schlägt die Nachricht ein wie eine Bombe: ARD und ZDF werden wohl doch weiter von den Olympischen Spielen berichten. Dabei war der Verlust sämtlicher Übertragungsrechte im Grunde doch eine Chance der Öffentlich-Rechtlichen, sich vom Dirk Bachs menschenverachtendem Doping- und Korruptionssumpf ab- und dem wahren Sport zuzuwenden. Obwohl – wo gibt’s den eigentlich noch jenseits der Bundesjugendspiele?
Praktisch nirgends.
Weshalb man auch gut über die leichteren Aspekte des Fernsehens berichten kann. Dass die ARD seine Telenovelas Rote Rosen und Sturm der Liebe bis 2019 um jeweils 400 weitere Folgen auf dann insgesamt mehr als 100.000 fortsetzt zum Beispiel. Oder dass David Friedrich vor 3,02 Millionen Fans das Herz der Batchelorette Jessica Paszka erobert hat, wie RTL gefühlsduselig mitteilt. Wie immer steht da gewiss die Hochzeit ins Haus. Aber Scherz beiseite. Denn zurzeit fällt es aufgeweckten, empathischen, kritischen Journalisten im wohlig warmen Medienbett Bundesrepublik Deutschland schwer, ganz normal zu arbeiten, während von der Türkei über Polen bis China immer mehr Kollegen exakt dafür kriminalisiert werden. So wie jene 17 Mitarbeiter der regimekritischen Hürriyet, denen die autokratisch gelenkte Demokratie Recep Tayyip Erdoğans seit vorigen Dienstag wegen des Gummivorwurfs terroristischer Betätigung den Prozess macht.
Weil Journalisten so etwas hierzulande trotz AfD und Pegida auch mittelfristig nicht zu befürchten haben, müssen sie also in die Ferne schweifen, um wirklich Drastisches zu erleben. Pro7 schickt Thilo Mischke also wieder Uncovered dorthin, wo es wehtut. Vorigen Montag etwa in die Anbaugebiete jener Drogen, mit denen wir uns dann hier das Leben etwas schöner dröhnen. Ob es um Kick oder Erkenntnisgewinn steht, wenn der Field-Reporter halluzinogene Pilze an sich selbst ausprobiert, bleibt Spekulation. Aber er zeigt uns etwas, das im Kommerzprogramm zusehends selten ist: echtes Interesse mit Einsatz.
Die Frischwoche
31. Juli – 6. August
Heute Abend kann man selbst erleben, ob Mischke beides durchhält. Um 21.10 Uhr reist er an Orte wie Somalia oder Nordkorea, in denen normaler Urlaub eigentlich undenkbar ist. Was die ARD in jedem Fall durchhält, ist das angesprochene Dauersponsoring seines fußballerische größten Zugpferdes, indem sie ab Dienstag zur besten Sendezeit den FC Bayern in irgendwelchen Freundschaftsspielen um irgendwas mit Autos gegen irgendwelche Gegner mit Geld überträgt, was sportlich irrelevant, aber sehr lukrativ für die ist, die längst alles haben.
Zum Thema medialer Elitenförderung würde man sich gern mal ähnlich ansehnliche Dokumentationen wünschen wie jene zwei namens Infokrieg im Netz und Im Netz der Lügen, die das Erste am Montag ab 22.45 Uhr dem aktuellen Großsujet Fake News mit politischer Stoßrichtung widmet, beide im Anschluss von Die Eierlüge um das Horrorsystem der Massentierhaltung und zwei Tag vor Die letzten Männer von Aleppo, Mittwoch um 23 Uhr). Darin geht es um selbsterklärte Weißhelme wie Subhi oder Mahmoud, die der dänisch-syrische Film ein Jahr lang dabei begleitet hat, wie sie in der zerstörten Stadt Verletzte bergen, oft genug aber auch nur Leichen.
Fiktional, das ist die Regel jedes Sommers, gibt es dagegen eher wenig Neues zu empfehlen, weshalb der einzig unbekannte Film schon ziemlich alt ist und im Zusammenhang mit dem Arte-Sommer zur britischen Popkultur steht. Nachdem Dark Glamour am Samstag um 21.55 Uhr die englische Horrorindustrie der Nachkriegsjahrzehnte beleuchtet (Aufstieg und Fall der Hammer Studios), läuft tags drauf um 20.15 Uhr nämlich Augen der Angst, ein Thriller von 1960, in dem Karlheinz Böhm als mörderischer Kameramann auf der Suche nach echter Todesangst den Sisi-Kaiser vergessen machen wollte. Was ihm allerdings so gut gelang, dass er überhaupt keine Rollen mehr erhielt.
Ansonsten bleiben nur noch echte Wiederholungen der Woche. Donnerstagnacht ab 20.15 Uhr zeigt uns Kabel1 vom Ursprung mit Charlton Heston als Raumfahrer auf eigenem Planeten (1968) bis zur vierten Fortsetzung in fünf Jahren mit Die Schlacht um… davor (3.50 Uhr) das ganze alte Spektrum des Planet der Affen. Schwarzweiß empfehlenswert ist am Montag (22.40 Uhr, Arte) Deutschland im Jahre Null. Ganze drei Jahre nach Kriegsende schildern Italien und Frankreich gemeinsam mit dem Exfeind das Schicksal der Halbweise Edmund im Bann eines überlebenden Nazis. Versöhnungskino der allerersten Stunde. Zwei Stunden früher bringt der Kulturkanal Bille Augusts oscarprämiertes Auswandererdrama Pelle, der Eroberer von 1987. Und nur ein Jahr jünger ist da ein nostalgischer Tatort aus der Schimanski-Reihe im WDR (Dienstag, 22.10 Uhr). In Der Tausch geht es um ein verstörend aktuelles Thema: Iran, CIA, BKA und die Welt des internationalen Terrorismus.
Die Schwäbische Alb ist von Höhlen durchlöchert. Weil sie Frühmenschen bereits vor Hunderttausenden von Jahren Schutz und Muße boten, fanden sich in sechs davon die ältesten Kunstwerke der Welt. Jetzt hat sie die UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Für die Gegenwart ändern das vermutlich alles. Und nichts.
Von Jan Freitag
Wahre Größe kann bisweilen ganz schön winzig sein. Während ihre Kollegen drei Meter unter Sarah Rudolf behutsam den Staub des Winters vom Einsatzort fegen, führt die Archäologin Daumen und Zeigefinger zusammen, bis kaum ein Zentimeter Luft dazwischen bleibt. So klitzeklein also sollen sie sein: die spannendsten Artefakte an einem der zurzeit aufregendsten Fundorte menschlicher Artefakte weltweit.
„Hohle Fels“ heißt die außergewöhnliche Karsthöhle; sie liegt auf der Schwäbischen Alb, auf der es von außergewöhnlichen Höhlen nur so wimmelt. Einen ellenlangen Löwenmenschen aus Elfenbein hat man hier gefunden, das älteste bislang bekannte Musikinstrument – eine Flöte aus Gänsegeierknochen – und die „Venus vom Hohle Fels“, ein Fruchtbarkeitssymbol und eine der ältesten Abbildungen des menschlichen Körpers, benannt nach ihrem Fundort. Inmitten der unwirtlichen Würm-Kaltzeit, vor rund 40 000 Jahren, nahm es Homo Sapiens hier mit übermächtigen Gegnern auf: Mammuts, Bären, der angrenzenden Gletscherfront. Allesamt riesig. Allesamt nur mit grobem Werkzeug bezwingbar. Allesamt auch für Sarah Rudolf faszinierend – und hilfreich bei der Suche nach dem kulturellen Ursprung ihrer eigenen Spezies.
Zu Sarah Rudolfs Füßen, am Ende des Eingangstunnels der Hohle-Fels-Höhle, wurde die Venus gefunden. Dort also, wo Rudolfs Team nun bei konstanten acht Grad und drückender Luftfeuchtigkeit den nächsten Sensationsfund zu machen hofft. Die Grabungsleiterin wirkt sichtlich bewegt, wenn sie vom Sommer 2008 erzählt. Kein Wunder. Als Teenager im Praktikum war sie selber dabei, als sich das Figurenpuzzle der Venus im Lehm offenbarte. Und trotzdem haben es der Grabungstechnikerin vom Ur- und Frühgeschichtlichen Institut Tübingen nicht so sehr die spektakulären, aber doch singulären Reste eiszeitlicher Besiedlung der Alb angetan. „Die wirklich wunderbaren Funde sind am Ende viel kleiner“, sagt sie. Doppelt durchlochte Perlen nämlich. Fingernagelkurzes Kunsthandwerk aus der Aurignacien genannten Epoche im europäischen Jungpaläolithikum, einer Zeit also, die hier auf der Alb auf die Zeit zwischen 43 000 und 34 000 Jahre vor Christus datiert. Sicher, sagt die Mittzwanzigerin mit der Erfahrung aus zehn Jahren Forschung vor Ort, optisch sei so ein Kleinod weniger beeindruckend als die weltberühmte Venus. Aber der Elfenbeinschmuck zeuge halt noch ein bisschen mehr von Liebe zum Detail. „Das ist echt einzigartig.“
Allein im Hohle Fels fanden sich seit der ersten kundigen Grabung in der Höhle vor 147 Jahren mindestens 126 dieser unscheinbaren Preziosen einer Epoche, in der lange nur dumpfe Keulenschwinger vermutet wurden. Ohne Sinn für irgendetwas abseits vom reinen Arterhalt. So dachte man, als Archäologen noch mit Spitzhacke statt Pinsel zu Werke gingen. Die Funde von der Alb halfen verstehen: Diese Menschen besaßen ein Gefühl für das Schöne im Leben, trotz ihres alltäglichen Überlebenskampfes.
Seit kurzem gräbt, besser: tastet sich Sarah Rudolfs Team wie jedes Jahr ab Mitte Juni wieder Millimeter für Millimeter durch den Hohle Fels. Direkt über die Köpfe der Forscher hinweg drängelt eine Schulklasse auf dem stählernen Besuchersteg ins Innere der Höhle, die aus Sicht der Besucher gewiss eine der schönsten der ganzen Alb ist – majestätisch, verzweigt und ganz wichtig: für jedermann frei zugänglich. Aus Sicht der Archäologen ist sie vor allem ungeheuer ergiebig. So sehr, dass die Unesco den Hohle Fels gemeinsam mit fünf benachbarten Höhlen gerade zum Weltkulturerbe gekürt hat. Schließlich wurden allein im kleinen Vorraum schubkarrenweise paläolithische Fundstücke entdeckt.
Als die Donau ihren Lauf gegen Ende der letzten Eiszeit südostwärts verlagerte, hinterließ sie der Alb mit Ach, Blau und Lone drei Flüsschen, die heute selbst während der alljährlichen Schneeschmelze nur geruhsam durchs alte Bett des Stroms mäandern. Umso mehr prägen sie eine Landschaft von unvergleichlichem Liebreiz. Dank der sanft gewellten Topografie sind die bewaldeten Täler ideal zum Wandern. Vor 150 Millionen Jahren war hier ein warmes Meer; der Kalkstein, der aus den maritimen Ablagerungen entstand, wurde stellenweise vom Wasser der Donau ausgewaschen – so entstand eine Vielzahl von Höhlen. Geschätzt gibt es auf der Alb an die 2300. Und weil so manche davon den Nomaden der früheren Savanne als Unterkunft dienten, ist die Alb eine der ergiebigsten Quellen frühmenschlichen Kunstsinns überhaupt.
Johannes Wiedmann kann kaum zählen, wie oft er bereits hinein getaucht ist. Seit seinem Magister in Archäologie an der Uni Tübingen durchmisst der 59-Jährige die Höhlen seiner Heimat nach den Spuren der Jüngeren Altsteinzeit. Und ganz gleich ob Hohle Fels, Sirgenstein, Vogelherd [Archäologen und Prospekte etc. lassen das -Höhle hinter Sirgenstein etc. meist weg] oder wie die Weltkulturerbe-Kandidaten auch heißen: Er kennt darin jeden Winkel, jede Besonderheit, jedes Fundstück, das die Unesco-Juroren aus 25 Ländern bis Ende dieser Woche überzeugen soll. Und doch ist der Ausgrabungsveteran immer wieder aufs Neue fasziniert, wenn er die Fundorte besucht.
Nur Vögel und der Föhnwind sind im beschaulichen Lonetal zu hören, als Johannes Wiedmann zur Bocksteinhöhle aufsteigt. Der schmale, steile Weg, der durch einen Mischwald führt, ist schwer zu erkennen, kein Schild weist nach oben – der forschungsgeschichtlich bedeutsame Ort ist ohne Ortskenntnis kaum zu finden. Als einst Neandertaler hier Unterschlupf fanden, sei die Höhle viel besser einsehbar gewesen, sagt der Archäologe. In der baumlosen Steppe wuchs nur Gras. Die Zugänge zu vielen der Höhlen wurden im Laufe der Jahrtausende durch herab rutschendes Geröll verschüttet. Auch der Bockstein war Ende des 19. Jahrhunderts augenscheinlich nur ein Berg wie jeder andere. Und er wäre es ohne ein paar Berufsgruppen auf Abwegen wohl noch lange geblieben. „Wer außer Förstern war denn damals im Wald unterwegs?“, fragt Wiedmann und antwortet selbst: „Lehrer, Pfarrer, Apotheker.“
Denen also ist es zu verdanken, dass die Alb 100 000 Jahre nach der Besiedlung nun zum paläolithischen Erlebnispark werden könnte. Noch besuchen ihn abgesehen von Archäologie-Fans vor allem Schüler und Senioren. Mit der Auszeichnung durch die Unesco allerdings, so hofft man hier, werden vielleicht auch andere Besuchergruppen angezogen. „Wir wollen kein Remmidemmi“, beteuert Stefanie Kölbl vom Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, wo neben Myriaden einzigartiger Artefakte der Region auch die Venus vom Hohle Fels ausgestellt ist. „Aber die Höhlen müssen schon noch besser zugänglich werden.“ Ein ganz gewöhnlicher Frühsommertag zeigt, wie viel da noch zu tun ist.
Am „Goissaklöschterle“ zum Beispiel, wie Johannes Wiedmann eine der Höhlen im schönsten Heimatidiom nennt, genießt trotz strahlender Sonne kein Besucher weit und breit die Aussicht. Als sich vor Urzeiten irgendwer die Mühe machte, dem harten Stoßzahn des Mammuts eine Flöte von betörendem Klang abzutrotzen, statt dafür wie damals üblich Vogelknochen zu benutzen, muss der Blick des Künstlers durchs gleiche Felsenloch ins Achtal gegangen sein wie heute. Der Anstieg dorthin ist indes auch 40 000 Jahre später beschwerlich. Wenn das Geißenklösterle Weltkulturerbe wird, soll der steile Weg hinauf zwar komfortabler werden. Doch dass Barrierefreiheit im Jahr 2017 nicht automatisch freie Zugänglichkeit mit sich bringt, kann man ein Tal weiter am Vogelherd begutachten. Auf Landstraßenhöhe gelegen, ist der archäologisch reichhaltige Höhlenkomplex im benachbarten Lonetal rein topografisch gut erreichbar – allerdings nur durchs Besucherzentrum des neuen Archäo-Parks. Gegen Eintritt, versteht sich. „Museumspädagogisch ist das natürlich vorbildlich gemacht“, räumt Johannes Wiedmann ein. Aber man hört seinem Tonfall schon an, dass dem Forscher in ihm der Zaun um die Fundstelle herum ein Dorn im Auge ist.
Wo weiter geforscht wird, das weiß auch Wiedmann, seien Gitter unentbehrlich. „Als im Stadel noch keins war, sind Leute mit Tüten voller Elfenbein rausgegangen“. Was archäologisch ausgeschlachtet ist, solle dagegen unversperrt bleiben wie eh und je. „Das verlangt ja auch die Unesco.“ Doch ganz gleich ob Geopark oder Szeneviertel, historische Altstadt oder Schwäbische Alb: Eine Sehenswürdigkeit für Allgemeinheit wie Anwohner gleichermaßen nutzbar – also am Ende auch profitabel – zu machen, ist stets eine Gratwanderung. Im Hohle Fels kann man sie förmlich mit den eigenen Füßen ertasten: Direkt über Sarah Rudolfs Grabungsteam führt eine Metallbrücke von der aktuellen Grabungsstelle zur archäologisch uninteressanten Haupthalle.
Winters zum Schutz der Fledermäuse gesperrt, tobt hier sommers das Leben neuzeitlicher Freizeitgestaltung. Orchester genießen die Akustik, Gäste die Atmosphäre. Es herrscht zwar noch kein Remmidemmi, aber wenn die Unesco den Zuschlag gibt, entsteht auf dem Parkplatz wohl ein hochmodernes Kulturerbe-Zentrum. Als eine Schulklasse von dort bergeinwärts lärmt, lächelt Sarah Rudolf daher, nennen wir es mal: professionell. „Es ist natürlich schon manchmal nervig, wenn dauernd Leute über unsere Köpfe laufen“, räumt sie ein. Aber Archäologie sei nun mal für alle, „nicht nur für uns.“
Also wird weiter unter Beobachtung gegraben, diesmal vom Aurignacien zurück zum Mittelpaläolithikum, stets in der Hoffnung, auf Kunstgegenstände zu stoßen, die noch älter sind als die bekannten. Und wenn es klappt? Freut sich Sarah Rudolf wie immer über beides: die Funde der Forscher und das Interesse der Menschen. Dann blickt sie wieder auf ihren wasserdichten Computer und vermisst das Sediment, während unter ihr fleißig Sandsäcke abgefegt werden. Es soll ja, die Grabungsleiterin lächelt, „schon auch gut aussehen hier“.
INFO Schwäbische Alb
Anreise: Mit dem Zug ab München oder Hamburg über Ulm nach Blaubeuren ab 35 Euro.
Info Geopark Schwäbische Alb: Bis auf den Vogelherd sind die sechs Höhlen im Ach- und Lonetal ganzjährig zugänglich. Zum Schutz der Federmäuse bleibt nur der Hohle Fels von November bis April geschlossen. Steinzeitliche Originalfunde lagern im Museum Ulm (www.ulm.de) und Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren (www.urmu.de). Letzteres bietet auch diverse archäologische Workshops und geführte Höhlentouren an. Von Weitere Infos unter www.kultursprung.de
Es ist bekanntlich ein unterhaltsames Spielchen, den Klarnamen seltsam bezeichneter Menschen im Musikbetrieb nachzuspüren. Elvis Hitler – ja, den gab’s im Psychobilly der Achtzigerjahre wirklich mal – zum Beispiel ist erkennbar ein Fake, Elvis Costello allerdings auch, von Marilyn Manson, Alice Cooper, Roy Black ganz zu schweigen. Aber Katie Von Schleicher? Klingt für eine Amerikanerin eigentlich etwas artifiziell, um wahr zu sein. Steht jedoch offenbar im Pass – und somit für etwas anderes, das die Songwriterin aus New York kennzeichnet. Sehr eigenwilligen, manchmal fast verschrobenen, überwiegend bemerkenswerten Alternative-Pop.
Fehlt nur noch ein Attribut: dunkel. Das wurde der Mittzwanzigerin mit Wohnsitz Brooklyn nach ihrer EP Bleakspoitation vor gut einem Jahr angehaftet, stimmt aber nicht so ganz. Atmosphärisch mögen viele der elf Tracks zwar gelegentlich an Tori Amos erinnern, stilistisch hingegen (und ein bisschen auch optisch) steht Katie Von Schleicher der hinreißenden Leslie Feist weit näher. Ihre Gesang scheint aus dem selben Resonanzraum zu kommen – leicht zerbrechlich, aber zäh und seltsam kraftvoll, begleitet von einer zurückhalten, nie nachrangigen Melange aus verwitterten Synths, plötternden Keyboards und einer wirklich lässigen Gitarre im Wind. Solche Debüts machen die Namen dahinter ziemlich egal.
Katie Von Schleicher – Shitty Hits (Full Time Hobby)
Japanese Breakfast
Musik ist bekanntlich ein probates Mittel der Trauerverarbeitung. Beim Hören wie beim Machen befreit sie das Herz schließlich gut vom Schmerz oder macht ihn zumindest erträglich. Michelle Zauner, zuvor Sängerin der Emorock-Band Big Little League, hat daher im vorigen Jahr versucht, den Krebstod ihrer Mutter mit einem Solo-Album zu bewältigen – und war damit offenbar erfolgreich. Klang Psychopomp zuvor zwar trotzig, aber unverkennbar bekümmert, scheint der Nachfolger Soft Sound From Another Planet die Phase der Aufarbeitung auf den Weg kämpferischer Selbstermächtigung verlassen zu haben.
Vom Tonfall her wie Andy Warhols Muse Nico, nur mit weniger Kühle im Ausdruck, ringt Michelle Zauner spürbar befreit ums Gleichgewicht ihrer wunden Seele. In Stücken wie dem kratzbürstigen Opener Diving Woman etwa steckt dabei viel Sonic Youth, in poppigeren wie This House reichlich Gefühlstheater. Und zwischendurch hat sie das Gewesene gar so kompensiert, dass Machinist mit scheußlich verzerrtem Disco-Quark bestrichen wird. Mut zum Mainstream im Seitenarm des Alternative – wer sich sowas traut, kommt wieder ganz gut mit sich selbst zurecht.
Japanese Breakfast – Soft Sound From Another Planet (Dead Oceans)
Etwas Walther White, etwas Tony Soprano: In der fabelhaften Netflix-Serie Ozark (Foto: Netflix) flieht ein Geldwäscher ab heute aus Chicago nach Missouri und zeigt dort, wie fies die Provinz sein kann. Und wie gut mutiges Fernsehen.
Von Jan Freitag
Das horizontal erzählte Fernsehen auf Kinoniveau spielt oft an den Rändern zweier Pole, die sich gern ineinander verkeilen: hier das biedere Bürgertum beim Abstecher in die kriminelle Subkultur, da Gesetzlose auf der Suche nach Behaglichkeit, ersteres verkörpert durch Breaking Bad, letzteres durch Tony Soprano. Wobei: das Gute im Bösen und umgekehrt ist mittlerweile ein so verbreiteter Handlungsstrang, dass er langsam schon wieder langweilig wird.
Da kommt Ozark gerade recht.
Was geografisch ein Plateau im Herzen Amerikas ist, betitelt fiktional eine Serie, die ab sofort auf Netflix den Drang zur gegenseitigen Durchdringung sozialer Randlagen unterläuft. Ihr Hauptdarsteller ist ja weder ein biederer Chemielehrer noch ein skrupelloser Mafioso auf Abwegen, sondern ein Finanzjongleur, der von seinem Drogenboss aus dem hyperkapitalistischen Chicago in die aufgestaute Seenlandschaft des Staates Missouri vertrieben wird.
Da bricht niemand aus, es bricht auch keiner ein. Dieser Marty Byrde zieht seine Frau nebst Kindern aus Geldgier in den Abgrund. Zehn Jahre hat er nicht nur mexikanisches Blutgeld gewaschen, sondern auch noch geduldet, dass sein Partner genug abzweigt, um in ein repräsentableres Büro umziehen zu können. Kurz zuvor jedoch kommt ihm sein Gangsterboss auf die Schliche, richtet Martys Geschäftspartner hin und gibt dem einzig Überlebenden eine letzte Chance: In den Ozark-Mountains soll er ein Vielfaches der bisherigen Geldmenge waschen.
Hier beginnt in Folge 2 die klassische Fish-out-of-water-Geschichte: Großstädter landet bei Provinzgewächsen, im Amerikanischen Hillibillies genannt. Was folgt, könnte also der branchenübliche Gesinnungscrash gegensätzlicher Charaktere sein, wie man es auf gleichem Kanal bereits bei der ebenso brutalen, aber oft brüllend komischen Flucht eines amerikanischen Mafia-Killers ins norwegische Lilyhammer gesehen hat. Hier jedoch gibt es nach dem Buch von Bill Dubuque (The Judge) zunächst zehn Folgen lang wenig zu lachen. Und verschiedene Mentalitäten prallen hier eigentlich auch nicht aufeinander. Denn die Landeier vor Ort, so zeigt sich rasch, haben es mindestens ebenso faustdick hinter den Ohren wie der zugezogene Bandenverbrecher.
So entspinnt sich unter der Regie von Hauptdarsteller Jason Bateman, der für Netflix bereits in der Sitcom Arrested Development dabei war, eine durch und durch spannende Story, die vor allem handwerklich gut gemacht ist und trotz einiger Standards derartiger Stoffe nie sonderlich klischeehaft gerät. Ständig ist man beim Zusehen sehnsüchtig auf der Suche nach Sympathieträgern und wird ebenso oft enttäuscht. Familie Byrde zum Beispiel mag anfangs ein recht normales Mittelstandsleben führen; beim der Finanzplanung für zwei arglose Kunden aber schaut Vater Marty ein Video, auf dem ihn seine Frau Charlotte (Laura Linney) mit ihrem Anwalt betrügt. Im Anschluss geht er auf den Straßenstrich. Die vermeintlich gottesfürchtigen Provinzbewohner im amerikanischen Bibelgürtel hingegen erweisen sich als mindestens genauso gottlos wie das organisierte Verbrechen aus der Großstadt. Kaum einer ist unschuldig, jeder verdächtig. Selten traf „Grüne Hölle“ ein landschaftliches Idyll demnach besser als in Ozark.
Und das weiß Jason Bateman nicht nur durch sein undurchschaubares Spiel in Szene zu setzen; als Regisseur und Produzent tut er es auch durch fehlendes Kunstlicht, das der Kulisse eine Aura permanenter Dämmerung verpasst. Zugleich wird fast jede Einstellung in geruhsamer Kamerafahrt durch eine einzelne Geige knapp unterm Schmerzpegel zersägt. Selten zuvor war eine Thriller-Handlung ohne Effekthascherei daher so zum Zerreißen gespannt wie diese. Und selten zuvor hatte eine Serie das Potenzial, sein Publikum schon in der Auftaktfolge, die üblicherweise noch mühsam Charaktere einführen muss, derart zu fesseln. Solch einen Grenzgang kann zurzeit vermutlich nur ein Streamingdienst mit seiner Möglichkeit zum Bingewatching gewährleisten. Wer hier nach der ersten Folge abbricht, ist beim alten Fernsehen vermutlich besser aufgehoben.
Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel ist schon wieder Schorndorf ist schon nicht mehr Themar ist dafür Royal-Besuch in Deutschland und Becker-Pleite im Ausland ist also alles, was die Medien gerade in Wallung versetzt, weil sie sich halt gern in Wallung versetzen lassen. Dieser Tage war das aber interessanterweise auch mal wieder was Fiktionales. Fiktionaler sogar als einem Hamburg vor zwei Wochen für fünf Tage vorkam: Game of Thrones ist zurück, ein Ereignis von wahrhaft globalem Rang. In den USA sahen dem Start der vorletzten Staffel gut 16 Millionen Menschen zu, mehr als ein Drittel davon im Internet. Gut, damit – so berichtet die Süddeutsche Zeitung süffisant – hätte die derzeit bedeutendste Serie des Planeten in den Neunziger allenfalls auf dem Niveau einer durchschnittlichen Folge Akte X gelegen, aber gut: Im Verhältnis zum gewachsenen Angebot ein Monsterwert.
So wie 91 Nominierungen, mit denen Netflix ins diesjährige Rennen um die Fernsehtrophäe Emmy geht. Wahnsinn, einerseits. Andererseits nimmt die zweite Auflage einer Studie der Hochschule Fresenius gemeinsam mit der Marktforschung Yougov dem Streaming-Hype gleich mal wieder etwas Wind aus den Segeln: Gerade junge Deutsche, so heißt es bei „Vielfalt online“, kehren nach dem Ausprobieren von Video-on-Demand-Diensten wie Amazon Prime Video zurück zum linearen Programmangebot klassischer Kanäle. Selbst den medialen Multitaskern von 18 bis 24 ist die Verfügbarkeit von allem auf einmal und zwar immer offenbar zu anstrengend. Klingt viel. Aber doch weniger als jene zwei Drittel dieser Alterskohorte, die aus Prinzip gar kein klassisches TV schauen.
Eine andere Umfrage jedoch sorgt weniger für Erhellung als Bestürzen: Im Auftrag von RTL aktuell hat Forsa die Menschen im Land befragt, ob sie nach dem G20-Gipfel in Hamburg für ein generelles Verbot von Demonstrationen mit Gewaltpotenzial sind. Verwerflicher als die knappe Mehrheit dafür ist allerdings die Tatsache, dass RTL solche demokratiefeindlichen Fragen überhaupt zur Auswahl stellt. Aber gut – man kennt beim Sender in Köln halt sein Stammpublikum und weiß es zu umschmeicheln. So richtig harte News ohne Hintergedanken holt man sich da dann vielleicht doch lieber bei den Öffentlich-Rechtlichen ab.
Die Frischwoche
24. – 30. Juli
Die ARD-Doku Komplizen zum Beispiel beleuchtet Montag um 23.35 Uhr ein Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte, das besonders im Lichte des Diesel-Skandals interessant ist: VW und die brasilianische Militärdiktatur, so lautet der Untertitel. Tags drauf um 20.15 Uhr erklärt Arte in Religion, Macht und Archipele ein anderes Land, in dem es – das zeigt auch die anschließende Doku The Borneo Case über die gezielte Vernichtung des dortigen Regenwalds – mindestens merkwürdig zugeht: Indonesien. Und am Mittwoch (22.45 Uhr, ARD) gibt es mit Meine Brüder und Schwestern in Nordkorea den nächsten Film der Reihe: Bizarres aus dem Reich des Bösen, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt.
Einfach nur unvoreingenommen witzig sind dagegen Denis Moschitto, Tristan Seith und Manuel Rubey, die auf ZDFneo zum zweiten Mal Im Knast sitzen. Das ist wie in der ersten Staffel ab Donnerstag (23 Uhr) von so hinreißender Absurdität, dass die weltweit erfolgreichste Gefängnisserie im Anschluss (Orange is the new Black) fast schon normal daherkommt. Das ZDF zeigt zwischendurch am Dienstag um 23 Uhr einen Film, den man ruhig auch mal zur Primetime wagen könnte: Ex Machina – kammerspielartige Gegenwarts-SciFi über die Risiken und Nebenwirkungen künstlicher Intelligenz. Im Anschluss läuft aber wieder Science Fiction der alten Schule: Lautlos im Weltraum von 1972. Eigentlich eine Wiederholung der Woche. Zuvor aber noch ein Sachfilm-Tipp der grandioseren Art.
Im Rahmen des Summer of Fish’n’Chips zeigt Arte Freitag um 22.45 Uhr Bunch of Kunst, was nicht allein wegen der Umsetzung gelungen ist, sondern mehr noch wegen des Themas: Die Sleaford Mods, eine Spoken-Punkband aus England, die sich jeder Kategorisierung entzieht und dennoch weltweit erfolgreich ist. Im selben Rahmen gibt es am Sonntag an gleicher Stelle Mythen in Tüten: Um 20.15 Uhr Highlander (1986), gefolgt von Dokumentationen über die Herren Robin Hood und König Arthur. Jetzt aber zur Wiederaufführung. In Farbe: Agenten-Poker (Montag, 1.00 Uhr, MDR), ein Thriller aus der frühen 007-Epoche (1966), aber mit mehr politischer Wucht als optischem Reiz. Schwarzweiß kann man mit Rund um Kap Hoorn von 1973 (Sonntag, 20.15 Uhr, NDR) mal eins der uralten Ohnsorg-Stücke ansehen und prüfen, warum einen die eigenen Eltern seinerzeit immer dazu gezwungen haben, solche Bauernschwänke mitzugucken. Das hätte man beim Tatort ja viel lieber gemacht, durfte aber noch nicht. Zum Beispiel Zweierlei Blut (Dienstag, 22.10 Uhr, WDR), mit Götz George als Horst Schimanski im Hooligan-Umfeld der frühen Achtziger, wo sein Nachfolger Dietmar Bär witzigerweise einen Täter spielt.
Max Richard Leßmann ist ein Nostalgiker, dass mag ihm Ende der Neunziger noch nicht bewusst gewesen sein, aber als Gleichaltrige damals, wenn nicht für Rolf und seine Freunde, dann allenfalls für Eurodance empfänglich waren, entwickelte der Vierjährige einen Hang zum Soundtrack von Joseph Vilsmaiers Kinofilm Comedian Harmonists, antiquierte Melodien der Vorkriegszeit, orchestral fröhliches, aber ziemlich verstaubtes Zeugs. Zwei Jahrzehnte später hat sich der Sänger der Husumer Indierockband Vierkanttretlager seiner verschütteten Leidenschaft erinnert und ist auf Zeitreise gegangen. In die eigene Vergangenheit. Und in die die deutschen Popmusik insgesamt. Gute Entscheidung!
Denn Liebe in Zeiten der Follower mag trotz des Titels altmodisch wirken wie Stock und Hut und Käseigel; an der Seite seines alten Freundes Sebastian Madsen verwandelt er diesen Rückschritt in den schönsten Grenzgang zur Moderne von heute. Vollständig analog eingespielt klingt es, als forsche da jemand erfolgreich nach den Wurzeln der eigenen Musikalität. Mit Bläsern, Klavier und Geigen beträufelt, reitet bereits Spuren auf dem Mond zum Einstieg so herrlich unbedarft durch glamourösere Epochen des Pop, als wäre Leßmann dort ebenso zuhause wie in dem der Gegenwart. Und auch danach swingt sein schräger Gesang über die Liebe so schön zwischen Chanson, Big Band und Schlager, dass man ihm und uns nur wünschen kann, er bleibe noch etwas im Gestern. Das morgen ist trübe genug.
Max Richard Leßmann – Liebe in Zeiten der Follower (Caroline)
Art Feynman
Wenn das schwül warme Wetter dieser Tage eine Art natürlichen Soundtrack hätte, wenn sich der Hochsommer also gewissermaßen von allein im Kopf vertonen würde – er klänge vermutlich ungefähr wie Art Feynman. Auf seinem Debütalbum Blast Off Through The Wicker nämlich macht der Klangtüftler aus Kalifornien einen derart verschwitzten LoFi-Pop, als wäre er daheim am Pazifikstrand entstanden, ein paar kiffende Surfer im Abendrot um sich herum, glücklich erschöpft vom Tag im heißen Sand, bereit für eine laue Nacht unterm Sternenzelt. Vornehmlich mit digitalen Mitteln erstellt, mischt Feynman Triphop und Krautrock so flächig ineinander, dass die Seele buchstäblich wie auf Wellen dahin wogt.
Ein Stück wie Feeling Good About Feeling Good zum Beispiel klingt demnach nicht nur im Titel bis zur Selbstbetäubung hin tiefenentspannt sediert; dank des psychedelischen Slappings zu fiebrigen Drums und dem tief runter gepitchten Gesang lullt es beim Zuhören auch musikalisch angenehm ein. An dieser sedierenden Wirkung können selbst die ständigen E-Gitarren-Soli im Carlos-Santana-Stil nichts ändern. Kiffermusik ohne Rauschdrogenzufuhr, ziemlich perfekt für den Juli-Feierabend im Park.
Art Feynman – Blast Off Through The Wicker (Western Vinyl)
Francobollo
Wird einer musikalischen Gattung „Garage“ vorangestellt, hat das zunächst mal mit dem Ort ihres Entstehens zu tun. Grobe Handarbeit, kaum Equipment, eingespielt da, wo Vatis bestes Stück zwischen Gartengerät parkt. Kein Wunder, dass der zugehörige Sound oft nach bekiffter Bohrmaschine klingt. Also ungefähr wie Francobollo. Produziert von Charlie Andrew, der schon bei Bands wie Bloc Party an den Reglern stand, dürfte das Debütalbum Long Live Life zwar in einem exquisit ausgestatteten Studio entstanden sein; der Inhalt jedoch wirkt, als wäre er das Ergebnis eines Komabesäufnisses im Spielzeugladen.
Und das ist uneingeschränkt positiv gemeint. Schon das Auftaktstück der vier Schweden aus London verrührt Surfpunk der Sechziger mit Glamrock der Siebziger und brezelt ihn so innbrünstig mit psychedelischem Bass und Weltraumfiepsen auf, dass daraus ganz famose Garagen-Disco entsteht. Gut, Gitarrenwirrwar wie Kinky Lola oder Radio verliert sich bisweilen im selbstgefälligem Chaos. Stücke wie Good Times jedoch gleichen das funkensprühend aus. Und zeigen, dass dort, wo Libertines und Strokes einst Halt gemacht haben, endlich wieder jemand entfesselt steil geht.
Der diesjährige Summer of zum Thema britische Popkultur wird noch bis Mitte August auf Arte von einem ihrer krassesten Vertreter moderiert: Johnny Rotten (Foto: Martin Ehleben), einst Sänger der Sex Pistols, heute Maskottchen der früh verstorbenen Bewegung. Ein Gespräch über James Last und Britney Spears, Rebellion unter Nonnen und warum er seinen Frieden mit Deutschland gemacht hat.
Von Jan Freitag
Johnny Rotten: (auf Deutsch) Guten Morgen Hamburg.
freitagsmedien: Guten Morgen Miami, wie spricht man Sie am besten an – John, Johnny, Mr. Lydon, Mr. Rotten?
Also auf John reagiere ich manchmal ganz gut.
Bei der Vorstellung des Summer of Fish’n‘Chips hat Arte Sie als Herr Rotten angekündigt.
Mit hartem deutschen R? Großartig.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland?
Historisch betrachtet eher distanziert, aber meine Frau ist Deutsche, also doch recht eng.
Moderiert der vielleicht bekannteste lebende Punkrocker aus England deshalb eine deutsche Fernsehsendung?
Vielleicht. Aber erst in der Kombination „deutsch-französisch“ klingt es richtig gut. Ihr als Host zu dienen, empfinde ich gerade wegen dieser jahrhundertealten Feindschaft bis zum 2. Weltkrieg als angenehm europäisch. Da finde ich die Idee höchst unterhaltsam, ein wenig meines Wissens dabei zu teilen. Außerdem liebe ich visuelle Kunst.
Sie sehen also fern?
Ich höre praktisch nie damit auf! Soll ich Ihnen den die erste Erfahrung mit dem deutschem TV erzählen? Ein Auftritt von James Last und seinem Orchester vor ungefähr 45 Jahren, das mit geschwärzten Gesichtern New Orleans Jazz zu einer Art Umpaah-Techno parodiert hat. Entsetzlich! Ich habe gar nichts gegen ihn, er ist ein hervorragender Musiker, aber wenn es zu einem stilistischen Wettstreit mit der britischen Musik käme, James wäre last (lacht laut)…
Witzig. Sind Sie persönlich interessiert am Arte-Thema britischer Popkultur?
Sind Sie es?
Unbedingt.
Und was denken Sie, was das sein soll?
Musikalisch betrachtet der größtmögliche Einfluss auf alle anderen Popkulturen, größer selbst als der amerikanische.
Da bin ich mir nicht sicher. Pop heißt doch, das von allem etwas in allem steckt. Manchmal mag es da was vermeintlich Neues in einem Land früher geben als im nächsten, aber Popkultur hat weder visuell noch tonal eine Herkunft, allenfalls Orte gezielter Verdichtung. Britische Popkultur ist daher nichts als ein Label zum besseren Verständnis.
Wie fühlt es sich für Sie an, Teil davon zu sein?
Wenn man nie versucht hat, populär zu sein, sehr gut. Public Image Ltd. zum Beispiel…
Das Nachfolgeprojekt von den Sex Pistols, zugleich Firma und Band.
Der Ursprung von Pop ist doch immer die Kunst, allerdings nicht wie anderswo unterteilt in Bild, Wort oder Ton, sondern alles in einem. Wobei es mir dabei immer um Integrität ging; ich habe nie jemandem etwas vorgespielt, wie es der Pop oft tut.
Andererseits geht die Legende, die Sex Pistols seien eigentlich eine gecastete Boygroup gewesen.
Ach, der Neid ist und bleibt doch eines der mächtigsten Gefühle im Universum… Andererseits wäre die Sache mit der Boygroup ja ein wundervolles Kompliment an meinen Gesang, also danke dafür. Und als humorvoller Mensch akzeptiere ich sowieso jede Form der Herabsetzung. Vielleicht hat das was mit meiner Erziehung in einem katholischen Kloster zu tun. Sehr qualvoll, aber es hat mich duldsam gemacht.
Auch religiös?
Wenn man von einer Idee so indoktriniert wird wie ich damals, lehnt man sich entweder radikal dagegen auf oder fließt mit dem Strom. Und bei allem, was ich mir im Leben vorzuwerfen habe, gehört letzteres sicher nicht dazu. Aber die Nonnen haben es mir auch ziemlich leicht gemacht, gegen den Strom zu fließen. Weil Linkshänder wie ich seinerzeit als Gesandte Satans galten, wurde ich vom ersten Tag an misshandelt. Außerdem war ihnen verdächtig, dass ich schon mit vier lesen und schreiben konnte. Deshalb war ich wohl auch so ein schlechter Schüler.
Und schon frühzeitig ein Rebell?
Eher das, was ein Kind für rebellisch hält. Die Beatles zum Beispiel konnte ich anfangs musikalisch nicht leiden, was schon frühzeitig meinen Hang zur Anti-Musik gezeigt hat. Aber ihre Frisuren entsprachen exakt meiner Vorstellung von Aufsässigkeit. Und wo wir gerade davon sprachen: Ohne Deutschland, besonders Hamburg hätte es die Beatles nie gegeben und damit die wichtigste Band der Popkultur. So viel zur Bedeutung Englands.
Was halten Sie denn von den anderen Künstlern, die Sie im Summer of Fish’n‘Chips präsentieren?
Also die Rolling Stones hatten eine Reihe sehr inspirierender Platten, was ihre Karriere absolut rechtfertigt. Das Gleiche gilt für andere Bands, die bei Arte – und das sage ich nicht bloß, weil ich sie präsentiere: mit fantastischen Filmen gewürdigt werden. Depeche Mode zum Beispiel, und zwar schon wegen Personal Jesus. Für Opfer des Katholizismus ein saukomischer Song. Außerdem mag ich die Sleaford Mods mit ihrer rauen, verstörend unerbittlichen Art, die Verhältnisse zu kommentieren.
Sind Sie mit über 60 Jahren denn noch so politisch wie als junger Punk?
Selbst wenn ich versuchen würde, es nicht zu sein, würde mich die Tagespolitik schlicht überrollen. Nehmen Sie den Brexit, den ich anders als mal kolportiert wurde, nie unterstützt habe. Die Menschen wurden da so lange desinformiert, dass sie entweder dafür waren oder nicht abgestimmt haben. Furchtbar. Ich habe vom Leben gelernt, sich immer in politische Entscheidungen einzubringen. Schließlich diktieren sie deine eigene Zukunft.
Haben Sie als bekannter Teil der Popkultur da mehr politischen Einfluss als andere?
Da ich in den meisten Ländern der Welt schon mal Einreiseverbot hatte und vom Parlament als Hochverräter eingestuft wurde, wohl schon. Sehr ehrenvoll, aber auch gefährlich. Damals stand darauf in England ja noch die Todesstrafe. Umso wichtiger war es für mich, den Mächtigen dabei zuzusehen, wie sie sich aus purer Angst lächerlich machen. Das hat meine Empathie für die Entrechteten der Welt nur geschärft. Für sie stehe ich bis heute auf. Und das tun neue Bands wie die Sleaford Mods mit ihren Mitteln auch.
Was halten Sie von dem Label, das man denen gibt.
Ein Label? Die Armen! Welches denn?
Spoken Punk.
Oh Gott.
Wie finden sie Ihr eigenes als Urvater des Punk?
Ich bevorzuge King of Punk, dieser Titel wurde mir quasi verliehen und irgendwie habe ich ihn mir ja auch verdient.
Wodurch?
Integrität. Den Menschen nichts vorzumachen. Freier Wille – das ist Punk! Und sich nie unterkriegen zu lassen. Jeder hat nämlich das Recht auf eine Karriere. Britney Spears zum Beispiel mag nicht die intelligenteste Lebensform des Planeten sein, aber für die einen hat sie einfach tolle Musik gemacht, für andere sah sie heiß aus in ihrem Schulmädchen-Outfit; jeder kann sich da etwas rausziehen. Wer den ungeheuren Aufwand betreibt, Musik oder welche Kunstform auch immer zu machen und sich damit der Öffentlichkeit zu stellen, verdient für diesen Mut Anerkennung. Mehr verlange ich auch nicht für das, was ich mein Leben lang getan habe.
Machen Sie noch immer Musik?
Ja. Ich nenne es Throat-Whistle. Nur die Stimme, sonst nichts. Es ist mein Ehrgeiz, in Regionen zu singen, die für mich bislang unerreichbar waren. Nachdem ich die Geschichte der Musik studiert habe, wurde mir klar, dass sie nichts ist als Imitation der Natur. Das erste, was der Mensch vor Urzeiten hatte, sich künstlerlisch auszudrücken, war seine Stimme. Obwohl – ein Instrument ist mir noch wichtiger: mein Gehirn. Ich versuche bewusst, meine Gefühle durch seine Kraft in Worte zu verwandeln.
Es ist schwer zu sagen, was beim G20-Gipfel in Hamburg nun verstörender war: Die politische Fehleinschätzung des Gewaltpotenzials beider Seiten? Das polizeiliche Null-Toleranz-Debakel? Der linke Mangel an Distanz zum brandschatzenden Mob? Event-Touristen, deren Handys meist besser liefen als ihr Verstand? Oder am Ende doch wir Medien beim gescheiterten Versuch, selbst in der Nachberichterstattung journalistische Distanz zu wahren?
Ebenso wie die unbescholtenen Einsatzkräfte hatte aber auch die Presse sehr zu kämpfen. Erst wurde sie gezielt Opfer von Angriffen in und ohne Uniform. Dann verloren 32 Reporter aus „Sicherheitsgründen“, die womöglich von der türkischen Regierung geäußert wurden, ihre Akkreditierungen. Schließlich ist da noch das Elend mit der Impulsivität des Boulevards. Der Faktenfinder der Tagesschau etwa listete reihenweise Falschmeldungen über vermeintliche Exzesse im Exzess auf, von denen überraschenderweise viele bei Bild erschienen sind. Die anschließende Kopfgeldjagd auf einen „Randalierer“, dessen Böllerwurf einem Einsatzbeamten angeblich fast das Augenlicht gekostet habe, wurde dann allerdings selbst der Polizei zu viel.
So wie sich Justizminister Maas gegen die Unterstellung wehrt, er habe analog zum Rock gegen rechts nun „Rock gegen links“ gefordert, was ihm ein Springer-Reporter nachweislich in den Mund gelegt hat. Weil sich aber auch seriöse Medien wie die „Tagesschau“ selbst keineswegs mit journalistischem Ruhm bekleckert haben, dürfte die Aufarbeitung der Ereignisse von Hamburg auch hier noch eine Weile brauchen. Dass Wolfgang Bosbach bei einer Diskussion darüber bei Sandra Maischberger vor Jutta Ditfurth floh, zählte dann schon zum heiteren Teil des Desasters, der durch die Ankündigung des türkischen Sultans Recep Tayyip Erdoğan, nun doch weiter gegen Böhmermanns Schmähgedicht vorzugehen, rasch ins Slapstickhafte überging.
Die Frischwoche
17. – 23. Juli
Scheinbar unfreiwillig komisch geht es auch in der neuen Woche los. Crashing, die neue Serie vom Komödienrevoluzzer Judd Apatow spielt ab Dienstag bei Sky in der New Yorker Stand-up-Branche, wo der amerikanische Branchenstar sich selbst spielt – allerdings in einer besonders bemitleidenswerten Fassung als Mann in den mittleren Jahren, der von seiner Frau erst betrogen, dann rausgeworfen und schließlich obdachlos wird, weshalb er – „Crashing“ genannt – in den Wohnungen befreundeter Comedians einfällt, die allesamt reale Stars sind wie Sarah Silverman. Und das ist wirklich nicht nur deshalb sehr wahrhaftig.
Am Freitag dann zieht Netflix mit einer nicht linear gesendeten Serie nach, die zudem alles andere als lustig ist. In Ozark flieht ein Finanzjongleur, der jahrelang für ein mexikanisches Drogenkartell Geld gewaschen hat, in die gleichnamige Pampa nach Missouri, die sich als ebenso verrucht zeigt wie jener Flüchtige (gespielt von Regisseur und Produzent Jason Bateman), der dort weiter für die Mafia tätig bleibt. Und das ist ohne Übertreibung fast auf dem Niveau von Breaking Bad. Eine Doku ist noch zu empfehlen: Die Liebenden und der Diktator (Montag, 23.10 Uhr, Arte) über zwei südkoreanische Filmkünstler, die 1978 angeblich nach Nordkorea entführt wurden, um das dortige Kino aufzuwerten. Absolut irre.
Ansonsten klingt die Woche sehr musikalisch aus. Freitag setzt Arte seinen Summer of Fish’n’Chips um 22.10 Uhr mit dem berühmten 101-Konzert von Depeche Mode von 1989 fort, bevor 24 Hour Party People den Mythos der Britpop-Metropole Manchester des anschließenden Jahrzehnts zu einem halbfiktionalen Biopic macht. In der Nacht auf Sonntag dann feiert die ARD um 0.40 Uhr mit der WDR-Doku 40 Jahre Rockpalast-Nacht – I’ve lost my mind in Essen jene Konzertreihe, die vor genau 40 Jahren Fernsehgeschichte schrieb: am 23. Juli 1977 nämlich fand in der Grugahalle die erste der europaweit ausgestrahlten Rockpalast-Nächte mit Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn¿s Thunderbyrd statt. Im Rückblick ist kaum zu glauben, dass die ARD damals gleich nach dem Wort zum Sonntag stundenlang Musik sendete – ohne Konzept, ohne Quotendruck, ohne Volks- davor.
Heute kann allenfalls mal Fußball dafür sorgen, dass die Öffentlich-Rechtlichen von ihrer massengefälligen Programmstruktur abweichen. Immerhin sind es am Dienstag Frauen, die dank der Übertragung ihres EM-Spiels dafür sorgen, dass das ZDF um 20.15 Uhr nur eine Krimi-Wiederholung zeigt; früher liefen selbst Endspiele mit deutscher Beteiligung allenfalls am Nachmittag. Apropos früher: Die Wiederholungen der Woche sind diesmal Nicolas Roegs Horrorlegende ohne Horroreffekte von 1973 Wenn die Gondeln Trauer tragen (Mittwoch, 23.30 Uhr, HR) und die Lange Nacht mit Manfred Krug am Donnerstag im SWR (ab 22.45 Uhr), in der nicht nur sieben frühe Folgen der Trucker-Serie Auf Achse am Stück gezeigt werden, sondern auch der Tatort Schüsse auf der Autobahn mit dem Odd-Couple Stoever/Brockmöller von 1998.
Rrriot, das war Anfang der Neunziger mal die musikalische Ausdrucksform, mit der feministische Frauen ihrer Wut über Menschen im Besonderen und Männer in Allgemeinen Ausdruck verliehen haben, als der Feminismus im Mainstream gerade Pause zu machen schien. Ein halbes Jahrhundert später ist selbst die westliche Gesellschaft von Gleichberechtigung zwar immer noch weit entfernt, aber der richtig flammende Zorn von damals ist schon ein wenig verraucht. Vielleicht muss man Katie Crutchfield in diesem Kontext betrachten.
Mit ihrem Projekt Waxahatchee hat die Gitarristin aus Alabama gerade ihr viertes seit 2010 fertiggestellt, und ihre drei bis vier Mitmusikerinnen machen damit abermals einen Rrriotrock, der viel Aufruhr in sich trägt, dabei aber nie zornig klingt. Im Gegenteil. Jeder der zehn Tracks verströmt die gelassene Selbstsicherheit, das sich frau auch ohne Furor unaufhaltsam auf dem Weg in ein besseres Leben befindet, für das es sich zu kämpfen lohnt. Out In The Storm ist sorgsam zerschredderter Indiepop mit Engelsstimme und Folkelementen, der ganz bei sich ist. Und sehr, sehr unterhaltsam.
Waxahatchee – Out In The Storm (Merge Records)
Olli Banjo
Um sich vom Mainstream abzuheben, gibt es kein effektiveres Mittel als Gesichtstattoos. Wer so rumläuft, ist gewiss ein harter Kerl, knasterfahren und gewaltaffin. Olli Banjo mag Gewalt auch ohne Knasterfahrung nicht fremd sein. Aber Gesichtstattoos? Die muss sich der fränkische Rapper schon aufmalen, um der Aggro-Attitüde seiner neuen Platte Ausdruck zu verleihen. Trotzdem ist Großstadtschungel eher Neukölln als Mannheim. Meist grollt ein dumpfer Bass unter den Lyrics übers Leben am Brennpunkt hindurch, das Olli Banjo gleichermaßen zu lieben und zu hassen scheint. Sein gereizter Tonfall täuscht allerdings ebenso wenig wie das ganze Ghettogehabe darüber hinweg, wie sensibel der 40-Jährige nun sein Umfeld analysiert.
Vulgäre Beschimpfung der Ex wie Arschloch Dumme Sau gibt es ja auch bei Kraftklub. Und wenn er in Wir sind das Volk die AfD attackiert, ist das für den Afrodeutschen Oliver Olusegun Otubanjo womöglich weniger politisch als ein Stück Selbstbehauptung. Dennoch ist sein achtes Album das sachlichste, klügste, bedächtigste. Ohne ganz fette Punchlines, dafür voller Konsumkritik. Olli Banjos Hip-Hop hat sich von der Akklamation seines Zorns auf fast alles zur vielschichtigen Poesie der Straße entwickelt. Ein altersweiser Fortschritt.
Olli Banjo – Großstadtdschungel (Bassukah)
Lucy Rose
Mithilfe der Harfe den Eindruck himmlischer Kräfte zu erzeugen, ist nicht gerade subtil, aber schon ziemlich wirkungsvoll. Und im Fall von Lucy Rose ist es auch irgendwie naheliegend. Existierte nämlich ein dingliches Pendent zu ihrer göttlichen Stimme – es wäre zweifellos das Instrument der Engel, mit dem die Sängerin ihr neues, drittes Album einläutet. Was auf das Intro folgt, ist allerdings mehr als emotionale Effekthascherei zur Verstärkung ihrer ätherischen Aura. Auf Something’s Changing ändert die 28-Jährige aus dem südenglischen Surrey kaum etwas am erfolgreichen Konzept ihrer ersten zwei Alben.
Es ist wie gehabt gefühlvoll fließender Indie Folk, der Lucy Rose Partons Gesang gern mal mit wuchtigem Pop unterfüttert. Selbst Abstecher in Country oder Rock sind ihr dabei nicht zu profan. Dass sie wie in No Good At All sogar richtig funky klingen kann oder in der Albumtitel-Vertiefung Can’t Change It All fast orchestral, liegt der Legendenbildung zufolge allerdings an einem Roadtrip durch Südamerika, der ihr angeblich die Schüchternheit ausgetrieben habe. Veränderung ohne Wandel – bei Lucy Rose klingt das vertraut und neu in einem (der Text ist vorab auf Zeit-Online erschienen).
Lucy Rose – Something’s Changing (Communion Records)
Zwei Drittel seiner 53 Jahre ist Andreas Dorau (Foto: Gabriele Summen) nun bereits im Musikgeschäft. Nach seinem Hit Fred vom Jupiter als Teenager hat der Hamburger Pastorensohn neun Platten, mehrere Kompilationen und diverse Singles herausgebracht. Eines aber ist ihm noch immer nicht gelungen: Ein Album in die Charts zu bringen. Mit Nr. 10 Die Liebe und der Ärger der anderen soll sich das nun endlich ändern. Ein MusikBlog-Gespräch über Ehrgeiz, Hierarchie, Punchlines, Lego-Musik und wo er eine Goldene Schallplatte aufhängen würde.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Andreas, nach neun Alben in bald 40 Jahren willst du endlich mal in die Charts.
Andreas Dorau: Album-Charts, wohlgemerkt. Meine Singles waren ja schon drin. Wenn man den Gesamtverkauf betrachtet, wären meine Platten zuvor wohl auch schon mal eingestiegen, er hat sich aber stets über einen zu großen Zeitraum erstreckt. Deshalb wollen wir den Leuten diesmal klarmachen, dass sie das Album frühzeitig kaufen, damit wir in der ersten Woche zumindest mal Platz 98 oder so schaffen.
Was ist dieses Vorhaben – ernster Plan oder eher ein Spaß?
Schon ersteres. Es wurmt mich einfach, in so langer Zeit kein Album in die Top 100 gekriegt zu haben. Das ist mein Ehrgeiz, so wie andere Leute irgendwann in ihrem Leben mal einen Marathon laufen wollen.
Den hast du schon geschafft?
Um Gottes willen, nein! Ich hasse es, so lang zu laufen. Wobei die Hitparade ja auch längst was wie ein Langstreckenlauf ist. Früher hat sie den Erfolg eines Künstlers gut in Zahlen ausgedrückt; heute promotet jeder zweitklassiger Rapper sein Album ein Jahr massiv im Voraus, um dann auf den Punkt genug zu verkaufen, damit er auf Platz 1 geht.
Dafür brauchte man früher Hunderttausende von Platten, jetzt gibt’s für weit weniger bereits die Goldene Schallplatte.
Und da kann ich mich noch gut an Fred vom Jupiter erinnern. Kurz, nachdem das aus den Charts gerutscht ist, wurde die Zahl dafür gesenkt. Sonst hätte ich jetzt auch eine hängen.
Wo genau?
Vermutlich bei meiner Mutter. Oder auf dem Klo, so als verachtende Geste.
Scooter hat sie dicht an dicht in den Flur zu seinem Studio gehängt. Ein sehr langer Flur…
Kann ich mir gut vorstellen. Und das hat er auch verdient, wie ich finde. Umso mehr will ich wenigstens die Charts mal schaffen. Dafür mache ich sogar ein Doppelalbum, obwohl ich so was eigentlich nicht mag. Doppelalbum zählt halt doppelt für die Charts.
Was hast du inhaltlich geändert, um es endlich zu schaffen?
Nichts. Bei den Stücken aufs Radio zu schielen – so weit geht es dann doch nicht.
Kommerziell erfolgreich zu sein, muss ja nicht gleich Anpassung heißen, sondern kann auch einfach die Bedürfnisse der Fans gezielt bedienen.
Schrecklich! Zumal ich nicht glaube, dass man Bedürfnisse berechnen kann. Es sei denn, man heißt eben Scooter; der macht wirklich Lego-Musik und das sehr gut, wie ich finde. Aber wenn ich das täte, käme ich mir blöd vor und würde mich umso mehr ärgern, wenn nicht mal das funktioniert. Musik mache ich zunächst mal für mich.
Und klingst dabei nach Aus der Bibliotheque wieder sehr viel danciger.
Mag schon sein. Das hat aber auch mit dem Zustandekommen zu tun. Aus der Bibliotheque war für mich ja insofern ungewöhnlich, als es mit Band eingespielt wurde. Das wollte ich nicht noch mal machen. Ich will jetzt nicht mehr irgendwo hin mit meiner Musik, sondern lasse sie sich entwickeln. In den drei Jahren, in denen ich an dieser Platte gebastelt habe, ist es also von allein elektronischer und damit auch danciger geworden. Es ist so ein Hybrid aus Pop und Dance, das aber niemals im Club funktionieren würde; viel zu viel Text.
Wo liegen denn die Vorteile der Arbeit mit Band?
Dass ich in der Sixties-Musik, die ich sehr mag, mehr zum Ausdruck bringen konnte. Aber da ist aus meiner Sicht jetzt alles gesagt. Und vor Gruppendynamik hatte ich ohnehin immer ein bisschen Schiss. Da schauen immer andere dabei zu, wie du arbeitest. Ich lösche gern viel, probiere rum, das möchte ich anderen nicht zumuten. Und ich will mich auf keinen Fall wiederholen.
Hat dein Hang zur Einzelarbeit auch damit zu tun, dass du dich nicht gern unter oder über ordnest?
Das könnte man so sagen. Ich mag keine Hierarchien, sondern demokratische Prozesse, und die sind ungeheuer schwer in Band-Situationen. Da arbeite ich lieber für mich.
Andererseits arbeitest du mit einem Dutzend Produzenten zusammen?
Stimmt. Aber die Ursprungsidee rührt noch aus der Lesereise meines Buches Ärger mit der Unsterblichkeit, dass ich mit Sven Regener gemacht habe, als ich meiner eigenen Person überdrüssig war und lieber über andere erzählen wollte. Eigentlich sollte das Album nämlich „Der Ärger der anderen“ heißen. Bei der Suche wurde ich allerdings mehrfach mit dem Thema Liebe konfrontiert. Das wollte ich in möglichst verschiedenen Klangkosmen durchdeklinieren.
Hört man einem Stück ohne Vorkenntnis an, ob da zum Beispiel Ja, Panik oder Snap mitgewirkt haben?
Nicht unbedingt, weil wir uns bei jedem Stück in der Mitte getroffen haben. Wenn ein Künstler so ein unverwechselbares, stets erkennbares Trademark im Sound hätte, fände ich es auch langweilig. Und würde mich da auch nicht mit deren Sängern messen wollen, die das bestimmt besser machen. Ein heiteres Produzentenraten würde daher nicht funktionieren.
Aber was genau bringen Francoise Cactus, T.Raumschmiere oder Snap! denn dann ein?
Da waren mir drei Faktoren wichtig: Haltung zur Musik, ideologische Wellenlänge und normal großes Ego. Ich hasse Hahnenkämpfe. Und den Sound muss ich natürlich auch mögen.
Hast du von jedem deiner Mitspieler Platten im Schrank?
Eher auf dem Rechner.
Kein Vinyl mehr?
Doch, hab ich noch. Aber neues kaufe ich mir nur, wenn ein Download-Code dabei ist.
Wie viele der Lieder deiner neuen Platte genau handeln denn nun von Liebe?
Warte [kramt einen Stoß zerknitterte Zettel aus der Tasche]. Werden wir mal genau: Von 20 Stücken handeln – eins, zwei, drei, vier von der Liebe. Ich mag eigentlich keine Liebeslieder, aber 80 Prozent aller Songs sind welche, die seit Shakespeare von vier, fünf emotionalen Grundsituationen handeln. Dem ist nichts hinzuzufügen, schon gar nicht von mir. Deshalb befassen sich meine Liebeslieder auch sehr abstrakt mit ihrem Thema. Es geht zum Beispiel nie um zwei Personen.
Dein erster Track heißt Liebe ergibt keinen Sinn. Ist das so?
Abgesehen davon, dass der Text nicht von mir ist, hat er nichts mit Abgesang auf die Liebe zu tun, sondern mit einem jungen Mann, der versucht, dieses Begriffs habhaft zu werden. Ich konstruiere meine Songs gern aus Fragmenten, die ich wahllos zusammentrage.
Stehen da eher Punchlines wie „Ich habe ein Radio-Gesicht, meine Stimme ist aber nicht so gut“ am Anfang oder ein Liedkonzept?
In dem Fall hatte ich einfach seit fünf Jahren das Wort „Radiogesicht“ auf dem Zettel stehen, wusste aber nicht, ob das vielleicht zu klamaukig ist und Applaus aus der falschen Ecke kriegt, so Malle-mäßig. Ich versuche generell eher genrefreie Musik zu machen.
Ist es das, was Gereon Klug meint, wenn er dich im Text zu deiner Platte „musikalischer Wolpertinger“ nennt?
Genau. Auf dem Cover umarme ich daher auch ein Tier, halb Hyäne, halb Schwan. Ich möchte einfach so wenig linear wie möglich sein. Wenn meine Musik fröhlich klingt, ist der Text oft getragen und umgekehrt. Wobei ich mit meiner Stimme eher wenig machen kann. Ihr Tonumfang ist relativ gering und fängt unten schnell an zu schnarren. Ich habe keine feste Tonart.
Ist das womöglich dein Erfolgsgeheimnis – nicht festlegbar zu sein?
Es könnte aber auch mein Manko sein, das einem breiteren Erfolg im Wege steht. Bis jetzt. Hoffe ich.
Auf einer Skala von 1 bis 10 die Chance, dass es mit den Charts klappt diesmal?
Hmm, ich sag mal 6, bisschen besser als 50:50.
Das Gespräch ist vorab auf Musikblog.eu erschienen