Natalia Belitski: Liebe.Jetzt! & Jürgen Vogel

Sonst sieht es echt düster aus

Trotz und wegen ihrer Optik, zählt die russische Berlinerin Natalia Belitski (34) zu den aktuell erfolgreichsten Schauspielerinnen. In Liebe.Jetzt! (Foto: Sarmiento/ZDF) überbrückt sie ab Sonntag um 21.45 Uhr auf Neo (Mediathek ab 1. Mai) die Krise mit einer Homevideo-Serie, die sie zwar an der Seite ihres echten Freundes Jürgen Vogel zeigt, aber fiktionales Fernsehen bleibt. Ein Gespräch über Arbeit, Leben, Privatsphäre und ihre Branche im Zeichen von Corona.

Von Jan Freitag

Frau Belitski, weil es von Liebe.Jetzt! vor diesem Gespräch noch nichts zu sehen gab, ist mir der Inhalt noch ein wenig schleierhaft…

Natalia Belitski: Mir auch, ich habe ebenfalls noch nichts davon gesehen! Soweit ich weiß, spielen sechs Paare in sechs Episoden, wie sie auf engstem Raum mit der Pandemie umgehen – in unserem Fall ist es eins, das erst kurz zusammen ist, schon ein Kind erwartet und nun früher als üblich so mit Beziehungsalltag konfrontiert wird, dass sie eine Paartherapie via Skype machen.

Also pro Folge ein Paar?

Davon gehe ich schon deshalb aus, weil in der Corona-Krise nur Leute eng miteinander umgehen, also drehen dürfen, die auch im selben Haushalt leben.

Heißt das, Jürgen Vogel und Sie spielen dabei auch ein Stück weit sich selbst?

Nein, denn über die Tatsache hinaus, dass wir privat ein Paar sind, ist alles Fiction. Es stand zwar mal im Raum, bei Jürgen und mir zu drehen, am besten mit unserer Tochter. Das haben wir aber von Anfang an klar verneint.

Weil es Ihnen zu intim gewesen wäre?

Absolut. So halte ich es generell mit meinem Privatleben. Wir haben das deshalb in einer angemieteten Wohnung gedreht, ohne Maske, für die man mehr oder weniger selbst gesorgt hat. Im Raum waren nur Kamera- und Tonleute, der Rest hat sich mit Mundschutz und Abstand in der Wohnung verteilt.

Hat es sich da überhaupt angefühlt, als würden normal Sie ihrem Beruf nachgehen?

Doch, doch, ich hatte schon ein Arbeitsgefühlt. Die Rahmenbedingungen waren ja im Großen und Ganzen wie immer. Es gab mehrere Kameraeinstellungen und Takes, Regiebesprechungen, alles fast wie immer.

Hat Ihnen diese Art Routine ein Gefühl gegeben, etwas tun zu dürfen, was praktisch ihrem gesamten Metier zurzeit verboten ist?

Ich weiß das Glück, anders als andere arbeiten zu dürfen, absolut wertzuschätzen, hatte aber umso mehr auch ein eher beklommenes Gefühl. Mir war schließlich weiterhin bewusst, dass praktisch alle Kulturschaffenden im Land und weltweit gerade von ihrem Beruf abgeschnitten sind. Umso erschreckender ist es da, wie die Politik angesichts der drohenden Katastrophe für den gesamten Kulturbetrieb wegschaut. Vom Lockdown sind nicht nur große, subventionierte Theater betroffen, sondern mehr noch freischaffende Künstlerinnen und Künstler, die durch alle Auffangraster rutschen und vorm Ende ihrer Existenz stehen. Das macht mich traurig und wütend.

Gibt es innerhalb der Branche Solidarität, rückt sie durch die Krise enger zusammen?

Das ist schon rein physisch zurzeit schwer möglich. Und es existieren auch keine bestehenden Netzwerke, die man nutzen könnte. Dennoch geben viele von denen, die mehr haben, was davon ab, damit sich andere mit weniger die Miete noch leisten können.

Sie auch?

Über Spenden redet man nicht, aber klar, ich helfe, wo ich kann, und sei es, indem ich wie jetzt meine Stimme erhebe. Aber das kann die staatliche Unterstützung nicht ersetzen. Sonst sieht es echt düster aus.

Können Sie sich dennoch vorstellen, dass die Branche und die Menschen darin etwas Positives aus der Krise mitnehmen?

Für die Branche sehe ich da gerade überhaupt keinen Lichtblick, weil fast niemand arbeitet. Als Gesellschaft und einen Schritt größer gedacht: als Menschheit würde es uns hingegen unbedingt guttun, die Entschleunigung der Zeit in die Zukunft mitzunehmen und den kapitalistischen Göttern nach dem Ende der Krise nicht genauso bedingungslos wie vorher nachzuhecheln. Wenn man sieht, wie schnell sich alleine die Umwelt nach zwei Monaten Runterfahren erholt, sehe ich durchaus einen Hoffnungsschimmer, dass die Menschheit ein wenig zusammenrückt.

Reicht der Hoffnungsschimmer für handfesten Optimismus?

Leider nein. Wobei ich überhaupt keine Pessimistin bin, ehr so eine optimistische Realistin.

Gilt das auch für Sie persönlich und Ihren Weg durch die Krise?

(überlegt lange) Da ich grad kein Ensemblemitglied am Theater bin, also zwischen zwei Filmprojekten ohnehin längere Pausen der Entschleunigung kenne, ändert sich für mich beruflich weit weniger als für andere. Trotzdem nutze ich die neue Zeit natürlich für mich und meine Familie oder auch mal ein paar Renovierungen im Haus. Darin unterscheiden wir uns dann doch gar nicht so sehr von den Paaren in Liebe.Jetzt!

Was könnte denn der Mehrwehrt dieser Serie fürs Publikum sein – die Selbstvergewisserung, dass es anderen genauso geht oder womöglich eher schlimmer?

Also letzteres definitiv nicht. Im besten Fall ist es eine Identifikationsfläche mit eher heiterem Blick darauf, welche Konflikte bei anderen möglich sind. Obwohl es mit viel Witz geschrieben und gespielt ist, hat es aber dennoch viel Tiefe – auch wenn es weit von dem entfernt ist, was sich in vielen realen Wohnungen gerade abspielt.

Sie sprechen von häuslicher Gewalt.

Genau. Ich bin Mitglied im Kinderschutzbund, und der weist gerade nachdrücklich darauf hin, welche Verhältnisse vielfach herrschen, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Verglichen damit ist die Serie ist da einfach Unterhaltung.

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Öffnungsdiskussionsorgien & Biohackers

Die Gebrauchtwoche

20. – 26. April

In ihrer 14-jährigen Amtszeit war Angela Merkel selten eine Frau großer Worte. Die Medienrepublik lechzte zwar nach gesprochenen Headlines. Stattdessen bekam sie ihr „Wir schaffen das!“, was 2015 nur deshalb im Gedächtnis haften bliebt, weil es die Neonazis von Pegida bis AfD aufbläht hatten. Jetzt aber sorgte doch mal ein Satz der ewigen Kanzlerin auch links der völkischen Ecke für Wirbel: Öffnungsdiskussionsorgien.

Vor acht Tagen im Koalitionsausschuss geäußert, ist es der umstrittenste Kampfbegriff dieser Krisentage. Betrifft er doch das Wesen demokratischer Kompromissbildung: den Streit. Ihn mit einer solch unglücklichen Formulierung zu diskreditieren, unterhöhlt die Demokratie womöglich mehr als jedes Ausgehverbot. Merkel hier Kalkül vorzuwerfen, springt aber trotzdem auf den Zug populistischer Medien, die sich nichts sehnlicher wünschen als a) kompromisslose Führungskraft, solange sie b) nicht rational, sondern national handelt.

Diesbezüglich kann man der Bild bekanntlich viel vorwerfen: dass sie bis zur Selbstverleugnung rückgratlos ist und für ein bisschen mehr Auflage die Mütter der Chefredaktion an den IS verkaufen würde, dass sie ihr Publikum ähnlich verachtet wie ihre Gegner, dass sie im Grunde nicht mal Journalismus betreibt. Eins aber darf man der Papier und Pixel gewordenen Hölle moralischer Verwahrlosung nie unterstellen: dass sie sich nicht geldwert in Szene zu setzen versteht und dafür stets willfährige Komplizen gewinnt.

Nur so ist zu erklären, dass Armin Laschet und Markus Söder vorigen Dienstag mit den Chefs ihrer rentabelsten Heimclubs Karl-Heinz Rummenigge und Hans-Joachim Watzke die Fortsetzung der Bundesliga exklusiv bei Bild.TV verbreitet haben. Andererseits: wenn der Fußballkapitalismus sein hässlichstes Gesicht zeigt, ist es auch einfach angemessen, dies unterm Logo des menschenverachtenden Mediums werbewirksam ins Bild zu rücken.

Die Frischwoche

27. April – 3. Mai

Im Gegensatz zur deutschen Thriller-Serie Biohackers, die Netflix wegen pandemischer Anspielungen vom Donnerstag genommen hat, könnten im Mai also tatsächlich Geisterspiele bei Sky, DAZN und Telekom zu sehen sein. Dinge, die die Welt im Ausnahmezustand so wenig braucht wie einen Fernsehsamstag, an dem die ARD (Frag doch mal die Maus) und das ZDF (Andrea Berg), dazu RTL (Denn sie wissen nicht, was passiert) und Pro7 (Schlag den Star) simulieren, die Welt sei weiter im Normalzustand.

Andererseits ist es legitim, in Krisen nicht nur über Krisen zu reden, wie es ZDFinfo heute um 20.15 Uhr etwa mit den Sieben größten Verschwörungstheorien der Geschichte tut, sondern ein bisschen davon abzulenken. Es muss ja nicht gleich durchschaubar sein wie Christina Athenstädt anstelle der verstorbenen Lisa Martinek als blinde Anwältin Die Heiland, ab Dienstag im Ersten. Besser ist tags drauf an selber Stelle Hannelore Elsners letzter Film Lang lebe die Königin, wo sie sich in Gestalt einer verblassenden Diva ein wenig selber spielt.

Weil seine Hauptdarstellerin während der Dreharbeiten starb, hatte Regisseur Richard Huber die Idee, fehlende Szenen mit Kolleginnen von Iris Berben über Judy Winter bis Eva Mattes zu besetzen, was wider Erwarten weder manieriert noch peinlich ist. Diese Gefahr hat auch Deutscher (Dienstag/Mittwoch, 20.15 Uhr, Neo) knapp umschifft. Der vierteilige Nachbarschaftsstreit nach dem Wahlsieg einer rechtsextremen Partei ist zwar plakativ, aber ohne Pathos eindringlich. Und wer weiß – vielleicht gibt’s 2095 eine ZDF-Doku wie Wir im Krieg (Dienstag, 20.15 Uhr) mit Homevideos faschistischer Volksgenossen vorm Untergang.

Doch damit zurück zur Ablenkung vom Irrsinn überall, etwa mit Familie Willoughby, einer animierten Netflix-Komödie um vier Kinder, die so vernachlässigt werden, dass sie ihren Eltern eine Reise ohne Wiederkehr organisieren. Oder der britischen Medical Temple um ein Untergrundkrankenhaus für Ausgestoßene, ab Donnerstag auf Sky. Dann wäre da noch die (kauft nicht bei!) Amazon-Serie Upload vom Office-Erfinder Greg Daniels, in der man sich ab Freitag postmortal digitalisieren lässt. Und die Info-Doku White Boy Rich über den FBI-Dealer Richard Wershe ist ab Samstag real, aber vor allem ähnlich unterhaltsam wie die Wiederholungen der Woche.

Zum Beispiel Fred Zinnemanns schwarzweißer Kriegsfilmklassiker Verdammt in alle Ewigkeit über die letzten Tage vor Pearl Harbour von 1953 (Sonntag, 20.15 Uhr, Arte) oder kunterbunt: Unternehmen Petticoat (Montag, 20.15 Uhr, Arte), Blake Edwards‘ Antikriegsgroteske mit freundlich misogynem Unterton, der 1959 state of the art war, dank Cary Grant als Kommandeur eines rosa U-Bootes aber auch sehr lustig.


Hans Unstern: Kratzpop & Diven-Harfe

Für mich sind das Popsongs

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Beim Hans Unstern lässt sich das schwer beantworten. Vom poetischen Kammerspieltechno über die Band bis hin zum Geschlecht des Berliners Avantgardekünstlers bleibt alles im Ungefähren, seit er 2010 mit Kratz dich raus sein Debüt veröffentlicht hat. Jetzt kommt sein viertes Album Diven (staatsakt) heraus, in dem er wieder permanent mit Stil, Identität und einem Instrumentarium selbstgebauter Harfen spielt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Hans Unstern, wie viel hat Musik aus Ihrer Sicht mit westlich geprägter Harmonielehre zu tun und wie wenig mit dem Kosmos an Tonabfolgen, die sich jenseits davon abspielen?

Hans Unstern: Ich finde es schön, alle mich umgebenden Geräusche als Musik wahrzunehmen. Ich sitze im Hinterhof und höre das Konzert der Amsel im Rauschen der Silberpappel zu den Motoren-Sounds von der Straße und den Stimmen der Nachbar*innen am Balkon. Und plötzlich brummt eine Hummel an meiner Nase vorbei. Hier wird komponiert. Ich glaube in diesem Wahrnehmen spielen immer auch verinnerlichte Harmoniefolgen mit, aber auch Neue Musik und Improvisationserfahrungen. Gleichzeitig hat all das in solchen Momenten keine Bedeutung.

Heißt das bezogen auf Diven, die Musik widersetzt sich bewusst der formalistischen Sicht auf Kompositionen mit dem Ziel, das Strukturbedürfnis des Publikums, dessen Suche nach Halt in Abfolgen von Strophe, Chorus, Refrain zu unterwandern?

Für mich sind das Pop Songs, die wie ein Kunstlied oder eine Ballade eine Geschichte erzählen. Das Arrangement auf der Harfe ergibt sich aus diesem Storytelling und seiner Dramaturgie. Und aus der fortlaufenden Wucherung einer Klang-Sprache, bei der ich neben meinen eigenen auch immer an den losen Fäden anderer Musiker*innen weiter stricke, knüpfe, häkle.

Welche zum Beispiel?

Ich höre da ganz deutlich, wo Alice Coltrane, Joanna Newsom, Lana del Rey, Laurie Anderson oder Mykki Blanco mitklingen. Aus diesen Verwachsungen entsteht dann aber immer etwas, das für sich steht, mit einem eigenen Bogen. Aber ich versuche nichts zu unterwandern. Zuerst kommt bei mir immer ein Text, der dann nach einer Musik fragt. Und die Komposition und die Klänge sind die Antwort darauf. Die Texte können das immer ganz gut sagen, welcher Klang zu ihnen passt. Die Klänge und Abfolgen sind mir vollkommen einleuchtend, sie wurden von den Texten gerufen und sind ihre Gefährt*innen.

Sie sind also ein Poet, der letztlich Gedichte vertont?

Ich bin Dichter und Musikerin. Mich interessiert die Kombination.

Wenn Sie „ich“ sagen und dabei zwischen „Dichter“ und „Musikerin“ differenzieren – welche Identität, welches „Ich“ ist damit gemeint?

Ich bin Vielzahl. Ich dehne meine Identität. Ich brauche Selbstauslöser*innen um ein Selbst zu konstruieren. Hans Unstern puzzelt sich zusammen.

Heißt das, die irritierende Vielfältigkeit deiner Musik ist Ausdruck deiner vielfältigen Identitäten, in denen ja auch Geschlechterzuweisungen keine Rolle spielen?

Vielleicht hat das einen Zusammenhang. Einen Plan dazu gibt es jedenfalls nicht. Mich interessiert das Werden weit mehr als das Sein.

Erzogen wurden Sie aber als das, was heutzutage Cis-Gender genannt wird, also mit dem sozialen Geschlecht des Mannes?

Ich finde die Praxis, Geschlechter bei der Geburt eindeutig in eine der beiden Schubladen zu stecken, die der Mainstream erlaubt, eine gefährliche Vereinfachung. Ich will, dass die Unendlichkeit der Geschlechter ernst genommen wird.

Die Doppeldeutigkeit des letzten Diven-Titels Cis, den mal als soziales Geschlecht oder Musiknote deuten kann, ist aber schon gewünscht?

Es ist schön, dass Sie beides darin hören. Schon, weil ich mich immer freue, wenn die Leute sich ihren eigenen Reim auf meine Texte machen.

Was hat es dann mit dem Ticken auf sich, das den Song durchsetzt – ist damit die Zeitbombe toxischer Männlichkeit beschrieben, deren ablaufende Uhr oder interpretiere ich die Metaphorik Ihrer Kompositionen damit heillos über?

Auch ich entdecke in meinen Songs gelegentlich noch Seiten, die mir anfangs gar nicht bewusst waren. Das ist ja gerade das Spannende, oft Magische an Musik.

Welche Rolle spielen bei dieser Interpretationsoffenheit Instrumente, die Sie im Fall von Diven sogar selbst entworfen und gebaut haben?

Eine große. Das hat während der Produktion des zweiten Albums angefangen. Schon damals hat mich etwas an der Harfe magisch angezogen. So haben Simon Bauer und ich erste Harfen gebaut und das Instrumentarium erweitert. Gut sieben Jahre später, mit ausschließlich selbstgebauten Harfen auf der Bühne, fühle ich mich so wohl wie nie im Scheinwerferlicht. Wie anstrengend es war, sich zu verstecken! Mit Gitarre in der Hand war die Suche nach einem Versteck stets meine Reaktion. So wie die Kompositionen bei mir Resultat der Texte sind, sind sie es nun auch von der Beschaffenheit der Harfen, die teils mit Hubmagneten und Robotern ferngesteuert werden.

Kybernetischer Pop.

Nicht Kybernetik. Aber Aleatorik, also Kompositionsprinzipien, die auf Zufall basieren. Das Arrangement für den Song Keine Zeit zum Beispiel entstand bei einer Improvisation mit der akustischen Harfe, zu einem schmatzenden, meditativen Beat, der sich aus rhythmischen Figuren zusammensetzt, die im Sequenzer vom Zufallsgenerator aneinandergereiht werden. Für die Klangformung des Beats verstärkte Simon Bauer die mechanischen Geräusche der Relais, die die Impulse zum Auslösen der Hubmagnete an die Metallharfe schicken. Statt dieses Klicken als Störgeräusche wahrzunehmen und zu versteckten, betrachteten wir es als Ausgangspunkt für das Arrangement des Songs.

Das klingt fast, als spielen die Instrumente euch statt umgekehrt.

Als die V-Harfe zur Maschine wurde, wollten wir ihr zumindest viel Autonomie geben. Sie ist nicht nur befehlsempfangende Klangerzeugerin, wie wir es von anderen Orchester-Apparaturen kennen, sondern gibt uns gleichermaßen Befehle mit Arbeitsanweisungen zurück. Wir bedienen die Maschine also in zweierlei Hinsicht. Einmal in Gang gesetzt, werden wir zu Fließbandarbeiter*innen, gefangen im laufenden Produktionsband der Maschine.

Habt ihr das vor der Schließung sämtlicher Konzertsäle schon mal live erprobt?

Es gab letztes Jahr ein paar Testkonzerte. Und mit dem fertigen Album kriegen wir es hoffentlich an einen Punkt, damit auf Tour zu gehen. Wir versuchen immer die Instrumente fürs Publikum zugänglich zu machen. Bislang hat das Publikum mit interessierter Neugierde auf die Harfen reagiert. Aber das steht im Moment ja nicht so an…

Wobei wir es jetzt geschafft haben, im April 2020 ein ganzes Interview ohne das böse C-Wort zu führen.

Toll, ja. Belassen wir’s doch dabei.

Das Interview ist vorab beim Musikblog erschienen.

David Kross: Knallhart & Betonrausch

Als Investor bin ich konservativ

Im Netflix-Drama Betonrausch (Foto: Konietzny/Netflix) spielt der deutsche Weltstar David Kross einen Immobilienspekulanten im dauernden Exzess. Privat ist der 29-Jährige vom Dorfe dagegen die Ruhe selbst. Ein Gespräch über Provinzgewächse in der Großstadt, Koks am Filmset und ob sein erster Bösewicht einen Dominoeffekt auslösen könnte.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: David Kross, Sie stammen genau wie Ihre Filmfigur Victor aus der Provinz und sind als junger Mann ins große Berlin gezogen. War das bei Ihnen derselbe Sprung ins Abenteuer ohne Plan und Geld?

David Kross: Es war schon ein Sturz ins Abenteuer, aber nicht so ganz ohne Plan oder Geld. Obwohl ich Berlin von vorherigen Dreharbeiten schon kannte, war es trotzdem etwas Besonderes, dort plötzlich fern von zuhause allein zu wohnen. Und während Victor überhaupt keine Ahnung hat, wie es in Berlin weitergeht, war mir völlig klar, was ich wollte.

Ein Weltstar werden?

(lacht) Nee. Aber mir war schon klar, dass Berlin mit all seinen Produktionsfirmen, Drehorten und Agenturen der perfekte Ort für den Start war.

Sie sind also nicht wie er in den Exzess mit Nutten, Koks, schnellem Geld gerauscht?

Nein! Das Koks in Betonrausch bestand daher aus Traubenzucker mit Pfefferminz. Das brennt allerdings auch ein bisschen; als ich bei einem Take mal viel zu viel davon gezogen habe, ist das voll in den Kopf geknallt; da musste ich den Kick fast gar nicht mehr spielen.

Wie realistisch ist denn die kapitalistisch entfesselte Business- und Partyszene, in der Ihre Figur landet?

Der Regisseur und Drehbuchautor Cüneyt Kaya hat jedenfalls intensiv in den Kreisen recherchiert. Das macht „Betonrausch“ zum Zusammenschnitt verschiedener Geschichten, die für sich alle absolut realistisch sind, in dieser Konstellation aber fiktional. Wenn man durch Berlin geht, trifft man echt alle Nase lang Typen, die genauso mit dem Geld um sich werfen wie Victor und Gerry.

Sie selbst sind einst auch zu einer Menge an Geld gekommen, die für Gleichaltrige Ihrer Mittelschicht ungewöhnlich ist. Haben Sie es auf den Kopf gehauen oder gespart?

Natürlich hab‘ ich mir ein paar Dinge gekauft, die mit 15 vorher unmöglich gewesen wären wie eine Spiegelreflexkamera. Da es von Knallhart bis zum Vorleser aber so wahnsinnig schnell ging, war Geld ganz ehrlich zunächst kein Thema. Ich habe erst kürzlich einen Steuerbescheid von damals gesehen und gemerkt, was mir gezahlt wurde. Das Bewusstsein, dass die Schauspielerei auch ein Beruf ist, um Geld zu verdienen, kam erst später, und es hat mir insofern eher Sorge bereitet, darüber den Spaß an der Arbeit nicht verlieren zu wollen.

Haben Sie je die Erfahrung von Victor gemacht, dass Geld einer Lawine gleicht, wie er im Film sagt – wer genug hat, dem wird noch mehr hinterhergeschmissen, während all jene, die nichts haben auch nichts kriegen?

Da ist gesamtgesellschaftlich schon was dran. Aber als Schauspieler kriegt man höchstens mal einen Anzug geschenkt, von dem sich der Hersteller erhofft, dass man ihn öffentlich trägt. Ich hänge zwar zwischen den Polen, aber doch etwas weiter weg von dieser Spekulanten-Szene.

Neigen Sie persönlich zur Risikokapitalanlage?

Nein, als Investor bin ich eher konservativ. Schon, weil man sich viel zu sehr mit dem Thema beschäftigen und einiges an Wissen zusammentragen muss, um es lukrativ zu machen. Wobei Victor da ja auch ohne Vorkenntnisse reingeraten ist.

Ist dieses Landei, das in kürzester Zeit mit windigen Immobiliendeals hochsteigt und tief fällt, eigentlich der erste echte Antagonist des Guten ihrer Filmlaufbahn?

Schon, er treibt ja ziemlich skrupellos selbst gewöhnliche Leute in den Ruin. Gerade deshalb wollte ich ihn auch unbedingt spielen – allerdings nur, weil er gleich mehrere Entwicklungen durchmacht, also nicht so der eindeutige Bösewicht ist.

Könnte dieser Film für einen Schauspieler, dem man wegen seines arglosen Lächelns …

Ha!

… lange Zeit nur nette Figuren zugebilligt hat, so gesehen ein Türöffner in ein breiteres Rollenspektrum sein?

Wer weiß? Wobei ich witzigerweise gerade noch ein weiteres Projekt habe, bei dem die Rolle noch viel, viel ambivalenter ist, das ist echt ein richtiger Bösewicht, ich war selbst überrascht, mit dem Lächeln so eine Chance zu bekommen.

Könnte es da einen Dominoeffekt geben?

Kommt drauf an, wie Betonrausch beim Publikum ankommt. Und da haben wir angesichts der Corona-Krise großes Glück gehabt, dass er auf Netflix läuft. Wir alle hoffen, dass die Kinos bald wieder öffnen, aber bis dahin helfen uns Streamingdienste enorm durch die schwere Zeit. Denn seien wir ehrlich: zusammen mit den Synchronfassungen wird dieser Film vermutlich von mehr Menschen gesehen als die meisten meiner Kinofilme zusammen.

Kein hoffnungsfrohes Argument für den Fortbestand des Mediums Kino…

Das stimmt leider, ja. Ist aber unabhängig von der Corona-Krise geschehen.

Was bedeutet die für Sie beruflich gerade?

Ich musste einen Dreh nach etwa einem Drittel unterbrechen, aber es wird mit Sicherheit weitergehen.

Und privat sitzen Sie zuhause in Berlin und warten auf die Lockerung des Lockdowns?

Zuhause ja, aber in Hamburg. Dort bin ich vor kurzem hingezogen und warte auf bessere Zeiten. Aber ehrlich: Ich als Schauspieler bin das Warten gewohnt. Das ist kein Vergleich zu Menschen, deren ganze Existenz auf dem Spiel steht. Und gerade ein Film wie Betonrausch zeigt, dass die Krise abgesehen von der gesundheitlichen und finanziellen Katastrophe uns auch etwas anderes zeigen kann. Ich glaube, in unserer überhitzten Zeit tut es vielen gut, mal die Stopp-Taste zu drücken und kurz wieder zur Besinnung zu kommen.

Wenn wieder Play gedrückt wird, entstehen vom RTL-Thriller über die Jagd nach dem Antivirus bis zur Arte-Serie über die Krise der Clubkultur sicher Hunderte von Pandemie-Fiktionen. In welcher würden Sie da gern mitmachen?

Spontan würde es mich wahrscheinlich reizen, einen Mann zu spielen, der in der Quarantäne wahnsinnig wird. Davon gibt es vermutlich grad viele.


Ganz Deutschland & Das Boot

Die Gebrauchtwoche

13. – 19. April

Dass „ganz Deutschland“ irgendetwas kollektiv interessiert, gar diskutiert, bildete jahrzehntelang den Kern marketingbewährter Selbstüberschätzung (rechts)populistischer Massenmedien wie der Bild. Sein Wahrheitsgehalt liegt abseits von Fußballfinalrunden also noch niedriger als deren Hemmschwelle, auf Schwächere einzudreschen. Am Mittwoch aber hat dann doch mal „ganz Deutschland“ Interesse am Diskussionsgegenstand der (meist männlichen) Ministerpräsidenten entwickelt, als sie über die Lockerung des Lockdowns befanden.

Wie viel Normalität ab heute wieder zulässig ist, bleibt bislang zwar offen; ein Rückfall in den Urzustand zeigte sich allerdings schon Samstag: erstmals seit Wochen begann die Tagesschau nicht pandemisch, sondern mit 50 von Abertausenden Geflüchteter, die aus Griechenland nach Deutschland gekommen sind. Doch darüber hinaus war abgesehen vom Tod des journalistischen Urviechs Ulrich Kienzles aus einer Zeit, als Haltung noch diskurstauglich war, natürlich immer noch alles Corona.

Zum Beispiel in den USA, wo sich mit MSNBC der erste Sender aus Donald Trumps bizarren Pressebriefings geschaltet hat. Allerdings hält sogar sein Hofhundsender Fox mittlerweile nicht mehr bis zum Schluss durch, wenn sich der US-Autokrat seine Welt Tag für Tag zurechtlügt und dabei Tag für Tag vermeintliche Fake-News seriöser Medien anprangert. Etwa der New York Times, die das Kunststück fertigbringt, im 1. Quartal nach dem Spiegel die meistzitierte Zeitung Deutschlands gewesen zu sein und damit das notorische Lügenblatt Bild von Platz 2 zu verdrängen.

Wobei selbst die offen fiktionale Fiktion im Schatten der Krise steht. Und damit ist nicht gemeint, dass Dr. Kleist nach 2020 Jahren Dienst an der Menschheit selbigen quittiert oder Thore Schölermann als taff-Moderator den sexistischen Dienst an seinem Testosteronüberschuss kultiviert. Nein – um wegen der Produktionsunterbrechungen Engpässe zu vermeiden, verschiebt das ZDF seine beiden Neustarts Fritzie (Donnerstag) und Dan Sommerdahl (Sonntag) in den Herbst.

Die Frischwoche

20. – 26. April

Netflix dagegen reitet dank geschlossener Kinos weiter die Erfolgswelle einfallsloser Couchpotatoes und zieht seine Sport-Doku The Last Dance vor, in der ab heute die Chicago Bulls der Neunziger ums Jahrhunderttalent Michael Jordan gewürdigt werden, ohne ihm zu huldigen. Disney+ zeigt unterdessen, dass es die Stärken und die Schwächen des Konzerns dahinter gleichsam zu nutzen versteht. Der Tiernaturabenteuerfilm Togo verarbeitet die verbürgte Story eines zäh-süßen Schlittenhundes zu einer so mitreißenden wie aufdringlichen Fiktion.

Für die Fortsetzung von Das Boot Sky gilt ab Freitag auf Sky leider vor allem letzteres – auch, weil sich selbst ein versierter Regisseur wie Matthias Glasner nach dem Buch des Briten Colin Teevan nicht der revisionistischen Untertöne von Andreas Prochaskas 1. Staffel entledigen kann. Doch das gleicht die erstaunliche Romantic-Dramedy Run, in der sich Merritt Wever und Domhnall Glesson als Jugendliebe im Alter zwangsverpaaren, an selber Stelle locker aus.

Auf Arte zeigt derweil der frühere Fußballer Eric Cantona, was er auch als Schauspieler kann. Im französischen Sechsteiler Auf der Spur ist er ab Donnerstag ein Manager, dessen Bootcamp eskaliert. Wie immer solide: Ulrich Noethen als Hamburger Psychologe in der bedeutungsvoll düsteren Krimireihe Neben der Spur (Montag, ZDF). Weniger tiefgründig als brachial, aber schmerzhaft stichhaltig, präsentiert sich der jüdische Komiker Oliver Polak in seiner neuen Talkshow Besser als Krieg, ab Dienstag (0.00 Uhr, RBB).

Ein Schmankerl noch für Grobschmecker: Black Sabbath – The End (Freitag, 21.45 Uhr, Arte), Ozzy Osbournes letztes Konzert von 2017. Fast 90 Jahre älter ist die schwarzweiße Wiederholung der Woche dort: Der blaue Express (Montag, 23.30 Uhr, Arte), Ilja Traubergs Stummfilmklassiker, der die Klassengesellschaft am Beispiel einer Bahnfahrt von China nach Russland skizziert. In Farbe für den lustigen Abschaltimpuls: Mordkommission Istanbul, wo Erol Sanders Kommissar Özakin sein Publikum (2008 an der Seite Christine Neubauers) in seiner Puppenstubentürkei verachtet. Und der Tatort? Reist Mittwoch (22 Uhr, SWR) zum hessischen Albraumpaar Król/Kunzendorf (Es ist böse) von 2012.


Malena Zavala, The Rhymes, Fiona Apple

Malena Zavala

Culture Clash ist ein Kampfbegriff, der die tendenzielle Unvereinbarkeit verschiedener Kulturkreise aus kulturpessimistischer Perspektive beschreibt. Bei zwei wie denen aus Argentinien und UK könnte der Zusammenprall da schon wegen der kriegerischen Vergangenheit um die Falkland-Inseln also kaum größer sein. Ach wie gut, dass es den Pop gibt, mit seiner enormen Saugfähigkeit samt der Eigenart, Differenzen gleichsam unsichtbar und präsentabel zu machen – schön vereint in Malena Zavala, der argentinischen Tochter italienischer Eltern aus dem ziemlich englischen Hertfordshire.

Ihr zweites Album La Yarará ist ein Mashup beider Biografien, und nein – sie vermischt darin weder Tango noch Britpop. Das Geheimnis dieser cremig gerührten Emulsion aus Südamerika und Nordeuropa ist, dass die Bestandteile eher atmosphärischer als formalistischer Natur sind. Klar, Malena Zavala singt abwechselnd Englisch und Spanisch. Aber die Einflüsse scheinen oftmals eher afrikanischer, karibischer, mittelwestlicher Natur zu sein. Das Auftaktstück What if I klingt daher ein bisschen, als habe sich Madonna mit Sade zum Früchtetee in der Cumbia-Disco verabredet.

Malena Zavala – La Yarará (Yucatan)

The Rhymes

Ob es am Mangel lateinamerikanischer Einflüsse liegt, dass ausgerechnet die winterdunkelheitsgeplagten Menschen in Schweden eine Art Britpopgen im Chromosomensatz haben? Tatsache ist: seit Abba den Pop einst endgültig zum Milliardenbiz machten, scheint er ohne skandinavischen Einfluss kaum vorstellbar – zumindest, solange er sich sein heimisches Ideom verkneift, mit dem selbst Abba anfangs nur lokalen Erfolg hatten. The Rhymes heißen demnach nicht nur so, sie singen auch auf Englisch, und das in einer Weise, die wie so vieles dort spielend britischen Ursprungs sein könnte. Sie kommen aber nun mal aus Uppsala.

Umso weniger muss man acht One-Two-Three-Four-Überwältigungsharmonien für die Neuerfindung des Gitarrenrocks halten. Dank der ergreifend zerriebenen Stimme des politisch aktiven Sängers Tomas Karlsson, der sich lange als Stadtrat für die Rechte seiner LGBTQ-Community einsetzte, durchweht das selbstbetitelte Debütalbum allerdings eine Androgynität, die sich auch im flamboyanten Bühnenoutfit jenseits genretypischer Breitbeinigkeiten widerspiegelt. Zusammen mit dem Stagedivepowerpop sorgt das für eine Indifferenz, in der selbst die saftigen Gute-Laune-Liebes-Lyrics nicht weiter stören.

The Rhymes – The Rhymes (The Rhymes REC.)

Hyle der Woche

Fiona Apple

Was, die gibt`s noch? Wer als Musiker*in so was zu hören kriegt, ist im besten Fall schon sehr lange im Geschäft, im schlechteren schon zu lange. Im Fall Fiona Apples kommt erschwerend die Frage hinzu: war die New Yorkerin nicht schon relativ bald nach ihrem Debüt als Teenager vor 25 Jahren leicht außer Mode? Mitte der Neunziger war ihr verschrobener Avantgardepop ja eher was für Feinschmecker als Schweinebratenfans, fiel aber in den Epochenbruch feministischer Infiltration des Rock’n’Roll, der im härten Segement von Riot Grrls betrieben wurde, im filigraneren von Heather Nova, Anni di Franco, eben Fiona Apple. Wer sich das neue Album anhört, merkt jedoch schnell: Es ist keinesfalls von gestern, im Gegenteil. Fetch The Bolt Cutters (Sony) klingt im Aufwind reaktionärer Populisten nach einem Sturm retrofuturistischer Selbstermächtigung, die nichts mehr braucht als den dekonstruktistisch jazzigen, hinreißend organischen Theaterpop von Kämpferinnen wie dieser.


Maria Schrader: emanzipiert & Unorthodox

Ich sorge mich um alle

Fast 30 Jahre nach ihrem Filmdebüt hat sich die Schauspielerin Maria Schrader (Foto: Netflix/Anika Molna) auch als Regisseurin etabliert. Der beste Beweis: die Netflix-Serie Unorthodox, in dem sie auf brillante Art das Leben von Deborah Feldman nachzeichnet, die aus dem Frauengefängnis chassidischer Juden nach Berlin geflohen ist und dort einen Weltbestseller über ihr Leben geschrieben hat.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Schrader, Unorthodox, die wahre Geschichte einer chassidischen Jüdin, die ihr ultrakonservatives Umfeld hinter sich lässt, ist extrem anrührend, ohne rührselig oder melodramatisch zu sein…

Maria Schrader: Zum Glück! Beide Begriffe beschreiben nämlich Überwältigungsversuche, die bei mir sofort Distanz erzeugen. Wenn aber eine Figur mit aller Kraft versucht, die Fassung zu bewahren, bin ich die erste, die anfängt zu weinen. Die Schauspielerin Shira Haas hat einen erstaunlichen Zugang zu ihrer Gefühlswelt und verleiht der Hauptfigur Esther zugleich Pragmatismus und Willenskraft. Beim Drehen war ich jeden Tag glücklich über unser Ensemble, das wie Jeff Wilbusch teilweise ja tatsächlich aus dieser Community stammt.

Wie wichtig war es dabei, Rituale und Räumlichkeiten einer so abgeschotteten Gruppe, von der nach außen kaum etwas bekannt ist, derart authentisch auszustatten?

Sehr wichtig. Rituale bestimmen den Tagesrhythmus.

Aber kippt die Geschichte nicht schnell ins Oberflächliche, wenn man Äußerlichkeiten so viel Raum gibt?

Im Zentrum dieses Lebens stehen der praktizierte Glaube und die Gemeinschaft. Die privaten Innenräume spiegeln das wider, man findet in ihnen nämlich nicht viel Privates. Es ist erstaunlich und auch beunruhigend, dass diese Gruppe von Menschen inmitten der kapitalistischen Metropole New York nichts von Selbstverwirklichung, Karriere und persönlicher Freiheit wissen will. Die Regeln ihres Lebens bestimmen auch Esther und führen dazu, dass sie keinen anderen Ausweg sieht als zu fliehen.

Mussten Sie selbst jemals so viel Willensstärke aufbringen, um sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien?

Nein, nicht im Geringsten. Für Esther gibt es nur eine Zukunftsperspektive, nämlich Ehefrau und Mutter zu werden, ohne Ausbildung in ökonomischer Abhängigkeit. Die Probleme in ihrer arrangierten Ehe werden zu einer öffentlichen Angelegenheit, bis Esther diesen Druck nicht mehr aushält. Es braucht großen Mut, alles was man kennt, zurückzulassen. Das liegt weit außerhalb meines Erfahrungshorizonts. Ich bin gegensätzlich aufgewachsen, meine Eltern wollten, dass ich arbeite und unabhängig werde. Es hat ihnen eher Sorgen bereitet, dass ich Ehefrau und Mutter werden könnte. (lacht) Da gab es nur einmal eine Krise.

Welche?

Als ich die Schauspielschule abgebrochen habe und der Liebe wegen nach Berlin gezogen bin.

Zu Dani Levy, mit dem Sie später ihre ersten Filme gedreht haben.

Ja. Im Gegensatz zu Deborah verlief mein Leben also ganz nach den Vorstellungen meiner Eltern.

Das allerdings spätestens in dem Moment mit Konventionen kollidiert sein dürfte, als Sie sich vor zwölf Jahren im männerdominierten Regiefach durchsetzen mussten.

Das klingt als hätte ich Pionierarbeit geleistet (lacht). Es gibt seit vielen Generationen Regisseurinnen, auch wenn sie in der Minderheit sind. Meine erste Regie war nicht leicht, ich bin auf starkes Misstrauen gestoßen, wenn auch nur von einzelnen Personen. Es ist nicht nur eine männerdominierte Branche, sondern auch eine männerdominierte Gesellschaft, in der zumindest ich noch aufgewachsen bin. Aber in den letzten Jahren hat es einen Ruck von Bewusstmachung gegeben, und die Verhältnisse verändern sich, wenn auch langsam.

Sie zeigen sowohl hinter als auch vor der Kamera von Beginn an eine spürbare Affinität zur israelisch-jüdischen Geschichte, die auch diesen Film prägt. Woher rührt diese Faszination?

Als ich mit 14 das erste Mal überhaupt von zuhause weg, habe ich an einem Jugendaustauschprogramm in Israel teilgenommen und dort auch erstmals Theater gespielt. Natürlich ging es auch um deutsch-jüdische Vergangenheit, aber es war vor allem eine Gruppe Jugendliche, ein erster Joint, nachts Musik, man kann sich das ja vorstellen. Es war also nicht die Faszination fürs Judentum, sondern einfach Leute, Normalität. So gesehen hat dieses Programm sein Ziel erreicht. Und so würde ich auch die Impulse für Projekte beschreiben: Aus Begegnungen, Geschichten, Erlebnissen wächst Interesse.

Was durch Ihre langjährige Beziehung zu Dani Levy noch verstärkt wurde?

Wir beschäftigten uns beide mit Identität, Herkunft, Familie. Meschugge zum Beispiel hat das Thema des vererbten Traumas in einem Thriller zwischen New York und Deutschland behandelt. Sicherlich beziehen sich die Angebote, die einem gemacht werden, auch auf vorangegangene Projekte. Die Showrunnerin Anna Winger und ich kannten uns von der Arbeit an ihrer Serie Deutschland 83/86, in der ich mitspiele. Wir hatten schon länger den Plan, auch in dieser Konstellation zusammenzuarbeiten. Sie hat mir das Buch von Deborah Feldman in die Hand gedrückt und die Regie angeboten. Darüber freue ich mich noch heute.

Umso mehr vermutlich, als Sie ihn angesichts weltweiter Kino-Schließungen wegen der Corona-Krise für Netflix gemacht zu haben, oder?

(lacht) Tja, klar. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde schon der Trailer weit häufiger angeklickt als üblich. Die Leute müssen zuhause bleiben, die Streamingdienste profitieren davon. Für das Kino ist es tragisch. Und das betrifft uns alle. Denn viele kommen definitiv in existenzielle Schwierigkeiten.

Sorgen Sie sich da nur um einzelne oder die Branche insgesamt?

Insgesamt um die Branche! Filme können nicht starten, Dreharbeiten werden gestoppt, ohne dass jemand weiß wann es weitergehen kann, für zukünftige Projekte können keine verbindlichen Vereinbarungen getroffen werden. Wenn wir wieder arbeiten können, wird es Staus und Kollisionen von Dreharbeiten geben. Es gibt bereits riesige Verluste, es kann durchaus sein, dass viele Firmen diese Zeit nicht überleben. Ich sorge mich um alle.


Götzeee, Lindner & Warten auf’n Bus

Die Gebrauchtwoche

6. – 12. April

„Mach ihn! Er macht ihn! Mario Götzeee! Das ist doch Wahnsinn!!!“ Diese legendären Worte schrie Tom Bartels am 13. Juli 2014 ins Mikro, als der Fußball noch rollte und die AfD ein bedeutungsloser Sauhaufen war. Sechs Jahre später ist die AfD derselbe Sauhaufen, aber nicht mehr ganz so bedeutungslos, als anstelle der Sportschau das Endspiel von Rio als Re-Live läuft. Und ehrlich: was angesichts vom Osterwetter eigentlich keine Freizeitoption wäre, ist in Zeiten des Shutdowns besser als gar kein rollender Ball.

Während das Erste Sportkonserven wiederholt, erweitert es seine Hauptnachrichten weiter Tag für Tag mit einem ARD extra und definiert den Begriff der medialen Normalität dadurch Tag für Tag neu. Eine Normalität, zu der es auch gehört, dass der vulgärelitaristische Christian Lindner Tag für Tag mehr zum rechtspopulistischen Hetzer wird, dessen Opportunismus auf Twitter längst dem seines geistigen Ziehvaters Donald Trump gleicht – wie die Leugnung eigener Tweets zum „sofortigen“ Stopp der Einschränkungen plus Verbreitung angeblicher Sprechverbote belegt.

Dabei scheint im herrschenden Pandemie-Diskurs eigentlich nur moderne Geschlechterzuweisungen verboten zu sein. Deshalb feiern selbst seriösere Medien unisono „Ärzte“ und „Krankenschwestern“, „Zusteller“ und „Kassiererinnen“ als Helden ohne -innen, was dem Emanzipationsniveau misogyner Männerbünde von AfD bis FDP entspricht. Doch genug der Medienpolitik von heute, hinein ins Fernsehgeschehen von morgen – das zunächst eines von gestern ist. Denn der überraschendste Streamingerfolg dieser Tage ist definitiv Großkatzen und ihre Raubtiere, zu den Netflix die Doku Tiger King hierzulande umgetitelt hat.

Die Frischwoche

13. – 19. April

In ihrem Psychogramm amerikanischer Privatzoo-Besitzer, deren Tierparks mehr Tiger bevölkern als die freie Wildbahn, nehmen Rebecca Chaiklin und Eric Goode ein bizarres Milieu unter die Lupe, vermischen es mit einer mysteriösen Mordgeschichte und machen daraus das erfolgreichste Streaming-Produkt des Lockdowns. Mit bizarren Sujets interessant zubereitet aus der Nische ins Rampenlicht: das wünscht man auch der fabelhaften RBB-Serie Warten auf’n Bus.

Ronald Zehrfeld und Felix Kramer spielen darin ab Mittwoch um 22 Uhr ein achtteiliges Open-Air-Kammerspiel, bei dem sie als langzeitarbeitslose Brandenburger die Zeit am Wartehäuschen vertrödeln, Busfahrerin Katrin (Jördis Triebel) anhimmeln und in aller Stille Beckett’schen Provinznihilismus von höchster Güte zelebrieren. Ein klein wenig dieser Effektreduktion wäre am Freitag auch dem Netflix-Blockbuster Betonrausch zu wünschen gewesen. Doch die angeblich realitätsgetreue Story zweier Immobilienbetrüger im spekulationswütigen Berlin ist trotz inniger Darstellung von David Kross und Frederick Lau so klischeehaft, dass sie auch auf Pro7 laufen könnte.

Dort also, wo Dienstag zuvor wegen einer Corona-Quarantäne nicht wie geplant The Masked Singer ins Finale geht. Bemerkenswerter ist Zoey’s Extraordinary Playlist, mit der Sky ab Sonntag die furiose Idee in Serie setzt, dass ihre Hauptfigur die Gedanken anderer als Popsongs lesen kann. Etwas gewöhnlicher und doch außergewöhnlich originell in Szene gesetzt, ist da der Einfall von Joyn, ab Donnerstag die „Sadcom“ genannte Tragikomödie Mapa um einen alleinerziehenden Vater zu starten.

Voll aus dem Leben und doch artifiziell sind Die Getriebenen um 800.000 Geflüchtete, die das Land 2015 aus Sicht von Christian Lindner und der AfD ins Chaos gestürzt haben soll. Die fiktionalisierte Form von Merkel (Imogen Kogge) bis Gabriel (Timo Dierkes) folgt am ARD-Mittwoch zwar oftmals ihrer Funktion; insgesamt aber ist das Politdrama nach Robin Alexanders Buch so erhellend wie unterhaltsam und gleicht damit Emily Atefs grandiosem Romy-Schneider-Porträt 3 Tage in Quiberon, das Arte parallel dazu mit anschließender Doku zeigt.

Der Tatort-Tipp ist diesmal keine Wiederholung, sondern Das fleißige Lieschen. So heißt die Premiere von Vladimir Burlakow und Daniel Sträßer als biografisch verlinktes Duo im Saarland, das heute parallel zu Elizabeth Taylor als quietschbunte Cleopatra auf 3sat läuft, veröffentlicht 1963, also zugleich zum schwarzweißen Evergreen Lautlos wie die Nacht (Sonntag, 20.15 Uhr, Arte) mit Jean Gabin und Alain Delon als Gaunerdouble, aber zehn Jahre jünger als Wie angelt man sich einen Millionär? (Freitag, 22.30 Uhr, BR) mit Marilyn Monroe als deren Bild in der Öffentlichkeit.


Sandra Maischberger: Ehrenmord & Talkshow

Bestenfalls Agenda-Abbilderin

Als Talkshowgastgeberin, aber auch als Filmproduzentin zählt Sandra Maischberger (Foto: Raimond Spekking) seit Jahren zu den prägenden Figuren des politischen Journalismus in Deutschland. Ein Gespräch mit der 53-jährigen Münchnerin über Ehrenmorde und Populisten, Debattenkultur, schwierige Gesprächspartner und wie sich ihr pubertierender Sohn ber die Welt informiert.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Maischberger, Ende Januar lief Nur eine Frau übers reale Ehrenmordopfer Hatun Sürücü im Fernsehen – ein Dokudrama. Wie viel Gefühl lässt Ihr journalistisches Ethos bei der Fiktionalisierung eines solch realen, aber auch emotionalen Stoffes zu?

Sandra Maischberger: Ach, da durfte ich mich als Produzentin zum Glück entspannt zurücklehnen und die Emotionalität an die künstlerische Leitung delegieren. Aber weil ich aus der Ratio komme und die Regisseurin aus dem Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, die die Menschen berühren, hat mich diese Arbeit emotional trotzdem ganz schön durchgeschüttelt.

Haben Sie dabei etwas über sich und Ihre Arbeit gelernt?

Ich glaube, ich hoffe ja. Die tiefere Erkenntnis, wie wichtig es ist, Zuschauer emotional zu berühren, wie schwer aber auch, dabei nicht platt zu werden, also auf Tränendrüsen zu drücken, statt mitzufühlen. Dank Sherry Hormann war das eine sehr bewegende Reise für mich.

Warum gab es im Anschluss dann keine Talkrunde bei Maischberger – die Woche zum Film?

Das wäre in der Tat mein Wunsch gewesen, aber unter der einen Bedingung, es nicht selbst zu moderieren. Dafür bin ich angesichts des eigenen Films einerseits zu befangen, das hätte definitiv ein Geschmäckle gehabt. Andererseits positioniere ich mich – zumindest in der Öffentlichkeit meiner Talkshow – nicht gern zu bestimmten Themen. Das ist meine Hygiene-Regel als Moderatorin.

Die am Ende immer auch eine Mediatorin oft gegensätzlicher Standpunkte ist.

Genau. In diesem Fall hatte ich mich auch vorher schon oft im Sinne der Frauenrechte positioniert. Wie soll ich mich dann da hinsetzen und die Runde neutral ins Gespräch bringen? Deshalb habe ich vorgeschlagen, mit Frank Plasberg einmalig den Platz zu tauschen oder eine andere Kollegin als Moderatorin zu bitten. Beides ließ sich aber doch nicht seriös umsetzen.

Wie populismusanfällig ist dieses Thema denn sowohl im Film als auch in der Berichterstattung angesichts der Tatsache, dass Menschen mit dem berühmten Migrationshintergrund auch hier vor allem als Opfer oder Täter vorkommen?

Nicht sonderlich. Wir schildern sie ja nicht nur aus diesen zwei Perspektiven, sondern eben auch aus der, muslimischer Familien, die ihr Leben teils sehr erfolgreich frei von Konventionen leben. Weil der Film diese Differenzierung zeigt, funktioniert er jenseits vieler Stereotype. Auch deshalb ist uns der übliche Shitstorm bislang wohl nicht um die Ohren geflogen. Und die Tatsache, dass selbst bei mir zuhause, im kosmopolitischen Berlin, viele Menschen gegen ihren Willen verheiratet werden, hat mich zu sehr schockiert, um es aus Angst vor Scheuklappendenken nicht zu erzählen.

Versuchen Sie darüber hinaus denn, Populismusanfälligkeit Ihrer Talkshow- oder Dokumentarthemen zu vermeiden?

Wir versuchen immer ordentlich zu arbeiten. Wer das tut, setzt Themen auf, wie sie sind. Sagen, was ist – so lautet doch eine Kernmaxime des Journalismus von Rudolf Augstein, wenn ich mich recht erinnere. Dabei lassen sich Shistorms gerade in unserer aufgewühlten Zeit natürlich nicht vermeiden. Aber es wäre aus meiner Sicht ein Riesenfehler, Fehlinterpretationen von vorneherein aus dem Weg gehen zu wollen. Herum zu eiern macht definitiv den wenigsten Sinn.

Aber wie hält man da in Ihrer Position als Agenda-Setterin die Balance?

Indem ich mir zum Beispiel darüber bewusstwerde, keine Agenda-Setterin, sondern bestenfalls eine Agenda-Abbilderin zu sein – schon deshalb, weil Sendungen am besten funktionieren, über deren Thema sich die Leute schon mal Gedanken gemacht, also mitgedacht haben. Sujets zu besprechen, die gesellschaftlich noch überhaupt keine Rolle spielen, gelingt nur ungemein selten.

Dieses hier war also auch, als Sie zehn Jahre zuvor erstmals darüber bei Maischberger diskutiert haben, bereits in den Köpfen?

Ich würde sagen, es war damals wie heute zwar durchaus schon ausdifferenziert, aber nicht ausreichend im kollektiven Bewusstsein angekommen. Der Fall von Hatan Sürücü hat 2005 zwar kurz enorm hohe Wellen geschlagen und ins Gedächtnis gerufen, dass Traditionen von Hardlinern aller Religionen fundamentalistisch ausgelegt werden; mittlerweile kam es aber eher wieder zu einem Backlash, bei dem radikale patriarchale Traditionen wie die Zwangsheirat wieder an Gewicht gewinnen.

Dennoch stellt sich die Frage, was generell diskutabel ist in der Mediengesellschaft. Es gibt ja Themen, die von der herrschenden Meinung bestimmt werden, und solche, die journalistisch geboten sind, also kuratiert werden. Wie treffen Sie diese Auswahl, ohne der Lautstärke vermeintlicher Meinungsführer auf den Leim zu gehen?

Indem wir uns nüchtern ansehen, was für uns und unsere durchschnittlich älteren, aber durchaus heterogenen Zuschauer relevante Themen der Woche waren. Da ist ereignisbezogene Aktualität ebenso wichtig wie Debattentauglichkeit. Es wird häufig moniert, warum Digitalisierung so selten in Talkshows vorkommt. Ganz einfach: es ist ein Thema, das unheimlich viele Bereiche umfasst, über die man entweder schon vorher enorm viel wissen oder sich lange Erläuterungen anhören muss. Beides sind keine guten Voraussetzungen für verbale Kontroversen. Über Konjunktive lässt sich nicht gut streiten.

Fehlt bei der Digitalisierung womöglich auch ein Antagonist, der sagt, Digitalisierung sei Blödsinn?

Vielleicht auch das, denn weil Digitalisierung nun mal passiert, wäre der Standpunkt ja Blödsinn. Diese Themen eignen sich besser für andere journalistische Formen wie Reportage oder Magazinbeiträge. Anderes Beispiel: Klimawandel. Bis vor ein, zwei Jahren hat das nur wenige hier interessiert, weil die meisten meinten, er betreffe sie nicht persönlich. Das hat sich radikal geändert. Inzwischen will wirklich jeder darüber mitreden. Eine Talkshow sollte den Anspruch haben, verschiedene Meinungen in Diskurs zu bringen – beim Klima etwa zur hochemotionalen Frage, ob man persönliche Freiheiten einschränken darf. Wir haben uns in der Redaktion aber erst kürzlich entschieden, da einen anderen Weg zu gehen.

Nämlich welchen?

Wir folgen der Beobachtung, dass es für viele Menschen zusehends schwer scheint, die Fülle an Informationen aus aller Welt einzuordnen und zu verstehen. Deshalb haben wir eine meinungsstarke Kommentatoren-Runde eingerichtet, dazu vertiefende Einzelgespräche und als drittes Element, ein Duell oder Duett, um Fragen kontrovers zu diskutieren, also Information und Haltung neu zu arrangieren, was in größeren Runden schon mal durcheinander geht. Allein durch diese Neusortierung kann man übrigens auch Populismus in Talkshows ein Stück weit vorbeugen.

Woran sich die Frage anschließt, wie oft die aufgeklärte, liberale, demokratische Mediengesellschaft etwa eine rechtspopulistische Partei wie die AfD noch ins Zentrum der Debatte stellen muss, ohne sich von ihr instrumentalisieren zu lassen?

Ehrlich gesagt, finde ich das „muss“ in dieser Frage schon falsch. Natürlich kann man darüber streiten, ob jeder einzelne, oft nur zur Polarisierung geäußerte Satz der AfD diskutiert werden sollte. Aber wenn ein Phänomen wie der Rechtspopulismus im Größenverhältnis einer globalen Bewegung vorhanden ist, kann man ihn nur noch nicht nur deshalb aussparen, weil man befürchtet, durchs Thematisieren mache man alles noch schlimmer. Es gehört eben zu unserer Aufklärungspflicht, nichts totzuschweigen, sondern Dinge beim Namen zu nennen.

Und damit gegebenenfalls größer zu machen, als sie sind?

Der Gedanke, Sendungen wie meine Talkshow würden die AfD stärken, weil wir sie, gemessen an ihrem Sitzanteil in den Parlamenten, sehr oft einladen, überschätzt die Bedeutung des Fernsehens. Wir haben im medialen Raum kein Alleinstellungsmerkmal. Das Phänomen dieser Partei hat lange, bevor es bei uns stattfand, Fahrt aufgenommen – und zwar im Internet. Denn das hatte sie weit vor allen anderen Parteien schon früh als Kommunikationsmittel erschlossen und ihre Blase darin so aufgepumpt, dass dieses Phänomen wuchs und wuchs und uns nur zwei Möglichkeiten ließ: ignorieren oder benennen. Als politische Berichterstatter, die sich am aktuellen Diskussionsstand orientieren, ist die erste Möglichkeit im Grunde ausgeschlossen.

Aber stellen Sie sich nicht dennoch manchmal die Frage, warum jene, die den Diskurs verachten, andauernd zu eben jenem Diskurs hinzu gebeten werden?

Glauben Sie mir: ständig. Natürlich sind wir der Mechanismen, die Rechtspopulisten offensiv einsetzen, manchmal überdrüssig. Trotzdem ist das keine Entscheidung, die wir aus subjektiver Sicht, gar Betroffenheit zu treffen haben. Vertreter der AfD generell nicht mehr einladen zu wollen, lässt sich in unserer Demokratie nicht begründen. Auch, wenn das die Arbeit nicht leichter macht: Es geht nie um die Frage des Ob, sondern Wie. Es stimmt, was zuletzt Wolfgang Schäuble formuliert hat: funktionierende Demokratie braucht eine gemeinsame Öffentlichkeit. Wenn jeder seine Informationen nur aus seiner eigenen Filterblase bezieht, kann das nicht gelingen. Talkshows sind einer der wenigen Orte, wo eine gemeinsame Öffentlichkeit noch stattfindet.

Gab es diesen Tisch, an dem wir sitzen, vor zehn Jahren auch schon?

Den Tisch gab es, aber er stand noch woanders.

Wurde daran ähnlich hitzig darüber diskutiert, den islamistischen Prediger Pierre Vogel in eine Talkshow zum Thema Zwangsheirat einzuladen und mit einem Opfer zu konfrontieren?

Klar. Er war damals kein Täter, sondern allenfalls Schreibtischtäter. Wer sich mit Ehren-, Ritual-, Eifersuchtsmorden an Frauen befasst, sieht, dass es diese Taten in allen Bevölkerungsschichten gibt. Familienministerin Franziska Giffey hat dazu unlängst eine Studie veröffentlicht, die solche Taten in erschütternder Zahl über alle Konfessionsgrenzen hinaus auflistet. In unserer aufgeklärten Gesellschaft gibt es allerdings den Konsens, dass solche Taten verurteilt werden.

Ist diese Sicht optimistisch oder realistisch?

Beides. Dennoch gibt es unterm Mantel irgendwelcher Traditionen noch immer Versuche, die jahrtausendealte Gewalt gegen Frauen zu rechtfertigen. Spätestens an dem Punkt wird es zur gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit, die diskutiert werden muss. Vielleicht waren wir uns 2010 noch nicht ausreichend bewusst, wie gewalttätig die islamistische Ideologie gegenüber Frauen in Deutschland schon ist. Auf die Manifestierung des politischen Islam wurden wir erst mit den Anschlägen von 9/11 richtig aufmerksam. Und ein massiver Schub kam durchs Auftauchen des sogenannten Islamischen Staates. Im gleichen Zeitraum hat sich auch die extreme Rechte radikalisiert. Aber auch sie gibt es schon lange – und mit ihr die Frage, wie man medial damit umgehen soll. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: bei Talk im Turm, den ich selber ja auch moderiert hatte.

Anfang der Neunzigerjahre.

Da hat mein Kollege Erich Böhme Anfang der 90er versucht, Jörg Haider zu entzaubern.

Was furchtbar in die Hose ging…

Ja, und zwar weil er sich so fest vorgenommen hatte, den FPÖ-Chef vor laufender Kamera zu entlarven. Das hat mich vom Gedanken kuriert, man müsse extrem Radikale einladen, um sie in einer knappen Sendestunde vorzuführen, besser noch: umzustimmen. Dennoch bleibt es aus meiner Sicht grad im Zeitalter von Social Media die schwerste Aufgabe des politischen Journalismus, sich mit radikalem Gedankengut auseinanderzusetzen. Wir müssen den Menschen aufzuzeigen, dass es zu jeder Rede Gegenreden gibt; eben die kommen in den meisten Filterblasen nicht vor. Um die Kontroverse abzubilden, müssen wir auch in die Kontroverse gehen. Unter Gleichgesinnten zu diskutieren, hilft niemandem weiter.

Führt das in der Konsequenz manchmal zum Streit um des Streits Willen?

Nein, Streit um des Streits Willen war nie unser Ziel. Weil manche Gäste ihn dennoch suchen, haben wir für unsere Sendung die Konsequenz gezogen, im kleineren Rahmen zu streiten. So wie sich die öffentliche Debattenkultur verändert, ändert sich auch die mediale Debatte. Der Ton der Auseinandersetzung ist schärfer und unerbittlicher geworden. In großen Runden lässt sich das schwerer beherrschen.

Das klingt jetzt fast so, als wurde früher stets gesittet gestritten…

In den Achtzigern, behaupte ich jetzt einfach mal, wurde zumindest noch angstfreier gestritten. Durchaus bitter und böse, manchmal sicher auch verletzend, aber in einer Art, die noch zur respektvollen Debatte und zum versöhnlichen Ende bereit war, nach dem Motto: we agree to disagree. Heute hingegen muss man bei jedem Satz beachten, was er in den medialen Echokammern der Debattengegner auslöst.

Und zwar in Echtzeit, während der Sendung.

Das führt einerseits zu falscher Zurückhaltung besonnener Standpunkte, andererseits zum keifenden, verletzenden Tonfall auf der unbesonnenen Gegenseite. Wer den geborenen Streithahn Franz-Josef Strauß nicht mochte, mochte ihn auch in Gesprächssendungen nicht; danach konnte er sich mit seinen Gegnern bei einem Glas Bier angeregt unterhalten. Das erlebe ich in letzter Zeit seltener.

Weil die Fronten verhärteter sind?

Die Fronten, aber auch die Umgangsformen. Beides muss immer schärfer konturiert sein, um in der Masse digitaler Medien sichtbar zu werden oder zu bleiben. Über den eigenen Tellerrand zu schauen, gar nachzugeben, also Schwäche zu zeigen, wird darin zusehends undenkbar. Bei Talk im Turm wurde nach der TV-Diskussion – so hitzig sie auch gewesen sein mag – einfach weiterdiskutiert, meist konstruktiv. Jörg Haider war damals schon die Ausnahme; mit ihm anschließend höflich zu plaudern, schloss sich schlicht aus. Aber noch die härtesten Widersacher von Grünen und CSU sind hinterher miteinander im Gespräch geblieben.

Seinerzeit also auch mit dem Hassprediger Pierre Vogel?

Das erinnere ich ehrlich gesagt nicht mehr.

Würden Sie ihn auch angesichts der Tatsache, dass ZDF-Chefredakteur Peter Frey den rechtsextremen Thüringer AfD-Chef Björn Höcke zur Persona non Grata erklärt hat, nochmals einladen?

Björn Höcke hat sich selbst zur Persona non Grata erklärt, und auch seine Parteikollegin Alice Weidel neigt dazu, Debatten zu verlassen, wenn sie ihr nicht genehm verlaufen. Aber wenn Höcke bei der nächsten Wahl wieder als Spitzenkandidat der AfD kandidiert, kann man ihn nicht von allen politischen Foren ausschließen. Und was Pierre Vogel betrifft: ich habe ihn und seine Aktivitäten zwar aus dem Blick verloren. Aber auch, wenn wir ihn nicht einladen, bleibt die Frage: wie erreicht und klärt man Leute auf, die Salafisten folgen? Es gibt zwar viele fantastische Reportagen über Islamisten und den IS; doch mich quält die Frage, ob das genug ist oder nicht auch eine offene Auseinandersetzung mit Standpunkten geben muss, die unseren Zusammenhalt gefährden.

Durch Thilo Sarrazins Pamphlet Deutschland schafft sich ab trat interessanterweise genau zur selben Zeit, als Sie Pierre Vogel in der Talkshow hatten, der Rechtspopulismus aus dem Dickicht ins Rampenlicht – mit Sarrazin als Gast aller Talkshows. Bis dahin hieß es immer, Ideologien rechts von der CSU hätten hierzulande keine Chance.

Danach hieß es dann, man dürfe nichts mehr sagen.

Was ist seither noch völlig neu für Sie und den politischen Journalismus?

Als wir angefangen haben, gab es noch ein kollektiv spürbares Bedürfnis, offen miteinander zu streiten. Heute hat sich der Streit ins hinterhältige Gegeneinander verschoben. Die unterschiedlichen Richtungen beschießen sich aus immer tieferen Schützengräben, ohne sich noch begegnen zu wollen. Ich gewinne häufig den Eindruck, in dieser Situation sehnt sich das Publikum einerseits nach etwas weniger Lautstärke in der Auseinandersetzung und ein bisschen mehr Konsens. Gleichzeitig erwartete es in der unübersichtlichen Gemengelange immer „klare Kante“. Das Streiten fünf verschiedener Antipoden auf fünf Sesseln, führt – so nehme ich das Feedback vieler Zuschauer wahr – oft nur noch zu Frustration.

Aber Konsens war doch auch früher nicht die Hoffnung, geschweige denn das Ziel einer politischen Debatte!

Dass der frühe Joschka Fischer sich vom frühen Heiner Geißler vor aller Augen von irgendwas überzeugen ließe, war in der Tat ebenso undenkbar wie ein gegenseitiger Parteiwechsel. Konsens war übrigens vom Publikum damals auch nicht gewünscht. Heute gibt es viel stärker diese Sehnsucht, es möge eine gemeinsame Lösungsorientierung geben. Aber das ist natürlich kaum einzulösen.

Geraten Sie dabei auch persönlich ins Fadenkreuz der Filterblasen?

Das kommt ein bisschen auf die Betrachtungsweise an. Wer alles liest, was geschrieben steht, findet sich dort in meiner Position jeden Tag. Wer sich, wie ich, dazu entschließt, nichts oder nur wenig davon zu lesen, darf sich im schönen Gefühl wiegen, es werde gar nichts geschrieben. Als Team lesen wir natürlich alles und wissen inzwischen, dass „das Netz“ keineswegs eine Art Spiegel der öffentlichen Meinung ist. Deshalb erlaube ich mir eine relativ selektive Wahrnehmung. Aber auch, wenn ich es weniger selektiv wahrnehmen würde, wäre mir bewusst, wie klein die Zahl derer ist, die mich ins Fadenkreuz stellen.

Wobei einen selbst die geringe Zahl mitteilungsbedürftiger Hater emotional nachhaltig anfassen kann.

Nur, wenn man sich anfassen lassen will.

Ist das eine Mentalitätsfrage oder Berufserfahrung?

Es ist eine rationale Entscheidung. Als Sendung sind wir deshalb auf allen wichtigen Kanälen präsent, als Person bin ich es nicht. Umso mehr bewundere ich Kollegen wie Armin Wolf.

Den ORF-Moderator, der wegen seiner klaren Haltung gegen die FPÖ permanent im Kreuzfeuer steht.

Mit welch unerschütterlicher Akribie der sich mit jedem Pöbler einzeln auseinandersetzt, ist nicht nur bemerkenswert; weil sich gezeigt hat, dass viele seiner Kontrahenten dank seiner Offenheit plötzlich zu einem gesitteteren Diskussionsklima zurückkehren, zeigt er auch, dass Konfrontation gut ist. Dennoch fiel meine Entscheidung anders aus, weil ich mich nach Feierabend andernfalls nicht mit meinem Mann und meinem Sohn, sondern auch mit übellaunigen, boshaften Trollen auseinandersetzen müsste. Wer nur pöbelnd Hass verbreitet, ist mir meine Lebenszeit einfach nicht wert. Wer hart, kritisch, aber sachlich bleibt, bekommt eine Antwort.

Wäre das dann ein Ratschlag, den Sie unerfahreneren, also jüngeren Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg in diesen Beruf geben?

Um Gottes Willen – ich kann doch Jüngeren, die in dieser digitalen Welt von Geburt an zuhause sind, in meinem Alter keine klugen Ratschläge über den Umgang mit dem Internet geben! Die finden den Weg durch die Welt der Echokammern vermutlich viel besser als ich.

Aber wenn man Sie doch mal um einen Ratschlag bittet: Wie werden wir der verfahrenen Situation brutalisierter Debatten bloß wieder Herr?

Ganz ehrlich? Mehr aushalten! Wobei natürlich jeder persönlich entscheiden muss, ob er sich so weit in die Auseinandersetzung begibt wie etwa Jan Böhmermanns Initiative Reconquista Internet. Zumal ich besonders bei jungen Leuten, die im Grunde ja 24 Stunden online sind, zunehmend Erschöpfungszustände sehe.

Zählt Ihr eigener Sohn schon dazu?

Zum Glück nicht, er ist knapp 13 und hat erst seit einem Jahr sein Smartphone. Aber durch ihn kannte ich Rezo schon, bevor er in den Schlagzeilen war. Nachdem ich gesehen habe, dass er sich dessen gut 50 Minuten langes Video dreimal angeschaut hat, hab ich mit ihm darüber diskutiert. Mein Argument war, dass „Die Zerstörung der CDU“ zwar in weiten Teilen sehr gut recherchiert ist, aber eine Polemik bleibt, die bewusst gelegentlich die Rückseite des Bildes ausblendet.

Sie versuchen Ihrem Sohn also schon, bevor er Teenager geworden ist, journalistische Grundtechniken beizubringen?

Ich würde eher kommunikative Grundtechniken sagen. Zum Beispiel, dass jeder Information mindestens zwei unabhängige Quellen zugrunde liegen sollten. Schon, um Gerüchte von Fakten unterscheiden zu können. Je früher man das vermittelt, desto besser.

Sieht Ihr Sohn dafür denn noch fern?

Also Ki.Ka hat er noch relativ lange konsumiert, aber mittlerweile ist er im Grunde nur noch auf YouTube unterwegs, also bei Leuten wie Julien Bam, den ich ohne meinen Sohn nie kennengelernt hätte. Interessanter Typ, der auch viel Quatsch gemacht, sich aber auch mit ernsten Themen wie Ausbeutung oder Naturkatastrophen beschäftigt hat, wofür er dann schon mal mit der UNICEF nach Bangladesch fährt. Ich nehme mal an, das ist mit ein Grund, warum er vor Erschöpfung bald wohl keine Videos mehr machen will. Er ist gerade 31 geworden und braucht eine Pause!

Anstrengende neue Welt.

Die aber auch uns alte Journalisten betrifft, weil wir unsere linearen Fernseh-, Zeitungs- oder Radioberichte parallel auf allen Digitalkanälen spielen müssen. Ein Zehnteiler über den Mittelmeerraum etwa, den wir gerade für Arte machen, wird ganz natürlich von einer Web-Serie begleitet. Das muss man alles mitdenken, kostet Kraft und Ressourcen, ist aber journalistisch auch ungeheuer spannend.

Wer Julien Bam und Rezo, aber auch Funk oder modernen ARD-Dokus verfolgt, sieht oft gute Recherchen mit großem Getöse. Ist das der Weg in die Zukunft oder sollten anspruchsvollere Inhalte diese Spirale der Effekthascherei verlassen?

Ich glaube, das ist tatsächlich eine Frage des Mediums. Manche Kollegen, die von klassischen in digitale Medien gewechselt sind, erzählen oft, sie seien automatisch etwas lauter und zugespitzter geworden. Das Ausrufezeichen verbreitet sich online schneller als das Fragezeichen. Aber Rezos Video wäre bei aller Lautstärke sicher nie so hochgekocht, wenn die CDU darauf nicht so hysterisch hilflos reagiert hätte. Dennoch finde ich es schade, dass Rezo sich im Anschluss einer offenen und direkten Auseinandersetzung mit der Partei verweigerte; uns hat er im Übrigen auch abgesagt und ist stattdessen zu Böhmermann gegangen. Ich hätte ihn – gar nicht mal zwingend in der Talkshow – wirklich gern nach seinen Quellen befragt, seiner Recherche jenseits jenes Materials, das er von Tilo Jung verwendet hat.

Hat er sich aus Ihrer Sicht vor der Kontroverse gedrückt oder einfach Ihr Format weniger wertgeschätzt als etwa den Netzhelden Böhmermann?

Das kann ich nicht beurteilen. Er hat einfach nein gesagt.

Wie beurteilen Sie es im Angesicht dieser Gesprächsverweigerung, dass WDR-Intendant Tom Burow Anfang des Jahres das berühmte Umweltsau-Video vom Netz genommen und sich dafür entschuldigt hat?

Soweit ich es verstanden habe, hat nicht er das Video aus dem Netz genommen, sondern sich erst danach eingeschaltet. Dem Gespräch hat er sich nicht verweigert. Ich habe ihn um seinen Job nicht beneidet: einerseits auf echte, empörte Zuschauer zu reagieren, andererseits diese von gesteuerter, rechter Propaganda zu unterscheiden und bei alldem auch an die Kollegen im Haus zu denken. Ein exemplarischer Fall eines kaum mehr beherrschbaren Auflaufs von Erregung.

Sie sind seit mehr als 35 Jahren Journalistin, die allermeiste Zeit davon im Fernsehen. Gibt es bei Ihnen da so etwas wie Ermüdungserscheinungen?

Wenn dem so wäre, würden Sie mich jetzt hier nicht mit Ihnen sitzen sehen Sobald ich Ermüdungserscheinungen habe, höre ich auf.

Und Abnutzungserscheinungen?

Denen habe ich gerade vorgebeugt, indem wir wie gesagt vom großen Disput, den wir jahrelang sehr erfolgreich orchestriert haben, zur kleineren Form gewechselt sind. Es wäre für uns schwierig geworden, diese Form der Auseinandersetzung weiterhin auf die Bühne zu bringen, ohne sich zu wiederholen. Übrigens ist die Arbeit als Produzentin auch gut gegen Abnutzunserscheinungen. Unsere Filme und Dokumentationen liegen mir ebenso am Herzen. Eine gute Ergänzung.

Noch Ergänzung oder schon Abzweigung?

Ersteres! Ich habe noch immer großen Spaß an Interviews und Gesprächen. Wir arbeiten gerade sogar daran, eine Podcast-Reihe zu starten. Fragen Sie mich das also in drei, vier Jahren nochmal, aber im Moment läuft es gut, wie es läuft.

Was ist denn der größte Feind kreativer Inspiration – Routine?

Nicht allein, denn ohne Routine gibt es keine Perfektion. Als ich in den Beruf gegangen bin, hatte ich erstmal nur ein Ziel: Mich nicht immer mit denselben Dingen zu beschäftigen. Solange das gegeben ist, ist immer Raum für Kreativität und Inspiration.

Das Interview ist zuvor im Medienmagazin journalist erschienen

Menschenleere & Echtzeitserien

Die Gebrauchtwoche

30. März – 5. April

Okay, wir haben’s jetzt verstanden: auch A- bis C-Promis haben Wohnzimmer, in denen es Möbel, Wände, Bilder, Grünpflanzen gibt, also Einrichtungselemente, die nun als TV-Kulisse reichen müssen. Seit zwei Wochen schon begrüßen Max Giesinger, Max Giesinger, Max Giesinger und ein paar andere PR-Berater in eigener Sache das Publikum aus ihrer Privatsphäre, um in Zeiten der Kontaktsperre Studioatmosphäre zu simulieren. Was anfangs den Umständen geschuldet noch irgendwie kreativ wirkte, ist allerdings rasend schnell zur ritualisierten Kommunikationsstörung verkommen.

Die Jubiläumssendung zum 40. Geburtstag von Verstehen Sie Spaß? etwa, mit der Guido Cantz am Samstag abermals unter Beweis stellte, sich selbst weitaus mehr zu lieben als seinen Beruf, zeigte mit jeder Videoschalte mehr, wie schal der zweidimensionale Ersatz für dreidimensionale Anwesenheit ist. Und weil das langsam alle begreifen, macht das Fernsehen nun Phase 3 der coronabedingten Transformation durch. Auf die erste der Nachrichtendruckbetankung Anfang März folgte schließlich auf halber Strecke die heitere Smartphone-Heimberichterstattung, bevor nun langsam die Phase des Eskapismus anbricht.

Die Leute haben halt die Schnauze voll von Informationen über die Dramatik der globalen Pandemie und wünschen sich andere Bilder als jene, menschenleerer Städte und sterbender Patienten. Gleichwohl ist auch da Einfallsreichtum gefragt. Nachdem Sender vom Ersten bis Sport1 die fußballfreie Zeit mit „Re-Live“ genannten Spielen früherer Tage überbrücken, hat Sky das Wiederholungsprinzip am Wochenende perfektioniert und den abgesagten Bundesligaspieltag in einer HisTOOOrischen Konferenz durch Highlights exakt jener Partien ersetzt, die eigentlich angesetzt waren. Und während sämtliche Tatort-Dreharbeiten seit Freitag brachliegen, hat Neo eine Online-Serie gestartet, die quasi in Echtzeit entstanden ist.

Die Frischwoche

6. – 12. April

Seit Freitag kann man Lavinia Wilson nun werktags in der Mediathek dabei zusehen, wie sie als Werberin Charlotte ihr Hipster-Leben umkrempeln will, durch die Pandemie aber Drinnen festsitzt, so der Titel. Das ist trotz (oder wegen) der räumlich getrennten Herstellung aller Beteiligten von Showrunner Philipp Käßbohrer wirklich charmant und belegt das Improvisationsvermögen der Branche. Noch klassisch entstanden ist dagegen das Serienjuwel Merz gegen Merz mit Annette Frier und Christoph Maria Herbst, die ab Donnerstag um 22.15 Uhr acht Folgen lang ihren Ehekrieg fortsetzen.

Zwischendurch erinnert uns Arte im Themenabend Afghanistan – Das verwundete Land (Dienstag, 20.15 Uhr) vier Teile am Stück daran, dass die Welt nicht nur von Viren infiziert ist, während sich das ZDF in Streitfall Rassismus zeitgleich mit versteckter Kamera auf die Suche nach deutscher Alltagsxenophobie begibt – deren radikalsten Auswüchse jahrelang von den Behörden so vernachlässigt wurden, dass Die Story im Ersten: Der schwache Staat am Montag um 22.45 Uhr viel Erschütterndes zu berichten hat.

Dabei zeigt der ARD-Zweiteiler Der Überläufer eindrücklich, wohin es führt, wenn Rechtsradikalismus unterschätzt wird. Mit Jannis Niewöhner als Fahnenflüchtiger wird der Schrecken des 2. Weltkriegs Mittwoch und Freitag manchmal zwar leicht überdreht, insgesamt aber recht eindrücklich nachgespielt. Und weil man dieser Tage ja nicht umhinkommt, Streamingportale zu empfehlen, noch drei Angebote aus dem Netz: Detlev Buck hat aus Bibi & Tina – so heißt es bei Amazon – eine „Live-Action-Serie“ gemacht“, am Donnerstag startet Netflix die zweite Staffel der Anime-Serie Hi School Girl. Und für Fans auf Entzug sei hier noch The English Game empfohlen, mit der Downton Abbey-Macher Julian Fellows an gleicher Stelle die Ursprünge des Fußballs im 19. Jahrhundert nachspielt.

Klingt wie das Traumschiff, auf dem Florian Silbereisen Sonntag der Wirklichkeit in Richtung Marokko entflieht, nicht zu Unrecht nach Wiederholungen der Woche. Von denen gibt es an Osterwochenenden zwar allein schon Hunderte vor biblischer Tapete, aber ulkig ist in jedem Fall tags zuvor (20.15 Uhr, K1) Der Schatz im Silbersee, 1963 erster diverser Winnetou-Filme, während E.T. (Samstag, 22.25 Uhr, Neo) 1982 der erste richtig erfolgreiche diverser Megablockbuster von Steven Spielberg war. Und Brennpunkt Brooklyn kann man sich Donnerstag (22 Uhr, SWR) schon deshalb noch einmal ansehen, weil Gene Hackmann darin 1971 quasi die Blaupause aller Drogenmafiaserienermittler von heute war.