Das Fernsehjahr: 2014 & 2015

Katzen, Götter, Weltherrschaft

Das Fernsehjahr 2014 war mal schön, mal schlimm, also immerhin abwechslungsreich. Ein Rückblick mit Aussicht auf das, was kommt.

Von Jan Freitag

Der Mensch an sich mag Happyends. Vor die Wahl gestellt wird, erst die gute oder schlechte Nachricht zu hören, entscheidet er sich daher stets für letztere, um erstere hernach zu lindern. Auch das Fernsehen funktioniert so. Oder gab’s 2014 eine messbare Anzahl Filme ohne seligen Ausgang? Eben! Wer das TV-Jahr resümieren will, tut also gut daran, mit den schlechten News zu beginnen, was das Medium unerträglich macht und nicht für Um-, sondern Abschaltimpulse sorgt.

Genau das dürfte passiert sein, als das ZDF zum Auftakt Sascha Hehn auf die Traumschiff-Brücke beorderte und Josefine Preuß als Pilgerin in eine öffentlich-rechtliche Kopie der kommerziellen Wanderhure. Als Gebührenzahler dachten da viele, schlimmer könne es nicht kommen. Doch es kam schlimmer, viel schlimmer. Inspector Jury belegte an gleicher Stelle, wie viele Klischees in einen einzigen Serienpiloten passen. Im April machte die ARD Daniela Katzenberger zur Heldin des Mundartkrimis Frauchen und die Deiwelsmilch und vergaß vor der Mediatoren-Serie Paul Kemp, einfach mal mit einem Mediator zu sprechen, wie das Mediatieren überhaupt geht. Das Zweite dagegen vergaß zugleich, dass miese Bücher wie Friesland dank Florian Lukas allein nicht lustig werden. Und bei solch teurer Neuware ist noch nicht mal von Billigkopien die Rede, mit denen viele Kanäle selbige verstopfen. Nach EWG und Dalli, Dalli wurden nun Geld oder Liebe und Am Laufenden Band aus der Gruft gezerrt, was JBK an Einfallslosigkeit aber übertraf, als nicht wie versprochen das Publikum wählte, wer Deutschlands Beste seien, sondern die Präsenz der Prämierten im Studio.

Man könnte noch mehr aufzählen, viel mehr. Jene Fempics zum Beispiel, mit denen Frauen wie der Grundgesetzmutter Selbert oder der Chemikerin Immerwahr Filmdenkmale gesetzt werden sollen, die zu Zeugnissen pathetischer Ödnis gerieten. Man könnte sich den Privaten widmen, die ihren Hang zum dramaturgischen Durchfall mit von Knastarzt, Bachelorette und Henning Baum als Götz von Berlichingen (RTL) bis hin zu Hebammen, Schlikker-Frauen und Wayne Carpendale bei Deal or no Deal (Sat1) bewiesen. Man könnte sich aufregen über Pro7, wo Elton Millionäre wählen ließ, oder Vox, wo Schwarze unter Einsatz rassistischer Stereotypen zu Eisläufern trainiert wurden. Man könnte also permanent klagen – oder endlich zu den guten Nachrichten kommen.

Denn davon gab es auch 2014 genug. Etwa, dass man eine hirntote Serie wie „Fall für zwei“ mit frischem Personal beleben kann, was satirisch auch bei der Anstalt gelang. Oder dass Vox die fremdschamfreie Musikshow Sing my Song gelungen ist. Auch dass Dominik Graf seine Sehenswürdigkeit Die reichen Leichen im BR uraufgeführt hat. Und dass Krimi dank des Theater-Tatorts Im Schmerz geboren, ganz zu schweigen von Roeland Wiesnekker als Täter ohne Opfer in Mörderische Hitze doch überraschen kann. Wenngleich weniger als Francis Fulton-Smith. Wie Kai Wiesinger als Christian Wulff (Sat1) spielte er Franz-Josef Strauß in der Spiegel-Affäre so überzeugend, dass die Realität durch den Bildschirm blickte und sprach: Das bin ja ich!

Charly Hübner als überforderter DDR-Grenzer an der „Bornholmer Straße“, Matthias Brandt als viril scheiternder Präsidentschaftskandidat (Männertreu), Ulrich Tukur als pädophiler Odenwald-Direktor und ein grandioses ZDF-Ensemble im Entnazifizierungskammerspiel Zeugenhaus – sie alle machen Wirklichkeit fiktional so fühlbar, dass die Grenze zur Dokumentation verwischt.

Wenn auch nicht ganz. Dafür sorgte vor allem Arte, wie in der Reportage 24 Stunden Jerusalem, im Weltkriegspuzzle 14 Tagebücher oder im Summer oft the 90s mit Scooter als Moderator eines aberwitzigen Jahrzehnts. Auch die Muttersender zeigten da Bemerkenswertes. Doch so manch famoser Sachfilm à la Putins Spiele legte gleichsam ein Dilemma offen: Um die deutschen Medaillenträume nicht zu stören, lief die fabelhafte Demaskierung des olympischen Irrsinn von Sotschie zur Nacht. Ähnlich war es bei der Fußball-WM, wo die hyperpatriotischen Jubelperser vom schlichten Hasan Salihamidzic über die zappelige Britta Heidemann bis zur devoten Katrin Müller-Hohenstein belegten, dass es ARZDF nie um Sport, sondern bloß Party geht.

Wie gut, dass 2015 keine größere ansteht.

Anstehen tut dagegen der übliche ZDF-Event zum Jahresauftakt, in dem das biedere DDR-Bashing Tannbach ab Sonntag 270 quälende Minuten lang am deutschen Opfermythos bastelt. Mit der medizinischen Multikulti-Serie Sibel & Max könnte dem Zweiten dagegen tags zuvor endlich mal wieder Qualität am Vorabend gelingen. Und ab 20. Februar tritt Moritz Bleibtreu in Schirachs Schuld die würdige Nachfolge Josef Bierbichlers an. Noch was? Ach ja: Nico Hofmanns groß angekündigten Ost-West-Spionage-Achtteiler mit dem patriotischen Deppentitel Deutschland hat sich RTL gesichert, während das ZDF parallel zu Thomas Gottschalks Moderation von 50 Jahre Goldene Kamera am 27. Februar allen Ernstes über die Fortsetzung von Wetten, dass…? diskutiert. Bald darauf dann ermittelt in Nürnberg das 2863. Tatort-Team, ZDFkultur und EinsPlus wandern ins Internet, während der Ableger Neo seine erste Sitcom Im Knast produziert, gefolgt von einer Drama-Serie im US-Stil, die natürlich von der Originalquelle ansehnlicher sein dürfte, was das Breaking-Bad-Sequel Better Call Saul mit Walther Whites aberwitzigem Anwalt belegen dürfte. Bad news gewohnt zuletzt: Nachdem Amazon ab März die postapokalyptische Reihe The After im eigenen Videodienst verbreiten wird, übernimmt Netflix mit der Seriensuperpower des Marvel-Helden Daredevil die Weltherrschaft und sperrt alle Fernseher in dunkle Kellerlöcher. Frohes neues Fernsehjahr!

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Monolithen & Magerquark

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

22. – 28. Dezember

So, das Medienjahr geht zu Ende, das wie selten eines zuvor im Schatten des Abschieds stand. Abschied von der trügerischen Gewissheit, Nachrichten müssten keine europäischen Kriege mehr vermelden. Abschied auch vom romantischen Glauben, die Tagesschau vermelde nur wirklich Mitteilenswertes wie solche Katastrophen. Und Abschied von vertrauten Begleitern der Abendunterhaltung, die sonderbar unvergänglich erschienen. Drei Namen stehen da stellvertretend fürs Medienjahr: Wladimir Putin, Johann Westhauser und, nein, nicht Markus Lanz, sondern Blacky Fuchsberger.

Der russische Präsident stürzte mit seinem nationalistischen Egotrip auf Krim und Donbass den halben Erdball in die Krise und war daher zu viel, aber völlig zu recht auf dem Bildschirm. Der österreichische Höhlenforscher versetzte mit seinem verpatzten Egotrip in menschenfeindliche Tiefen die halbe Nachrichtenwelt in Aufruhr und war daher zu viel, und das völlig zu unrecht auf dem Bildschirm. Der einstige Showmaster starb einen unspektakulär friedlichen Tod und verlässt den Bildschirm somit für immer.

So wie ein paar andere TV-Monolithen vergangener Epochen: Maximilian Schell und Mareike Carrière, Frank Schirrmacher und Robin Williams, Peter-Scholl Latour und Siegfried Lenz, Udo Reiter und zuletzt einer, der trotz seiner 80 Jahre kein Alter kannte: Udo Jürgens. Umso eifriger überholten sich die Sender mit Nachrufen auf den wohl letzten wahrhaft zeitlosen Entertainer und ernteten dafür auch noch sensationelle Quoten mit Dokumentationen, die erst Wochen zuvor Premiere hatten. Fernsehen, das unbekannte Wesen. Einerseits.

0-FrischwocheDie Frischwoche

29. Dezember – 4. Januar

Andererseits hat es Seiten, die berechenbarer sind als Silvester, Feuerwerk und Dinner for One zusammen. Tannbach zum Beispiel, der nächste Zeitgeschichtsschinken rund um irgendwas mit Hitler gedreht. Ein Staraufgebot von Nadja Uhl über Lauterbach, Gedeck, Zehrfeld bis hin zu den Nachwuchskräften Henriette Confurius oder Jonas Nay spielt ab Sonntag Nachkriegszeit im geteilten Titeldorf nach. Für einen hohen siebenstelligen Betrag wartet der Dreiteiler wie üblich mit historischer Detailversessenheit auf. Und was zeigt uns das ZDF da? Dramaturgischen Magerquark mit Pilcheraroma. Kein Mut, kein Schwung, kein gar nichts. Nur betuliche Langeweile in authentischer Kulisse. Selten begann das TV-Jahr so bieder.

Und selten ging es so bieder weiter. Auch die lang ersehnte Adaption von Noah Gordons Medicus überrascht Montag/Dienstag im Ersten ja allenfalls mit den migrationshintergründigen Zielgruppenstars Elyas M’Barek und Fahri Yardim an der Seite von Ben Kingsley und einem Hauptdarsteller, der wie stets in solchen Stoffen viel zu glatt ist für seine Zeit. Gute Unterhaltung, zugegeben. Aber drei Minuten nach dem Abspann längst vergessen. Dennoch darf der Blockbuster das, was der ARD-Verantwortliche Volker Herres immer dann aufs Strengste verbittet, wenn man mal eine Doku zur Primetime fordert: Die Sprengung des Programmschemas. Dank des Mittelalterarztes mit Hipsterfrisur fällt der anschließende Sachfilm aus.

Schon aus Protest sollte man daher den ganzen Tag 3sat sehen, wo der Themenabend Hans und Heinz wenigsten konsequent auf Tradition setzt. Genauer: Die Herren Moser und Rühmann, denen der Kanal ab 7.10 Uhr 15 meist schwarzweiße Klassiker widmet. Alternativ könnte man aber auch das tun, was Silvester ohnehin ratsam ist: Nicht fernsehen! An Neujahr gibt es dann ja Gelegenheit, die Kurzabstinenz auszugleichen. Etwa durch den Tatort mit Nora Tschirner und Christian Ulmen als Weimarer Ermittlergespann Dorn/Lessing, das trotz des denkbar doofen Titels Der Irre Iwan am Ende mit einer absurden Groteske überzeugt, wenngleich es dabei schon etwas krude zugeht in Weimar. So viel Witz schafft nicht mal Münster, Ausgabe, geschweige denn das Saarland.

Ansonsten steht die Woche voll im Zeichen patriotischer Klebrigkeit. Beispiel Neujahrsskispringen, das die ARD ab Mittag gewiss wieder zum nationalen Erweckungserlebnis hochjazzt wie den Gewinn der Fußball-WM, dessen filmisches Zeugnis Die Mannschaft am Freitag zur besten Sendezeit belegt, dass Sportreportagen wie Traumschiffe ins Wohnzimmer schippern können. Und Samstag zeigt Eine Liebe für den Frieden mit Birgit Minichmayr als Bertha Suttner an der Seite von Sebastian Koch als Alfred Nobel, wie artig Geschichte daherkommen kann. Dann doch lieber Fiktion wie den schwarzweißen Tipp der Woche (Montag, 23.35 Uhr, Servus): Goldenes Gift, ein Film Noir von 1947 mit Robert Mitchum als Privatdetektiv im Griff der Femme Fatale Jane Greer. Oder auf Arte in Farbe (Dienstag, 20.15 Uhr): Robert Altmans Hollywoodpersiflage The Player, mit 70 Stars von 1992. Auch übersetzt sehenswert.


Joe Cocker: Coverkönig & Luftgitarre

Der letzte Schrei

Joe Cockers Karriere begann in Woodstock, sie führte ihn bis vors deutsche Fernsehpublikum. Er war der Bauch und die zitternde Hand des europäischen Rhythm and Blues.

Von Jan Freitag

Am Ende bleibt dieser Schrei. Auch ein halbes Jahrhundert später vereint er fast alles, was ein einzelner Ausruf aus voller Brust umfassen kann: Schmerz und Erlösung, Hingabe und Wut, Hilflosigkeit und Trotz. Es war die erste Urschreitherapie der Popmusik, Glaubensbekenntnis ihrer universellen Strahlkraft. Und bis heute erscheint selbst in den Köpfen Spätgeborener rasch ein Bild des Schreienden, dieses Waldschrats mit den Kotelettenbüschen überm verwaschenen Batikhemd. Er sollte zur Ikone werden, ein weißer Sänger, wie ihn der schwarze Blues bis dahin selten erlebt hatte: Joe Cocker. Auf dem heiligen Acker von Woodstock der Geheimtipp unter revoltierenden Stars, kaum 25 Jahre jung, doch mit einer altersweisen Seele, so schien es. Er sang ein Stück der Beatles nach, ach was, er riss dieses With A Little Help From My Friends förmlich aus seinem Herzen und schenkte es den aufgekratzten Blumenkindern wie einen Liebesbeweis.

“Do you need anybody?
I need somebody to love!

Und das seid Ihr! Und das bin ich!

Dies ist einer der entfesselten, leidenschaftlichsten, brillantesten Live-Auftritte im Poparchiv, und er brennt sich mitten ins kollektive Gedächtnis einer Dreiviertelgeneration. Als die dann älter wird und mit ihr der staksige Zausel mit der verschrobenen Optik, vererbt sie es an die Nachgeborenen. Auch als die längst Techno, Grunge, Rap und Britpop hört, weht der Schrei sonderbar beharrlich durch den Hallraum des kollektiven Gedächtnisses wie Wagners Walkürenritt oder Presleys Tremolo. Er lässt einfach nicht los, niemals, so tief wie er aus dem Magen kommt. 1969 auf einer weltgroßen Bühne in der nordostamerikanischen Provinz. Eine Ewigkeit her.

Dabei ist es nicht gerade schmeichelhaft für einen Künstler, immer und immer wieder auf ein singuläres Frühwerk festgenagelt zu werden, als sei danach nichts mehr gekommen. Schließlich ist danach einiges gekommen, vieles sogar. Eine Weltkarriere, beinahe Kultstatus, auch Lachnummern zuweilen, am Rande der Selbstentblößung, dazwischen aber stets er: der europäische Bauch des Rhythm and Blues, ein Sänger, wie es vor ihm keinen gab und nach ihm kaum je einen geben wird. Jetzt ist er tot, gestorben mit 70 an den Folgen seiner langjährigen Lungenkrebserkrankung, daheim in Colorado, offenbar ganz still und friedlich.

Also irgendwie ganz anders als sein Leben zuvor. John Robert Cocker, das ist zeitlebens die Flamme des musikalischen Feuers aller Generationen, die ihm an den Lippen hängt. Also eigentlich aller Generationen, vom Flower Power über den Eighties Pop bis ins Stammpublikum des ZDF. 1944 geboren in der britischen Stahlkocherstadt Sheffield, verdingt sich der gelernte Gasinstallateur nach Feierabend als Kneipensänger für ein paar Pfund Gage und reichlich Bier obendrauf. Er nennt sich Vance Arnold, spielt als Teenager mal vor den Rolling Stones, entert kurz vor Woodstock mit Marjorine erstmals die Singlecharts und besinnt sich sodann darauf, mit dem Liedgut anderer reichlich Erfolg zu haben. Bis zum Absturz.

Anfang der Siebziger exerziert Joe Cocker, was unter Superstars seinerzeit üblich ist: Er experimentiert nicht mit Drogen, die Drogen experimentieren mit ihm. Nichts, was er nicht in sich schütten, saugen, vermutlich injizieren würde. Nicht wenige seiner zwei Dutzend Platten erscheinen in jener Epoche, doch sie verblassen oft in Echtzeit. Kurz darauf sitzt er sogar im Gefängnis. Irgendwas mit Substanzen, irgendwas mit Gewalt. Ein Konzert platzt. Joe Cocker ist am Boden. Bis ihn ein Duett mit Jennifer Warnes 1981 am schütteren Haar aus dem Sumpf zieht, rauf nach Hollywood, wo Up Where We Belong als Titelsong von Richard Geres Ein Offizier und Gentleman 1983 den Oscar gewinnt und Cocker und Warnes mit einem Grammy geehrt werden.

Fortan zählt der angehende Schmusebarde zum festen Inventar des populärmusikalischen Biedermeier. Nicht nur, weil seine Coverversionen – vom Sixties-Hit Summer in the City über die virile Bluesschnulze You Can Leave Your Hat On bis zum Bierwerbejingle Sail Away – das Bedürfnis nach leidlich gediegenem Schlager befriedigten. Sondern weil Joe Cocker mehr ist als bloß Interpret chartstauglicher Stromliniensongs. Ein halbes Menschenleben lang mimt er den Schatten im Showbiz, die kleine Kante auf der polierten Oberfläche des Hochglanzgeschäfts, ein Fehlbarer mit Riesenerfolgen, und zwar keiner, so raunt man sich zu, der mal einen übern Durst trinkt – nein, ein unverbesserlicher Trinker, den die tödlichste Sucht der Menschheitsgeschichte mit beharrlichem Starrsinn zugrunde richtet. Für die Mehrheitsgesellschaft draußen an den Bildschirmen, vor allem das deutsche Publikum, ist er somit der lebende Beweis, dass ein wenig Schieflage im Leben schon okay ist, solange man seinen Job macht. Ein englischer Harald Juhnke gewissermaßen.

Dabei hat seine markanteste Eigenart, und das ist umso erstaunlicher, gar nichts mit Drogen zu tun hat. Die zitternde Hand ist kein Suchtergebnis, sondern expressive Musikalität. Schon in Woodstock gestikuliert er seinen Auftritt beidhändig mit und gilt nicht ohne Grund als Erfinder der Luftgitarre. Dass Joe Cocker nicht perfekt singen kann und schon gar nicht tanzen, dass er kein Instrument beherrscht, geschweige denn Noten, dass sein Spätwerk besser zu Florian Silbereisen passt als zu verschlammten Kiffern am Eve of Destruction, all dies schadet seiner faszinierenden Karriere nicht. Nach ihrem Ende ist da doch weit mehr als dieser eine Schrei. Der war nur besonders laut.

Mehr Text’n’Bilder’n’Kommentare unter http://www.zeit.de/kultur/musik/2014-12/joe-cocker-blues-nachruf


Frank Plasberg; Dauerbrenner & Quizonkel

Mein Lagerfeuer ist ein Grill

Seit fast 15 Jahren ist Frank Plasberg aus der ersten Reihe deutscher Fernsehmoderatoren kaum wegzudenken. Am Samstag moderiert er daher auch das Jahresrückblick-Quiz der ARD. Zeit ein zurücklickendes Interview zu zeigen, in dem der 57-Jährige mal selber befragt wird. Über hart aber fair,  Kai Pflaume und ob er wieder zu den Geiselnehmern von Gladbeck ins Auto steigen würde.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Plasberg, wenn man im staatlichen Rundfunk Talk- und Quizshows moderiert, bedarf es da auch eines staatstragenden Moderators?

Frank Plasberg: Nee, aber da ich mich weder durch besonders gutes Aussehen noch Hüftgeschmeidigkeit auszeichne, bedarf es offenbar eines Moderators, der aus dem journalistischen Bereich kommt. Sehen Sie mich an – optisch stehe ich eher außerhalb des Fernsehmainstreams. Und im Bergischen Land ist zudem das Charme-Gen eher homöopathisch verteilt.

Wenn Sie Ihre Herkunft nicht für Showformate prädestiniert – was dann?

Also irgendwas Showtaugliches hat der ARD-Unterhaltungschef bei hart aber fair offenbar ausgemacht. Da wird übrigens häufiger gelacht, als sie vielleicht glauben. Außerdem hat meine Neugier über die anfängliche Skepsis gesiegt; also mache nun im dritten Jahr das Quiz der Deutschen und vorher schon Die Klügsten Kinder im Norden. Mir macht das als Ausflug einen Riesenspaß, den Zuschauern offenbar auch.

Spiegelt dieser Erfolg in der Kai-Pflaume-Welt die Sehnsucht des Publikums nach dem alten Typus väterlich-vertrauenswürdiger Showmaster von früher wieder?

Ich kann den Zuschauer da auch nicht enträtseln. Aber wenn ein bestimmter Fernsehtypus zur Gewohnheit wird, tut Abwechslung gut, auch wenn ich das Genre in sehr verträglichen Dosen durchzurütteln versuche.

Was Sie Durchrütteln nennen hat eine süddeutsche Zeitung Geschmackskonsens einer Kaffeefahrt genannt.

Super! Aber ehrlich: wenn man Talkshows oder andere Sendungen etwas wie das „Quiz der Deutschen“ als Fernsehkritiker in Serie  und oft unterbezahlt gucken muss, ruft das automatisch einen kritischeren Umgang hervor. Die  Zuschauer genießen Unterhaltung trotz der Gebühren viel entspannter.

Gewärmt vom Lagerfeuer der Familie.

Ach, das wird ja nur noch beim ESC entfacht. Bei mir vertreiben sich Familien den Abend eher gesellig mit gehobener Heimatkunde, die im besten Fall für Gesprächsstoff sorgt. Mein liebstes Zuschauerlob, morgens in der Kölner Straßenbahn, beginnt mit „isch wollt dat eijentlisch jar nich jekuckt haben, aber…“. Da ist einer dran geblieben, einfach weil ihm gefiel, was er gesehen hat. Der lernt etwas deutsche Zeitgeschichte – das ist meinem Kerngeschäft doch ein bisschen näher als eine Kuppelshow. Mein Lagerfeuer ist eher ein Grillabend.

Aber der quotenärmere Grill, die Talkshow, ist Ihnen wichtiger.

Schon, aber auch die ist bei mir nicht unterhaltungsfrei, sonst hätte ich am schwierigen, fußballinfizierten Mittwoch keine 12,9 Prozent Marktanteil. Bei 100 Sendern unterm Diktat der Fernbedienung  muss auch seriöses Fernsehen unterhaltsam sein: So wie „Bild“ mehr als bloß inhaltliche Kaufreize auslösen muss, damit man sie am Kiosk mitnimmt, brauche ich mehr als bloß trockene Sachdebatte. Gerade auf dem neuen Sendeplatz montags, 21 Uhr, wo die Quote der ARD bisher nur bei acht Prozent lag.

Immerhin mit Dokumentationen, denen hart aber fair nun den letzten frühen Sendeplatz in der ARD  klaut.

Ich nehme niemandem was weg. Das Programmschema tüfteln andere aus. Und die ARD legt wert auf die Feststellung, dass unterm Strich keine Dokumentation weniger ausgestrahlt wird. Und wer sagt denn, dass man nicht auch um 22.45 Uhr ein Publikum erreichen kann und losgelöst vom Druck der frühen Sendezeit – und da weiß ich, wovon ich rede – als Dokumentarfilmer eine Resonanz erzeugt, auf die man stolz sein kann?

Wie stolz waren Ihre Eltern eigentlich, als Sie Journalist wurden?

Sie waren es über meine Arbeit bei der Schülerzeitung und der Bergischen Post; als ich mit 18 volontieren statt studieren wollte, waren sie es dann nicht mehr so. 1975 gab es ja eine, wenn auch noch harmlose, Zeitungskrise. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter, meine Mutter Kinderkrankenschwester, ich der einzige Sohn – ihre Sorge um meine Zukunft war typisch kleinbürgerlich. Aber sie haben mich trotzdem nach Süddeutschland gehen lassen.

Unter anderem zur Münchner Abendzeitung. Haben Sie da Ihren positiven Zugang zum Boulevard trainiert?

Trainiert klingt, als müsse man sich zum Durchhalten zwingen – ich bekenne mich zum Boulevard, nicht zu verwechseln mit der Gosse. Im Idealfall vermittelt Boulevard seine Themen über Emotion statt bloß Fakten. Aber manche Redaktion baut sich bei Adelshochzeiten ungeachtet der Publikumswünsche eine Brandmauer zwischen Bauchgefühl  und Hirn. Das Problem hatte ich nie. Vielleicht ist da hilfreich, wenn man nicht so der intellektuelle Typ ist.

Zeigt sich das auch in der Wahl ihrer Talkthemen?

Klar! Bei meiner Auftaktsendung am Montag wollte ich sehen, ob es in Patchwork-Familien wirklich so bunt und lustig zugeht wie viele Filme zeigen. Es geht dabei um Gefühlslagen in realen Verhältnissen, nach meiner Definition ein klassisches Boulevardthema, weil gesprächswertig. Und das hat ja auch ganz gut funktioniert. Die Quote macht Mut – sie lag ein Fünftel überm Schnitt auf diesem ungewohnten Platz. Im Übrigen: Ich habe vor guten Boulevardjournalisten oft mehr Respekt als vor Dachzimmerfeuilletonisten, die ohne Konkurrenzdruck im eigenen Gehirn recherchieren.

Gibt es an ihrer eigenen Boulevardzeit etwas zu bereuen?

Nein, als Polizeireporter habe ich getan, was man da eben tut, und es gibt einfach nicht die ideale Herangehensweise an einen Bauern, der seinen Sohn mit einem Traktor totgefahren hat. Trotzdem habe ich auch mit dem gesprochen. Das war ebenso überflüssig wie schmerzlich für den Mann. Aber eben auch der Job des Polizeireporters.

War der eine gute Schule fürs Talken?

Ich hab mir dabei den Satz „da brauch ich nicht anzurufen, das bringt eh nichts“ abgewöhnt und auch sonst viel gelernt: Grenzen zu beachten, trotzdem hartnäckig zu sein und beim Recherchieren alles zu versuchen, was vertretbar ist.

War es, im Rückblick, vertretbar, die Bankräuber auf der Flucht aus Gladbeck 1988 durchs Autofenster zu interviewen?

Das würde ich heute nicht mehr machen, klar; der Fall hat gezeigt, was passiert, wenn der Jagdtrieb mit Journalisten durchgeht. Ich habe aber noch so viel reflektiert, dass ich das Interview nicht live eingespielt habe bei meinem damaligen Sender, sondern gesagt habe, hört Euch das erst mal an und entscheidet, was Ihr damit macht. SWF 3 hat es nicht gesendet. Ein gutes Beispiel dafür, wie aktueller und brisanter Journalismus im Prinzip funktioniert. Ein Reporter versucht soviel wie möglich zu bekommen, ein Redakteur ordnet mit Distanz ein. Das ist bei der ARD so wichtig wie es beim WDR war.

Sie haben dort rund 20 Jahre erst die Aktuelle Stunde, dann  hart aber fair moderiert – warum sind Sie nach so langer Zeit aus der Nische ins Rampenlicht des Ersten gewechselt?

Ich habe das nicht so empfunden, weil mich Verbreitungswege nie besonders interessiert haben. Ich wollte gute Sachen für möglichst viele Zuschauer machen. Und durch den Wechsel ins Erste hat sich daran nichts geändert, auch wenn viele das behaupten. Erst neulich kam ein Chefarzt im Restaurant auf mich zu und meinte: Im Dritten waren Sie schärfer! Da hab ich ihm einen Tipp gegeben: Gucken Sie sich die Wiederholung morgen im Dritten an und alles ist wie früher.

Und das im 13. Jahr…

Ist das wahr…

Wie lange kann man sich für so ein Format motivieren?

Die ARD sorgt ja immer wieder für einen Neustart und nun wollen wir mit frischer Kraft einen neuen Sendeplatz erobern.

Eben sagten Sie, selbst beim Wechsel vom WDR zur ARD habe sich nichts geändert?

Da haben Sie gut aufgepasst. Und in der Tat kriegen wir keinen Gast leichter im Ersten als im Dritten, genauso, wie wir auf beiden Sendern seltener als andere die extrem relevanten AAA-Promis hatten. Wir gelten nun mal als schwierig für geschmeidige Profitalker, aber genau das mag das Publikum. Das macht uns wiedererkennbar. Auch unser Markenzeichen Einspielfilme haben wir beibehalten. Andere machen das inzwischen auch, aber eine Studie hat uns kürzlich gelobt, dass wir sie eben am sinnvollsten einsetzen. Es würde mich freuen, wenn die Zuschauer das auch so empfinden.

Welche Unterschiede gibt es noch zwischen all den Talkshows im Ersten?

Stimmung, Zuspitzung, Dramaturgie. Die Temperaturen werden sich unterscheiden.

So sehr, dass es fünf geben musste?

Muss es fünf Automarken geben? Nimmt die Vielzahl der Talkshows nicht auch Druck von den einzelnen, alle zufrieden stellen zu müssen? Das sind philosophische Fragen. Ein Fernsehkritiker, der Programmschemata untersucht, verhält sich anders als Zuschauer, die nach Lebenswelt, Tagesform, Vorlieben einschalten. Das werden wir am neuen Sendeplatz bedienen müssen. Der Hauptunterschied ist, dass wir uns als Talkmagazin verstehen und als einzige in der originären Primetime um 21 Uhr stattfinden. Das ist Chance und Bürde zugleich.

Es wird also nicht zu viel getalkt?

Ich würde mir auch wünschen, es gäbe eine einzige Talkshow, die ich moderiere. Allein – das müsste ich dann in Nordkorea, nicht in einer Mediendemokratie machen. Ich würde mich immer für Vielfalt entscheiden. Die Gefahr der Marginalisierung sehe ich allerdings auch.

Wünschen Sie sich Christiansen-Zeiten zurück?

die stets Große Köpfe hatten und nie drauf achten mussten, wie man mit Gästen umgeht, die zum ersten Mal im Fernsehen sind und dann gleich 75 Minuten? Da führen wir intensive Gespräche, auch zum Schutz vor sich selbst. Man muss einer Hartz-IV-Empfängerin, und sei sie noch so eloquent, im Vorweg klar machen, dass ihr Auftritt weder die anwesenden Politiker noch die Gesetzgebung ändern wird. Da spüre ich große Verantwortung, fast eine Beschützerfunktion.

Wobei Sie jetzt selbst einen Beschützer haben, den Talkshowkoordinator im Ersten.

Thomas Baumann ist ein sehr sachorientierter Journalist. Nebenbei: Als Vater erwarte ich von meinen Kindern, dass sie jedes Essen erstmal probieren, bevor sie sagen, schmeckt nicht. So sollte sich auch die Mutter ARD verhalten. Wenn die merkt, dass so eine Gästedatenbank, wie sie der Koordinator verwaltet, am Ende nicht sättigend ist, wird sie sie überdenken.


Weihnachtsprogramm: Kinder & Krams

Bingle Bells

Weihnachten ist die Zeit des Friedens, des Schenkens – und des Fernsehens. Besonders Kinder werden an den Feiertagen sogar im öffentlich-rechtlichen Hauptprogramm rundumversorgt. Ganz im Gegensatz zum kommerziellen. Ein kleiner Überblick.

Von Jan Freitag

Binge Watching ist bekanntlich das neue Ding am Himmel zeitgenössischen Medienkonsums. Weil viele Zuschauer die starre Taktung des Regelprogramms langsam leid sind, schauen sie ihre Lieblingsformate lieber auf DVD oder im Internet. Besonders bei Importserien tendieren echte Fans dabei zur Druckbetankung: alle Folgen einer Staffel hintereinander weg, gern auch die der nächsten obendrein, Pausen nur zum Pinkeln, eben Binge Watching genannt. Dass man sich allerdings auch im öffentlich-rechtlichen Korsett derart dauerversorgen kann, auch noch mit ein und demselben Film, belegt – was sonst, in diesen Tagen? – Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.

Dreizehnmal wird der televisionäre Festtagsschmaus schlechthin allein an den drei Feiertagen von anspruchsvollen Sendern serviert. Auf EinsFestival können schlaflose Kinder das nostalgische Kleinod sogar nachts um eins oder halb fünf genießen. Kinderprogramm rund um die Uhr quasi. Womit wir beim Thema wären. Denn während ARD und ZDF ihr Nachwuchsangebot im Rest des Jahres praktisch vollends gen KiKa abschiebt, versuchen sie die Familie im Ganzen rings um Heiligabend nochmals grundzuversorgen und wissen sich mit ihren Spartensendern dabei in guter Gesellschaft. Vor allem mit Märchen, besonders bei den Dritten, mehr aber noch im Ersten. Seit sieben Jahren nämlich modernisiert dessen Reihe Sechs auf einen Streich alte Volksweisen von Grimm bis Andersen und macht daraus aktuelle Geschichten im nostalgischen Gewand.

Mit der 7. Staffel schwillt der Kanon nun auf insgesamt 34 Filme an: durchweg zielgruppenfreundliche 60 Minuten lang, allesamt auf ihre Weise – wenn schon nicht immer gleich gelungen, so doch immer gleich wertvoll. Denn auch das neue Quartett, darunter mit Siebenschön zum Auftakt erstmals ein Stück des Weimarer Erzählers Ludwig Bechstein, baut bezaubernde  Brücken zwischen Nostalgie und Realität, Märchenwelt und Gegenwart. Dafür sorgt im Anschluss Grimms Außenseitergeschichte Sechse kommen durch die ganze Welt, in der eine Gruppe zeitloser Freaks durchs geistig beschränkte Mittelalter irrt. Dafür sorgt aber mehr noch die furiose Adaption von Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.

Grimms Novelle über den Töpfersohn Michel (Tim Oliver Schulz), der die schöne Königstochter nur kriegt, wenn er das Schloss ihres Vaters von Geistern befreit, mischt so viel humoristischen Horror unters Coming-of-Age-Drama, dass es selbst für Game-of-Thrones-Fans einiges bietet. Dazu Rick Kavanian als Moorleiche oder Heiner Lauterbach als obdachloser Regent – fertig ist ein Lagerfeuer für die halbe Familie, das auf den anderen Sendeplätzen gerade fleißig gelöscht wird. Wie gut, dass es einer wie Christian Theede so sorgsam am Knistern hält.

Der rührige Regisseur aus Hamburg hat der ARD-Reihe mit Perlen von Allerleirauh bis zum Fischer und seiner Frau bereits fünf äußerst sehenswerte Beiträge hinzugefügt. Nun kommt noch sein Zweiteiler Till Eulenspiegel hinzu, auch so eine Ballade, die historisch kostümiert von der Verlogenheit des Menschen kündet, die sich bis heute durchs soziale Miteinander zieht. Als Event unter den vielen Neuheiten reiht sich auch diese Bestseller-Adaption demnach nahtlos ein in den Kanon modernisierter Klassiker, die das gesamte Weihnachtsprogramm füllen.

Das ZDF hält sich dieses Jahr bis auf das rührselige Emanzipationsmärchen Die kleine Lady (Freitag, 16.35 Uhr) und die fantasyartige Schneekönigin (10.40 Uhr) zwar mit weihnachtsaffiner Frischware für kleine und große Kids zurück. Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang ist es aber dennoch völlig egal, welches erste bis dritte Programm man vorm Wochenende einschaltet: es läuft garantiert eins der zahllosen Märchen, die in den vergangenen Jahren neu entstanden sind. Und mittendrin, besonders im MDR, wie gewohnt jene schwarzweißen bis bonbonfarbenen Kinderfilme der osteuropäischen Märchenschule, die nicht allein im ostdeutschen Gemüt wohlige Wärme entfachen.

Nur der KiKa bleibt da seltsam märchenfrei. Und natürlich die Privatsender, in denen sich alle Feststimmung eher in animiertem Hollywood-Bombast und ähnlich überdrehten Import-Komödien voll rotweißbemützter Stars erschöpft. Gut: schöner ist Weihnachten ohnehin, wenn die Glotze ausbleibt. Aber wenn man sich davor schon die Zeit bis zur Bescherung vertreibt, dann vielleicht besser mit Aschenputtel um eins im Ersten als der Weihnachtsgeschichte mit Schlümpfen zeitgleich auf RTL. Noch mehr Werbung braucht nach dem Konsumterror der Adventszeit sowieso niemand.

25. Dezember
14.15 Uhr, Siebenschön, ARD
15.15 Uhr, Sechse kommen durch die ganze Welt, ARD
16.15 Uhr, Till Eulenspiegel, 1. Teil, ARD
26. Dezember
14.15 Uhr, Die drei Federn, ARD
15.15 Uhr, Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, ARD
16.15 Uhr, Till Eulenspiegel, 2. Teil, ARD

Rassenkunde & Weihnachtsmänner

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

15. – 21. Dezember

Existent ist nur, schreibt die politische Philosophie von Adorno bis Habermas, was auch benannt werden kann. Erst dank der Sprache werde die Wirklichkeit real. Spräche also keiner von Gott oder Gulasch, es würde beides ebenso wenig geben, wie sagen wir: Rasse. Ein widerliches Wort, menschenverachtendes Nazivokabular, eigentlich ausgestorben. Außer im Wortschatz von Andreas Witte. In der „Sportschau“ nannte er vorige Woche ein Fußballspiel allen Ernstes „rassig“. Nun wollen wir dem Reporter, Jahrgang 1955, keine Rechtsradikalität unterstellen. Aber wer diesen Begriff benutzt, sagt womöglich auch, dass das doch mal gesagt werden dürfen müsse. Mindestens aber geht da ein Sprachprofi so sorglos mit seinem Werkzeug um, dass es nach Pegida stinkt. So oder so passt Wittes Rassegefasel ins Repertoire von „Abwehrschlacht“ über „Heimatfront“ bis „Triumpf des Willens“, mit dem deutsche Sportreporter bis heute unselig im Vorgestern verharren.

In einer Zeit samt ihrer Bewohner also, die Udo Jürgens – was Kritiker gern vergessen – bis zu seinem gestrigen Tod unverdrossen im Brustton gediegenen Schlagers kritisiert hat. Wer sich Griechischer Wein oder Ehrenwertes Haus mal genau anhört, erkennt, wie da einer die Ewiggestrigen jener Jahre unterwandert hat, als sie noch die gesamte Gegenwart dominiert haben. Und um im Bild der Zeitebene zu bleiben: Nina Hoss ist gewissermaßen im Übermorgen gelandet: Hat sie es doch gerade in die zukunftsweisendste TV-Serie der Gegenwart geschafft – wenngleich die vierte Staffel von Homeland hierzulande erst online läuft. In deren 11. Folge spielt Hoss die Ex-Geliebte einer Hauptfigur und darf sogar ein längeres Gespräch mit der Haupthauptfigur Carrie Mathison führen, was für eine deutsche Schauspielerin international so ziemlich der Gipfel des Erreichbaren ist.

Das wäre auch der Part einer Reihenkommissarin für die zugegeben ziemlich schöne, schauspielerisch aber doch eher schlichte Yvonne Catterfeld gewesen, hätte Sie die Ausschreibung zum neuen Tatort Sachsen gewonnen. Das hat sie zum Glück nicht, darf als Trostpreis aber an der Seite von Götz Schubert demnächst einen einzelnen Krimi namens Wolfsland drehen. Und das Ermittler-Duo soll – Achtung! – ganz doll unterschiedlich sein. Wenn öffentlich-rechtliche Redakteure mal steil gehen…

0-FrischwocheDie Frischwoche

22. – 28. Dezember

… dann kommt ein zugegeben unterhaltsames, dramaturgisch aber doch eher biederes Team wie Christian Ulmen und Nora Tschirner raus, die am Neujahrstag ihren zweiten Weimarer Tatort spielen, zur Einstimmung am Montag aber nochmals im ersten zu sehen sind. Oder, noch schlimmer, es kommt der ulkige Saarländer Jens Stellbrink raus, dem selbst der famose Devid Striesow am Freitag kein Esprit verleihen wird, wenn es zum Feiertag um irgendwas mit Weihnachtsgeld geht.

Hätten wir das Wort zum Fest also auch irgendwie in den Titel gebracht – dachte man sich wohl im Ersten und kreierte das Restprogramm zu Christi Geburt. Es steht, wie jedes Jahr ab Heiligabend, voll im Zeichen blutjunger Zuschauer, die drei Tage beschäftigt werden wollen. Eine schöne Gewohnheit ist es da, alte Märchen zu sanieren. Während der ARD-Kanon von 30 neuen Filmen vormittags ohne Unterlass abgespult wird, gibt es an den Weihnachtstagen je zwei frische, zuzüglich des Zweiteilers Till Eulenspiegel mit Jakob Matschenz als modernisierter Schelm, was durchweg ansehnlich ist. Und mit Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen gibt es Freitag ein kleines Horror-Sahnehäubchen, das erstaunlicherweise keine Altersbeschränkung hat.

Da könnten die Kleinen auch Pro7 schauen, wo die besinnliche Zeit wie immer mit allem konterkariert wird, was Hollywood an Balleraction zu bieten hat. Dazu gibt‘s natürlich das Standardrepertoire zum Fest. Ben Hur am Dienstag (Arte). Weihnachten bei den Hoppenstedts, Heiligabend, 15.45 Uhr, ARD. Um 20.15 Uhr Chevy Chases legendäre Schöne Bescherung von 1989 auf RTL. Oder parallel Brandneues wie das napoleonische Arte-Spektakel Sturm über Portugal mit John Malkovich als General Wellington. Und ohne ihrem Werk irgendwas Innovatives hinzuzufügen, kriegt selbstredend Helene Fischer ihre kostenlose Werbeshow im ZDF.

Damit wären wir beim Montag, dem erstaunlichsten Sendeplatz der Woche. Während RTL am Abend 10 Jahre Bauer sucht Frau feiert, was anspruchsvolle Zuschauer nur noch ratlos macht, restauriert Jörg Pilawa zeitgleich im NDR Carrells Am laufenden Band, was anspruchsvolle Zuschauer nur traurig macht. Froh macht sie dagegen die zweite Staffel der wundervollen Geschichtsserie Downton Abbey, deren neun Teile ZDFneo an zwei Tagen ab 13 Uhr quasi durchsendet. Binge Watching auf öffentlich-rechtlich.

Hoffentlich bleibt da noch Kraft für den Tipp der Woche, in Farbe diesmal Poppea – Kaiserin der Gladiatoren, eine Erotikkomödie aus den sexuell zuweilen skurril erwachenden Sixties, (Montag, 1.15 Uhr, MDR), die jedes Niveau spielend unterläuft und gerade deshalb famos ist. Famos und niveauvoll dagegen ist der Schwarzweißtipp mit dem suizidgefährdeten James Stewart im herzzerreißenden Christmas-Melodram Ist das Leben nicht schön von 1947. Antwort: Auch dank solcher Filme ist es!


Reportage: Hamburger Kahlschlag

0401a_Eppendorfer_Brauhaus_heute_Tre_CastanieEppen ohne Dorf

Sobald Investoren Rendite verheißen, zerstört Hamburg sein steinernes Gedächtnis durch öde Baukastenarchitektur. Ein Beispiel ist Eppendorf, wo grad der vorletzte Rest dörflicher Struktur vorm Abriss steht. Unser Autor Jan Freitag begab sich an den Ort seiner Kindheit – und kehrt deprimiert zurück

Von Jan Freitag

Erinnerung ist ein launisches Wesen. Ob sie freudig stimmt, melancholisch oder deprimiert – das entscheiden oft ein paar Meter Fußweg. Als ich nach Jahren, ach: Jahrzehnten zurück ins Viertel meiner Kindheit kehre, öffnet sich sofort mein Herz: Das Brauhaus am Markt, allen Ernstes – es steht noch! Ein winziger Giebelbau aus Zeiten, da Eppendorfs dritte Silbe noch Ortsbeschreibung war statt bloß Stadtteilname, er ragt wie eine Trutzburg nostalgischer Beharrlichkeit aus dem Verkehrschaos ringsum.

„Anno 1881“ ist in den Türbalken graviert, eine Zahl wie Donnerhall im neubauseligen Hamburg, die sogar noch tief stapelt. Dass dieses Relikt, einst Droschkenstation, längst Gaststätte, noch viel älter ist, war mir früher gar nicht klar. Es wäre mir auch egal gewesen; kindliche Erinnerung bemisst sich ja in Tagen, nicht Epochen. Aber nun, wo selbst jene drei Kastanien unversehrt davor stehen, die der Pizzeria zuletzt den italienischen Namen verpasst hatten, wird mir doch warm ums Herz. Vorerst.

Doch dann trete ich näher, und mit jedem Schritt wandelt sich schöne Erinnerung in Zweifel, bis mir die Realität wie ein Faustschlag in die Magengrube fährt: Das „Tre Castagne“, wo ich meine allererste Pizza aß und mal neben Otto Waalkes saß, ist dicht. Mehr noch: der äußerlich malerische Gebäudekomplex ist innerlich ruiniert: Türen verriegelt, Fenster kaputt, ein Balken hängt aus der Decke. 235 Jahre konnten Wandel, Krieg und Brandgefahr dem Fachwerk wenig anhaben. Im Gegenteil. Statt die Grundfesten zu erschüttern, wurde erweitert. Hier ein Erker, da ein Anbau, wechselnde Besitzer, gewandelte Gastronomie, was mir als Brauhaus in Erinnerung war, ist heute: Abbruchreif!

Schlimmer noch: Abbruchbereit!

Davon zeugen renitente Worte am Stein des Anstoßes. „Kein Abriss!“, steht auf einem Schaufenster. Daneben fordert ein Schild, das „Dorf in Eppendorf“ zu belassen, was einer auf dem Bürgersteig mit „Altes Brauhaus bleibt“ bekräftigt. Bei soviel Empathie wird mir zweierlei klar: Es regt sich Widerstand gegen die Kahlschlagkultur. Und zwar selbst im alsternahen Wohlstandsrefugium, das als Synonym vollendeter Gentrifizierung dient. Wenn es selbst inmitten der Gründerzeitpracht Protest bis hin zur Sachbeschädigung von Gehwegen gibt, geht es nicht nur um ein Haus. Es geht um mehr.

Also beschließe ich, den Spuren meiner Kindheit nachzugehen. An jene Orte, wo sie sich vor 40 Jahren vorwiegend abspielte: Straßen, Parks, Innenhöfe, draußen eben. Kurzum: ich mache mich auf den Weg durchs Eppendorf des 21. Jahrhunderts, um bei einem Abstecher ins 20. die Spuren des 19. zu finden. Doch trotz warmer Gefühle, die überall aufwallen, wird es keine schöne Reise. Es wird eine, die in Hamburgs Filetstück bitterböse verdeutlicht, wie die reiche Stadt ihr steinernes Gedächtnis planiert, sobald es zweckdienlich erscheint. Wie die Abrissbirnen durch historisch gewachsene Strukturen fegen, als seien Deutschlands Stadtkerne nicht längst „fertig gebaut“, was Elke Pahl-Weber, Professorin für Stadtplanung an der TU Berlin, mit der Forderung verbindet, sich weniger mit Erweiterung und Neubau zu befassen, als mit „Weiterentwicklung und Qualitätssicherung des Bestandes“.

Schreiten wir also zur Bestandsaufnahme.

Links runter zur Erikastraße, 1899 nach der Heideblüte des umliegenden Hochmoors benannt. Zuvor hieß sie Feldweg und war auch einer, wie sich der ganze Randbezirk seines ländlichen Charakters erst richtig entledigte, als ich in der Erikastraße 68, drei Etagen überm Fischladen meiner Mutter, aus vollen Windeln das neue Jahrzehnt anschrie. 1970 gab es im Südteil meines kastaniengesäumten Heimatpflasters noch echtes Handwerk, eine Schmiede gar und pro Nahrungsgruppe zwei Einzelhändler. Zwischen fünfgeschossigen Belegen bürgerlicher Fin-de-Siècle-Herrlichkeit hatte Eppen noch wirklich sein Dorf. Und mittendrin meine Schule, benannt nach ihrem Schüler Wolfgang Borchert, wo ich, so wurde mir beim Klassentreffen der Fußballlegende versichert, im gleichen Klassenraum saß wie Uwe Seeler.

Im Krieg war das, als auch meine Blocks ein paar Bomben abbekam. Effizienter als die Briten indes waren die Bagger. In der Querstraße, benannt nach den Geschwistern Scholl, machen sie seit 40 Jahren nach und nach Platz für die ganze Hässlichkeit des Instantwohnens. Auch schräg gegenüber der Schule haben sie 2012 eine Schneise der Ödnis in die leerspekulierte Substanz geschlagen und durch Blockfassaden ersetzt. Schnörkellos, makellos, seelenlos. Schlimmer ging es allenfalls auf der anderen Straßenseite zu: der süße Terrassenflachbau, wo ich Timmy & Tina als Dreikäsehoch Vogelfutter kaufte: weg! Ebenso das gelbe Einfamilienhaus samt seiner türkischen Bewohner, die einst wie so viele Gastarbeiter scharenweise ins billige Eppendorf gezogen waren. Wo sie lebten, arbeiteten, bei und unter uns waren, ist nun alles Alte fort und mit neuem Kalkül verfüllt, der sich in all die Freiflächen fraß. „Verdichtung“, heißt das auf Investorianisch.

Und als wäre das zu wenig der Kränkung des lokalen Gedächtnisses, tauften die Eigner den aseptischen Komplex aus 67 Luxusappartements zum ortsüblichen Quadratmeterpreis von 5000 Euro aufwärts „Eppendorf Village“. Immerhin der Name verweist aufs Dorfaroma meiner Kindheit, das peu à peu der Real-Estate-Economy zum Opfer fällt. Wo früher Wurst und Milchwaren, Uhren, Schuhe, Obst, Zigarren über die Theke gingen, ist es nun: Lifestyle. Überfluss statt Grundversorgung, verteilt auf ein halbes Dutzend Designshops, wenngleich der erste schon wieder den Makler bemüht.

Edel gewandet sind sie, die Village People, fein eingerichtet, also eng am Vorurteil vom Schnöselviertel. Als ich aufs Lokstedter Gymnasium wechselte, gab es das noch nicht. 1980 rümpfte meine reichen Mitschüler die Nase über den Jungen aus dem Arbeiterquartier voll leibhaftiger Migranten und zotteliger Studenten, die sich im uralten „Borchers“ oder der „Palette“ – verrauchte Spelunken, in denen unweit von Thälmanns Geburtshaus die DKP tagte, womöglich gar die RAF. Der stellte hier 1979 ein so brachiales Polizeiaufgebot nach, dass auf unserem Nachbardach ein Geschütz stand. Es ging so wild zu in Eppendorf, dass das betuliche Abendblatt 1971 die Verdrängung kleiner Geschäfte „durch Boutiquen und Pubs im English-Style“ beklagte. Neben denen wurde kurz darauf eine Fälscherwerkstatt ausgehoben und vor unserer Tür stand ständig ein Amischlitten mit Pelzmantelfahrer.

Um dieser Ära nachzuspüren, muss man den Ring 2 queren, der Hamburgs ältestes Dorf zweiteilt: die proletarische Rotklinkerzone im Westen, im Osten gutbürgerliche Schnörkelfassendidylle. Rings um die Martini-Kirche, wo ich getauft, konfirmiert, zivilisiert wurde, wachsen anstelle der wunderschönen Sozialstation wuchtige Neubauten über die Bäume des UKE-Parks. Aber nach zwei Stunden Eppendorf schockt mich das längst nicht mehr so wie das, was Hakim Raffat erzählt.

In einem verdichteten Hof, wo die Polizei residierte und mein Kindergarten, schreibt der Historiker am Geschichtsbewusstsein seiner neuen Heimat, die dem Flüchtling 1969 Afghanistan ersetzte. Zwischen Aktenbergen und den Büchern übers Viertel aus seiner Feder malt der Stadtteilarchivar ein düsteres Bild. In den Siebzigern hätten Makler den verpönten Altbau rehabilitiert. Seither, 66 Jahre alte Fäuste treffen sich vor der Brust, wirken zwei Kräfte gegeneinander: „Investoren und ihre Gegner.“ Gegner wie die Bürgerinitiative Wir sind Eppendorf. Wie gut 5000 Unterzeichner einer Petition zum Erhalt des Brauhauses. Wie Raffat selbst. Oft sind es erbitterte Gegner.

Ein Gang durch sein Revier ist daher kein Spaziergang, sondern Anklage. Schritt für Schritt. Bis auf einen schäbigen Rest, mahnt er vorm Fachwerkhaus nahe der alten Johanniskirche, wo vor 300 Jahren die Postkutsche hielt und nun ein Italiener kocht, „ist die dörfliche Struktur kaputt“. Das „Wills Palais“ von 1770 mit seinen Goldapplikationen, die Schlosserei am Markt, dazu ein abgebrannter Katen im Rotklinkererbe der Brüder Gerson, die zwischen zwei Weltkriegen den sozialen Wohnungsbau nach Eppendorf holten, „das war’s.“

Doch so wichtig es sei, epochale Gebäude ohne Nutzwert als Kontrastmittel, Erinnerungsanker zu erhalten – die echte Gefahr, so Raffat, gehe vom Abbruch der nächsten Generation aus: Intakte, aber niedrige Gründerzeithäuser wie am Brauhaus, deren Höhe gewinnbringend verdoppelt werden soll. „Flächenmaximierung.“ Noch so ein Investmentwort. Den drei windschiefen Häuschen gegenüber, eins davon denkmalgeschützt, gibt Raffat noch 20 Jahre. Dann wird gebaut.

Dabei ist die Idee, wachsende Metropolen könnten sich museale Areale wie die nördliche Erikastraße leisten, wo das 19. Jahrhundert aus jeder Gaube grüßt, was für Träumer. Wäre Hamburg über deren Traufhöhe nie hinausgekommen, wüchse die Stadt so in die Breite, dass im Alten Land kein Bauernhof mehr stünde. Als Eppendorf vor rund 100 Jahren gen Himmel wuchs, beklagten die „Hamburger Nachrichten“, dass die „schlichten und gemütlichen Landhäuser“, nun „der Neuzeit zum Opfer“ fielen. Erinnerungen sind eben Kinder ihrer Zeit. Doch seit die Neoklassik der Stadt ihre Stempel aufgedrückt hat und später die „Operation Gomorrha“, folgen Veränderungen selten demografischen Zwängen. Bauen, sagt Marthe Friedrichs, „schafft eben keine Werte mehr, sondern Handelsware“. Um jeden Preis.

Die imposante Frau von 68 Jahren ist ungehalten, wenn sie davon spricht, und sie kann sehr ungehalten sein, geht es um Eppendorf. Das, sagt sie garniert mit salonunfähigem Vokabular, „ist auf Wasser gebaut“. Buchstäblich. Ihr Heimatviertel sei aufgeschüttetes Hochmoor, kanalisiertes Alsterschwemmland, Tidehub inklusive, „windelweich unterm Asphalt“. Früher seien Bauherren klug genug gewesen, flach zu unterkellern. Und jetzt? Vorm Brauhaus, dem die Kabarettistin nach der Schließung ihrer Bühneninstitution „Mon Marthe“ ums Eck alle Aufmerksamkeit kriegt, schüttelt Friedrichs theatralisch den Kopf. Sie zeigt über den Marktplatz. „Heute passiert so was.“

So was, das sind die „Eppendorfer Höfe“. Ein betonfrischer Wohnklotz, der von  Füssen bis Flensburg die Städte dominiert. Hier indes wird er umrahmt von betörender Neoklassik, die nun ihrerseits bestandsgefährdet sei. Dank der Höfe. Sagt Friedrichs und lacht böse. Als deren Baugrube voll lief, sei das Grundwasser so gestiegen, dass es nun die Nachbarsubstanz schwächt. Sie holt Fotos von handbreiten Rissen, lang wie Springseile, aus der Tasche. So schaffe man, „uups“, Argumente für den nächsten Abriss, der weitere Tiefbauten nach sich zieht. Ein Schneeballeffekt.

Den das Bezirksamt bestreitet. Dessen Chef Harald Rösler hält das Erdreich des Viertels für „sicher“ und zitiert ein Gutachten der Stadtentwicklungsbehörde. Da den Eppendorfer Höfen zudem nichts Erhaltenswertes gewichen sei, fügt Kulturbehörden-Sprecher Enno Isermann hinzu, sei der Abbruch auch aus Sicht des Denkmalschutzes nicht zu beanstanden, der sich nur an Recht und Gesetz halte. Dass dessen Mitarbeiter „mit vollem Herzen auf Seiten der Altbausubstanz“ sind, wie er beteuert, ist jedoch mitunter anzuzweifeln.

Von Eppendorfs 550 Denkmälern ist das Gros hochgeschossig, also kaum aufwertbar. Was durch Abriss Platz gewönne, fehlt dagegen auffallend oft auf der Liste. Darunter die bezaubernde Mühle am Haynspark. Und weil es so oft verändert wurde, dass nach Isermanns Dafürhalten die „rechtlich vorgegebenen Anforderungen an ein Denkmal – möglichst authentisch bewahrter originaler Zustand – nicht mehr erfüllt wird“, auch das alte Brauhaus. Selbst Milieuschutz nach §172 Baugesetzbuch, der Altbau in den Kontext der Umgebung setzt, greife nicht. Die Bürgerinitiative klammert sich daher längst an die Schutzwürdigkeit der Kastanien. Bislang ergebnislos.

Eisiger Wind fegt durchs Dorf, als ich es letztmalig besuche. Jeden Samstag demonstriert dort eine Schar Unbeugsamer gegen das Unausweichliche. Mit der Diskursbereitschaft einer Dampfwalze schleudert ihr der Bezirksamtschef entgegen, „der Bauvorantrag wird nicht zurückgenommen“. Doch die Wir-sind-Eppendorfer verteilen unverzagt Flyer, sammeln Unterschriften, trommeln für Sanierung. Sie würde Millionen kosten. Der Vorschlag eines Mitglieds, Holsten könne darin doch eine Showbrauerei betreiben, klingt daher so liebenswert wie weltfremd. Trotzdem fühlt es sich – pardon, Presserat – richtig an, dass auch ich für den Erhalt unterschreibe. Hier geht es ja auch um meine Erinnerung. Die schert sich erstmal nicht um Machbarkeitsstudien. Und sie endet auch nicht an Eppendorfs Grenze, die ich längst hinter mir gelassen habe.

Wenn man sich der nähert, die Landstraße südwärts an der Jugendstilpracht ihrer Abzweigungen vorbei. Wenn man ins Generalsviertel zu den Falkenried-Terrassen biegt, deren Rettung jeden Bürgerprotest gegen andere Abrisspläne rechtfertigt. Wenn man also Eimsbüttel erreicht. Dann ist zu sehen, was Laissez Faire dem steinernen Gedächtnis antut. Mit jedem Meter dünnt der Gründerzeitstolz aus, und mit dem Alter der Gebäude sinkt das architektonische Niveau. Ich drehe mich nochmals um, blicke ins Viertel meiner Kindheit und überlege, ob ich es wiedersehen will, wenn das Brauhaus die Büchse der Pandora weiter öffnet. Eher nicht. Schöne Erinnerungen sind mir lieber.


H. Huntgeburth: Tom Sawyer & Huck Finn

Echter Dreck

Hermine Huntgeburths Abenteuer des Huck Finn erzählt am Freitag auf Arte wie zuvor schon ihr Tom Sawyer die Welt der Kinder mit den Augen Erwachsener – und ist gerade deshalb ein Film, der sie Kindern öffnen kann.

Von Jan Freitag

Füße sind visuell eher heikle Extremitäten. Als Gebrauchswerkzeuge weit strapazierter als die anderen Körperteile, sind sie selten ansehnlich und daher vornehmlich verhüllt zu sehen. Wer Füße gern nackt betrachtet, gerät folglich rasch in den Ruch fetischistischer Obsession. Nichts fürs Familienprogramm also. Dann aber beginnt dieser Familienfilm und er beginnt – genau: mit Füßen. Und nicht nur das. Es sind dreckige Füße, Kinderfüße zwar, beim Toben im Freien zumal, doch sie stehen so derart vor Schmutz, dass man den Hauptdarstellern schon beim Zuschauen eine robuste Reinigung wünscht. So geht es viele der gut 100 Minuten weiter: schlammige Sohlen, verkrustete Zehen, abendfüllende Waschverweigerung zur besten Sendezeit. Man könnte meinen Hermine Huntgeburth hätte einen Fußtick.

Hat sie aber nicht. Die Regisseurin von Bibi Blocksberg bis Effie Briest, von Die Weiße Massai bis Neue Vahr Süd hat höchstens den Tick, artifizielle wie bodenständige Themen gleichermaßen lebensnah zu erzählen. Und in ein deftiges Abenteuer der Marke Mark Twain gehört da nun mal ausreichend Mississippidelta-Schlacke wie der Ziegen-Peter zur Heidi. Kein Wunder, dass auch Huntgeburths Version von Mark Twains Saga über Tom Sawyer und seinen Freund Huckleberry Finn die Unsauberkeit zum alltäglichen Aggregatszustand diverser Protagonisten macht; zumindest auf dem Land präsentierte sich dass 19. Jahrhundert schließlich als eher unhygienische Angelegenheit: Gebadet wurde allenfalls Samstag. Zahnpflege, Hautpflege, Nagelpflege waren großstädtischer Ostküstenluxus. Gepflasterte Straßen und Schuhabtreter ohnehin. Was das Äußere betrifft, ging es weit derber er zu als in diversen Werken über diese porentief rein gefilmte Epoche.

Anders als dort ist Hermine Huntgeburths Huck Finn also tatsächlich Wilder Westen, wenngleich im Baumwoll-Süden. Es gibt die Guten und die Bösen, den noblen Sheriff und einen dreckigen Schurken, blitzende Messer und rasende Pferde, rauchende Colts, verrauchte Saloons und alles wird in etwa so gezeigt, wie es hätte sein können, im Jahr 1876, als der wohl berühmteste aller Jugendromane zugleich auf Deutsch erschien. Schließlich ist auch Twains Buch mehr als ein kindgerechter Lesestoff mit aufregender Rahmenhandlung, sondern womöglich das erste wirklich ernstzunehmende Teenagerdrama der Weltliteratur. Eine Coming-of-Age-Novelle übers Erwachsenwerden aus Sicht Betroffener, in der Heranwachsende nicht bloß Objekte elterlicher Pflichtzuweisung waren, sondern eigenständige Protagonisten in Abgrenzung zu den Altvorderen. Eigenständig denkend vor allem. Subjekte ihrer eigenen Vorstellungskraft.

Das angemessen umzusetzen, fiel all den ehemals Kleinen, die diese Welt der künftig Großen für Bildschirm und Leinwand bebildert haben, bislang jedoch seltsam schwer. Seit der ersten Stummfilmversion von 1917 gab es rund ein Dutzend Adaptionen; doch von Don Taylors TV-Fassung vor 40 Jahren mit der blutjungen Jodie Foster als schnuckelige Richtertochter Becky Thatcher bis hin zur 26-teiligen ARD-Serie Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn anno `79 galt die raue Wirklichkeit gern als zu schädlich für junge (wie alte) Zuschauerseelen.

Bei Hermine Huntgeburth ist das ein bisschen anders. Hier durfte Sawyers schlicht gestrickter Altersgenosse im ersten Teil eher historisch als politisch korrekt „das ist doch Niggerarbeit“ sagen, bevor ihm sein schlauer Mitschüler vom Reiz des Zaunstreichens überzeugte, während August Diehl im zweiten Teil als Hucks Vater Finn nicht nur düster, sondern geradezu diabolisch sein darf, und Henry Hübchen nebst Milan Peschel grandios schmierige Sklavenjäger geben, die Hucks schwarzem Freund Jim (Jacky Ido) nachhetzen. Keine Frage, auch Huntgeburths Huck Finn ist nicht frei von abgeschliffenen Kanten. Für sich genommen mag Kino, wie Nebendarstellerin Heike Makatsch zu Tom Sawyer bemerkte, „experimentierfreudiger, mutiger sein als das Fernsehen“. Wenn es wie hier gießkannengefördert für den Bildschirm koproduziert wird, muss das Leitmedium allerdings ein paar ästhetische Kompromisse eingehen. Die Sklaven geraten dann zuweilen etwas gesünder als in der Herrenmenschenwelt jener Tage, der Irrsinn starrer Konventionen aus Twains Vorlage wird oft nur angerissen statt ausdifferenziert. Die Grundmelodie ist heiterer, als es der knüppelharte Alltag jener Eroberungstage unbekannten Terrains eigentlich gestattete. Und wenn spielende Kinder unter Schäfchenwolken über blühende Wiesen laufen, machen VFX und CGI aus der südstaatlich pragmatischen Kulturlandschaft wie Twain sie beschreibt schon mal Tolkiens Auenland – aber bitte! Huck Finn ist und bleibt Unterhaltungsliteratur plus etwas Gesellschaftskritik für junge Leute. Nicht umgekehrt. „Und grad große Unterhaltung“, meint Regisseurin Huntgeburth, „bietet ja auch die große Chance, sozialpolitische Aussagen einfach mitzuliefern“.

Dabei helfen ihr neben den arrivierten Schauspielstars zwei keinesfalls unerfahrene, aber noch unverbrauchte Talente. Dank Louis Hofmann und Leon Seidel als jugendliches Odd-Couple Tom und Huck, kann Hermine Huntgeburth das Schicksal zweier, wie man heute sagen würde: sozial benachteiligter Waisen voll nostalgischer Leichtigkeit erzählen, ohne unablässig mit erhobenem Zeigefinger auf deren Lebensumstände zu zeigen. Wie sehr ihr gottesfürchtiges Milieu den fröhlichen Freiheitsdrang der jungen Schäfchen bekämpft, gerät im unverkrampften Spiel der damals kaum dreizehnjährigen Titelhelden eher zum Subtext als zum Wesenskern. Spürbar bleibt es dennoch. In fast jeder Sekunde.

Genau das ist ohnehin eine Stärke Hermine Huntgeburths, was sie zuletzt in der wunderbar verschrobenen Korruptionskomödie Eine Hand wäscht die andere mit Ulrich Noethen als korrupten Kleinstadtbeamten zeigte: sachliche, oft ernste Botschaften in leichtes, oft heiteres Entertainment zu verpacken. Bei Tom Sawyer, wird es zusätzlich durch die detailverliebte Ausstattung verstärkt, den verschwenderischen Kulissenbau, das Bedürfnis zu bildgewaltigem Realismus. Der Hafen von St. Petersburg, erklärt die Regisseurin, „wurde zwar fast vollständig am Rechner erstellt“. Andererseits konnte ihr Team im rumänischen Studio unter anderem die Reste des Westerndorfs aus dem Hollywood-Erfolg Unterwegs nach Cold Mountain nutzen. „So einen tollen Kostümfilm dreht man nicht alle Tage“, freut sich Huntgeburth daher noch drei Jahre und eine Fortsetzung namens Die Abenteuer des Huck Finn später über einen Teil ihrer Kindheit, mit dem sie vor allem Filmerinnerungen verbindet.

Etwa den ZDF-Vierteiler Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer von 1968. Noch so eine Adaption, in der die Wirklichkeit fernsehrein gebürstet wurde und das Vagabundenleben aufs Abenteuer geduziert. In der die Klamotten heil waren und die Füße sauber. Dass die bei Hermine Huntgeburth vor Dreck starren, ist da kein Zufall. „Nackte Füße stehen bei allem Freiheitsdrang ja auch für die vergangene Möglichkeit, unverletzt durch die Natur zu laufen.“ So wie es die Regisseurin als Kind noch getan hat. Lang ist’s her, die 55-Jährige seufzt. Aber ihr Film hilft ja beim Erinnern.


Wettnostalgie & Jahresrückblicke

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

8. – 14. Dezember

Die Verlogenheit des Menschen zeigt sich bekanntlich nie deutlicher als zur Weihnachtszeit. Abermillionenfach missbraucht er das Kirchenfest zum Konsumrausch, gibt sich vermeintlich andächtig und holt ein paar Dezembertage nach, was im Rest des Jahres oft an Menschlichkeit fehlt. Wenn dann aber auch noch ausgerechnet die Bild den Taktstock des Mitgefühls schwingt, ist das Maß voll. Fast. Denn überlaufen tut es erst dann nachhaltig, wenn das Ballermannblatt wie vor acht Tagen ihr angebliches Herz für Kinder stundenlang im ZDF preisen kann.

Als wäre das nicht genug, durften bei der Live-Show aber obendrein gewissensfreie Profitriesen wie Coke (angeblich) kostenlos dauerwerben, was einem Sender-Sprecher auf Nachfrage – nein, keine Demut entlockte, sondern folgende Selbstverteidigung. „Der gemeinnützige Zweck wurde im Vorfeld der Sendung geprüft und positiv beantwortet worden“, sagt ein gewisser Peter Gruhne auf Nachfrage und verwies auf eingehaltene Werberichtlinien. Leider verdrängte er dabei sehenden Auges, dass es diese Art opportunistischer Bild-Hofierung ist, die dem Bösen seit jeher höflich die Steigbügel hält.

So wie es Abermillionen täglich auf Facebook tun, wenn sie dem Profitriesen willfährig mit gehobenen Daumen die Konten füllen. Damit das noch profitabler wird, plant Konzernchef Zuckerberg nun endlich den gesenkten Daumen einzuführen. Dass der nicht zulasten seiner Werbekunden geklickt wird, dagegen findet der Multimilliardär sicher ein Mittel, aber gewiss nicht dagegen, dass Klara Blums Bodensee-Tatort künftig mit Dislikes eingedeckt wird. Zum Glück für die arme Eva Matthes passiert das aber nur noch bis 2016. Dann tritt das ödeste aller Ermittlerteams endlich ab. Apropos – war da nicht noch was mit Abritten, in der vorigen Woche. Nein, nichts besonderes. Abgesehen vom Ende der Ära Wetten, dass…?. Nach 33 mal schönen, mal schlimmen, aber irgendwie nie endenden Jahren hat ihm Markus Lanz am Samstag ein letztes Mal mit nostalgischen Rückblicken gewürzt auf die ausgetretene Schleimspur geholfen hat. Knapp zehn Millionen Menschen sahen sich das windschiefe Requiem im Helene-Fischer-Sound an. Doch weder bei denen noch bei sonst irgendwem reißt das Ende der einst größten Fernsehshow Europas noch ein nennenswertes Loch in die Gegenwart.

0-FrischwocheDie Frischwoche

15. – 21. Dezember

In dem wähnte sich drei Jahre lang auch das Publikum tränennassen Emotainments, seit der Fernsehkuppelvater schlechthin Nur die Liebe zählt verlassen hat. Am Dienstag nun wird Kai Pflaume ersetzt, und nicht nur der Nachfolger Wayne Carpendale lässt Scheußliches befürchten. Auch der Sendeplatz. Sat1 sorgt schließlich seit Jahren für die besonders süffigen Momente des Mediums. Na, immerhin Humor gibt’s dort ab und an. Freitag zum Beispiel mit Zwei Weihnachtsmänner, vielleicht die lustigste Komödie zum Christfest mit den famosen Christoph Maria Herbst und Bastian Pastewka, der im Anschluss dann auch noch als Teil des saukomischen Weihnachtsgeschichte mit Wolfgang & Anneliese brilliert.

Wenn das Erste mal witzig sein will, wird es dagegen meist satirisch. Dieter Nuhrs kabarettistischer Jahresrückblick am Donnerstag um 22.55 Uhr dürfte also nicht grad den humoristischen Nerv des Privatpublikums treffen und von dem daher ebenso ignoriert werden wie Caren Miosgas und Thomas Roths politische Rückschau drei Tage zuvor. Sachlichkeit können die öffentlich-rechtlich halt mehr als Unterhaltung. Deshalb wollen wir an dieser Stelle auch nicht den zweiten Tatort aus Erfurt empfehlen, dessen Thema gewohnt bieder suggeriert, es gebe in Thüringens Hauptstadt allen Ernstes ein Rotlichtviertel. Und schon gar nicht den Bergdoktor, mit dem der heillos unterforderte Kabarettist Hans Sigl parallel dazu in neuer Staffel auf ZDF-Seife ausglitscht.

Wir wenden uns lieber Arte zu. Dienstag um 20.15 Uhr läuft dort passend zur aktuellen Entwicklung im Fall Edward Snowdon die tolle Dokumentation „Schweig, Verräter!“, in der das Phänomen der Whistleblower unter die Lupe genommen wird und warum vor allem die USA so große Angst vor ihnen haben. Oder 3sat, wo Wolfgang Beltracchi am Samstag (22 Uhr) den unvergleichlichen Christoph Waltz vorstellt. Nach fünf Folgen ist die Porträtreihe damit beendet. Dabei hätte sie mindestens die Zehnfache Zahl verdient. Wie Stefan Raab, der sich Samstag auf ProSieben zum 50. Mal (nicht) schlagen lassen will, dafür aber hoffentlich weniger als die sechs Stunden, neun Minuten vom 49. Versuch benötigt.

Bloß knappe zwei Stunden dauert indes der schwarzweiße Tipp der Woche am Montag zur besten Sendezeit auf Arte: Das Familiendrama Endstation Sehnsucht von 1951 mit dem blutjungen Marlon Brando im T-Shirt. Beim Farbtipp wünscht man sich noch mehr als 85 Minuten: Pappa ante Portas, Samstag im NDR, Erklärung unnötig.


Indiefriday: 1000 Gram, Sound of Yell, Flake Music

Sound of Yell

Dass die Natur nicht nur über einen äußerst eigentümlichen Sound verfügt, sondern auch ziemlich komplex vertont werden kann, hat schon so mancher klassische Komponist bewiesen. Bedřich Smetanas berühmte Moldau zum Beispiel verwandelte dessen böhmische Heimat 1882 in eine mal plätschernde, mal reißende Sinfonie. Im Spätbarock formte Antonio Vivaldi aus den vier Jahreszeiten einen schwingenden Violinzyklus gleichen Titels. Und bei Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre Die Hebriden wähnt man sich noch beinahe 200 Jahre später inmitten einer sturmumtosten Inselgruppe. Modernere Musik mit ihrer artifiziellen Instrumentierung neigt dagegen weit seltener zur Tonmalerei, wie es die großen Meister früherer Jahrhunderte noch taten.

Umso weiter ins Grüne fühlt man sich entführt, wenn Rafe Fitzpatricks Geige plötzlich klingt wie schreiende Möwen, wenn Alex Neilsons Percussion von Ferne ein Gewitter anzukündigen scheint und Peter Nicholsons Cello an einen surrenden Insektenschwarm erinnert. Kurzum: Wenn man das orchestrale Debütalbum des schottischen Soundtüftlers Stevie Jones hört, eingespielt mit einem Dutzend Klangvirtuosen aus seinem Glasgower Dunstkreis. Und es ist kein Wunder, dass Projekt wie Album gleichsam nach Naturereignissen benannt sind: Sound of Yell, so heißt die Band, nach einer wetterwilden Wasserstraße vor den Shetlands; Brocken Spectre, so heißt das Album, nach atmosphärischen Lichteffekten, die auch als Harzer “Brockengespenster” bekannt wurden.

Das Erstlingswerk von Stevie Jones betreibt zwar keine Tonmalerei, wie es Musik seit ihren Anfängen versucht. Es geht also nicht ums bloße Kopieren von Tierstimmen, Naturgewalten, Waldesrauschen. Mit ihrem psychedelischen Folkjazz im klassischen Gewand verortet sich das vielschichtige Kammerorchester unmissverständlich im Studio. Doch ohne je das Liedhafte zu verlieren, ziehen Sound of Yell ihre Hörer wie Betrachter einer Landschaftsmalerei aus der Zivilisation hinaus in die Natur. Brocken Spectre ist die Vertonung einer Sehnsucht nach Natürlichkeit. Ermüdet von Selbstoptimierungszwang, Smartphone und dem Fegefeuer der Eindrücke darf man kurz mal im lautstärkegedrosselten Hallraum des Ursprünglichen entspannen. Und das ist definitiv nicht als Flucht gemeint.

Sound of Yell – Broken Spectre (Chemical Underground); mehr Text’n’Files’n’Kommentare unter http://blog.zeit.de/tontraeger/2014/11/26/sound-of-yell_18964

Flake Music

Seit selbst Punkrock hochwertig produziert wird, ist die gute alte Garage auch im Bewusstsein von Kennern wieder aufs Abstellen von Automobilen beschränkt. Vor 20 Jahren aber, als Flake Music das brütend heiße Licht der texanischen Welt erblickten, da entwickelte sich in den Garagen Amerikas die Rockmusik auf neue Ebenen empor. Flake Music? Werden da viele fragen. Dass man das Quartett aus Albuquerque nicht unbedingt kennen muss, hat ganz praktische, aber auch ein bisschen glamouröse Gründe. Denn Sänger James Mercer machte aus Flake Music bald das Sideprojekt The Shins, die mittlerweile auch in Deutschland für gehaltvollen Indiepop stehen. Jetzt hat die Band einen Anflug zu ihren Wurzeln gestartet und der Reunion mit When You Land Here, It’s Time To Return einen passenden Titel verpasst.

Es ist ein wundervolle Kompendium der Ideen der mittleren Neunziger geworden, mit denen Mercer sich selbst und seiner Musik im Kreise der alten Kollegen ein kleines Denkmal baut. Mit der Lässigkeit der damaligen Abkehr vom kommerziellen Ertragsdenken, dass den artverwandten Grunge seinerzeit gekapert hatte, spielt When You Land Here, It’s Time To Return mit der Harmonielehre des Powerpop und der Verschrobenheit des Garagenrocks und macht daraus ein fabelhaftes Gute-Laune-Album, das man wunderbar nebenbei hören kann. Kein Lob für Intellektuelle, gewiss. Aber eines für Mucker, denen man ihre Leidenschaft für das, was sie tun, glaubt.

Lake Music – When You Land Here, It’s Time To Return (Sub Pop)

1000 Gram

Wir leben in trostlosen Tagen. Draußen lauert der Winter unterm Herbstlaub. Die Nachrichten sind voll Pest und Verwüstung. Was davon ablenken könnte, ist eher betäubend als unterhaltsam. Und was lustig gemeint ist, übertönt den Gefechtslärm mehr, als ihn vergessen zu machen. Da lindert es den dräuenden Novemberweltschmerz ein bisschen, wenn stille Tonlagen durch den Krach der Realität dringen, wenn aus Zurückhaltung Kraft entsteht und das wirklich Wesentliche in den Blick gerät. Bedürfte es eines Soundtracks gegen all das Ungute da draußen – 1000 Gram hätten ihn bereits geschrieben. Sogar zwei Mal.

Schon als die wohlbehütete Ordnung zusehends ungebremst den Bach runterging, hat ihr die deutsch-schwedische Band das seinerzeit tröstlichste Album der Saison verpasst. Zwei Jahre nach Ken Sent Me legt nun der Berliner Emigrant Moritz Lieberkühn weiter im Norden sein neues tiefenentspanntes Werk nach – und wieder hilft es durch die Ganzjahresdepression wie ein Sonnenloch im Frühjahrssturm. Es heißt Dances, was weniger physisch als metaphysisch gemeint sein muss: Zum Tanzen gebracht wird damit nicht der Körper, sondern die Seele. Wund geschossen vom Alltag, legt sich der folkige Power-Folkpop wie ein Kissen unters Gemüt und gönnt ihm ein Päuschen.

Dass man daraus gar nicht mehr erwachen möchte, hat viele Gründe: Ein versiertes Songwriting, dessen Harmonien nur selten in Gefühlsduselei zerfließen, wie es bei derartigem Wohlfühlrock oft der Fall ist. Gitarrenriffs, die ihrer Flächigkeit mit Präzision trotzen, zwischen Gitarrensoli, die sich jeder Selbstverliebtheit enthalten. Das Ganze voller unaufdringlicher englischer Texte übers innere Ringen mit dem Leben vor der Tür, was trotz deutscher Muttersprachlichkeit nie nach Dictionary klingt. Und nicht zuletzt Lieberkühns hoffnungsfroh melancholischer Gesang, der am Ende der Strophen manchmal eine Spur zu hoch hüpft, als wolle er sich vom Korsett strikter Dramaturgie befreien. 1000 Gram machen Mainstream für die Minderheit und verschaffen ihr damit ein Gefühl von Leichtigkeit, nicht ständig nach Erhabenheit zu streben. Zumindest für ein paar Augenblicke. Mehr kann solche Musik kaum wollen.

1000 Gram – Dances (Fixe Records); mehr Text’n’Files’n’Kommentare unter http://blog.zeit.de/tontraeger/2014/11/24/1000-gram_18954