Das Fernsehjahr: 2014 & 2015
Posted: December 31, 2014 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentKatzen, Götter, Weltherrschaft
Das Fernsehjahr 2014 war mal schön, mal schlimm, also immerhin abwechslungsreich. Ein Rückblick mit Aussicht auf das, was kommt.
Von Jan Freitag
Der Mensch an sich mag Happyends. Vor die Wahl gestellt wird, erst die gute oder schlechte Nachricht zu hören, entscheidet er sich daher stets für letztere, um erstere hernach zu lindern. Auch das Fernsehen funktioniert so. Oder gab’s 2014 eine messbare Anzahl Filme ohne seligen Ausgang? Eben! Wer das TV-Jahr resümieren will, tut also gut daran, mit den schlechten News zu beginnen, was das Medium unerträglich macht und nicht für Um-, sondern Abschaltimpulse sorgt.
Genau das dürfte passiert sein, als das ZDF zum Auftakt Sascha Hehn auf die Traumschiff-Brücke beorderte und Josefine Preuß als Pilgerin in eine öffentlich-rechtliche Kopie der kommerziellen Wanderhure. Als Gebührenzahler dachten da viele, schlimmer könne es nicht kommen. Doch es kam schlimmer, viel schlimmer. Inspector Jury belegte an gleicher Stelle, wie viele Klischees in einen einzigen Serienpiloten passen. Im April machte die ARD Daniela Katzenberger zur Heldin des Mundartkrimis Frauchen und die Deiwelsmilch und vergaß vor der Mediatoren-Serie Paul Kemp, einfach mal mit einem Mediator zu sprechen, wie das Mediatieren überhaupt geht. Das Zweite dagegen vergaß zugleich, dass miese Bücher wie Friesland dank Florian Lukas allein nicht lustig werden. Und bei solch teurer Neuware ist noch nicht mal von Billigkopien die Rede, mit denen viele Kanäle selbige verstopfen. Nach EWG und Dalli, Dalli wurden nun Geld oder Liebe und Am Laufenden Band aus der Gruft gezerrt, was JBK an Einfallslosigkeit aber übertraf, als nicht wie versprochen das Publikum wählte, wer Deutschlands Beste seien, sondern die Präsenz der Prämierten im Studio.
Man könnte noch mehr aufzählen, viel mehr. Jene Fempics zum Beispiel, mit denen Frauen wie der Grundgesetzmutter Selbert oder der Chemikerin Immerwahr Filmdenkmale gesetzt werden sollen, die zu Zeugnissen pathetischer Ödnis gerieten. Man könnte sich den Privaten widmen, die ihren Hang zum dramaturgischen Durchfall mit von Knastarzt, Bachelorette und Henning Baum als Götz von Berlichingen (RTL) bis hin zu Hebammen, Schlikker-Frauen und Wayne Carpendale bei Deal or no Deal (Sat1) bewiesen. Man könnte sich aufregen über Pro7, wo Elton Millionäre wählen ließ, oder Vox, wo Schwarze unter Einsatz rassistischer Stereotypen zu Eisläufern trainiert wurden. Man könnte also permanent klagen – oder endlich zu den guten Nachrichten kommen.
Denn davon gab es auch 2014 genug. Etwa, dass man eine hirntote Serie wie „Fall für zwei“ mit frischem Personal beleben kann, was satirisch auch bei der Anstalt gelang. Oder dass Vox die fremdschamfreie Musikshow Sing my Song gelungen ist. Auch dass Dominik Graf seine Sehenswürdigkeit Die reichen Leichen im BR uraufgeführt hat. Und dass Krimi dank des Theater-Tatorts Im Schmerz geboren, ganz zu schweigen von Roeland Wiesnekker als Täter ohne Opfer in Mörderische Hitze doch überraschen kann. Wenngleich weniger als Francis Fulton-Smith. Wie Kai Wiesinger als Christian Wulff (Sat1) spielte er Franz-Josef Strauß in der Spiegel-Affäre so überzeugend, dass die Realität durch den Bildschirm blickte und sprach: Das bin ja ich!
Charly Hübner als überforderter DDR-Grenzer an der „Bornholmer Straße“, Matthias Brandt als viril scheiternder Präsidentschaftskandidat (Männertreu), Ulrich Tukur als pädophiler Odenwald-Direktor und ein grandioses ZDF-Ensemble im Entnazifizierungskammerspiel Zeugenhaus – sie alle machen Wirklichkeit fiktional so fühlbar, dass die Grenze zur Dokumentation verwischt.
Wenn auch nicht ganz. Dafür sorgte vor allem Arte, wie in der Reportage 24 Stunden Jerusalem, im Weltkriegspuzzle 14 Tagebücher oder im Summer oft the 90s mit Scooter als Moderator eines aberwitzigen Jahrzehnts. Auch die Muttersender zeigten da Bemerkenswertes. Doch so manch famoser Sachfilm à la Putins Spiele legte gleichsam ein Dilemma offen: Um die deutschen Medaillenträume nicht zu stören, lief die fabelhafte Demaskierung des olympischen Irrsinn von Sotschie zur Nacht. Ähnlich war es bei der Fußball-WM, wo die hyperpatriotischen Jubelperser vom schlichten Hasan Salihamidzic über die zappelige Britta Heidemann bis zur devoten Katrin Müller-Hohenstein belegten, dass es ARZDF nie um Sport, sondern bloß Party geht.
Wie gut, dass 2015 keine größere ansteht.
Anstehen tut dagegen der übliche ZDF-Event zum Jahresauftakt, in dem das biedere DDR-Bashing Tannbach ab Sonntag 270 quälende Minuten lang am deutschen Opfermythos bastelt. Mit der medizinischen Multikulti-Serie Sibel & Max könnte dem Zweiten dagegen tags zuvor endlich mal wieder Qualität am Vorabend gelingen. Und ab 20. Februar tritt Moritz Bleibtreu in Schirachs Schuld die würdige Nachfolge Josef Bierbichlers an. Noch was? Ach ja: Nico Hofmanns groß angekündigten Ost-West-Spionage-Achtteiler mit dem patriotischen Deppentitel Deutschland hat sich RTL gesichert, während das ZDF parallel zu Thomas Gottschalks Moderation von 50 Jahre Goldene Kamera am 27. Februar allen Ernstes über die Fortsetzung von Wetten, dass…? diskutiert. Bald darauf dann ermittelt in Nürnberg das 2863. Tatort-Team, ZDFkultur und EinsPlus wandern ins Internet, während der Ableger Neo seine erste Sitcom Im Knast produziert, gefolgt von einer Drama-Serie im US-Stil, die natürlich von der Originalquelle ansehnlicher sein dürfte, was das Breaking-Bad-Sequel Better Call Saul mit Walther Whites aberwitzigem Anwalt belegen dürfte. Bad news gewohnt zuletzt: Nachdem Amazon ab März die postapokalyptische Reihe The After im eigenen Videodienst verbreiten wird, übernimmt Netflix mit der Seriensuperpower des Marvel-Helden Daredevil die Weltherrschaft und sperrt alle Fernseher in dunkle Kellerlöcher. Frohes neues Fernsehjahr!
Joe Cocker: Coverkönig & Luftgitarre
Posted: December 27, 2014 Filed under: 6 wochenendreportage Leave a commentDer letzte Schrei
Joe Cockers Karriere begann in Woodstock, sie führte ihn bis vors deutsche Fernsehpublikum. Er war der Bauch und die zitternde Hand des europäischen Rhythm and Blues.
Von Jan Freitag
Am Ende bleibt dieser Schrei. Auch ein halbes Jahrhundert später vereint er fast alles, was ein einzelner Ausruf aus voller Brust umfassen kann: Schmerz und Erlösung, Hingabe und Wut, Hilflosigkeit und Trotz. Es war die erste Urschreitherapie der Popmusik, Glaubensbekenntnis ihrer universellen Strahlkraft. Und bis heute erscheint selbst in den Köpfen Spätgeborener rasch ein Bild des Schreienden, dieses Waldschrats mit den Kotelettenbüschen überm verwaschenen Batikhemd. Er sollte zur Ikone werden, ein weißer Sänger, wie ihn der schwarze Blues bis dahin selten erlebt hatte: Joe Cocker. Auf dem heiligen Acker von Woodstock der Geheimtipp unter revoltierenden Stars, kaum 25 Jahre jung, doch mit einer altersweisen Seele, so schien es. Er sang ein Stück der Beatles nach, ach was, er riss dieses With A Little Help From My Friends förmlich aus seinem Herzen und schenkte es den aufgekratzten Blumenkindern wie einen Liebesbeweis.
“Do you need anybody?
I need somebody to love!”
Und das seid Ihr! Und das bin ich!
Dies ist einer der entfesselten, leidenschaftlichsten, brillantesten Live-Auftritte im Poparchiv, und er brennt sich mitten ins kollektive Gedächtnis einer Dreiviertelgeneration. Als die dann älter wird und mit ihr der staksige Zausel mit der verschrobenen Optik, vererbt sie es an die Nachgeborenen. Auch als die längst Techno, Grunge, Rap und Britpop hört, weht der Schrei sonderbar beharrlich durch den Hallraum des kollektiven Gedächtnisses wie Wagners Walkürenritt oder Presleys Tremolo. Er lässt einfach nicht los, niemals, so tief wie er aus dem Magen kommt. 1969 auf einer weltgroßen Bühne in der nordostamerikanischen Provinz. Eine Ewigkeit her.
Dabei ist es nicht gerade schmeichelhaft für einen Künstler, immer und immer wieder auf ein singuläres Frühwerk festgenagelt zu werden, als sei danach nichts mehr gekommen. Schließlich ist danach einiges gekommen, vieles sogar. Eine Weltkarriere, beinahe Kultstatus, auch Lachnummern zuweilen, am Rande der Selbstentblößung, dazwischen aber stets er: der europäische Bauch des Rhythm and Blues, ein Sänger, wie es vor ihm keinen gab und nach ihm kaum je einen geben wird. Jetzt ist er tot, gestorben mit 70 an den Folgen seiner langjährigen Lungenkrebserkrankung, daheim in Colorado, offenbar ganz still und friedlich.
Also irgendwie ganz anders als sein Leben zuvor. John Robert Cocker, das ist zeitlebens die Flamme des musikalischen Feuers aller Generationen, die ihm an den Lippen hängt. Also eigentlich aller Generationen, vom Flower Power über den Eighties Pop bis ins Stammpublikum des ZDF. 1944 geboren in der britischen Stahlkocherstadt Sheffield, verdingt sich der gelernte Gasinstallateur nach Feierabend als Kneipensänger für ein paar Pfund Gage und reichlich Bier obendrauf. Er nennt sich Vance Arnold, spielt als Teenager mal vor den Rolling Stones, entert kurz vor Woodstock mit Marjorine erstmals die Singlecharts und besinnt sich sodann darauf, mit dem Liedgut anderer reichlich Erfolg zu haben. Bis zum Absturz.
Anfang der Siebziger exerziert Joe Cocker, was unter Superstars seinerzeit üblich ist: Er experimentiert nicht mit Drogen, die Drogen experimentieren mit ihm. Nichts, was er nicht in sich schütten, saugen, vermutlich injizieren würde. Nicht wenige seiner zwei Dutzend Platten erscheinen in jener Epoche, doch sie verblassen oft in Echtzeit. Kurz darauf sitzt er sogar im Gefängnis. Irgendwas mit Substanzen, irgendwas mit Gewalt. Ein Konzert platzt. Joe Cocker ist am Boden. Bis ihn ein Duett mit Jennifer Warnes 1981 am schütteren Haar aus dem Sumpf zieht, rauf nach Hollywood, wo Up Where We Belong als Titelsong von Richard Geres Ein Offizier und Gentleman 1983 den Oscar gewinnt und Cocker und Warnes mit einem Grammy geehrt werden.
Fortan zählt der angehende Schmusebarde zum festen Inventar des populärmusikalischen Biedermeier. Nicht nur, weil seine Coverversionen – vom Sixties-Hit Summer in the City über die virile Bluesschnulze You Can Leave Your Hat On bis zum Bierwerbejingle Sail Away – das Bedürfnis nach leidlich gediegenem Schlager befriedigten. Sondern weil Joe Cocker mehr ist als bloß Interpret chartstauglicher Stromliniensongs. Ein halbes Menschenleben lang mimt er den Schatten im Showbiz, die kleine Kante auf der polierten Oberfläche des Hochglanzgeschäfts, ein Fehlbarer mit Riesenerfolgen, und zwar keiner, so raunt man sich zu, der mal einen übern Durst trinkt – nein, ein unverbesserlicher Trinker, den die tödlichste Sucht der Menschheitsgeschichte mit beharrlichem Starrsinn zugrunde richtet. Für die Mehrheitsgesellschaft draußen an den Bildschirmen, vor allem das deutsche Publikum, ist er somit der lebende Beweis, dass ein wenig Schieflage im Leben schon okay ist, solange man seinen Job macht. Ein englischer Harald Juhnke gewissermaßen.
Dabei hat seine markanteste Eigenart, und das ist umso erstaunlicher, gar nichts mit Drogen zu tun hat. Die zitternde Hand ist kein Suchtergebnis, sondern expressive Musikalität. Schon in Woodstock gestikuliert er seinen Auftritt beidhändig mit und gilt nicht ohne Grund als Erfinder der Luftgitarre. Dass Joe Cocker nicht perfekt singen kann und schon gar nicht tanzen, dass er kein Instrument beherrscht, geschweige denn Noten, dass sein Spätwerk besser zu Florian Silbereisen passt als zu verschlammten Kiffern am Eve of Destruction, all dies schadet seiner faszinierenden Karriere nicht. Nach ihrem Ende ist da doch weit mehr als dieser eine Schrei. Der war nur besonders laut.
Mehr Text’n’Bilder’n’Kommentare unter http://www.zeit.de/kultur/musik/2014-12/joe-cocker-blues-nachruf
Weihnachtsprogramm: Kinder & Krams
Posted: December 24, 2014 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentBingle Bells
Weihnachten ist die Zeit des Friedens, des Schenkens – und des Fernsehens. Besonders Kinder werden an den Feiertagen sogar im öffentlich-rechtlichen Hauptprogramm rundumversorgt. Ganz im Gegensatz zum kommerziellen. Ein kleiner Überblick.
Von Jan Freitag
Binge Watching ist bekanntlich das neue Ding am Himmel zeitgenössischen Medienkonsums. Weil viele Zuschauer die starre Taktung des Regelprogramms langsam leid sind, schauen sie ihre Lieblingsformate lieber auf DVD oder im Internet. Besonders bei Importserien tendieren echte Fans dabei zur Druckbetankung: alle Folgen einer Staffel hintereinander weg, gern auch die der nächsten obendrein, Pausen nur zum Pinkeln, eben Binge Watching genannt. Dass man sich allerdings auch im öffentlich-rechtlichen Korsett derart dauerversorgen kann, auch noch mit ein und demselben Film, belegt – was sonst, in diesen Tagen? – Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.
Dreizehnmal wird der televisionäre Festtagsschmaus schlechthin allein an den drei Feiertagen von anspruchsvollen Sendern serviert. Auf EinsFestival können schlaflose Kinder das nostalgische Kleinod sogar nachts um eins oder halb fünf genießen. Kinderprogramm rund um die Uhr quasi. Womit wir beim Thema wären. Denn während ARD und ZDF ihr Nachwuchsangebot im Rest des Jahres praktisch vollends gen KiKa abschiebt, versuchen sie die Familie im Ganzen rings um Heiligabend nochmals grundzuversorgen und wissen sich mit ihren Spartensendern dabei in guter Gesellschaft. Vor allem mit Märchen, besonders bei den Dritten, mehr aber noch im Ersten. Seit sieben Jahren nämlich modernisiert dessen Reihe Sechs auf einen Streich alte Volksweisen von Grimm bis Andersen und macht daraus aktuelle Geschichten im nostalgischen Gewand.
Mit der 7. Staffel schwillt der Kanon nun auf insgesamt 34 Filme an: durchweg zielgruppenfreundliche 60 Minuten lang, allesamt auf ihre Weise – wenn schon nicht immer gleich gelungen, so doch immer gleich wertvoll. Denn auch das neue Quartett, darunter mit Siebenschön zum Auftakt erstmals ein Stück des Weimarer Erzählers Ludwig Bechstein, baut bezaubernde Brücken zwischen Nostalgie und Realität, Märchenwelt und Gegenwart. Dafür sorgt im Anschluss Grimms Außenseitergeschichte Sechse kommen durch die ganze Welt, in der eine Gruppe zeitloser Freaks durchs geistig beschränkte Mittelalter irrt. Dafür sorgt aber mehr noch die furiose Adaption von Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Grimms Novelle über den Töpfersohn Michel (Tim Oliver Schulz), der die schöne Königstochter nur kriegt, wenn er das Schloss ihres Vaters von Geistern befreit, mischt so viel humoristischen Horror unters Coming-of-Age-Drama, dass es selbst für Game-of-Thrones-Fans einiges bietet. Dazu Rick Kavanian als Moorleiche oder Heiner Lauterbach als obdachloser Regent – fertig ist ein Lagerfeuer für die halbe Familie, das auf den anderen Sendeplätzen gerade fleißig gelöscht wird. Wie gut, dass es einer wie Christian Theede so sorgsam am Knistern hält.
Der rührige Regisseur aus Hamburg hat der ARD-Reihe mit Perlen von Allerleirauh bis zum Fischer und seiner Frau bereits fünf äußerst sehenswerte Beiträge hinzugefügt. Nun kommt noch sein Zweiteiler Till Eulenspiegel hinzu, auch so eine Ballade, die historisch kostümiert von der Verlogenheit des Menschen kündet, die sich bis heute durchs soziale Miteinander zieht. Als Event unter den vielen Neuheiten reiht sich auch diese Bestseller-Adaption demnach nahtlos ein in den Kanon modernisierter Klassiker, die das gesamte Weihnachtsprogramm füllen.
Das ZDF hält sich dieses Jahr bis auf das rührselige Emanzipationsmärchen Die kleine Lady (Freitag, 16.35 Uhr) und die fantasyartige Schneekönigin (10.40 Uhr) zwar mit weihnachtsaffiner Frischware für kleine und große Kids zurück. Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang ist es aber dennoch völlig egal, welches erste bis dritte Programm man vorm Wochenende einschaltet: es läuft garantiert eins der zahllosen Märchen, die in den vergangenen Jahren neu entstanden sind. Und mittendrin, besonders im MDR, wie gewohnt jene schwarzweißen bis bonbonfarbenen Kinderfilme der osteuropäischen Märchenschule, die nicht allein im ostdeutschen Gemüt wohlige Wärme entfachen.
Nur der KiKa bleibt da seltsam märchenfrei. Und natürlich die Privatsender, in denen sich alle Feststimmung eher in animiertem Hollywood-Bombast und ähnlich überdrehten Import-Komödien voll rotweißbemützter Stars erschöpft. Gut: schöner ist Weihnachten ohnehin, wenn die Glotze ausbleibt. Aber wenn man sich davor schon die Zeit bis zur Bescherung vertreibt, dann vielleicht besser mit Aschenputtel um eins im Ersten als der Weihnachtsgeschichte mit Schlümpfen zeitgleich auf RTL. Noch mehr Werbung braucht nach dem Konsumterror der Adventszeit sowieso niemand.
25. Dezember
14.15 Uhr, Siebenschön, ARD
15.15 Uhr, Sechse kommen durch die ganze Welt, ARD
16.15 Uhr, Till Eulenspiegel, 1. Teil, ARD
26. Dezember
14.15 Uhr, Die drei Federn, ARD
15.15 Uhr, Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, ARD
16.15 Uhr, Till Eulenspiegel, 2. Teil, ARD
Reportage: Hamburger Kahlschlag
Posted: December 20, 2014 Filed under: 6 wochenendreportage 1 Comment
Eppen ohne Dorf
Sobald Investoren Rendite verheißen, zerstört Hamburg sein steinernes Gedächtnis durch öde Baukastenarchitektur. Ein Beispiel ist Eppendorf, wo grad der vorletzte Rest dörflicher Struktur vorm Abriss steht. Unser Autor Jan Freitag begab sich an den Ort seiner Kindheit – und kehrt deprimiert zurück
Von Jan Freitag
Erinnerung ist ein launisches Wesen. Ob sie freudig stimmt, melancholisch oder deprimiert – das entscheiden oft ein paar Meter Fußweg. Als ich nach Jahren, ach: Jahrzehnten zurück ins Viertel meiner Kindheit kehre, öffnet sich sofort mein Herz: Das Brauhaus am Markt, allen Ernstes – es steht noch! Ein winziger Giebelbau aus Zeiten, da Eppendorfs dritte Silbe noch Ortsbeschreibung war statt bloß Stadtteilname, er ragt wie eine Trutzburg nostalgischer Beharrlichkeit aus dem Verkehrschaos ringsum.
„Anno 1881“ ist in den Türbalken graviert, eine Zahl wie Donnerhall im neubauseligen Hamburg, die sogar noch tief stapelt. Dass dieses Relikt, einst Droschkenstation, längst Gaststätte, noch viel älter ist, war mir früher gar nicht klar. Es wäre mir auch egal gewesen; kindliche Erinnerung bemisst sich ja in Tagen, nicht Epochen. Aber nun, wo selbst jene drei Kastanien unversehrt davor stehen, die der Pizzeria zuletzt den italienischen Namen verpasst hatten, wird mir doch warm ums Herz. Vorerst.
Doch dann trete ich näher, und mit jedem Schritt wandelt sich schöne Erinnerung in Zweifel, bis mir die Realität wie ein Faustschlag in die Magengrube fährt: Das „Tre Castagne“, wo ich meine allererste Pizza aß und mal neben Otto Waalkes saß, ist dicht. Mehr noch: der äußerlich malerische Gebäudekomplex ist innerlich ruiniert: Türen verriegelt, Fenster kaputt, ein Balken hängt aus der Decke. 235 Jahre konnten Wandel, Krieg und Brandgefahr dem Fachwerk wenig anhaben. Im Gegenteil. Statt die Grundfesten zu erschüttern, wurde erweitert. Hier ein Erker, da ein Anbau, wechselnde Besitzer, gewandelte Gastronomie, was mir als Brauhaus in Erinnerung war, ist heute: Abbruchreif!
Schlimmer noch: Abbruchbereit!
Davon zeugen renitente Worte am Stein des Anstoßes. „Kein Abriss!“, steht auf einem Schaufenster. Daneben fordert ein Schild, das „Dorf in Eppendorf“ zu belassen, was einer auf dem Bürgersteig mit „Altes Brauhaus bleibt“ bekräftigt. Bei soviel Empathie wird mir zweierlei klar: Es regt sich Widerstand gegen die Kahlschlagkultur. Und zwar selbst im alsternahen Wohlstandsrefugium, das als Synonym vollendeter Gentrifizierung dient. Wenn es selbst inmitten der Gründerzeitpracht Protest bis hin zur Sachbeschädigung von Gehwegen gibt, geht es nicht nur um ein Haus. Es geht um mehr.
Also beschließe ich, den Spuren meiner Kindheit nachzugehen. An jene Orte, wo sie sich vor 40 Jahren vorwiegend abspielte: Straßen, Parks, Innenhöfe, draußen eben. Kurzum: ich mache mich auf den Weg durchs Eppendorf des 21. Jahrhunderts, um bei einem Abstecher ins 20. die Spuren des 19. zu finden. Doch trotz warmer Gefühle, die überall aufwallen, wird es keine schöne Reise. Es wird eine, die in Hamburgs Filetstück bitterböse verdeutlicht, wie die reiche Stadt ihr steinernes Gedächtnis planiert, sobald es zweckdienlich erscheint. Wie die Abrissbirnen durch historisch gewachsene Strukturen fegen, als seien Deutschlands Stadtkerne nicht längst „fertig gebaut“, was Elke Pahl-Weber, Professorin für Stadtplanung an der TU Berlin, mit der Forderung verbindet, sich weniger mit Erweiterung und Neubau zu befassen, als mit „Weiterentwicklung und Qualitätssicherung des Bestandes“.
Schreiten wir also zur Bestandsaufnahme.
Links runter zur Erikastraße, 1899 nach der Heideblüte des umliegenden Hochmoors benannt. Zuvor hieß sie Feldweg und war auch einer, wie sich der ganze Randbezirk seines ländlichen Charakters erst richtig entledigte, als ich in der Erikastraße 68, drei Etagen überm Fischladen meiner Mutter, aus vollen Windeln das neue Jahrzehnt anschrie. 1970 gab es im Südteil meines kastaniengesäumten Heimatpflasters noch echtes Handwerk, eine Schmiede gar und pro Nahrungsgruppe zwei Einzelhändler. Zwischen fünfgeschossigen Belegen bürgerlicher Fin-de-Siècle-Herrlichkeit hatte Eppen noch wirklich sein Dorf. Und mittendrin meine Schule, benannt nach ihrem Schüler Wolfgang Borchert, wo ich, so wurde mir beim Klassentreffen der Fußballlegende versichert, im gleichen Klassenraum saß wie Uwe Seeler.
Im Krieg war das, als auch meine Blocks ein paar Bomben abbekam. Effizienter als die Briten indes waren die Bagger. In der Querstraße, benannt nach den Geschwistern Scholl, machen sie seit 40 Jahren nach und nach Platz für die ganze Hässlichkeit des Instantwohnens. Auch schräg gegenüber der Schule haben sie 2012 eine Schneise der Ödnis in die leerspekulierte Substanz geschlagen und durch Blockfassaden ersetzt. Schnörkellos, makellos, seelenlos. Schlimmer ging es allenfalls auf der anderen Straßenseite zu: der süße Terrassenflachbau, wo ich Timmy & Tina als Dreikäsehoch Vogelfutter kaufte: weg! Ebenso das gelbe Einfamilienhaus samt seiner türkischen Bewohner, die einst wie so viele Gastarbeiter scharenweise ins billige Eppendorf gezogen waren. Wo sie lebten, arbeiteten, bei und unter uns waren, ist nun alles Alte fort und mit neuem Kalkül verfüllt, der sich in all die Freiflächen fraß. „Verdichtung“, heißt das auf Investorianisch.
Und als wäre das zu wenig der Kränkung des lokalen Gedächtnisses, tauften die Eigner den aseptischen Komplex aus 67 Luxusappartements zum ortsüblichen Quadratmeterpreis von 5000 Euro aufwärts „Eppendorf Village“. Immerhin der Name verweist aufs Dorfaroma meiner Kindheit, das peu à peu der Real-Estate-Economy zum Opfer fällt. Wo früher Wurst und Milchwaren, Uhren, Schuhe, Obst, Zigarren über die Theke gingen, ist es nun: Lifestyle. Überfluss statt Grundversorgung, verteilt auf ein halbes Dutzend Designshops, wenngleich der erste schon wieder den Makler bemüht.
Edel gewandet sind sie, die Village People, fein eingerichtet, also eng am Vorurteil vom Schnöselviertel. Als ich aufs Lokstedter Gymnasium wechselte, gab es das noch nicht. 1980 rümpfte meine reichen Mitschüler die Nase über den Jungen aus dem Arbeiterquartier voll leibhaftiger Migranten und zotteliger Studenten, die sich im uralten „Borchers“ oder der „Palette“ – verrauchte Spelunken, in denen unweit von Thälmanns Geburtshaus die DKP tagte, womöglich gar die RAF. Der stellte hier 1979 ein so brachiales Polizeiaufgebot nach, dass auf unserem Nachbardach ein Geschütz stand. Es ging so wild zu in Eppendorf, dass das betuliche Abendblatt 1971 die Verdrängung kleiner Geschäfte „durch Boutiquen und Pubs im English-Style“ beklagte. Neben denen wurde kurz darauf eine Fälscherwerkstatt ausgehoben und vor unserer Tür stand ständig ein Amischlitten mit Pelzmantelfahrer.
Um dieser Ära nachzuspüren, muss man den Ring 2 queren, der Hamburgs ältestes Dorf zweiteilt: die proletarische Rotklinkerzone im Westen, im Osten gutbürgerliche Schnörkelfassendidylle. Rings um die Martini-Kirche, wo ich getauft, konfirmiert, zivilisiert wurde, wachsen anstelle der wunderschönen Sozialstation wuchtige Neubauten über die Bäume des UKE-Parks. Aber nach zwei Stunden Eppendorf schockt mich das längst nicht mehr so wie das, was Hakim Raffat erzählt.
In einem verdichteten Hof, wo die Polizei residierte und mein Kindergarten, schreibt der Historiker am Geschichtsbewusstsein seiner neuen Heimat, die dem Flüchtling 1969 Afghanistan ersetzte. Zwischen Aktenbergen und den Büchern übers Viertel aus seiner Feder malt der Stadtteilarchivar ein düsteres Bild. In den Siebzigern hätten Makler den verpönten Altbau rehabilitiert. Seither, 66 Jahre alte Fäuste treffen sich vor der Brust, wirken zwei Kräfte gegeneinander: „Investoren und ihre Gegner.“ Gegner wie die Bürgerinitiative Wir sind Eppendorf. Wie gut 5000 Unterzeichner einer Petition zum Erhalt des Brauhauses. Wie Raffat selbst. Oft sind es erbitterte Gegner.
Ein Gang durch sein Revier ist daher kein Spaziergang, sondern Anklage. Schritt für Schritt. Bis auf einen schäbigen Rest, mahnt er vorm Fachwerkhaus nahe der alten Johanniskirche, wo vor 300 Jahren die Postkutsche hielt und nun ein Italiener kocht, „ist die dörfliche Struktur kaputt“. Das „Wills Palais“ von 1770 mit seinen Goldapplikationen, die Schlosserei am Markt, dazu ein abgebrannter Katen im Rotklinkererbe der Brüder Gerson, die zwischen zwei Weltkriegen den sozialen Wohnungsbau nach Eppendorf holten, „das war’s.“
Doch so wichtig es sei, epochale Gebäude ohne Nutzwert als Kontrastmittel, Erinnerungsanker zu erhalten – die echte Gefahr, so Raffat, gehe vom Abbruch der nächsten Generation aus: Intakte, aber niedrige Gründerzeithäuser wie am Brauhaus, deren Höhe gewinnbringend verdoppelt werden soll. „Flächenmaximierung.“ Noch so ein Investmentwort. Den drei windschiefen Häuschen gegenüber, eins davon denkmalgeschützt, gibt Raffat noch 20 Jahre. Dann wird gebaut.
Dabei ist die Idee, wachsende Metropolen könnten sich museale Areale wie die nördliche Erikastraße leisten, wo das 19. Jahrhundert aus jeder Gaube grüßt, was für Träumer. Wäre Hamburg über deren Traufhöhe nie hinausgekommen, wüchse die Stadt so in die Breite, dass im Alten Land kein Bauernhof mehr stünde. Als Eppendorf vor rund 100 Jahren gen Himmel wuchs, beklagten die „Hamburger Nachrichten“, dass die „schlichten und gemütlichen Landhäuser“, nun „der Neuzeit zum Opfer“ fielen. Erinnerungen sind eben Kinder ihrer Zeit. Doch seit die Neoklassik der Stadt ihre Stempel aufgedrückt hat und später die „Operation Gomorrha“, folgen Veränderungen selten demografischen Zwängen. Bauen, sagt Marthe Friedrichs, „schafft eben keine Werte mehr, sondern Handelsware“. Um jeden Preis.
Die imposante Frau von 68 Jahren ist ungehalten, wenn sie davon spricht, und sie kann sehr ungehalten sein, geht es um Eppendorf. Das, sagt sie garniert mit salonunfähigem Vokabular, „ist auf Wasser gebaut“. Buchstäblich. Ihr Heimatviertel sei aufgeschüttetes Hochmoor, kanalisiertes Alsterschwemmland, Tidehub inklusive, „windelweich unterm Asphalt“. Früher seien Bauherren klug genug gewesen, flach zu unterkellern. Und jetzt? Vorm Brauhaus, dem die Kabarettistin nach der Schließung ihrer Bühneninstitution „Mon Marthe“ ums Eck alle Aufmerksamkeit kriegt, schüttelt Friedrichs theatralisch den Kopf. Sie zeigt über den Marktplatz. „Heute passiert so was.“
So was, das sind die „Eppendorfer Höfe“. Ein betonfrischer Wohnklotz, der von Füssen bis Flensburg die Städte dominiert. Hier indes wird er umrahmt von betörender Neoklassik, die nun ihrerseits bestandsgefährdet sei. Dank der Höfe. Sagt Friedrichs und lacht böse. Als deren Baugrube voll lief, sei das Grundwasser so gestiegen, dass es nun die Nachbarsubstanz schwächt. Sie holt Fotos von handbreiten Rissen, lang wie Springseile, aus der Tasche. So schaffe man, „uups“, Argumente für den nächsten Abriss, der weitere Tiefbauten nach sich zieht. Ein Schneeballeffekt.
Den das Bezirksamt bestreitet. Dessen Chef Harald Rösler hält das Erdreich des Viertels für „sicher“ und zitiert ein Gutachten der Stadtentwicklungsbehörde. Da den Eppendorfer Höfen zudem nichts Erhaltenswertes gewichen sei, fügt Kulturbehörden-Sprecher Enno Isermann hinzu, sei der Abbruch auch aus Sicht des Denkmalschutzes nicht zu beanstanden, der sich nur an Recht und Gesetz halte. Dass dessen Mitarbeiter „mit vollem Herzen auf Seiten der Altbausubstanz“ sind, wie er beteuert, ist jedoch mitunter anzuzweifeln.
Von Eppendorfs 550 Denkmälern ist das Gros hochgeschossig, also kaum aufwertbar. Was durch Abriss Platz gewönne, fehlt dagegen auffallend oft auf der Liste. Darunter die bezaubernde Mühle am Haynspark. Und weil es so oft verändert wurde, dass nach Isermanns Dafürhalten die „rechtlich vorgegebenen Anforderungen an ein Denkmal – möglichst authentisch bewahrter originaler Zustand – nicht mehr erfüllt wird“, auch das alte Brauhaus. Selbst Milieuschutz nach §172 Baugesetzbuch, der Altbau in den Kontext der Umgebung setzt, greife nicht. Die Bürgerinitiative klammert sich daher längst an die Schutzwürdigkeit der Kastanien. Bislang ergebnislos.
Eisiger Wind fegt durchs Dorf, als ich es letztmalig besuche. Jeden Samstag demonstriert dort eine Schar Unbeugsamer gegen das Unausweichliche. Mit der Diskursbereitschaft einer Dampfwalze schleudert ihr der Bezirksamtschef entgegen, „der Bauvorantrag wird nicht zurückgenommen“. Doch die Wir-sind-Eppendorfer verteilen unverzagt Flyer, sammeln Unterschriften, trommeln für Sanierung. Sie würde Millionen kosten. Der Vorschlag eines Mitglieds, Holsten könne darin doch eine Showbrauerei betreiben, klingt daher so liebenswert wie weltfremd. Trotzdem fühlt es sich – pardon, Presserat – richtig an, dass auch ich für den Erhalt unterschreibe. Hier geht es ja auch um meine Erinnerung. Die schert sich erstmal nicht um Machbarkeitsstudien. Und sie endet auch nicht an Eppendorfs Grenze, die ich längst hinter mir gelassen habe.
Wenn man sich der nähert, die Landstraße südwärts an der Jugendstilpracht ihrer Abzweigungen vorbei. Wenn man ins Generalsviertel zu den Falkenried-Terrassen biegt, deren Rettung jeden Bürgerprotest gegen andere Abrisspläne rechtfertigt. Wenn man also Eimsbüttel erreicht. Dann ist zu sehen, was Laissez Faire dem steinernen Gedächtnis antut. Mit jedem Meter dünnt der Gründerzeitstolz aus, und mit dem Alter der Gebäude sinkt das architektonische Niveau. Ich drehe mich nochmals um, blicke ins Viertel meiner Kindheit und überlege, ob ich es wiedersehen will, wenn das Brauhaus die Büchse der Pandora weiter öffnet. Eher nicht. Schöne Erinnerungen sind mir lieber.
H. Huntgeburth: Tom Sawyer & Huck Finn
Posted: December 18, 2014 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentEchter Dreck
Hermine Huntgeburths Abenteuer des Huck Finn erzählt am Freitag auf Arte wie zuvor schon ihr Tom Sawyer die Welt der Kinder mit den Augen Erwachsener – und ist gerade deshalb ein Film, der sie Kindern öffnen kann.
Von Jan Freitag
Füße sind visuell eher heikle Extremitäten. Als Gebrauchswerkzeuge weit strapazierter als die anderen Körperteile, sind sie selten ansehnlich und daher vornehmlich verhüllt zu sehen. Wer Füße gern nackt betrachtet, gerät folglich rasch in den Ruch fetischistischer Obsession. Nichts fürs Familienprogramm also. Dann aber beginnt dieser Familienfilm und er beginnt – genau: mit Füßen. Und nicht nur das. Es sind dreckige Füße, Kinderfüße zwar, beim Toben im Freien zumal, doch sie stehen so derart vor Schmutz, dass man den Hauptdarstellern schon beim Zuschauen eine robuste Reinigung wünscht. So geht es viele der gut 100 Minuten weiter: schlammige Sohlen, verkrustete Zehen, abendfüllende Waschverweigerung zur besten Sendezeit. Man könnte meinen Hermine Huntgeburth hätte einen Fußtick.
Hat sie aber nicht. Die Regisseurin von Bibi Blocksberg bis Effie Briest, von Die Weiße Massai bis Neue Vahr Süd hat höchstens den Tick, artifizielle wie bodenständige Themen gleichermaßen lebensnah zu erzählen. Und in ein deftiges Abenteuer der Marke Mark Twain gehört da nun mal ausreichend Mississippidelta-Schlacke wie der Ziegen-Peter zur Heidi. Kein Wunder, dass auch Huntgeburths Version von Mark Twains Saga über Tom Sawyer und seinen Freund Huckleberry Finn die Unsauberkeit zum alltäglichen Aggregatszustand diverser Protagonisten macht; zumindest auf dem Land präsentierte sich dass 19. Jahrhundert schließlich als eher unhygienische Angelegenheit: Gebadet wurde allenfalls Samstag. Zahnpflege, Hautpflege, Nagelpflege waren großstädtischer Ostküstenluxus. Gepflasterte Straßen und Schuhabtreter ohnehin. Was das Äußere betrifft, ging es weit derber er zu als in diversen Werken über diese porentief rein gefilmte Epoche.
Anders als dort ist Hermine Huntgeburths Huck Finn also tatsächlich Wilder Westen, wenngleich im Baumwoll-Süden. Es gibt die Guten und die Bösen, den noblen Sheriff und einen dreckigen Schurken, blitzende Messer und rasende Pferde, rauchende Colts, verrauchte Saloons und alles wird in etwa so gezeigt, wie es hätte sein können, im Jahr 1876, als der wohl berühmteste aller Jugendromane zugleich auf Deutsch erschien. Schließlich ist auch Twains Buch mehr als ein kindgerechter Lesestoff mit aufregender Rahmenhandlung, sondern womöglich das erste wirklich ernstzunehmende Teenagerdrama der Weltliteratur. Eine Coming-of-Age-Novelle übers Erwachsenwerden aus Sicht Betroffener, in der Heranwachsende nicht bloß Objekte elterlicher Pflichtzuweisung waren, sondern eigenständige Protagonisten in Abgrenzung zu den Altvorderen. Eigenständig denkend vor allem. Subjekte ihrer eigenen Vorstellungskraft.
Das angemessen umzusetzen, fiel all den ehemals Kleinen, die diese Welt der künftig Großen für Bildschirm und Leinwand bebildert haben, bislang jedoch seltsam schwer. Seit der ersten Stummfilmversion von 1917 gab es rund ein Dutzend Adaptionen; doch von Don Taylors TV-Fassung vor 40 Jahren mit der blutjungen Jodie Foster als schnuckelige Richtertochter Becky Thatcher bis hin zur 26-teiligen ARD-Serie Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn anno `79 galt die raue Wirklichkeit gern als zu schädlich für junge (wie alte) Zuschauerseelen.
Bei Hermine Huntgeburth ist das ein bisschen anders. Hier durfte Sawyers schlicht gestrickter Altersgenosse im ersten Teil eher historisch als politisch korrekt „das ist doch Niggerarbeit“ sagen, bevor ihm sein schlauer Mitschüler vom Reiz des Zaunstreichens überzeugte, während August Diehl im zweiten Teil als Hucks Vater Finn nicht nur düster, sondern geradezu diabolisch sein darf, und Henry Hübchen nebst Milan Peschel grandios schmierige Sklavenjäger geben, die Hucks schwarzem Freund Jim (Jacky Ido) nachhetzen. Keine Frage, auch Huntgeburths Huck Finn ist nicht frei von abgeschliffenen Kanten. Für sich genommen mag Kino, wie Nebendarstellerin Heike Makatsch zu Tom Sawyer bemerkte, „experimentierfreudiger, mutiger sein als das Fernsehen“. Wenn es wie hier gießkannengefördert für den Bildschirm koproduziert wird, muss das Leitmedium allerdings ein paar ästhetische Kompromisse eingehen. Die Sklaven geraten dann zuweilen etwas gesünder als in der Herrenmenschenwelt jener Tage, der Irrsinn starrer Konventionen aus Twains Vorlage wird oft nur angerissen statt ausdifferenziert. Die Grundmelodie ist heiterer, als es der knüppelharte Alltag jener Eroberungstage unbekannten Terrains eigentlich gestattete. Und wenn spielende Kinder unter Schäfchenwolken über blühende Wiesen laufen, machen VFX und CGI aus der südstaatlich pragmatischen Kulturlandschaft wie Twain sie beschreibt schon mal Tolkiens Auenland – aber bitte! Huck Finn ist und bleibt Unterhaltungsliteratur plus etwas Gesellschaftskritik für junge Leute. Nicht umgekehrt. „Und grad große Unterhaltung“, meint Regisseurin Huntgeburth, „bietet ja auch die große Chance, sozialpolitische Aussagen einfach mitzuliefern“.
Dabei helfen ihr neben den arrivierten Schauspielstars zwei keinesfalls unerfahrene, aber noch unverbrauchte Talente. Dank Louis Hofmann und Leon Seidel als jugendliches Odd-Couple Tom und Huck, kann Hermine Huntgeburth das Schicksal zweier, wie man heute sagen würde: sozial benachteiligter Waisen voll nostalgischer Leichtigkeit erzählen, ohne unablässig mit erhobenem Zeigefinger auf deren Lebensumstände zu zeigen. Wie sehr ihr gottesfürchtiges Milieu den fröhlichen Freiheitsdrang der jungen Schäfchen bekämpft, gerät im unverkrampften Spiel der damals kaum dreizehnjährigen Titelhelden eher zum Subtext als zum Wesenskern. Spürbar bleibt es dennoch. In fast jeder Sekunde.
Genau das ist ohnehin eine Stärke Hermine Huntgeburths, was sie zuletzt in der wunderbar verschrobenen Korruptionskomödie Eine Hand wäscht die andere mit Ulrich Noethen als korrupten Kleinstadtbeamten zeigte: sachliche, oft ernste Botschaften in leichtes, oft heiteres Entertainment zu verpacken. Bei Tom Sawyer, wird es zusätzlich durch die detailverliebte Ausstattung verstärkt, den verschwenderischen Kulissenbau, das Bedürfnis zu bildgewaltigem Realismus. Der Hafen von St. Petersburg, erklärt die Regisseurin, „wurde zwar fast vollständig am Rechner erstellt“. Andererseits konnte ihr Team im rumänischen Studio unter anderem die Reste des Westerndorfs aus dem Hollywood-Erfolg Unterwegs nach Cold Mountain nutzen. „So einen tollen Kostümfilm dreht man nicht alle Tage“, freut sich Huntgeburth daher noch drei Jahre und eine Fortsetzung namens Die Abenteuer des Huck Finn später über einen Teil ihrer Kindheit, mit dem sie vor allem Filmerinnerungen verbindet.
Etwa den ZDF-Vierteiler Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer von 1968. Noch so eine Adaption, in der die Wirklichkeit fernsehrein gebürstet wurde und das Vagabundenleben aufs Abenteuer geduziert. In der die Klamotten heil waren und die Füße sauber. Dass die bei Hermine Huntgeburth vor Dreck starren, ist da kein Zufall. „Nackte Füße stehen bei allem Freiheitsdrang ja auch für die vergangene Möglichkeit, unverletzt durch die Natur zu laufen.“ So wie es die Regisseurin als Kind noch getan hat. Lang ist’s her, die 55-Jährige seufzt. Aber ihr Film hilft ja beim Erinnern.