Phil Laude: Y-Titty & Almania

King of Cringe

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Im Youtube-Trio Y-Titty hat sich Phil Laude (Foto: SWR) über verhaltensauffällige Männer unter 30 lustig gemacht. Mit über 30 nimmt er seine Altersgruppe erneut auf die Hörner – wie den Spießerpädagogen Frank Stimpel in der ARD-Mockumentary Almania.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Phil Laude, was ist – in Ihrer Definition – eigentlich genau ein „Alman“ wie in Ihrer Serie Almania?

Phil Laude: Auf der Basis eher lustiger Beobachtung ist ein Alman prototypisch deutsch, ohne abhängig von der zugehörigen Nationalität oder Herkunft zu sein.

Also eher ein Habitus oder ein Mindset?

Ein Lifestyle aus beidem, den absolut jeder annehmen kann, sofern er lang genug hier lebt. Da ich viele Almans verschiedener Nationalitäten kenne, empfinde ich den Begriff also gar nicht als Schimpfwort.

Aber schon als despektierlich?

Auch nicht. Wer andere Alman nennt, siezt sie meistens. Das wirkt dann eher respektvoll. Es kommt halt drauf an, was man draus macht.

Was macht ihre Serienfigur, der Brennpunktschullehrer Frank Stimpel, denn aus dem Alman in sich?

Garantiert den King of Cringe, der zwar wahnsinnig peinlich sein kann, dabei aber als Lehrer und Pädagoge gute Arbeit leistet. Vielleicht mag ich Frank Stimpel umso mehr, je länger ich ihn spiele.

Weil er den Alman in Ihnen widerspiegelt?

So wie ein Stück davon er tief in allen steckt, die hier groß werden. Ich bin vorsichtig und beständig, investiere konservativ, habe eine Hausratsversicherung, in der Sauna ein Handtuch auf dem Holz – der Alman, über den ich mich lustig mache, hat den Alman, der viel länger in mir steckt, also nur nach außen gekehrt. Küchenpsychologisch gedeutet, könnte das erklären, warum ich ihn so gern spiele. Mein Vater war übrigens ziemlicher Alman, aber meine Mutter ist Künstlerin.

Klingt, als kämpfen zwei Seelen in Ihrer Brust.

Ja, aber meinen Alman hole ich dennoch eher aus Beobachtungen und lege dann komödiantische Facetten drüber wie Stimpels ständige Dad-Jokes. Dabei ist mir wichtig, mich nicht über ihn lustig, die Figur also lächerlich zu machen. Deshalb stehen andere Figuren der Serie auch gar nicht so in seinem Schatten, sondern entwickeln eigene Perspektiven. Alle teilen hier aus, alle stecken aber auch ein.

Ist das von Fall zu Fall unterschiedlich oder Ihr komödiantisches Prinzip?

Draufknüppeln finde ich generell nicht so cool. Selbst auf meinen Verschwörungstheoretiker oder den BWL-Schnösel, die ich auf Youtube spiele, blicke ich aus mehreren Blickwinkeln. Auch die sind ein Teil von mir, wenn ich sie ergründe, ergründe ich also auch mich selber.

In welcher Almania-Figur ergründen sie den Schüler Phil?

Am ehesten relate ich wohl mit Annika.

Die unbeliebte Außenseiterin der Klasse?

Das war ich auch und hatte wohl auch deshalb schon immer ein Herz für uncoole Außenseiter. So ab der sechsten Klasse war ich ja selbst ein Mobbing-Opfer. Schreckliche Erfahrung, wirklich schlimm, wünsche ich niemandem.

War Ihr Sketch-Portal Y-Titty so gesehen die späte Rache des Mobbing-Opfers an den Täter:innen?

Der erste Ansatz, die 8. Klasse freiwillig zu wiederholen, nicht mehr der Kleinste zu sein, ans Schultheater zu gehen, hatte schon vorher funktioniert. Daraus ist am Ende dann auch Y-Titty entstanden. Dieser Impuls, es den anderen mal zu zeigen, steht ja am Anfang vieler Comedy- und Kunstkarrieren.

Empfehlen Sie das auch anderen Mobbing-Opfern?

Ich finde das Thema zu komplex, um anderen Empfehlungen auszusprechen. Bis auf die, offen und ehrlich darüber zu sprechen. Je mehr das auch auf Social Media machen, desto transparenter werden die Konsequenzen des Mobbings – auch für die, die es selber tun.

Was war an „Y-Titty“ denn heilsamer: der Inhalt oder dessen Erfolg?

Letzteres, glaube ich. Inhaltlich haben wir uns eher unterschwellig an unserer Vergangenheit abgearbeitet. Davon thematisiert Almania definitiv mehr als Y-Titty. Witzigerweise waren wir drei Jungs, die zwar ihr Ding durchgezogen haben, im Rückblick aber wahnsinnig uncool waren – nur, dass es eben auf selbstbewusste Art uncool war. Gerade weil wir uns so wenig Gedanken um unser Auftreten gemacht haben, waren wir aber vielleicht Vorbilder für andere. Zur Uncoolness zu stehen, kann ganz schön cool sein.

Ist Ihnen diese Uncoolness acht Jahre später dennoch manchmal peinlich?

Ich war auf einer Party und als dann plötzlich das Video unseres Songs Ständertime lief, fanden wir’s eher lustig als peinlich. Man kriegt da heute vielleicht einen leicht roten Kopf, ist am Ende aber schon auch ein bisschen stolz drauf.

Kann man die Anarchie des Youtuben mit der redaktionell betreuten Arbeit am ARD-Format Almania vergleichen, was steckt von ersterem im letzteren?

Einiges, wir durften relativ frei sein, haben auch am Set viel improvisiert und ohnehin meine Vorstellung von Humor umgesetzt.

Welche genau?

Möglichst viele verschiedene Menschen damit abzuholen. Klingt langweilig und irgendwie ja auch öffentlich-rechtlich. Aber mir gefällt es sehr, dass Almania nicht nur für Jüngere ist, sondern auch Ältere.

Demokratische Comedy gewissermaßen?

Und damit verbindende Comedy, irgendwie wertvoller als ausgrenzende.

Steckt mehr Internet-Anarchie von gestern im Fernsehen von heute oder umgekehrt?

(überlegt lange) Ich glaube, das hält sich die Waage. Fifty-fifty.

Weil Ihnen grad nichts Besseres einfällt?

(lacht) Ich versuche halt einfach mein Mindset offen zu halten und weder nostalgisch zu werden noch besserwisserisch. Aber natürlich färbt das Internet stärker aufs ältere Medium Fernsehen ab als umgekehrt. Mein Anspruch ist da, das beste beider Welten zu verbinden und mit Leidenschaft gute Geschichten zu erzählen. Der Ausspielweg ist dabei eher nebensächlich.

Auf welchem sehen Sie sich in fünf Jahren – nach Digitalmaßstäben also einer Ewigkeit?

Je älter ich werde, desto stärker liegt mein Fokus auf langen Geschichten. Von daher sehe ich mich im Fernsehen, will aber auch keine Fünfjahrespläne aufstellen. Ich lasse mich treiben.

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Funkes Schumi & Krens Kobold

Die Gebrauchtwoche

TV

17. – 23. April

Was am Boulevard so absolut irre ist, sind gar nicht so sehr die Lügen, Rufmorde oder Kampagnen. Wirklich verrückt, also im Sinne von wahnsinnig, ist ihr Versuch, all dies sporadisch mit Seriosität zu verkleistern. Das absurdeste Manöver vollzog nur Tage nach Mathias Döpfners öliger Schubumkehr in Sachen Ossi-Hass und FDP-Liebe die Funke Mediengruppe. Am Samstag feuerte der Essener Konzern Anne Hoffmann, weil sie als Chefredakteurin der aktuelle ein KI-Interview mit Michael Schumacher aufs Titelblatt gehoben hatte.

Schon drollig: da verkaufen die Lügenbarone von Bauer– bis Jahreszeiten-Verlag ihrer leichtgläubigen Kundschaft wochein, wochaus ausnahmslos lieblos halluzinierten Unfug über Promis wie den verunglückten Rennfahrer. Und wenn sie den Betrug endlich mal kenntlich machen, fliegt die Verantwortliche raus? Das wäre fast, als hätte die Bild ihr neues Führungsduo Robert Schneider und Marion Horn für erste Schlagzeilen wie diese entlassen:

„Bundesgartenschau: Auftrittsverbot für Rentner mit Mexikaner-Hut“

„Naddel: Wieder Sozialhilfe“

Wie immer ist an keiner davon auch nur das geringste Fünkchen Wahrheit, aber es knallt halt, wie es bei der Bild zu knallen hat. Dass Mathias Döpfners geistig-ideologischer Zwilling Rupert Murdoch für Fake-News über den Wahlmaschinen-Hersteller Dominion 779 Millionen Dollar Schadenersatz zahlen muss, fand hingegen – so unter Krähen – leider keinem Platz im Blatt. Auch das Desaster um kostenpflichtige Twitter-Haken von Döpfners Guru Elon Musk blieb offenbar unerwähnt.

Dafür gab es das übliche Bashing öffentlich-rechtlicher Medien auf der Titelseite, die ARD wolle „328 Millionen mehr Zwangsgebühr für Digital-Projekte“, womit die Redaktion aber mal alles durcheinanderbringt, was daran richtig sein könnte, aber egal: Boulevardjournalismus ist kein Bällebad, weshalb wir auf der Suche nach dem bildaffinsten Fernsehformat dieser Woche unwillkürlich bei Amazon Prime landen.

Die Frischwoche

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24. – 30. April

Dort startet am Freitag eine Actionserie namens Citadel. Und an der ist wirklich alles testosterongesteuerter Bullshit, also passgenau für Döpfners springerhochhausgroße Prostata. Im sechsteiligen Spionage-Thriller erwachen zwei Unterwäschemodels nach acht Jahren aus einer Amnesie, retten gemeinsam die Welt, werden dutzendfach rückstandslos vermöbelt, sehen aber stets spitze aus und erreichen fiktional somit das intellektuelle Niveau Oliver Pochers, also immer noch doppelte Höhe vom Boulevard-Publikum.

Citadel ist also ungefähr so realistisch wie die Fantasy-Serie Sweet Tooth um fabelhafte Mischwesen einer postapokalyptischen Zukunft, bekennt sich anders als in der zweiten Staffel bei Netflix allerdings nicht dazu, surreal zu sein. Hyperreal ist hingegen die Miniserie Sam – Ein Sachse. In der deutsch-deutschen Mini-Serie erzählt Disney+ ab Mittwoch die spektakuläre Story von Samuel Njankouo Meffire nach, einst der erster Polizist dunkler Hautfarbe in Ostdeutschland und damit eine Art Kronzeuge von Döpfners wilder Rassisten- oder Kommunisten-These.

Parallel dazu startet die ARD-Mediathek das nächste kleine Meisterwerk von Marvin Kren, der anders als in 4 Blocks oder Freud auch mal humoristisch auf die Kacke hauen darf. Handlung? Ebenso schwer zu erklären wie ihr Titel Der weiße Kobold, aber irgendwas mit Drogen, Österreich, Ganoven und einem Frederick Lau in Bestform, also ähnlich sehenswert wie Poker Face, wenngleich auf ganz andere Art.

In der mystischen Sky-Serie kann die hinreißende Natasha Lyonne – Fans von Orange is the New Black als drogensüchtige Nicky Nichols bestens bekannt – unterbewusst Lügen erspüren, was sie einerseits fünf Folgen lang zur Hobbydetektivin eines ziemlich liebenswerten Crime-Formats macht. Anderseits wären derart telepathische Fähigkeiten ja vielleicht auch für den Springer-Konzern verwertbar, just so…


Robocop Kraus, Pearl & The Oysters, Silver Moth

The Robocop Kraus

Die Jahrtausendwende brachte 1999 zwar nicht das befürchtete Weltchaos, aber einen Wandel unerwarteter Art: Deutsche Musik wurde plötzlich alternative und damit cool. BeigeGT zum Beispiel brachten Funk in den Punk, Von Spar wiederum Punk in den Pop und Whirlpool Productions Pop in den House und alle fanden beim Hamburger Label L’Age D’Or ihre Formvollendung in einer Band aus der fränkischen Provinz, die schon dem Namen nach Hamburger Schule mit Weltgeltung verbindet: The Robocop Kraus.

Genau 20 Jahre nach ihrem Durchbruch und immerhin 16 seit der bislang letzten Platte kehren Sänger Thomas Lang und Gitarrist Matthias Wendl nun zurück, und was soll man sagen – auch in neuer Besetzung liefern sie ein Album, von dem sich Jüngere gern ein paar Sinfonien wie Young Man abschneiden dürften. Abermals Überwältigungspop à la Franz Ferdinand, klingt der orchestrale Sound nach folkloristischer Frischzellenkur für New Wave und Postpunk, im Uptempo durch die Vergangenheit der Zukunft entgegen. Toll.

The Robocop Kraus – Smile (Tapete Records)

Pearl & The Oysters

Die Vergangenheit in der Gegenwart des französischen Duos Pearl & The Oysters zu erkennen, ist dagegen sogar noch ein wenig einfacher, ohne auf der Hand zu liegen. Juliette Pearl Davis und Joachim Polack, privat wie musikalisch seit Studienzeiten in Paris ein Paar, machen jazzigen Space-Pop voller Avancen an die technicolorbunten Sixties, klingen dabei allerdings meist wie beim heutigen Clubbing in ihrer Wahlheimat L.A., wo ihnen eine Extraladung Electroclash ins Werk geflattert ist.

Unterstützt von Lætitia Sadier (Stereolab), Riley Geare (Unknown Mortal Orchestra) oder Alan Palomo (Neon Indian), ist ihr zweites Album Coast 2 Coast eine Collage antiquierter und modernisierter Lounge-Rhythmen, dass der Verdacht käsiger Coolness im Raum stünde – wären Polacks polyinstrumentellen Keyboad-Kaskaden über Davis Flattergesang nicht auf so chaotische Art harmonisch und schön. So schön durcheinander, dass es die reine Freude ist, mit Pearl & The Oysters zurück in die Zukunft zu reisen.

Pearl & The Oysters – Coast 2 Coast (Stones Throw Records)

Silver Moth

Weil bei aller Wertschätzung am Ende wenig langweiliger ist als Harmonie um ihrer selbst Willen, müssen wir hier noch mal kurz eine Lanze für deren Aufbruch brechen, den Versuch, Wohlklang mit den eigenen Mitteln zu schlagen, das also, was die Unknown Superband Silver Moth auf ihrem Debütalbum betreibt. Kombiniert aus Indie-Gruppen wie Mogwai, Abrasive Trees oder Burning House, scheppert sich das Septett sechs Stücke lang durchs psychedelische Flächen von gebirgshoher Wucht.

Wichtiger noch: es schreddert sie in einer Art Emo-Noise, der trotz esoterischer Folk-Sequenzen gar nicht so abgehoben klingt wie Elisabeth Elektras feenhaft verwehender Gesang. Mit einer wallofsoundbreiten Prise Pink Floyd mäandert Black Bay durch die Siebzigerjahre, macht ein paarmal bei Kraut- und Progressive Rock Halt, dickt es mit elegischer Spoken-Words-Poesie an, verheddert sich dabei allerdings nie im Drogenrausch melodramatischer Querflöten, sondern bleibt auf Kurs einer Platte, die tiefer dringen will als jede Harmonielehre.

Silver Moth – Black Bay (Bella Union)


Anna Winger: Deutschland 83 & Transatlantic

Feier des Lebens in schrecklicher Zeit

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Seit Deutschland 83 gilt die New Yorkerin Anna Winger (Foto: Netflix) als feinste Beobachterin deutscher Gegenwartsgeschichte. Ihr siebenteiliges Netflix-Drama Transatlantic reist nun ins Marseille des Jahres 1940, wo eine realexistierende Flüchtlingsorganisation jüdische Intellektuelle vor den Nazis rettet. Gespräch mit einer Überzeugungstäterin.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Nach Deutschland 83/86/89 und Unorthodox beschäftigt sich auch Transatlantic mit Ihrer deutschen Wahlheimat, wenngleich Jahrzehnte früher. Warum dieser Sprung in eine Zeit so lange vor Ihrem Umzug nach Berlin?

Anna Winger: Stimmt, jetzt wo Sie es sagen… Wobei ich auch 1986 nicht in Berlin war, mir mein Wissen darüber also mit harter Recherche erarbeiten musste. Über Musik und Popkultur hatte ich zwar einen Bezug zum Deutschland jener Jahre, aber nie über die Folgen des Kalten Krieges für Berlin nachgedacht, bevor ich dort hingezogen bin. Von daher war Deutschland 83 anders als Unorthodox, das im Berlin meiner Zeit hier spielt, eher ein zeitgenössisches Kostümdrama als irgendwie biografisch.

Was haben die Formate dennoch gemeinsam?

Meine Geschichten entstehen immer aus Neugierde, sind häufig Fish-out-of-water-Stories und führen sie auf unterschiedliche Art aus der Dunkelheit ins Licht. Trotzdem wollte ich eigentlich nie etwas über Zweiten Weltkrieg oder Nationalsozialismus machen und war nach all den Angeboten, die ich dazu abgelehnt hatte, selbst überrascht, dieses hier angenommen zu haben.

Was hat Sie dennoch überzeugt?

Vor allem, was mein Vater mir darüber mal erzählt hatte, als wir gemeinsam über den Potsdamer Platz gegangen sind und ihm dort die Varian-Fry-Straße auffiel.

Benannt nach einer Hauptfigur, die mit Mary Jane Gold das Emergency Rescue Committee zur Rettung europäischer Juden betrieben hatte.

Den kannte er zwar nicht persönlich, dafür zwei andere Seriencharaktere, die fürs ERC gearbeitet hatten. Mit Lisa Fittko protestierte er in den Sechzigern gegen den Vietnamkrieg, mit Albert Hirschman lehrte er in den Siebzigern in Harvard. Als mein Vater mir davon 2012 erzählte, war ich schon deshalb so fasziniert von der Geschichte, weil der Einfluss jüdischer Intellektueller auf mein akademisch geprägtes Elternhaus in Cambridge, Massachusetts, wo ich aufgewachsen bin, so enorm war.

So gesehen kam „Transatlantic“ für Sie sogar vor „Deutschland 83“.

Ja. In meiner Kindheit und später in New York, hatten so viele im Umfeld meiner Eltern deutschen Akzent, dass ich deren Immigrationsgeschichte fühlen konnte. Genau darüber hatte ich wieder nachgedacht, als die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge zu Tausenden nach Berlin kamen. Am Ende war das aber nicht der Hauptgrund, Transatlantic zu machen.

Sondern?

Dass uns Gemeinschaft, Kreativität und Lebensmut oder Liebe, Sex und Freundschaft dieser Erzählung daran erinnern, wie viel Licht selbst in tiefster Dunkelheit steckt. Dabei fasziniert mich besonders, dass Leute verschiedenster Herkunft, Klassen, Hintergründe und Ansichten, die sich ansonsten wohl nie getroffen hätten, eine Art magischer Gemeinschaft bilden. Neben Deutschland waren 1940 ja auch Italien, Nordfrankreich, Spanien faschistisch, England wurde bombardiert, Amerika war neutral – selten zuvor war eine Zeit dunkler als diese.

Umso mehr handelt Transatlantic abseits all jener, die sich und anderen geholfen haben, von denen, die es wie die USA nicht getan haben, den untätigen Ignoranten also.

Sie machen dunkle Zeiten noch dunkler: Menschen und Bürokraten verbrecherischer Systeme und ihrer Nachbarn, die ihrem Alltag nachgehen und den menschlichen Preis ignorieren. Wobei Marseille eine Sonderrolle spielt. Unabhängig vom Pétain-Regime im Norden, gab es dort einerseits Kollaborateure, andererseits Anfänge der Résistance und mittendrin diese Intimität des ERC. Aus Sicht einer Autorin war das alles sehr interessant.

Ist es am Ende diese Intimität im Umfeld herzloser Zerstörungswut, die Transatlantic von der Vielzahl anderer Fiktionen zwischen Shoah und Weltkrieg unterscheidet?

Und die Feier des Lebens in schrecklicher Zeit. Beides hat mich damit verbunden, obwohl es im Kern tieftraurig bleibt. Ich habe mich oft gefragt, wie ich empfunden hätte, wenn mein Umzug aus den USA nach Berlin 2002 eine Flucht gewesen wäre, und habe mich da an Filme meiner Kindheit erinnert, die vielfach von jüdischen Emigranten stammten.

Die haben einfach weitergemacht.

Und ihre Traumata mit Humor, Liebe, Kunst in einer großen deutsch-jüdischen Exilgemeinde aufgearbeitet. Die halbe Crew von Casablanca bestand aus Flüchtlingen. Billy Wilder und Ernst Lubitsch waren deshalb als Künstler und Menschen unglaublich inspirierend für mich.

Würden Sie Transatlantic als deutsche oder internationale Produktion bezeichnen?

Deutsch. Unbedingt.

Glauben Sie, dass sie besonders in den USA auch als deutsche Produktion wahrgenommen wird oder doch eher, schon wegen der Sprache, der Organisation ERC und einiger Darsteller:innen, als internationale?

Macht das einen Unterschied?

Insofern, als deutsches Kino und Fernsehen in den USA nur dann wahrgenommen wird, wenn es sich mit Krieg und Tyrannei beschäftigt – wie man an vier Oscars für Im Westen nichts neues sieht.

Das sehe ich komplett anders. Zum einen gibt es in den USA selbst unglaublich viele Produktionen, die mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Zum anderen sind mittlerweile auch aus Deutschland Projekte erfolgreich, die damit gar nichts zu tun haben.

Mir fiele da nur Dark ein und dann wieder die beiden Historien-Serien Babylon Berlin oder Deutschland 83.

Trotzdem sind Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg nicht immer deutsche Themen und deutsche Themen nicht immer Zweiter Weltkrieg oder Kalter Krieg. Und hier geht es auch nicht um Deutsche und Flüchtlinge oder Opfer und Täter, sondern um gewöhnliche Menschen, die ungewöhnliche Dinge machen. Ich glaube, wir sind uns einig, hier uneinig zu bleiben.

Okay, aber?

Am wichtigsten ist mir, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die meine Vision teilen. Deshalb sind es auch immer wieder dieselben Leute, etwa die deutsche Bühnenbildnerin Silke Fischer, der Kameramann Wolfgang Thaler aus Österreich oder die Kostümbildnerin Justine Seymore aus England. Auch, wenn diese Show am Ende eine deutsche Produktion ist, schlägt sie demnach Brücken und ist auf organische Weise international.

Als wir 2015 anlässlich von Deutschland 83 übers Fernsehen geredet haben, meinten Sie, in den USA wüsste niemand, was das abseits einiger Witze in 30 Rock zu Wetten, dass…? eigentlich sei.

Und nicht nur darüber (lacht). Tina Fey ist halb Deutsche, deshalb hat sie ständig Witze über Deutschland gemacht…

Hat sich an dem Bild durch deutsche Produktionen, die über Streamingdienste ein weltweites Publikum finden, etwas geändert?

Definitiv. Weil das alte Bild von Deutschland altmodisch, also überholt war und sich die Welt seither geändert hat, und zwar radikal. Es wird zusehends unwichtiger, wo etwas entsteht, solange es gut ist. Früher haben Amerikaner fast nichts Ausländisches gesehen. Punkt. Jetzt haben sich Fenster in alle Länder geöffnet – auch das nach Deutschland. Ich finde wirklich nicht alles von hier gut, aber es gibt viele Produktionen, die ich liebe.

Zum Beispiel?

Miss Merkel bei RTL, eine Comedy über die Bundeskanzlerin als Hobbydetektivin.

Ich habe darüber bei DWDL geschrieben.

So unglaublich! Jeder in den USA würde es lieben, weil die meisten Angela Merkel lieben.

Als Anker der Stabilität in einer instabilen Welt?

Vielleicht. Aber auch, weil sie ein so einzigartiger Charakter ist, dass man ihr auch abkauft, nach der Pensionierung Kriminalfälle in der Uckermark zu lösen.

Weckt das Ihr Interesse, eine Historienserie übers Leben Angela Merkels zu machen?

Nein, zumindest vorerst nicht. Wobei ich durchaus Fantasien in andere Richtungen als bisher habe, Real Crime zum Beispiel oder Comedy. Auch in Transatlantic steckt Humor. Meine Serien sind immer ein Genremix.

Welche wird ihre nächste?

Ich arbeite unter Hochdruck daran, kann aber noch nicht verraten, worum es darin geht.

Wenigstens Zeit und Ort?

Es spielt in der Gegenwart Großbritanniens.

Müssen Sie dafür wie bei Transatlantic und der Geschichte Ihres Vaters eine persönliche Verbundenheit zum Stoff spüren?

Über der Oberfläche nicht, sonst hätte ich Deutschland 83 nie machen können. Unter der Oberfläche fühle ich mich mit all meinen Charakteren verbunden. Wer über die Vergangenheit schreibt, schreibt immer über die Gegenwart. Und wer über andere Menschen schreibt, schreibt immer auch ein bisschen über sich selbst.


Döpfners Ossis & Laudes Deutsche

Die Gebrauchtwoche

TV

10. – 16. April

Eine Überraschung kennzeichnet gemeinhin das Unerwartete, weshalb der New Scientist sie als „Wechsel der Erwartung aufgrund des Eintreffens neuer Daten“ definiert. Wen es da überrascht, dass sich der milliardenschwere Springer-Chef Mathias Döpfner, dessen Verlag kontinuierlich die Zersetzung demokratischer, humanistischer, rechtstaatlich-pluralistischer Prinzipien in Richtung einer rechtslibertären Oligarchie mächtiger Männer betreibt, dürfte Wladimir Putin für einen lupenreinen Demokraten halten.

Döpfner, so zeigen geleakte Chats in der aktuellen Zeit, findet Ostdeutsche nicht nur dann „eklig“, sofern sie Merkel heißen, er verachtet auch alle Westdeutschen, falls ihnen das Klima, die Wissenschaft, der linksgrünversiffte Unfug menschlicher Werte wichtiger ist als ein Wirtschaftssystem zum Wohle Superreiche wie ihn. Kein Wunder, dass Döpfner den sexuell gewalttätigen Bild-Boss Julian Reichelt dazu aufforderte, die FDP zu fördern.

Alles Propaganda, pöbelte der Beschuldigte zurück, geriert sich wie unter Rechtspopulisten üblich als Opfer der eigenen Elite, entschuldigt sich dennoch, ohne um Verzeihung zu bitten, und belegt damit, der angeblich so verhassten AfD näher zu sein als Grundgesetz und Ethik. Damit ist Döpfner Gauland minus Judenhass und auf ideologisch auf Linie von Elon Musk, der Twitter in X umbenannt hat, damit er die BBC dort frei vom Ballast früherer Liberalität als staatlich finanziert verunglimpfen kann, und ein Moratorium der KI-Forschung unterstützt, um alle GPU-Prozessoren aufzukaufen.

Vielleicht ist es da gar ein gutes Zeichen, dass das größte US-Datenleck seit Edward Snowden zunächst mal nicht in die Öffentlichkeit gezwitschert wurde, sondern über Gaming-Chats wie Discord Verbreitung fand. Ein schlechtes Zeichen: der mutmaßliche Täter war kein Whistleblower, sondern offenbar ein rechtsnationaler Rassist und damit ideologisch ganz auf Linie Mathias Döpfners, dem – Obacht Ironie – Alfred Hugenberg der neurechten Bohème.

Die Frischwoche

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10. – 16. April

Zugeben – nicht ganz leicht, den Bogen ins aktuelle Fernseh- und Stremingangebot zu spannen, aber vielleicht bietet es ja Ablenkung von der geplanten Machtübernahme moralisch verkommener Oligarchen wie diesen. Para zum Beispiel, Fortsetzung der hinreißenden Erzählung von vier Berlinerinnen beim Versuch, die kriminelle Energie hypermaskuliner Nachbarn aus 4 Blocks ab heute bei Warner TV zu kopieren, ohne dabei ständig Leute plattzumachen.

Eine Kopie ist auch die Web-Serie Almania, in der Phil Laude – einst ein Drittel der Pimmelwitzbrigade Y-Titty – Bernd Stromberg quasi zum Lehrer einer Problemschule macht. Nach zwei Pilotfolgen vor zwei Jahren geht die Mockumentary Freitag als Achtteiler auf die ARD-Mediathek und trotz aller Abklatschansätze: das ist manchmal schon auch lustig, ohne platt zu sein. Ohne jeden Humor tiefgründig ist dagegen die Überraschung der Woche: Drops of God.

Auf Basis japanischer Mangas verfilmt Apple darin das Duell einer Französin, die mit dem Ziehsohn ihres verhassten Vaters um dessen Erbe kämpft: Wein im Wert von 148 Millionen Euro. Die Serie zeigt aber nicht nur einen Wettstreit aus dem bizarr bildgewaltigen Milieu der Önologie. Achtmal 55 faszinierende Minuten lang handelt die doppelte Familiensaga ab Freitag auch vom Kulturclash der sinnlichen Provence im aseptischen Tokio. Während die französisch-japanische Serie ihr eigenes Thema ständig mit Wendungen überrumpelt, setzt das deutsche Fernsehen auf Altbewährtes.

In der ARD-Krimireihe Mordack etwa spielt Mehmet Kurtulus Donnerstag nicht wie einst beim Tatort einen verdeckten Ermittler, sondern – nee: doch einen verdeckten Ermittler. Auch das ZDF betritt mit Die Spur ausgetretenes Terrain, obwohl es das Format Mittwoch als erste deutsche forensische Real Crime Serie bezeichnet. An gleicher Stelle geht zwei Tage zuvor die forensische Fiktion Im Schatten der Angst mit der famosen Mercedes Müller weiter. Aber wenn Netflix mit Diplomatische Beziehungen ab Donnerstag ebenso wie Apple tags drauf (Ghosted) RomComs absondert, ist lineare Hausmannskost allemal statthaft.


Tim Raue: Sternekoch & Restaurantretter

Scheitern, aber bitte mit Konzept

Raue - Der Restaurantretter

Was machen Tim und Katharina Raue (Foto: RTL/Pascal Buenning) eigentlich nach Feierabend? Ein Doppel-Interview (vorab erschienen bei DWDL) mit dem Sternekoch und seiner Geschäfts- und Ehepartnerin über die Arbeit mit oder ohne Kamera und wie da noch Platz für Raue – Restaurantretter bei RTL bleibt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Raue, Frau Raue – kann es sein, dass Sie mit der kreativ wie geschäftlich enorm zeit- und kraftraubenden Spitzengastronomie nicht ausgelastet sind?

Tim Raue: Katharina, es geht ums Geschäft, also du bitte!

Katharina Raue: Wir sind beide durchaus ausgelastet, aber wenn uns etwas über den Weg läuft, von dem wir beide glauben, dass es ebenso spannend wie erfolgsversprechend ist, machen wir es einfach zu gerne, um nein zu sagen.

Raue – Der Restaurantretter ist Ihnen also auch über den Weg gelaufen und erschien erfolgversprechend?

Tim Raue: So muss es gewesen sein, denn bei Fernsehformaten bin ich eher schwierig. Deshalb hatte ich auch lange gewartet, bevor ich bei Magenta TV mein erstes eigenes Format gemacht habe. Ich möchte mich darin nicht nur wiederfinden, sondern überzeugt sein, dass es funktioniert.

Wobei die Spitzengastronomie als arbeitsintensiv am Rande menschlicher Belastungsgrenzen gilt. Wie schaffen Sie es, jetzt noch ein TV-Format reinzuquetschen?

Tim Raue: Dazu muss man vor weg sagen, dass meine jetzige Frau Katharina mit dem Restaurant Tim Raue, das ich mit meiner Ex-Frau Marie-Anne führe, nichts zu tun hat. Dafür haben wir die Raue-Consulting, in der acht weitere Restaurants verhackstückt werden.

Sie müssen also nichts quetschen, sondern gut delegieren?

Tim Raue: Ich muss schon auch quetschen, kann aber womöglich etwas zeitintensiver arbeiten als andere.

Katharina Raue: Dafür hat mein Mann aber auch exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die selbst dann exzellente Arbeit abliefern, wenn er nicht im Restaurant ist.

Tim Raue: Zum Glück habe ich die Fähigkeit, Menschen vertrauen zu können; nur so konnte ich schon sehr jung Küchenchef werden. Dass mir das nie gereicht hat, sieht man aber an den anderen Restaurants, die ich berate. Arbeit – selbst viel – ist für mich nichts, was ich machen muss, sondern Ausdruck meiner Persönlichkeit.

Katharina Raue: Geht mir genauso. Ich arbeite, weil es mir Spaß macht, und wenn ich dafür Geld bekomme – umso besser. Aber Geld ist nie mein Antrieb.

Tim Raue: Und da ist es bei aller Bescheidenheit ein großes Glück, dass wir in unseren Jobs gut genug sind, um nicht nur darin tätig zu sein, sondern aktiv zu gestalten. Deshalb sind wir auch in der RTL-Sendung keine Marionetten, sondern haben von Anfang an darauf bestanden, die Fälle – im Einvernehmen mit dem Sender natürlich – auszusuchen oder abzulehnen.

Katharine Raue: Es geht dabei immer um ein größtmögliches Miteinander.

Tim Raue: Das im Arbeitsalltag des ganzen Teams herrscht. Wir sind keine Egoshooter, die sich für die Größten halten, sondern beziehen jene, denen wir vertrauen, in alle Prozesse ein. Deswegen war es wichtig, das mit meiner Frau zu machen; was Marketing, Gestaltung, soziale Medien angeht, ist sie mir einfach um Längen voraus. Ich kann gut und gern Hilfe von denen annehmen, die etwas besser können als ich.

Tim kreativ, Katharina betriebswirtschaftlich – das ist also die Arbeitsteilung beim Restaurantretter?

Katharina Raue: Fast, auch Betriebswirtschaft erfordert Kreativität und umgekehrt. Weil wir beide gestalterisch tätig sind, besteht die Arbeitsteilung eher darin, dass Tim alles kulinarisch schön macht und ich optisch. Dafür schauen wir uns im Vorfeld des Castings an, inwiefern sie bei den Kandidaten der Sendung funktioniert.

Gemeinsam?

Katharina Raue: Gemeinsam, aber das visuelle Konzept vom Restaurantretter folgt in aller Regel erst aufs kulinarische.

Tim Raue: Wobei der Name eigentlich das Einzige ist, was Rach, der Restauranttester ähnelt. Inhaltlich haben wir einen komplett anderen Ansatz.

Nämlich?

Katharina Raue: Wir bespielen unterschiedlichere Dimensionen und betrachten das Restaurant als Gesamterlebnisraum, den wir auf bestimmte Zielgruppen zuschneiden wollen.

Tim Raue: Und zwar zu zweit auf 90 Minuten statt allein auf 45. Deshalb gehen wir tiefer in die Materie, arbeiten intensiver mit den Menschen und packen die Materie schon deshalb anders an, weil Gastronomie 2023 eine völlig andere ist als 2002 – gerade, was die Außendarstellung betrifft.

Katharina Raue: Außerdem haben sich die Gäste – nicht zuletzt durch die Pandemie – vom reinen Versorgungsdenken hin zu mehr Kost- und Küchenverständnis emanzipiert.

Tim Raue: Umso mehr wollen wir niemandem beim Scheitern zusehen, sondern suchen gezielt nach dem Potenzial, etwas bewegen, also überleben zu können.

Klingt gastronomisch, also fachlich. Wie hat sich denn das Kochfernsehen seit Christian Rachs Pionierarbeit verändert?

Tim Raue: Ich kann da nicht fürs Genre sprechen, aber wir nehmen uns mehr Zeit für die Bilder, arbeiten also nicht mit schnellen Schnitten, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Momente brauchen Emotionen und umgekehrt, wir legen den Fokus auf den Menschen, ohne ihm dabei zusehen zu wollen, auf die Fresse zu fallen.

Haben Sie den Restauranttester seinerzeit als Referenzobjekt gesehen?

Tim Raue: Natürlich, es war schließlich ein Format, das über zehn Jahre hinweg grandios gelaufen ist und damit eine echte Benchmark, die wir damals – noch unabhängig voneinander – beide gern gesehen haben.

Katharina Raue: Räumlich getrennt, aber vereint in der Faszination fürs Format.

Tim Raue: Bei dem ich jedes Mal wieder aufs Neue den Kopf darüber schütteln musste, warum nahezu jeder ein Restaurant eröffnen kann, ohne die geringste Idee davon zu haben. Wie viel weniger Not und Tragödie würde es geben, wenn Restaurant-Betreiber ein Lehrberuf mit Abschluss wäre.

Katharina Raue: Ich höre es jetzt noch klatschen, so oft hat Tim als Restaurantretter die Hände überm Kopf zusammengeschlagen.

Sie halten es nicht mit dem amerikanischen Business-Modell fail, try again, fail better?

Katharina Raue: Doch, aber bitte mit einem Konzept, von dessen Erfolg man vorm Scheitern überzeugt war.

Tim Raue: Wir hatten diesbezüglich Kandidaten, die zwar das falsche Konzept am falschesten Ort mit dem falschesten Personal hatten, was eigentlich zu sinnfrei ist, um daran zu arbeiten. Aber wenn die Überzeugung der Betroffenen groß ist, kann man versuchen, kulinarisch und gestalterisch neue Zielgruppen zu fokussieren.

Katharina Raue: Wer auf die Frage nach denen antwortet, sie sei Jung und Alt oder für jeden Geschmack was dabei, hat schon verloren.

Tim Raue: Das Problem ist, dass finanzielle Sorgen schnell dazu führen, Basics wie Disziplin und Hygiene zu vernachlässigen. Aus diesem Strudel herauszukommen, ist extrem schwierig.

Und wie helfen Sie dabei, es doch zu schaffen?

Tim Raue: Durch positives Bestärken.

Katharina Raue: Das Besinnen auf eigene Stärken und Konzepte, die anfangs vielleicht vorhanden waren, aber dem Misserfolg zum Opfer gefallen sind.

Würden Sie ähnlich vorgehen, wenn es in der Sendung um Ihr Restaurant ginge?

Tim Raue: Ja, aber das machen wir doch eh ständig. Ich bin 25 meiner 48 Jahre Küchenchef und wäre kaum so lange erfolgreich, wenn ich nicht jeden Tag mit dem Ansatz starten würde, mich und das Restaurant zu optimieren. Von daher macht der Restaurant-Retter gar nicht viel anders als der -Betreiber. Ich consulte mich an 222 Tagen, die ich zwischen all meinen Unternehmungen unterwegs bin, selbst.

Wenn Sie also maximal 143 Tage die Chance haben, Ihre Frau persönlich zu treffen – ist so eine Sendung dann auch ein bisschen We-Time für beide?

Tim Raue: Da haben Sie die falsche Vorstellung von Drehtagen und wieviel Gelegenheit zur Zweisamkeit sie bieten (lacht). Wir haben ein Beziehungsleben, das viele sich weder vorstellen können noch wollen, genießen die gemeinsame Zeit dafür halt umso mehr und bewusster.

Wie sieht ein gemeinsamer Feierabend bei Raues dann aus?

Katharina Raue: Wie bei normalen Paaren, die nach schwerem Arbeitstag gemeinsam essen, übern Tag reden, sich noch mal hinsetzen, entspannen, zu Bett gehen.

Tim Raue: Kein Halligalli! Und weil mir schleierhaft ist, was die Leute übers Kochen hinaus an mir finden, stehen wir auch nur zweimal pro Jahr auf red carpets und versuchen schon wegen unserer verschiedenen Lebensmittelpunkte Zeit gemeinsam zu genießen, und da gibt es ein Prinzip: keiner von uns beiden kocht. Auf gar keinen Fall!

Katharina Raue: Essen heißt bei uns zuhause daher, was Leckeres bestellen.

Tim Raue: Oder essen gehen, das machen wir natürlich auch sehr gern. Schon, weil man unsere Kollegen überall auf dem Planeten unterstützen sollte. Die haben’s nicht leicht gerade.

Raue - Der Restaurantretter

Was machen Tim und Katharina Raue (Foto: RTL/Pascal Buenning) eigentlich nach Feierabend? Ein Doppel-Interview (vorab erschienen bei DWDL) mit dem Sternekoch und seiner Geschäfts- und Ehepartnerin über die Arbeit mit oder ohne Kamera und wie da noch Platz für Raue – Restaurantretter bei RTL bleibt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Raue, Frau Raue – kann es sein, dass Sie mit der kreativ wie geschäftlich enorm zeit- und kraftraubenden Spitzengastronomie nicht ausgelastet sind?

Tim Raue: Katharina, es geht ums Geschäft, also du bitte!

Katharina Raue: Wir sind beide durchaus ausgelastet, aber wenn uns etwas über den Weg läuft, von dem wir beide glauben, dass es ebenso spannend wie erfolgsversprechend ist, machen wir es einfach zu gerne, um nein zu sagen.

Raue – Der Restaurantretter ist Ihnen also auch über den Weg gelaufen und erschien erfolgversprechend?

Tim Raue: So muss es gewesen sein, denn bei Fernsehformaten bin ich eher schwierig. Deshalb hatte ich auch lange gewartet, bevor ich bei Magenta TV mein erstes eigenes Format gemacht habe. Ich möchte mich darin nicht nur wiederfinden, sondern überzeugt sein, dass es funktioniert.

Wobei die Spitzengastronomie als arbeitsintensiv am Rande menschlicher Belastungsgrenzen gilt. Wie schaffen Sie es, jetzt noch ein TV-Format reinzuquetschen?

Tim Raue: Dazu muss man vor weg sagen, dass meine jetzige Frau Katharina mit dem Restaurant Tim Raue, das ich mit meiner Ex-Frau Marie-Anne führe, nichts zu tun hat. Dafür haben wir die Raue-Consulting, in der acht weitere Restaurants verhackstückt werden.

Sie müssen also nichts quetschen, sondern gut delegieren?

Tim Raue: Ich muss schon auch quetschen, kann aber womöglich etwas zeitintensiver arbeiten als andere.

Katharina Raue: Dafür hat mein Mann aber auch exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die selbst dann exzellente Arbeit abliefern, wenn er nicht im Restaurant ist.

Tim Raue: Zum Glück habe ich die Fähigkeit, Menschen vertrauen zu können; nur so konnte ich schon sehr jung Küchenchef werden. Dass mir das nie gereicht hat, sieht man aber an den anderen Restaurants, die ich berate. Arbeit – selbst viel – ist für mich nichts, was ich machen muss, sondern Ausdruck meiner Persönlichkeit.

Katharina Raue: Geht mir genauso. Ich arbeite, weil es mir Spaß macht, und wenn ich dafür Geld bekomme – umso besser. Aber Geld ist nie mein Antrieb.

Tim Raue: Und da ist es bei aller Bescheidenheit ein großes Glück, dass wir in unseren Jobs gut genug sind, um nicht nur darin tätig zu sein, sondern aktiv zu gestalten. Deshalb sind wir auch in der RTL-Sendung keine Marionetten, sondern haben von Anfang an darauf bestanden, die Fälle – im Einvernehmen mit dem Sender natürlich – auszusuchen oder abzulehnen.

Katharine Raue: Es geht dabei immer um ein größtmögliches Miteinander.

Tim Raue: Das im Arbeitsalltag des ganzen Teams herrscht. Wir sind keine Egoshooter, die sich für die Größten halten, sondern beziehen jene, denen wir vertrauen, in alle Prozesse ein. Deswegen war es wichtig, das mit meiner Frau zu machen; was Marketing, Gestaltung, soziale Medien angeht, ist sie mir einfach um Längen voraus. Ich kann gut und gern Hilfe von denen annehmen, die etwas besser können als ich.

Tim kreativ, Katharina betriebswirtschaftlich – das ist also die Arbeitsteilung beim Restaurantretter?

Katharina Raue: Fast, auch Betriebswirtschaft erfordert Kreativität und umgekehrt. Weil wir beide gestalterisch tätig sind, besteht die Arbeitsteilung eher darin, dass Tim alles kulinarisch schön macht und ich optisch. Dafür schauen wir uns im Vorfeld des Castings an, inwiefern sie bei den Kandidaten der Sendung funktioniert.

Gemeinsam?

Katharina Raue: Gemeinsam, aber das visuelle Konzept vom Restaurantretter folgt in aller Regel erst aufs kulinarische.

Tim Raue: Wobei der Name eigentlich das Einzige ist, was Rach, der Restauranttester ähnelt. Inhaltlich haben wir einen komplett anderen Ansatz.

Nämlich?

Katharina Raue: Wir bespielen unterschiedlichere Dimensionen und betrachten das Restaurant als Gesamterlebnisraum, den wir auf bestimmte Zielgruppen zuschneiden wollen.

Tim Raue: Und zwar zu zweit auf 90 Minuten statt allein auf 45. Deshalb gehen wir tiefer in die Materie, arbeiten intensiver mit den Menschen und packen die Materie schon deshalb anders an, weil Gastronomie 2023 eine völlig andere ist als 2002 – gerade, was die Außendarstellung betrifft.

Katharina Raue: Außerdem haben sich die Gäste – nicht zuletzt durch die Pandemie – vom reinen Versorgungsdenken hin zu mehr Kost- und Küchenverständnis emanzipiert.

Tim Raue: Umso mehr wollen wir niemandem beim Scheitern zusehen, sondern suchen gezielt nach dem Potenzial, etwas bewegen, also überleben zu können.

Klingt gastronomisch, also fachlich. Wie hat sich denn das Kochfernsehen seit Christian Rachs Pionierarbeit verändert?

Tim Raue: Ich kann da nicht fürs Genre sprechen, aber wir nehmen uns mehr Zeit für die Bilder, arbeiten also nicht mit schnellen Schnitten, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Momente brauchen Emotionen und umgekehrt, wir legen den Fokus auf den Menschen, ohne ihm dabei zusehen zu wollen, auf die Fresse zu fallen.

Haben Sie den Restauranttester seinerzeit als Referenzobjekt gesehen?

Tim Raue: Natürlich, es war schließlich ein Format, das über zehn Jahre hinweg grandios gelaufen ist und damit eine echte Benchmark, die wir damals – noch unabhängig voneinander – beide gern gesehen haben.

Katharina Raue: Räumlich getrennt, aber vereint in der Faszination fürs Format.

Tim Raue: Bei dem ich jedes Mal wieder aufs Neue den Kopf darüber schütteln musste, warum nahezu jeder ein Restaurant eröffnen kann, ohne die geringste Idee davon zu haben. Wie viel weniger Not und Tragödie würde es geben, wenn Restaurant-Betreiber ein Lehrberuf mit Abschluss wäre.

Katharina Raue: Ich höre es jetzt noch klatschen, so oft hat Tim als Restaurantretter die Hände überm Kopf zusammengeschlagen.

Sie halten es nicht mit dem amerikanischen Business-Modell fail, try again, fail better?

Katharina Raue: Doch, aber bitte mit einem Konzept, von dessen Erfolg man vorm Scheitern überzeugt war.

Tim Raue: Wir hatten diesbezüglich Kandidaten, die zwar das falsche Konzept am falschesten Ort mit dem falschesten Personal hatten, was eigentlich zu sinnfrei ist, um daran zu arbeiten. Aber wenn die Überzeugung der Betroffenen groß ist, kann man versuchen, kulinarisch und gestalterisch neue Zielgruppen zu fokussieren.

Katharina Raue: Wer auf die Frage nach denen antwortet, sie sei Jung und Alt oder für jeden Geschmack was dabei, hat schon verloren.

Tim Raue: Das Problem ist, dass finanzielle Sorgen schnell dazu führen, Basics wie Disziplin und Hygiene zu vernachlässigen. Aus diesem Strudel herauszukommen, ist extrem schwierig.

Und wie helfen Sie dabei, es doch zu schaffen?

Tim Raue: Durch positives Bestärken.

Katharina Raue: Das Besinnen auf eigene Stärken und Konzepte, die anfangs vielleicht vorhanden waren, aber dem Misserfolg zum Opfer gefallen sind.

Würden Sie ähnlich vorgehen, wenn es in der Sendung um Ihr Restaurant ginge?

Tim Raue: Ja, aber das machen wir doch eh ständig. Ich bin 25 meiner 48 Jahre Küchenchef und wäre kaum so lange erfolgreich, wenn ich nicht jeden Tag mit dem Ansatz starten würde, mich und das Restaurant zu optimieren. Von daher macht der Restaurant-Retter gar nicht viel anders als der -Betreiber. Ich consulte mich an 222 Tagen, die ich zwischen all meinen Unternehmungen unterwegs bin, selbst.

Wenn Sie also maximal 143 Tage die Chance haben, Ihre Frau persönlich zu treffen – ist so eine Sendung dann auch ein bisschen We-Time für beide?

Tim Raue: Da haben Sie die falsche Vorstellung von Drehtagen und wieviel Gelegenheit zur Zweisamkeit sie bieten (lacht). Wir haben ein Beziehungsleben, das viele sich weder vorstellen können noch wollen, genießen die gemeinsame Zeit dafür halt umso mehr und bewusster.

Wie sieht ein gemeinsamer Feierabend bei Raues dann aus?

Katharina Raue: Wie bei normalen Paaren, die nach schwerem Arbeitstag gemeinsam essen, übern Tag reden, sich noch mal hinsetzen, entspannen, zu Bett gehen.

Tim Raue: Kein Halligalli! Und weil mir schleierhaft ist, was die Leute übers Kochen hinaus an mir finden, stehen wir auch nur zweimal pro Jahr auf red carpets und versuchen schon wegen unserer verschiedenen Lebensmittelpunkte Zeit gemeinsam zu genießen, und da gibt es ein Prinzip: keiner von uns beiden kocht. Auf gar keinen Fall!

Katharina Raue: Essen heißt bei uns zuhause daher, was Leckeres bestellen.

Tim Raue: Oder essen gehen, das machen wir natürlich auch sehr gern. Schon, weil man unsere Kollegen überall auf dem Planeten unterstützen sollte. Die haben’s nicht leicht gerade.


Janolis ESC & Beckers Boom

Die Gebrauchtwoche

TV

3. – 9. April

Da wachse also zusammen, was zusammengehört? Jahrelang haben Jan Böhmermann & Oli Schulz in ihrem Podcast Fest & Flauschig förmlich darum gebettelt, Moderatoren anstelle des Moderators zu werden, also Peter Urban beim ESC abzulösen. Da weder der berufsfröhliche LiLaLaune-Bär Frank Beckmann noch sein stocksteifgeschlagener NDR-Vorfahre Thomas Schreiber als Unterhaltungsverantwortliche für so viel Anarchie empfänglich waren, gehen Janoli allerdings ins Exil und moderieren beim ORF.

Zumindest in dessen Mediathek und beim österreichischen Jugendradio wird der, nun ja, „Gesangswettbewerb“ folglich modernisiert, während der NDR vermutlich darüber nachdenkt, Peter Illmann dafür aus der Rente zu holen. Von dort also, wo die Führungskräfte öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten finanziell so gut ausgestattet werden, dass sie fast schon an privatwirtschaftliche Privilegien-Träger (seltener: Trägerinnen) heranreichen, die aber schon zu Arbeitszeiten fürstlich entlohnt werden.

Das zeigte zuletzt ein Bericht des Bundesanzeigers über Boni-Zahlungen bei der Axel Springer SE. Jenem Konzern, dessen niederträchtige Belegschaft am Niedergang von Demokratie und Rechtsstaat herumschlagzeilt, dafür aber eher Kündigungen als Anerkennung erntet. Doch während Mathias Döpfner auf dem Rücken seiner Leute spart, gönnt er sich und seinesgleichen Sonderzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe. Na ja, so funktioniert halt der Turbokapitalismus, dem Bild und Welt das Wort schreiben.

Dass die Regenbogenkonkurrenz von Burda dem RTL-Spielzeug G+J nacheifert, sieben Magazine streicht und gelegentlich gar schwangere Redakteurinnen feuert, ist da schon kaum noch der Rede wert in einer Branche von vollumfänglich verlotterter Moral und Ethik. Deshalb kurz zu jemandem, der verglichen mit Shareholder-Verlegern von – man beachte die Diversität ihrer Vornamen: Martin Weiss bis Thomas Rabe geradezu heilig ist.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

10. – 16. April

Seit Freitag läuft bei Apple TV+ die dreistündige Doku Boom Boom! The World vs. Boris Becker, und obwohl das Porträt des hochgestiegenen, tiefgefallenen Tennisspielers filmästhetisch eher konventionell geraten ist, erschafft Oscar-Preisträger Alex Gibney (Taxi zur Hölle) damit ein Meisterwerk personalisierter Beobachtung – und gewährt nebenbei Einblicke in die Abgründe des profitorientierten Spitzensports, die auch eine Sky-Doku kennzeichnen.

Sechs Jahre, nachdem ein irrer Spekulant den Dortmunder Teambus mit Nagelbomben angriff, um Kursverluste der BVB-Aktie zu provozieren, erzählt Der Anschlag mit einer erlesenen Auswahl Beteiligter, was er mit Mensch, Maschine, Fußball angestellt hat. Dazu passt abzüglich der Detonation die vierteilige ARD-Doku Tech-Titanen, worinndas Erste ab morgen in seiner Mediathek alles umwälzende Alpharüden der Marke Elon Musk porträtiert.

In deren Galerie wiederum hängt ab morgen auch die 4. Staffel der tollen Netflix-Serie Succession um eine ebenso rücksichtslose wie zerstrittene Mediendynastie, die nicht zufällig an Rupert Murdochs erinnert. Irgendwie mit Medien hat auch Irgendwas mit Medien zu tun, einer achtteiligen MDR-Mockumentary, die ab Freitag in der ARD-Mediathek der GenZ dabei zusieht, im Stromberg-Stil am Leistungsdruck der Multioptionsgesellschaft zu scheitern.

Und während sich die Sky-Serie A Town Called Malice Mittwoch mit surrealer Innbrunst aus der legalen in die illegale Wirtschaftskriminalität einer britischen Gang wechselt, die Mitte der Achtziger mit viel Musik versucht, an der Costa del Sol Fuß zu fassen, kopiert sich RTL tags zuvor selber und lässt statt (Christian) Rach als Restauranttester (Tim) Raue als Restaurantretter auf marode Küchen los. Kreativer zeigt sich daher mal wieder Apple.

Dort lugt Jennifer Garner als Star des Familienthrillers The Last Thing He Told Me ab Freitaag aus der Versenkung. Sieben Teile gibt es zwar keine Leichen, aber eine Zweitfamilie ihres verschollenen Mannes, den sie mithilfe seiner Tochter sucht. Zeitgleich eifert die neunjährige Jane dem gleichnamigen Vorbild Goodall nach, rettet gefährdete Tierarten und schwimmt damit ebenso am Rande des Mainstreams wie die deutsch-italienische ZDF-Serie The Gymnasts (Samstag, Mediathek) um junge Turnerinnen auf der Suche nach sich selbst.


Wednesdey, Blondshell, Daughter

Wednesday

Was an den Neunzigern toll war? Vor allem natürlich die kultivierte Wut über einen Hedonismus, der zu blind, zu taub, zu ignorant war für die offenkundige Erkenntnis, in welchem Tempo unsere Art zu Leben gerade gegen jede nur erdenkliche Wand fährt. Kein Wunder, dass die realitätsblinden Neunziger musikalische Protestbewegungen wie den Grunge hervorgebracht haben, der zwar zur melodramatischen Hülse verkam, aber genug Hoffnung in sich trug, um Epigonen zu erzeugen. Folgebewegungen wie Wednesday.

Mit schreiender Gitarre und verbissenen Drums trägt das Quintett die Fackel popkultureller Renitenz aus dem stockkonservativen North Carolina in die weite Welt des Alternative-Rocks und macht daraus ein Debütalbum, als träfe sich Heather Nova mit Donald Trump auf Kurt Cobains Grab zum Fight Club. Verantwortlich dafür ist Frontfrau Karly Hartzman, deren intimer Gesang sich so eindringlich über brachiale Steelguitar-Riffs legt, dass Country, Shoegaze, Punk und Trash auf Rat Saw God eine Einheit von dialektischer Eleganz bilden. Brutal schön.

Wednesday – Rat Saw God (Dead Oceans)

Blondshell

So richtig aus dem Quark ihrer Wurzeln kommt auch die New Yorkerin Sabrina Teitelbaum nicht, wenn sie das selbstbetitelte Debüt als Blondshell mit der groben Kraft älterer Riot-Grrrl-Disharmonien zerstückelt. Gemeinsam mit Bosh Rothman (Drums), Sam Stewart (Guitarre), Joe Kennedy (Bass & Keys) emanzipiert sich die 25-Jährige nämlich vom Schweinerock, den sie daheim in Manhattan hören musste, bleibt seiner Metrik allerdings so treu, dass daraus retrofuturistischer Indie-Noise-Pop wird.

Wie Wednesday lebt also auch Blondshell vom Widerspruch klanglicher Gegensätze. Wenn Olympus von toxischen Beziehungen erzählt, mögen Teitelbaums Worte wie “I wanna save myself you’re part of my addiction / I just keep you in the kitchen while I burn / Burn / Burn / Burn / Burn” nach Blitz und Donner klingen – dank ihrer pragmatisch ruhigen Stimme allerdings wirken selbst Brandbeschleuniger so tiefenentspannt, als sei das innere Chaos totenstill. Blondshell sedieren, Blondshell zerwühlen, Blondshell sind auf widersprüchliche Art großartig.

Blondshell – Blondshell (Partisan Records)

Daughter

Völlig frei von Widersprüchen ist demgegenüber auch 13 Jahre nach seiner Gründung das britische Trio Daughter. Die Hälfte ihres Daseins in der Folkrock genannten Mischung aus Tradition und Moderne haben sich Elena Tonra, Igor Haefeli und Remi Aguilella zuletzt Zeit fürs dritte Album gelassen. Jetzt liegt es vor. Und Stereo Mind Game gelingt dabei derselbe kleine Geniestreich wie auf den Platten zuvor: geschmeidig und gleichsam kantig zu klingen, also etwas mehr Moderne als Tradition zu verbreiten.

Wie eine hellere Variation von The XX schleicht Daughter durch Alternative-Harmonien von Toriamoshafter Hyperemotionalität, deren Streich- und Bläser-Einlagen keine Samples sind, sondern teils live im Schwimmbad eingespielt wurden und dem Ganzen damit orchestrale Sinnlichkeit verleihen, die ein fließender Sound bis hin zu Walgesängen unter Wasser zu drücken scheint. Auf Koks durch die Großstadt laufen sollte man zu den 12 Tracks nicht, aber das ist ja auch weder Tradition noch Moderne, sondern voll Neunziger.

Daughter – Stereo Mind Game (4AD)


Schweigers Kleber & Kempters Android

Die Gebrauchtwoche

TV

27. März – 2. April

Man muss die Jubiläumsfeste feiern, wie sie fallen, und heute fällt eines aus dem Hintergrund der Erinnerungskultur, das den Vordergrund geprägt hat wie kaum ein anderes der vergangenen 50 Jahre: am 3. April 1973 telefonierte der Motorola-Ingenieur Martin Cooper als erster Mensch mobil. Das New Yorker Ortsgespräch mit Riesen-Handy war inhaltlich zwar trivial, hinsichtlich der globalen Kommunikation allerdings weltbewegender als Mondlandung und Mauerfall zusammen.

Oder im Bedeutungsranking von Til Schweiger: fast so wichtig wie die Geburt dieses querdenkenden Manta-Manta-Mannomannes, dessen Ego gerade mal wieder auf Stierhodengröße angeschwollen ist. Er würde Klimakleber von der Straße reißen, pöbelte er in der Bild. Gut, vermutlich nicht seine eigenen, die er trotz weitestgehender Talentlosigkeit schauspielerisch fördert wie Adolf Hitler einst den Bau von Schweigers heißgeliebter Autobahn.

Einen Sascha Lobo würden beide nach seiner jeder Art von Machtergreifung für dessen Kritik an der Defensive deutscher Impf-Befürworter vermutlich ins Arbeitslager schicken. Und eine Laura Wontorra, die statt wie für deutsche Mädels schicklich Kind und Kegel zu hüten, auch noch als DSDL-Moderatorin arbeitet, gleich mit. In Schweigers schöner alter Film- und Fernsehwelt sollten Frauen, die nicht Schweiger heißen, aber ohnehin nur Posten als Bond-Girl oder Ansagerin kriegen.

Schon damit letzteres kein undeutsch entmannter Riccardo Simonetti machen muss – wie zum 60. Geburtstag des ZDF. Jenem Sender also, dem der RBB parallel das Studio fürs gemeinsame MittagsMagazin gekündigt hat, weil – tja… Til Schweiger würde, falls ihn AfD oder Bild fragen, sagen: solche kostenlosen Synergie-Effekte für den zwangsgebührfinanzierten Staatsfunk ebenso wenig Geld sparen wie ein Tempolimit Emissionen. Was also würde der schauspielerisch erfolgreichste Querdenker im Land von heute an sehenswert finden?

Die Frischwoche

0-Frischwoche

3. – 9. April

Die Erstausstrahlung von Dominik Grafs Kästner-Adaption Fabian ab sofort in der ZDF-Mediathek wohl schon deshalb nicht, weil ihm der Schriftsteller zu linksgrünversifft ist und der Regisseur zu ignorant – bucht der ihn doch in totaler Missachtung seiner Brillanz nie für seine Dramen. Auch die Krimi-Reihe mit Franziska Hartmann als psychisch labile Kripo-Beamtin Katharina Tempel im Zweiten ist nix für Schweiger – zu klug, zu woke, zu emanzipiert.

Gut gefallen könnte ihn hingegen die Arte-Reihe Evangelikale, würde sie den reaktionär-profitablen Christenkult nicht so kritisieren. Die Serien-Version der Eighties-Schnulze Grease, ab Freitag bei Paramount+, aber passt vermutlich schon deshalb in Schweigers Ideologie, weil Frauen damals noch nach der Pfeife echter Kerle wie ihm getanzt haben. Damit aber mal Schluss mit dieser Jammergestalt überkommener Traditionen und hin zu richtig guter Unterhaltung.

Tender Hearts zum Beispiel mit Friederike Kempter, die sich ab Donnerstag bei Sky über acht Folgen hinweg in einen Liebesroboter verliebt und dabei mehr über unsere Gesellschaft erzählt als – einmal noch! – Schweiger in seiner Gesamtsendezeit seit der Lindenstraßen. Die Comedy-Serie Ziemlich beste Schwiegermutter zeigt Mittwoch in der ARD-Mediathek, warum Fernsehen aus Frankreich selbst banale Themen gehaltvoll macht. Und Netflix beweist tags drauf mit der zehnteiligen Dark Comedy Beef über verbissene Streithammel, warum ähnliches für Südkorea gilt.

Eine kleinere Enttäuschung ist demgegenüber an selber Stelle der Achtteiler Transatlantic, in dem Anna Winger der deutschen Geschichte nach Deutschland 83/86 und Unorthodox rückwärts nach Marseille folgt, wo sie eine real existierende Fluchtorganisation beim Retten jüdischer Intellektueller anno 1940 beobachtet. Gut gemeint, aber zu rührig. Blieben stichpunktartig noch folgende Neustarts.

Free Vee zeigt ab Freitag die Mockumentary Jury Duty um Geschworene eines britischen Gerichts, die bis auf einen gecastet sind. In der Arte-Mediathek ist Desirée Nosbusch ab Donnerstag als Topanwältin Anna Conti aktiv. Funk schickt parallel dazu die Mystery-Serie Feelings bei Youtube online. Und wenn das ZDF am Sonntag einen Dr. Neiss als – tihi – Dr. Nice ins Herzkino schickt, ist dessen drolliger Name mal wieder wichtiger als aller Inhalt.


Takeshi’s Cashew, Deerhoof, A Certain Ratio

Takeshi’s Cashew

Wer in Erdkunde auch nur ein ab und zu mal zugehört hat, dürfte sich erinnern, dass Japan kein Bundesstaat Mexicos ist, Ostafrika nicht an der Küste Südamerikas liegt und Halle kein Stadtteil Wiens oder umgekehrt. Wer jetzt allerdings beim zweiten Album der österreich-deutschen Band Takeshi’s Cashew zuhört, könnte dies alles auch in Frage stellen. Das Instrumental-Sextett reist nämlich in jedem der elf Stücke von Asien über Arizona Richtung Fernost, sammelt dabei ergebnisoffen Sounds ein und verrührt sie zu einer Süßspeise von betörender Vielfalt.

Enter J’s Chamber heißt dieses Dessert, das aus dem Menü Hunderter Neuveröffentlichungen pro Woche heraussticht, ohne dafür das Rad des Pop neu zu erfinden. Auf filigrane Art beschwingt wie ihr Name, mischen Takeshi’s Cashew dafür Electrobeats jeder möglichen Herkunft mit Sitar, Flöten, Funkgitarre, kippen noch etwas psychedelischen Krautrock unter Dutzende von Percussions – fertig ist die retrofuturistische Partyzone einer Bühne am Rand großer Festivals, vor der sich alle Versprengten, Verirrten, Verlorenen zur Ekstase treffen. Versprochen!

Takeshi’s Cashew – Enter J’s Chamber (Laut & Luise)

Deerhoof

Dass der kalifornische Indierock von Deerhoof nach drei Jahrzehnten noch immer genau da zu finden ist, also abseits der großen Floors, Kanäle, Wahrnehmungsgrenzen, ist zwar eine Frechheit von epischem Ausmaß, hat aber natürlich auch ein bisschen damit zu tun, wie das Trio aus San Franzisko um den Schlagzeuger und Keyboarder Greg Saunier, nun ja: musiziert. Auf ihrem 19. Album Miracle-Level schreddern sie ihre International Pop Conspiracy schließlich abermals so brutal zum Noise, dass ein Tinnitus verglichen damit nach Belcanto klingt.

Weil Satomi Matsukakis japanisch-amerikanischer Gesang das jazzig verspielte Durcheinander mit luzider Schönheit überzuckert, vor allem aber, weil die verschobenen Riffs und Synths am Ende doch immer irgendwie zueinander finden, ist Deerhoof mit jeder neuen Platte ein frischerer Luftzug im Alternative-Rock. Und obwohl sich Vergleiche angesichts des Bandalters schlicht verbieten: Wenn sich Sonic Youth beim Hate-Sex auf Mescalin mit Madonna vermehren – so hinreißend durchgeknallt könnte das Baby brüllen.

Deerhoof – Miracle-Level (Cargo Records)

A Certain Ratio

Und damit zu einer Band, die sogar so lange existiert, dass der Titel ihres 13. Albums fünf Jahre jünger ist, zum Relikt der echten, also buchstäblichen Postpunk-Ära also, die seit 1977 ein Stück unterm Radar der Popkultur fliegen, aber Einflüsse versprüht haben wie andere Gruppen Titel mit “Love”. Davon finden sich im epischen Werk von A Certain Ratio gewiss auch ein paar. Zentraler ist aber ihr Anspruch, nahezu jeden feuilletonistisch pfiffigen Sound aufzulesen und einzuweben in ihr eklektisches Breitband-Œuvre.

Auf 1982 sind es folglich zu viele, um auch nur einige zu benennen. Mit kollaborativer Hilfe exquisiter Gäste wie Tony Quigley oder Ellen Beth Abdi haben Jez Kerr, Martin Moscrop und Donald Johnson ihren Avantgarde-Rock aus Manchester jedoch erneut so virtuos mit Funk, Jazz. Soul bis hin zu HipHop angereichert, dass die Veteranen jünger wirken als viele ihre Epigonen. Waiting on a Train zum Beispiel – als würde The Jam mit Sade und Kendrick Lamar rappen. Old goes young goes timeless goes immortal. Bitte hört niemals auf!

A Certain Radio – 1982 (PIAS)