Dieters Eckhart & Rabbit Holes
Posted: March 27, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
20. – 26. März
Juden? Bruhahhaahh. Von der linksgrünversifften Wokeness-Brigade lässt sich die salonantisemitische Comedyhaubitze Lisa Eckhart doch nicht vom rechten Rand verdrängen, soweit kommt’s noch. Was sie der AfD allerdings am Freitag ins braune Poesiealbum gepöbelt hat, können wir leider nur erahnen. Da hieß Lisa Eckhart Milli Probst und durfte die Grenze des Sagbaren mal nicht bei Nuhr im Ersten sprengen, sondern ganz woanders und gleichsam ums Eck: bei Nuhr im Zweiten.
In seiner baugleichen Parodie nämlich hetzte – wer sonst – Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royale fünf Klone von Dieter Nuhrs nationalliberaler Spaßbrigade auf Volksverrat von Feminismus übers Gendern bis hin zum Radfahren, und alle waren auf brutalstmögliche Art so authentisch, dass die schlimmste aller Pointen gar keiner bedurfte. „Juden“, brüllte Milli aka Lisa also ins geifernde Publikum geistesgreise kostümierter Bild-Fans und es lachte Tränen.
Nach Robert Habecks lautstärktegedimmten Wutausbruch wider die eigene Koalition in den Tagesthemen zwei Tage zuvor, war es das Highlight der Fernsehwoche und damit sogar noch bemerkenswerter als, sagen wir: der angekündigte Rücktritt von Peter Urban als ewiger ESC-Moderator. Oder die Ankündigung des neuen Sportsenders Dyn, in vier Monaten das Fernsehen zu revolutionieren. Oder TikTok vorm Repräsentantenhaus.
Dort nämlich musste sich dessen Chef Shou Zi Chew gegen Vorwürfe à la Spionage, Phishing, Totalitarismus und Verbrechen wider die Jugend erwehren, und es zeigte sich auch jenseits der Tatsache, dass alle vier auf praktisch jedes soziale Netzwerk anwendbar sind: solche Shows bühnenreifer Hybris liefert nur die US-Politik. Da kann ab Samstag seit genau 60 Jahren selbst der deutsche Unterhaltungssender schlechthin nicht mithalten. Happy Birthday ZDF.
Die Frischwoche
27. März – 2. April
Das Programm des marktführenden Jubilars, passend zum 1. April: Die Show der Shows, ein (je nach Perspektive) Best- oder Worst-of von Dalli Dalli über 1, 2 oder 3 bis Wetten, dass…? und was halt so am Lagerfeuer der alten BRD zündelte. Der heutige Primetime-Film hingegen brennt im anderen Stammgehege, wenngleich Unbestechlich dort etwas beinahe Neues wagt: interne Ermittlungen, also innerhalb der Polizei, was in der Realität praktisch niemals Konsequenzen hat, als Krimi allerdings durchaus gehaltvoll ist.
Noch interessanter, weil gesellschaftlich relevanter scheint aber die Neo-Serie I Don’t Work here sein, ab Freitag vorab in der ZDF-Mediathek. Es geht darin um eine Patchwork-Familie im bundesdeutschen Vorstadtinferno, allerdings ohne erhobenen Zeigefinger, sondern Humor, der weder Schwarz noch Weiß ungeschoren lässt und dennoch Liebe für alle Beteiligten übrig hat. Hass gibt es demgegenüber in einer norwegischen Serie, in der es nur oberflächlich um Wölfe geht.
Bei Magenta machen die Bewohner eines Küstendorfes nämlich das scheue Waldtier fürs Verschwinden eines Jugendlichen verantwortlich. Dass die Wahrheit deutlich tiefer liegt, am Abgrund sozialer Konflikte aller Menschen vor Ort nämlich, macht Fenris ab heute sechs Teile lang bei Magenta TV extrem vielschichtig und spannend. Beides gilt zeitgleich noch ein bisschen mehr für die Paramount-Serie Rabbit Hole.
In dem nämlich steckt der New Yorker Wirtschaftsspion John Weir (Kiefger Sutherland), seit ihn die eigene Kindheit anfällig für Verschwörungsideologien gemacht hat. Nun scheinen sich viele davon zu bewahrheiten. Oder ist doch alles Realität? Wahn und Wahrheit virtuos miteinander ringen zu lassen – damit machen die Showrunner John Requa und Glenn Ficarra ihren Achtteiler zum aktuell überraschendsten Streamingformat 2023.
Das feministische SciFi-Experiment Die Gabe, ab Freitag bei Prime Video, oder der Fantasy-Horror Mayfair Witches, parallel bei Sky, haben’s da schwer, dieses Niveau zu halten, schaffen es aber einigermaßen. Umso mehr verweisen wir auf ein Stück Fernsehhistorie (heute, 22 Uhr, Arte) aus längst vergangener, sehr haltbarer Zeit: Wolfgang Petersens Die Konsequenz. Der BR hat sich 1977 aus der schwulen Erzählung geklinkt. Dieter Nuhr täte es heute wohl genauso oder würde AfD-kompatible Zoten darüber machen.
Heidenreich & Hoffmann: SZ & Lokales
Posted: March 24, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentDas Kleine im Großen im Kleinen
Als Ressortleitung der größten und wichtigsten überregionalen Tageszeitung in Deutschland, prägen Ulrike Heidenreich und René Hofmann (Foto: Sebastian Arlt) das lokale Bild der weltumspannenden Süddeutsche Zeitung. Sind sie damit damit Vorreiter:innen oder Außenseiter:innen? Ein Interview mit Blick über München sucht nach Antworten – die vorab im Medienmagazin Journalist erscheinen sind.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Heidenreich, Herr Hofmann – Sie leiten die Gemeinschaftsredaktion München-Region-Bayern der Süddeutschen Zeitung in einer Epoche voll globaler Krisen von Krieg übers Klima bis Inflation mit unmittelbarer Auswirkung aufs Lokale. Welche hat es auf die Berichterstattung im Weltdorf München und Umgebung?
Ulrike Heidenreich: Wie früher eigentlich: Das Kleine im Großen zu finden. Erst dieses Herunterbrechen vom Globalen, Nationalen aufs Regionale macht Lokaljournalismus interessant.
Und wird durch digitale, überall verfügbare Informationen in Echtzeit noch interessanter?
René Hofmann: Dadurch können fast alle Weltlagen im Lokalen Thema werden. Bestes Beispiel ist das Erdbeben in der Türkei und Syrien. Fliegen auch bayerische Helfer und Helferinnen dorthin? Wie geht die türkische und syrische Community bei uns damit um? Was ist am Münchner Flughafen los? Wie beim Krieg in der Ukraine hat so eine Katastrophe sehr direkte Auswirkungen auf unser Einzugsgebiet.
Heidenreich: Mir fiele jetzt auch keine einzige gesellschaftliche, politische Großwetterlage mehr ohne Einfluss auf uns hier ein.
Hofmann: Bei der man sich zurücklehnen könnte und denken, lass das mal andre verhandeln.
Hat sich also nur die Quantität heruntergebrochener Großwetterlagen verändert oder auch ihre Qualität, also die Art, sie lokal zu thematisieren?
Heidenreich: Inhaltlich hat sich in jedem Fall verändert, dass auch lokale Themen ferner Regionen überregional relevant werden, die man jetzt direkter ansprechen kann. Kürzlich zum Beispiel wurde ja über ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem auf 800 Einwohner 700 Geflüchtete kommen, berichtet. Da habe ich mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Bayern-Reporterin vor gut zehn Jahren aus der Nähe von Deggendorf erinnert, wo das Verhältnis noch deutlicher war. Es waren 900 Einwohner in dem Dorf und über 1000 Geflüchtete.
Und haben es für eine aktuelle Berichterstattung aufgegriffen?
Heidenreich: Die Geflüchteten sind inzwischen alle fortgezogen. Aber schon damals konnte man daran alle Probleme aufzeigen, die sich im politischen und sozialen Miteinander ergeben, von der praktischen Versorgungslage bis zur inneren Haltung. Das hat eine Wucht, mit der man menschlich, aber auch publizistisch viel in Bewegung setzen kann.
Hofmann: Ein anderes Beispiel, Geschichten abseits vom großen Radar weiterzuerzählen, ist unsere Kolumne „Typisch Deutsch“, wo ein Kollege im Herbst 2015 zunächst geflohene Journalisten darum gebeten hat, ihren Blick auf uns in der SZ darzustellen.
Heidenreich: Damals waren es vor allem syrische und nigerianische Kollegen, jetzt ist es auch eine ukrainische Kollegin, die eine ähnliche Kolumne hat.
Hofmann: Und das funktioniert schon deshalb wunderbar, weil es nicht nur Einblicke in deren Lebenswelten gewährt, sondern auch solche zurück auf uns, wie diese ehemaligen Neuankömmlinge Phänomene vom Oktoberfest bis zum Gassigehen also wahrnehmen.
Heidenreich: Wenn der syrische Kollege eine Stilkritik über den Verzehr von Schweinebraten mit Knödeln schreibt, ist das ja nicht nur informativ und unterhaltsam, sondern manchmal auch auf lustige Art entlarvend.
Hofmann: Das hilft besonders in den Landkreisen sehr dabei, zu zeigen, dass diese Menschen nicht nur gekommen, sondern geblieben sind.
Und wie findet das die lokale Kundschaft ländlicher Verbreitungsgebiete, die womöglich in ihrer Welt ein bisschen verkapselter und damit konservativer sind?
Hofmann: Weil SZ-Leserinnen und -Leser generell eine gewisse Offenheit mitbringen, ist die Resonanz grundsätzlich positiv, aber klar gibt es auch – nennen wir es mal: Verwunderung.
Heidenreich: Die meisten unserer lokalen Leserinnen und Leser verstehen das ironische Augenzwinkern solcher Geschichten schon. Sie wissen ja, warum sie die SZ abonniert haben und was sie mit ihr bekommen.
Und verspüren Sie beim Rest eine Art Erziehungsauftrag, ihm die Weite der Welt jenseits von Ober- und Niederbayern zu erklären?
Heidenreich: Erziehungsauftrag, oh je. Wer will als Erwachsener schon erzogen werden…
Hofmann: Damit muss man sehr aufpassen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie fein die Antennen vieler Leserinnen und Leser sind, sobald wir versuchen, sie in irgendeine Richtung zu informieren, die als gewünscht empfunden werden könnte. Das hat unsere Objektivität noch gewissenhafter gemacht.
Heidenreich: Wir bilden nicht, wir bilden ab.
Auch, um es sich mit seiner zahlenden Kundschaft in Zeiten sinkender Abo-Erlöse und Kiosk-Verkäufe nicht zu verscherzen?
Heidenreich: Nicht, was die inhaltliche Berichterstattung betrifft. Wo wir auf sie zugehen, ist allenfalls die Art, wie wir mit unseren Leserinnen und Lesern in Dialog treten. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern das ganze Haus. Ich war vorher in der Politik-Redaktion, René lange Sportreporter – seither sind wir hier wie dort verantwortungsbewusster beim Austausch mit unserem Publikum geworden.
Was sich worin zeigt?
Heidenreich: Dass wir oder die Social-Media-Abteilung Zuschriften oder Kommentare noch gewissenhafter und intensiver beantworten als früher.
Hofmann: Und dabei zu erklären, warum wir diesen oder jenen Zugang so und nicht anders gewählt haben. Da geht es nicht um Inhaltskorrektur, sondern um Transparenz.
Heidenreich: Runter von dieser unerreichbaren Elfenbeinturmspitze, aus der Redaktionen die Welt erklärt haben, ohne Rückfragen zuzulassen. Das gibt es schon lange nicht mehr.
Hofmann: Dieses selbstkritische Herangehen wird geschätzt, aber das wichtigste bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der Sache an sich, also den Berichtsgegenständen. Deshalb ist das Feedback der Leserinnen und Leser auch eher positiv als negativ. Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix.
Aber mit anteilnehmendem, interaktivem Journalismus. Geht der bei Ihnen auch Richtung Twitter-Charts oder Leserinnen-Kolumnen, um die Kundschaft redaktionell einzubinden?
Heidenreich: Wir arbeiten natürlich mit Dashboards, erkennen, wenn Geschichten von sehr großem Interesse sind, und legen dann vielleicht noch ein paar Geschichten und Longreads zu dem Thema nach. Aber am Produktionsprozess beteiligen wir die Leute nicht. Schließlich haben wir die gleichen journalistischen Grundsätze und Qualitätsanforderungen wie das gesamte Haus.
Zugleich wünschen sich die Menschen, was vielfach gepanelt wird, vom Lokaljournalismus Nähe und Geborgenheit. Fällt das einer überregionalen Zeitung wie der Süddeutschen, deren Fokus anders als bei Regionalblättern weit über den Tellerrand der Landkreise hinausgeht, schwerer?
Heidenreich: Wir machen da idealerweise gar keinen Unterschied zwischen SZ im Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen. Alle Standbeine sind absolut gleichwertig und das Lokale und Regionale ist schon allein deshalb nicht weniger bedeutend, weil es vom Personal her das größte Ressort bei der SZ ist. Diese Gleichwertigkeit findet sich auch im Redaktionsstatut, dem Wertepapier des Redaktionsausschusses, dem publizistischen Kompass der Chefredaktion wieder. Die journalistischen Qualitätsansprüche sind – auch im Digitalen – identisch.
Hofmann: Wir wollen im Lokalen das Gleiche beherrschen wie überregional, also alle Stilformen von der Härte des Investigativen übers Packende der Reportage bis hin zum Leichten des Streiflichts beherrschen und nutzen. Gäbe es qualitativ und stilistisch von Ressort zu Ressort Unterschiede, dann würden die Leserinnen und Leser das schon deshalb seltsam finden, weil auf der Homepage alles nebeneinander zu finden ist. Je näher man München kommt, desto eher wird, glaube ich, ein gewisser SZ-Sound erwartet, aber das Gefühl dafür ist in allen Regionen ähnlich.
Erhebt die Süddeutsche, ob ihre Leser:innen sie eher wegen oder trotz der Lokalberichterstattung kaufen?
Heidenreich: Natürlich [blättert in Papieren]. Laut Marktforschungen ist der MRB-Teil, also die Ressorts München/Region/Bayern, die wir leiten, neben dem Politik-Teil der beliebteste der SZ. Als einzige überregionale Zeitung in Deutschland mit relevanter Regionalberichterstattung haben wir da ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Hofmann: Das allerdings auch Herausforderungen mit sich bringt, denn wir haben gleich von drei Seiten Konkurrenz: Auf Bundesebene von FAZ, taz und Welt, aber auch den Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Die Zeit. Auf Landesebene vor allem vom Bayerischen Rundfunk, der als einziges Medium Bayerns ein – wenngleich deutlich – größeres Korrespondentennetz unterhält als wir. Und im Kernverbreitungsgebiet vor allem den Münchner Merkur, der im ländlichen Raum stark ist, und den Boulevardzeitungen Abendzeitung, tz und Bild. In der digitalen Welt ist es umso sportlicher, aber auch spannend, unser Versprechen, mit lokalem Herz in die Welt hinauszublicken, jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden.
Und nach welcher Hierarchie-, womöglich gar Kommandostruktur agieren die verschiedenen Landes-, Lokal- und Regionalredaktionen da?
Heidenreich: Wir haben das gesamte Groß-Ressort in den vergangenen zwei Jahren komplett umstrukturiert, inklusive unserer neun Lokalredaktionen, um es angesichts von Etatkürzungen, Personalabbau und den Herausforderungen beim digitalen Wandel neu aufzustellen. Unsere Redakteurinnen und Redakteure müssen ja inzwischen Aufgaben stemmen, die noch vor wenigen Jahren gar nicht erfunden waren. Die digitale Aufbereitung ist zusätzliche Arbeit. Andererseits müssen sie sich nun weniger an der Konkurrenz wie etwa dem Münchner Merkur messen, der auf Kreisebene einfach breiter aufgestellt ist.
Mit welcher Folge?
Heidenreich: Dass wir nicht mehr auf jeder Gemeinderatssitzung präsent sein und die Sperrung jeder Sackgasse redaktionell begleiten müssen. Unsere Arbeit ist da eher themen- als ereignisorientiert.
Hofmann: Die Struktur ist dreigeteilt: die Bayern-Redaktion hat den Freistaat und die Landespolitik im Blick, die München-Redaktion kümmert sich um die das Geschehen in der Stadt und in der Region um diese herum sind wir in den Landkreisen Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg, Starnberg, Bad Tölz-Wolfratshausen und Freising plus Erding mit Redaktionen präsent. Hab‘ ich jetzt eine vergessen?
Heidenreich: Bloß nicht!
Hofmann: Ja, den Landkreis München, natürlich. Alle Landkreisredaktionen sind trotz verschieden hoher Auflagen eigenständige Einheiten unterm MRB-Dach, also nicht in einen Pool organisiert. Wer draußen ist, hat das eigene Berichtsgebiet besser im Blick als wir. Im digitalen Zeitalter ist es jedoch wichtig, dass Stories, die in Haar im Landkreis München spielen, so gedacht werden, dass sie theoretisch auch in Hamburg Interesse finden. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Baumarkt-Kater aus Starnberg.
Alkohol oder Tier?
Hofmann: Ein Katzenmännchen, das sich jeden Tag im Baumarkt rumtreibt und abends wieder heimgeht. Früher hätte die Geschichte nur Leute in Starnberg erreicht, jetzt hatte sie inzwischen mehr eine Million Zugriffe auf unserer Homepage. Das mag eine kuriose Schmonzette sein, aber ähnlich wie die erste bayerische Gemeinde mit gegenderten Ortsschildern sorgt sie überregional für Interesse. Wir können zwar nicht mehr alles 360 Grad covern, müssen uns aber auf das konzentrieren, was Interesse findet. Und dafür geben wir den Kolleginnen und Kollegen vor Ort alle Freiheit, die sie brauchen.
Also auch die, bei Interesse doch jede Gemeinderatssitzung oder Sackgassensperrung zu besuchen?
Hofmann: Da geben wir keine Richtlinien vor. Dafür sind die Landkreise viel zu unterschiedlich und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erfahren genug, um das selbst abzuwägen. Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit begrenzter Kapazität bei der Entscheidung für ein Thema im Zweifel gegen ein anderes entscheidet.
Heidenreich: Wobei die automatische Präsenzpflicht von früher schon deshalb nicht mehr nötig ist, weil wir die Print-Umfänge bei unserer Strukturreform reduziert haben. Das aus der Printlogik entstandene Konstrukt stand dem digitalen Wandel eher im Weg, als dass es ihn beförderte. Es brachte unsere Leute bei der Arbeitsbelastung an den Anschlag und entsprach nicht ihrem eigenen Anspruch. Durch starre Seiten-Vorgaben war die Redaktion gezwungen, Platz zu füllen, anstatt nach journalistischer Relevanz Inhalte auszuwählen. Durch diesen Zwang, lokalen Platz zu füllen, stand da mitunter nicht immer wirklich relevanter Stoff.
Hofmann: Na ja, nennen wir es mal „nicht so spannender“ (lacht).
Heidenreich: Wir haben vor unserer Reform eine Lesewertstudie gestartet und herausgefunden, dass solche Meldungen manchmal, nunja, äußerst niedrige Einschaltquoten haben. Für diese Resonanz nicht mehr ungeachtet journalistischer Relevanz Platz füllen zu müssen, ist für die Leute vor Ort eine Riesenentlastung.
Und wie viel Personal wurde dafür nun abgebaut?
Heidenreich: Das lässt sich nicht genau beziffern. Der Personalabbau betraf zum Beispiel Assistentinnen, die Tag für Tag Serviceseiten gefüllt haben – also ein Angebot, das sich im digitalen Zeitalter ebenfalls überholt hat. Für alle, die so etwas dennoch gern auf Papier möchten, bieten wir es halt nur noch ein, zweimal die Woche an.
Hofmann: Der personelle Abbau im Lokalen war anteilig zum Gesamthaus.
Heidenreich: Digital haben wir sogar Personal aufgebaut, weil die Nachfrage und Notwendigkeit massiv gewachsen ist.
Hofmann: Wir haben beispielsweise eine Kollegin für den Bereich Social Media. Es gibt auch jemand, der sich gezielt für die Suchmaschinen-Optimierung der Inhalte kümmert, die im Ressort entstehen. All das ist essenziell, um auf dem digitalen Marktplatz bestehen zu können. Diese Aufgaben und Stellen sind hinzugekommen.
Unterliegt Ihr Lokalteil eigentlich geringerem Selbstfinanzierungs-, also Rentabilitätsdruck als Konkurrenzblätter ohne derart lukrativen Mantel im Rücken?
Heidenreich: Die Frage klingt jetzt, als müsse uns der Mantel querfinanzieren… Wir erwirtschaften Erlöse dank unserer hohen Auflage im Kernverbreitungsbereich sogar auch noch durch gedruckte Werbung. Da kommt Einiges rein. Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie.
Hofmann: In einer prosperierenden Region wie München drängen außerdem gerade zur Weihnachtszeit erfreulich viele Unternehmen ins Werbegeschäft. Manchmal wird es dann mühsam, um die alle auf den Printseiten herum zu layouten.
Bringen solche Luxusprobleme auch mit sich, dass Ihre Lokalausgaben nicht den einen großen Werbepartner vieler Landkreise haben, über den sie besser nicht allzu kritisch berichtet, weil sein Verlust Riesenlöcher in den Etat reißen würde?
Hofmann: Natürlich gibt es große und wichtige Anzeigenkunden, aber um die kümmert sich die Anzeigenabteilung. Für unser Standing im Haus ist es sicher gut, dass das, was wir journalistisch bieten, auch einen ökonomischen Wert hat.
Heidenreich: Das ist die eine Seite. Um immer auf Augenhöhe zu sein, haben und fördern wir als Ressortleitung auch den redaktionsübergreifenden Personal-Austausch. Viele aus der Lokalredaktion wechseln in Mantel-Ressorts, umgekehrt geschieht dies auch, zuletzt zum Beispiel aus der Politik in den Bayern-Teil.
Ist das Bestandteil einer strukturellen Fluktuation?
Heidenreich: Natürlich gibt es in den Außenredaktionen Leute, die noch nicht in den großen Mantelressorts gearbeitet haben. Aber wir achten wirklich sehr drauf, dass unsere Leute auch für andere Ressorts schreiben – sei es als lokale Zulieferung von Geschichten in der Politik, sei es auf der Meinungsseite oder auch als eigene Geschichte auf der Seite Drei. Gerade zum Beispiel der Text mit dem hinreißenden Titel „Ein Mann für jeden Kuhfladen“ über Hubert Aiwanger, den bayerischen Wirtschaftsminister. Die Reportage haben unsere Bayern-Reporter Andreas Glas und Johann Osel gemeinsam mit Roman Deininger, dem SZ-Chefreporter, verfasst.
Hofmann: Deshalb hat natürlich die Kollegin Carolin Fries aus der Redaktion Starnberg über den ersten Corona-Fall in Deutschland geschrieben, der dort aufgetreten war. Sie hatte die Kontakte, sie hatte die Informationen – was brauchte sie da noch?!
Offene Türen!
Hofmann: Genau. Dabei hilft zum Beispiel, dass die langjährige Leiterin der Redaktion in Erding jetzt in dem Team ist, das sich um die Titelseite und das Thema des Tages, also die zweite Zeitungsseite, kümmert. Dafür kümmert sich die ehemalige stellvertretende Nachrichtenchefin jetzt um Wirtschaftsthemen im München-Teil, weil sie wieder mehr inhaltlich arbeiten wollte. Ein erfahrener Sportkollege hat die Chance ergriffen, Polizeireporter im München-Teil zu werden, der Kollege, der sich hier schon um Kirchen-, Schul- und Umweltthemen gekümmert hat, ist dagegen jetzt im Wissen-Ressort. Durchlässigkeit in beide Richtungen finde ich schon deshalb gut, weil Erfahrungsaustausch immer hilfreich ist.
Das klingt jetzt, mit Verlaub, fast ein bisschen zu harmonisch für eine Qualitätszeitung, in dem einige Ressorts bundesweit höchstes Ansehen genießen, die – wie zuletzt im Falle Nico Frieds oder Frederick Obermaiers – entsprechend Personal an Konkurrenten verloren haben…
Hofmann und Heidenreich: (beide lachen) Bundesweites Ansehen genießt übrigens auch der MRB-Teil, denn wir bestücken täglich eine Seite auch für die Fernausgabe in Print. Und auf der Homepage stehen unsere Texte sowieso.
Gibt es hier wirklich keine Form von Mantel-Dünkel, die wahrnehmbarere, preiswürdigere, weltbedeutendere Arbeit zu leisten als das tägliche Brot im Lokalen?
Heidenreich: Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssten Sie mal morgens an der Konferenz aller Ressorts teilnehmen; da herrscht gegenseitige Wertschätzung, also auch für die kreative und gut recherchierte Arbeit der Lokalredaktionen.
Hofmann: Und als Sportredakteur, der freiwillig ins Lokale geht, bin ich doch das beste Beispiel, dass dieser Dünkel nicht existiert. Wir beiden haben vorher die Wochenendausgabe im Mantel koordiniert.
Heidenreich: Ich habe zu viele Stationen in verschiedenen Medienhäusern in verschiedenen Städten hinter mir, um Vorbehalte zu haben. Umso mehr achten wir drauf, den Stempel des Seppltums lokaler Geschichten gar nicht erst zuzulassen. Außerdem versuchen wir – da sind wir als Lokalredaktion sogar echte Vorreiter – möglichst viele Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen.
Hofmann: Dennoch darf man diesen Wechsel ins Lokale durchaus als Signal verstehen, dass das Pendel in beide Richtungen und wieder zurückschwingen darf. Aber das kann man nicht verordnen, sondern nur fördern – etwa, indem wir uns eine Kollegin mit der Seite Drei auf einer doppelten Stelle teilen. Die Idee kam übrigens von der Chefredaktion und beugt Stockwerksdenken vor.
Also Großkopferte, die sich für was Besseres halten?
Heidenreich: Die Silberrücken am Konferenztisch sind definitiv seltener geworden in den letzten 15, 20 Jahren, und das ist auch gut so.
Hofmann: Ein Prozess, den das Zusammenwachsen der Print- und Onlineredaktion beschleunigt hat. Das war ein echter – ohne dass es sozialistisch klingen soll – Gleichmacher.
Heidenreich: Wir haben vor einem halben Jahr den Podcast München persönlich gegründet, der mit exakt der gleichen Akkuratesse gepflegt wird wie die politischen Podcasts.
Aber wie ist es denn auf der horizontalen Ebene vor Ort: treten Ihre Lokalredakteur:innen gegenüber Kolleg:innen kleinerer Zeitungen bei den angesprochenen Gemeinderatssitzungen nicht manchmal großkopfert auf, weil man schließlich von der prächtigen SZ kommt?
Heidenreich: Interessante Frage, aber auf dem platten Land ist die SZ manchmal verglichen mit der Lokalzeitung gar nicht so wichtig, denn wir berichten ja nicht mehr über jede kleine Pressemeldung eines dort möglicherweise gewichtigen Amtsinhabers.
Aber aufregend ist schon, wenn die Süddeutsche vorbeikommt, oder?
Heidenreich: Allein durch die Höhe der Auflage genießen wir da ein gewisses Ansehen, das stimmt. Aber wie gesagt: Wir befinden uns nicht im Wettlauf um die größtmögliche Präsenz, sondern pflegen das, was wir als SZ mit digitaler Expertise am besten können. „Leuchtturmprojekte“ hört sich womöglich zwar auch wieder von oben herab an, aber sie stehen für das, was uns auszeichnet. Deshalb haben wir für unsere Kolleginnen und Kollegen ohne Redaktionsschließungen, aber durch beispielsweise Seiten, die von zwei benachbarten Redaktionen gemeinsam erstellt und eingehängt werden, Freiräume geschaffen, die sie nun für digitale Projekte nutzen können.
Dennoch ist das Arbeiten im Lokalen mit einer hohen Taktung wie in der Politik doch ein anderes als, sagen wir: im Feuilleton oder Wissen…
Hofmann: Ich bin 2000 von der Journalistenschule als Sportredakteur zur Süddeutschen Zeitung gekommen, und einmal im Jahr gab es die Redaktionsvollversammlung, wo immer die Klage geführt wurde, dass die Arbeitsbelastung im Lokalen so hoch sei. Das hab‘ ich mir ungefähr zehn Jahre lang angehört und meinte dann, im Sport ist die Arbeitsbelastung fast jeden Tag oft bis tief in den Abend genauso hoch.
Zuzüglich Wochenenden.
Hofmann: Jede Redaktion hat halt ihre Herausforderungen. Denken Sie an die Ministerpräsidenten-Konferenzen der Corona-Krise, wo das Politikressort bis spätnachts am Platz war. Weil wir jedoch gemerkt haben, dass diese Arbeitsbedingungen unsere eifrigsten Leute ausbrennen, haben wir in den letzten zwei Jahren gezielt darauf hingewirkt, sie – etwa durch Teilzeitmodelle und Freizeitausgleich – beherrschbar zu machen.
Mithilfe der ominösen Work-Life-Balance?
Hofmann: Ja, denn im Wettbewerb um die besten Köpfe müssen wir ihre Arbeit konkurrenzfähig organisieren. Dazu gehört allerdings auch, dass unsere Autorinnen und Autoren sich für ihre Geschichten die Zeit nehmen, die sie brauchen; nur dann sorgen sie auch im Digitalen für Zuspruch. Seit der thematische Vollversorgungsanspruch im Lokalen Geschichte ist, garantieren wir lieber, große Geschichten groß, wichtige Geschichten schnell und schöne Geschichten schön zu erzählen. Die Leute erwarten von uns gutes Story-Telling.
Alle Leute oder nur jüngere, während ältere noch etwas mehr am chronistenpflichtigen Lokaljournalismus früherer Jahre hängen?
Heidenreich: Alle, die auch alle von den Lesegewohnheiten der jeweils anderen profitieren.
Hofmann: Wenn wir, was unser Ziel ist, neue Leserschichten erschließen wollen, müssen wir diesen Weg gehen. Mit der Stadt hat sich ja auch ihr Umland radikal gewandelt. Weil Jahr für Jahr Zehntausende Menschen nach München ziehen, nimmt die durchschnittliche Verwurzelung ab. Dass jemand 30, 40, 50 Jahre in Feldkirchen wohnt, kommt inzwischen seltener vor, und dieser Fluktuation müssen wir gerecht werden.
Heidenreich: Weil sich die Lebens- und Arbeitswelten gewandelt haben, bilden wir sie seit langem schon urbaner ab, wozu auch gehört, das, was wir können, digital und analog gleichwertig zu verbreiten. Dafür wollen wir im Regional-Bereich auch eine Investigativ-Abteilung aufbauen, denn damit können wir dank unseres Ansehens ebenso punkten wie zum Beispiel in den Bereichen Gastronomie und Kulturberichterstattung.
Hofmann: Viele der Münchnerinnen und Münchner sind nicht mehr hier geboren, weniger als die Hälfte sind inzwischen in keiner kirchlichen Konfession mehr organisiert. Auf sowas muss man journalistisch eingehen.
Ohne die anderen 50 Prozent zu verschrecken.
Hofmann: Ja, wobei diejenigen, die wir schon haben, wahnsinnig treu sind und uns größtenteils durch alle Neuerungen folgen. Das hätte ich vorher nicht gedacht und das gibt uns viele Freiheiten, weniger verwurzelte Zielgruppen – etwa durchs Digitale oder Podcasts – zu gewinnen, um nicht hinter den Stand anderer Redaktionen zurückzufallen.
Wie sehr sind Sie beide denn in München verwurzelt?
Heidenreich: Ich bin in Bayern geboren, habe 1985 bei der Neuen Passauer Presse volontiert und arbeite seit 1996 bei der SZ, bin zwischendurch aber von Italien über Norddeutschland bis Ost-Berlin gut rumgekommen und spreche nicht mal Dialekt, wie Sie hören. Nach meiner Zeit im Politikressort und als Wochenendkoordinatorin wollte ich daher eigentlich auch gar nicht mehr unbedingt zurück ins Lokale, fühle mich hier jetzt aber sehr wohl.
Hofmann: Als Schüler habe ich bereits im Sublokalen der Würzburger Main-Post gearbeitet und kam 1995 an die Journalistenschule nach München, bin hier klassisch hängengeblieben, dann aber durch Themen wie Formel 1 oder Olympische Spiele ebenfalls viel rumgekommen.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht als Regional-Chefs denn da, dass Ihre Autorinnen und Autoren im eigenen Arbeitsumfeld verwurzelt sind?
Heidenreich: Man sollte die Leute schon kennen und auch ein bisschen mögen; das gilt ja in gewisser Weise auch umgekehrt. In München sind René und ich vermutlich bekannter als die Mantel-Chefredaktion und müssen uns entsprechend öfter mal sehen lassen. Deshalb war ich gestern auf der Gedächtnisveranstaltung mit Frank-Walter Steinmeier für die Weiße Rose und René beim Jahresempfang der Grünen.
Um zu berichten oder zu repräsentieren?
Heidenreich: Teils, teils, aber wenn wir irgendwo auftauchen, dann immer auch als Repräsentanten der SZ.
Könnte ein hervorragender Journalist aus Berlin oder Saarbrücken ohne Vorkenntnisse und Wurzeln über und aus Erding berichten?
Heidenreich: Klar, sofern er die Leute verstehen will und es auch kann. Buchstäblich! Denn obwohl ich selbst aus Bayern komme, war ich schon mal in Außenredaktionen und habe den harten Dialekt der Leute dort kaum verstanden (lacht).
Hofmann: Auch deshalb schickt die SZ all ihre Volontäre zum Lackmus-Test in die Landkreise, da gibt es dann beiderseits wundervolle Erfahrungen zu machen. Am Ende hängt es zwar immer vom Einzelnen ab, aber der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis ist Commitment mit der Region, den Menschen, ihren Themen.
Und wer sind dabei als Lokalteil Ihre Hauptkonkurrenten – kleine Kreiszeitungen, größere Regionalblätter, die Bild?
Heidenreich: Wir beobachten alles. Wenn wir zur Arbeit kommen, hat der MRB-Desk daher schon die erste Auswertung bayerischer Medien erstellt – aber nicht nur, um zu wissen, was die Konkurrenz macht, sondern um nachfolgende Berichterstattungen oder eventuell Kampagnen zu erspüren.
Hofmann: Wobei zur Konkurrenz nicht nur klassische Medien, sondern auch digitale zählen wie muenchen.de oder Instagram-Accounts, die besonders im Servicebereich interessante Sachen machen. Weil die wirtschaftliche Ausrichtung bei der Geschäftsführung liegt, sind wir dabei aber stets inhaltlich getrieben, also aus journalistischer Neugier. Unser Selbstbewusstsein ist groß genug, um zu sagen, dann setzen wir halt eigene Geschichten als andere weiterzuspinnen. Schon weil es nicht viele Quer-Leser gibt, die bei Bedarf eben eine andere Zeitung aus den stummen Verkäufern ziehen.
In denen Sie aber auch gar nicht immer liegen, oder? Am Bahnhof Berg am Laim jedenfalls gab es kein SZ-Fach…
Hofmann: Ausverkauft! (lacht) Wie immer!
Heidenreich: Wir überlegen noch, wie wir damit umgehen, dass die Zeit der so genannten Stummen Verkäufer zuende geht. Auch die Zeit der Abendverkäufer, die abends durch die Bars und Restaurants gingen und Charles Schumann ihn gleich mal fünf Exemplare abgekauft hat, ist vorbei. Denn das hat sich leider alles nicht mehr rentiert.
Hofmann: Die Herausforderung unserer Marke an diesem Ort besteht deshalb darin, sie trotz Digitalisierung sichtbar im Ortsbild zu halten. Früher funktionierte das über Leser mit Zeitung in der Tram oder Studierenden-Abos. Heute werden wir zwar von mehr Menschen als früher gelesen, aber auf dem Smartphone bleibt es halt unauffällig.
Und wie lautet der Ausweg?
Hofmann: Fahrgastfernsehen zum Beispiel in der Trambahn, in Bussen oder der S-Bahn, wo die Süddeutsche Zeitung – wie auch der BR – Nachrichten präsentiert. Oder auch Kulturveranstaltungen, mit denen wir uns im Gespräch halten.
Trauern Sie der Nostalgie sichtbarer Zeitungen und Abendverkäufer nach?
Heidenreich: Ach, wer wie ich mit Print groß geworden ist, hat da doch ständig nostalgische Gefühle.
Hofmann: Aber wenn du abends spät auf einem Termin warst und morgens früh siehst, wie viele Menschen den Text gelesen haben, oder wenn bei Instagram zu deiner Glosse über Wiesen-Plakate die Herzchen nur so aufploppen – das sind neue Freuden, die den Verlust der alten mindestens kompensieren.
Aber auch die Gefahr des Click-Baitings mit sich bringen, also Resonanz um der Resonanz willen…
Heidenreich: Das ist wie überall Teil einer permanenten Diskussion im Haus. Unser Grundsatz lautet da: Wir orientieren uns an Zahlen, machen uns aber nicht zu ihren Sklaven.
Hofmann: Wir alle hier, mich eingeschlossen, freuen uns doch, wenn unsere Inhalte goutiert werden. Aber wir alle haben auch einen inneren Kompass, Qualität von Quantität zu unterscheiden. Wichtig ist, dass das Bedeutsame auf jedem SZ-Kanal ausgespielt wird, wofür wir uns – auch wenn Ihnen das vielleicht wieder zu schön, um wahr zu sein klingt – dann entsprechend gemeinsam verantwortlich fühlen.
Und wofür fühlen sich alle hier in, sagen wir: zehn Jahren gemeinsam verantwortlich – die letzte große regionale Tageszeitung im Konkurrenzkampf mit ein paar Redaktionsgemeinschaften und Social Media?
Heidenreich: Untersuchungen in dieser Richtung führen regelmäßig zum Ergebnis, dass große Häuser wie die Süddeutsche bleiben, kleinere eher nicht. Aber um zu wissen, woran wir sind, wollen wir nun gemeinsam mit der Chefredaktion eine Perspektive für München-Region-Bayern 2030 erarbeiten. Denn am Ende ist alles davon abhängig. Auch, wohin jetzt schon Personal und Etats verschoben werden.
Hofmann: Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter. Aber im Moment steht unsere Zeitung sehr solide auf ihren zwei Standbeinen.
Und bleiben sie mittelfristig beim lokalen Standbein?
Heidenreich: Bislang habe ich im Berufsleben in regelmäßigen Abständen mein Themengebiet und die Ressorts gewechselt und empfehle das auch anderen, weil es einem selbst und dem jeweiligen Medium guttut. Weil mein Job hier als Ressortleiterin aber mit unglaublich viel Personal verbunden ist, etwaeinem Viertel der SZ-Belegschaft, und man alle gut kennen muss, um eine sinnvolle Personalpolitik mit entsprechendem journalistischen Output zu leisten, könnte es für mich hier aber auch ein bisschen länger dauern.
Hofmann: Als ich hier angefangen habe, hatte ich das Lokale kaum auf dem Schirm. Aber in den vier Jahren habe ich darin und davon so viel gelernt, dass ich die ganze Welt tagtäglich im Kleinen spannend genug finde, um damit weiterzumachen. Der Rennfahrer Gerhard Berger meinte mal, in der Formel 1 erlebe man in fünf Jahren so viel wie andere im Leben. Dieses Gefühl habe ich hier manchmal auch.
Ulrike Heidenreich (*64), René Hofmann (*74)
30.552 Zeichen
Interview: Jan Freitag
Frau Heidenreich, Herr Hofmann – Sie leiten die Gemeinschaftsredaktion München-Region-Bayern der Süddeutschen Zeitung in einer Epoche voll globaler Krisen von Krieg übers Klima bis Inflation mit unmittelbarer Auswirkung aufs Lokale. Welche hat es auf die Berichterstattung im Weltdorf München und Umgebung?
Ulrike Heidenreich: Wie früher eigentlich: Das Kleine im Großen zu finden. Erst dieses Herunterbrechen vom Globalen, Nationalen aufs Regionale macht Lokaljournalismus interessant.
Und wird durch digitale, überall verfügbare Informationen in Echtzeit noch interessanter?
René Hofmann: Dadurch können fast alle Weltlagen im Lokalen Thema werden. Bestes Beispiel ist das Erdbeben in der Türkei und Syrien. Fliegen auch bayerische Helfer und Helferinnen dorthin? Wie geht die türkische und syrische Community bei uns damit um? Was ist am Münchner Flughafen los? Wie beim Krieg in der Ukraine hat so eine Katastrophe sehr direkte Auswirkungen auf unser Einzugsgebiet.
Heidenreich: Mir fiele jetzt auch keine einzige gesellschaftliche, politische Großwetterlage mehr ohne Einfluss auf uns hier ein.
Hofmann: Bei der man sich zurücklehnen könnte und denken, lass das mal andre verhandeln.
Hat sich also nur die Quantität heruntergebrochener Großwetterlagen verändert oder auch ihre Qualität, also die Art, sie lokal zu thematisieren?
Heidenreich: Inhaltlich hat sich in jedem Fall verändert, dass auch lokale Themen ferner Regionen überregional relevant werden, die man jetzt direkter ansprechen kann. Kürzlich zum Beispiel wurde ja über ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem auf 800 Einwohner 700 Geflüchtete kommen, berichtet. Da habe ich mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Bayern-Reporterin vor gut zehn Jahren aus der Nähe von Deggendorf erinnert, wo das Verhältnis noch deutlicher war. Es waren 900 Einwohner in dem Dorf und über 1000 Geflüchtete.
Und haben es für eine aktuelle Berichterstattung aufgegriffen?
Heidenreich: Die Geflüchteten sind inzwischen alle fortgezogen. Aber schon damals konnte man daran alle Probleme aufzeigen, die sich im politischen und sozialen Miteinander ergeben, von der praktischen Versorgungslage bis zur inneren Haltung. Das hat eine Wucht, mit der man menschlich, aber auch publizistisch viel in Bewegung setzen kann.
Hofmann: Ein anderes Beispiel, Geschichten abseits vom großen Radar weiterzuerzählen, ist unsere Kolumne „Typisch Deutsch“, wo ein Kollege im Herbst 2015 zunächst geflohene Journalisten darum gebeten hat, ihren Blick auf uns in der SZ darzustellen.
Heidenreich: Damals waren es vor allem syrische und nigerianische Kollegen, jetzt ist es auch eine ukrainische Kollegin, die eine ähnliche Kolumne hat.
Hofmann: Und das funktioniert schon deshalb wunderbar, weil es nicht nur Einblicke in deren Lebenswelten gewährt, sondern auch solche zurück auf uns, wie diese ehemaligen Neuankömmlinge Phänomene vom Oktoberfest bis zum Gassigehen also wahrnehmen.
Heidenreich: Wenn der syrische Kollege eine Stilkritik über den Verzehr von Schweinebraten mit Knödeln schreibt, ist das ja nicht nur informativ und unterhaltsam, sondern manchmal auch auf lustige Art entlarvend.
Hofmann: Das hilft besonders in den Landkreisen sehr dabei, zu zeigen, dass diese Menschen nicht nur gekommen, sondern geblieben sind.
Und wie findet das die lokale Kundschaft ländlicher Verbreitungsgebiete, die womöglich in ihrer Welt ein bisschen verkapselter und damit konservativer sind?
Hofmann: Weil SZ-Leserinnen und -Leser generell eine gewisse Offenheit mitbringen, ist die Resonanz grundsätzlich positiv, aber klar gibt es auch – nennen wir es mal: Verwunderung.
Heidenreich: Die meisten unserer lokalen Leserinnen und Leser verstehen das ironische Augenzwinkern solcher Geschichten schon. Sie wissen ja, warum sie die SZ abonniert haben und was sie mit ihr bekommen.
Und verspüren Sie beim Rest eine Art Erziehungsauftrag, ihm die Weite der Welt jenseits von Ober- und Niederbayern zu erklären?
Heidenreich: Erziehungsauftrag, oh je. Wer will als Erwachsener schon erzogen werden…
Hofmann: Damit muss man sehr aufpassen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie fein die Antennen vieler Leserinnen und Leser sind, sobald wir versuchen, sie in irgendeine Richtung zu informieren, die als gewünscht empfunden werden könnte. Das hat unsere Objektivität noch gewissenhafter gemacht.
Heidenreich: Wir bilden nicht, wir bilden ab.
Auch, um es sich mit seiner zahlenden Kundschaft in Zeiten sinkender Abo-Erlöse und Kiosk-Verkäufe nicht zu verscherzen?
Heidenreich: Nicht, was die inhaltliche Berichterstattung betrifft. Wo wir auf sie zugehen, ist allenfalls die Art, wie wir mit unseren Leserinnen und Lesern in Dialog treten. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern das ganze Haus. Ich war vorher in der Politik-Redaktion, René lange Sportreporter – seither sind wir hier wie dort verantwortungsbewusster beim Austausch mit unserem Publikum geworden.
Was sich worin zeigt?
Heidenreich: Dass wir oder die Social-Media-Abteilung Zuschriften oder Kommentare noch gewissenhafter und intensiver beantworten als früher.
Hofmann: Und dabei zu erklären, warum wir diesen oder jenen Zugang so und nicht anders gewählt haben. Da geht es nicht um Inhaltskorrektur, sondern um Transparenz.
Heidenreich: Runter von dieser unerreichbaren Elfenbeinturmspitze, aus der Redaktionen die Welt erklärt haben, ohne Rückfragen zuzulassen. Das gibt es schon lange nicht mehr.
Hofmann: Dieses selbstkritische Herangehen wird geschätzt, aber das wichtigste bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der Sache an sich, also den Berichtsgegenständen. Deshalb ist das Feedback der Leserinnen und Leser auch eher positiv als negativ. Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix.
Aber mit anteilnehmendem, interaktivem Journalismus. Geht der bei Ihnen auch Richtung Twitter-Charts oder Leserinnen-Kolumnen, um die Kundschaft redaktionell einzubinden?
Heidenreich: Wir arbeiten natürlich mit Dashboards, erkennen, wenn Geschichten von sehr großem Interesse sind, und legen dann vielleicht noch ein paar Geschichten und Longreads zu dem Thema nach. Aber am Produktionsprozess beteiligen wir die Leute nicht. Schließlich haben wir die gleichen journalistischen Grundsätze und Qualitätsanforderungen wie das gesamte Haus.
Zugleich wünschen sich die Menschen, was vielfach gepanelt wird, vom Lokaljournalismus Nähe und Geborgenheit. Fällt das einer überregionalen Zeitung wie der Süddeutschen, deren Fokus anders als bei Regionalblättern weit über den Tellerrand der Landkreise hinausgeht, schwerer?
Heidenreich: Wir machen da idealerweise gar keinen Unterschied zwischen SZ im Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen. Alle Standbeine sind absolut gleichwertig und das Lokale und Regionale ist schon allein deshalb nicht weniger bedeutend, weil es vom Personal her das größte Ressort bei der SZ ist. Diese Gleichwertigkeit findet sich auch im Redaktionsstatut, dem Wertepapier des Redaktionsausschusses, dem publizistischen Kompass der Chefredaktion wieder. Die journalistischen Qualitätsansprüche sind – auch im Digitalen – identisch.
Hofmann: Wir wollen im Lokalen das Gleiche beherrschen wie überregional, also alle Stilformen von der Härte des Investigativen übers Packende der Reportage bis hin zum Leichten des Streiflichts beherrschen und nutzen. Gäbe es qualitativ und stilistisch von Ressort zu Ressort Unterschiede, dann würden die Leserinnen und Leser das schon deshalb seltsam finden, weil auf der Homepage alles nebeneinander zu finden ist. Je näher man München kommt, desto eher wird, glaube ich, ein gewisser SZ-Sound erwartet, aber das Gefühl dafür ist in allen Regionen ähnlich.
Erhebt die Süddeutsche, ob ihre Leser:innen sie eher wegen oder trotz der Lokalberichterstattung kaufen?
Heidenreich: Natürlich [blättert in Papieren]. Laut Marktforschungen ist der MRB-Teil, also die Ressorts München/Region/Bayern, die wir leiten, neben dem Politik-Teil der beliebteste der SZ. Als einzige überregionale Zeitung in Deutschland mit relevanter Regionalberichterstattung haben wir da ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Hofmann: Das allerdings auch Herausforderungen mit sich bringt, denn wir haben gleich von drei Seiten Konkurrenz: Auf Bundesebene von FAZ, taz und Welt, aber auch den Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Die Zeit. Auf Landesebene vor allem vom Bayerischen Rundfunk, der als einziges Medium Bayerns ein – wenngleich deutlich – größeres Korrespondentennetz unterhält als wir. Und im Kernverbreitungsgebiet vor allem den Münchner Merkur, der im ländlichen Raum stark ist, und den Boulevardzeitungen Abendzeitung, tz und Bild. In der digitalen Welt ist es umso sportlicher, aber auch spannend, unser Versprechen, mit lokalem Herz in die Welt hinauszublicken, jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden.
Und nach welcher Hierarchie-, womöglich gar Kommandostruktur agieren die verschiedenen Landes-, Lokal- und Regionalredaktionen da?
Heidenreich: Wir haben das gesamte Groß-Ressort in den vergangenen zwei Jahren komplett umstrukturiert, inklusive unserer neun Lokalredaktionen, um es angesichts von Etatkürzungen, Personalabbau und den Herausforderungen beim digitalen Wandel neu aufzustellen. Unsere Redakteurinnen und Redakteure müssen ja inzwischen Aufgaben stemmen, die noch vor wenigen Jahren gar nicht erfunden waren. Die digitale Aufbereitung ist zusätzliche Arbeit. Andererseits müssen sie sich nun weniger an der Konkurrenz wie etwa dem Münchner Merkur messen, der auf Kreisebene einfach breiter aufgestellt ist.
Mit welcher Folge?
Heidenreich: Dass wir nicht mehr auf jeder Gemeinderatssitzung präsent sein und die Sperrung jeder Sackgasse redaktionell begleiten müssen. Unsere Arbeit ist da eher themen- als ereignisorientiert.
Hofmann: Die Struktur ist dreigeteilt: die Bayern-Redaktion hat den Freistaat und die Landespolitik im Blick, die München-Redaktion kümmert sich um die das Geschehen in der Stadt und in der Region um diese herum sind wir in den Landkreisen Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg, Starnberg, Bad Tölz-Wolfratshausen und Freising plus Erding mit Redaktionen präsent. Hab‘ ich jetzt eine vergessen?
Heidenreich: Bloß nicht!
Hofmann: Ja, den Landkreis München, natürlich. Alle Landkreisredaktionen sind trotz verschieden hoher Auflagen eigenständige Einheiten unterm MRB-Dach, also nicht in einen Pool organisiert. Wer draußen ist, hat das eigene Berichtsgebiet besser im Blick als wir. Im digitalen Zeitalter ist es jedoch wichtig, dass Stories, die in Haar im Landkreis München spielen, so gedacht werden, dass sie theoretisch auch in Hamburg Interesse finden. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Baumarkt-Kater aus Starnberg.
Alkohol oder Tier?
Hofmann: Ein Katzenmännchen, das sich jeden Tag im Baumarkt rumtreibt und abends wieder heimgeht. Früher hätte die Geschichte nur Leute in Starnberg erreicht, jetzt hatte sie inzwischen mehr eine Million Zugriffe auf unserer Homepage. Das mag eine kuriose Schmonzette sein, aber ähnlich wie die erste bayerische Gemeinde mit gegenderten Ortsschildern sorgt sie überregional für Interesse. Wir können zwar nicht mehr alles 360 Grad covern, müssen uns aber auf das konzentrieren, was Interesse findet. Und dafür geben wir den Kolleginnen und Kollegen vor Ort alle Freiheit, die sie brauchen.
Also auch die, bei Interesse doch jede Gemeinderatssitzung oder Sackgassensperrung zu besuchen?
Hofmann: Da geben wir keine Richtlinien vor. Dafür sind die Landkreise viel zu unterschiedlich und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erfahren genug, um das selbst abzuwägen. Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit begrenzter Kapazität bei der Entscheidung für ein Thema im Zweifel gegen ein anderes entscheidet.
Heidenreich: Wobei die automatische Präsenzpflicht von früher schon deshalb nicht mehr nötig ist, weil wir die Print-Umfänge bei unserer Strukturreform reduziert haben. Das aus der Printlogik entstandene Konstrukt stand dem digitalen Wandel eher im Weg, als dass es ihn beförderte. Es brachte unsere Leute bei der Arbeitsbelastung an den Anschlag und entsprach nicht ihrem eigenen Anspruch. Durch starre Seiten-Vorgaben war die Redaktion gezwungen, Platz zu füllen, anstatt nach journalistischer Relevanz Inhalte auszuwählen. Durch diesen Zwang, lokalen Platz zu füllen, stand da mitunter nicht immer wirklich relevanter Stoff.
Hofmann: Na ja, nennen wir es mal „nicht so spannender“ (lacht).
Heidenreich: Wir haben vor unserer Reform eine Lesewertstudie gestartet und herausgefunden, dass solche Meldungen manchmal, nunja, äußerst niedrige Einschaltquoten haben. Für diese Resonanz nicht mehr ungeachtet journalistischer Relevanz Platz füllen zu müssen, ist für die Leute vor Ort eine Riesenentlastung.
Und wie viel Personal wurde dafür nun abgebaut?
Heidenreich: Das lässt sich nicht genau beziffern. Der Personalabbau betraf zum Beispiel Assistentinnen, die Tag für Tag Serviceseiten gefüllt haben – also ein Angebot, das sich im digitalen Zeitalter ebenfalls überholt hat. Für alle, die so etwas dennoch gern auf Papier möchten, bieten wir es halt nur noch ein, zweimal die Woche an.
Hofmann: Der personelle Abbau im Lokalen war anteilig zum Gesamthaus.
Heidenreich: Digital haben wir sogar Personal aufgebaut, weil die Nachfrage und Notwendigkeit massiv gewachsen ist.
Hofmann: Wir haben beispielsweise eine Kollegin für den Bereich Social Media. Es gibt auch jemand, der sich gezielt für die Suchmaschinen-Optimierung der Inhalte kümmert, die im Ressort entstehen. All das ist essenziell, um auf dem digitalen Marktplatz bestehen zu können. Diese Aufgaben und Stellen sind hinzugekommen.
Unterliegt Ihr Lokalteil eigentlich geringerem Selbstfinanzierungs-, also Rentabilitätsdruck als Konkurrenzblätter ohne derart lukrativen Mantel im Rücken?
Heidenreich: Die Frage klingt jetzt, als müsse uns der Mantel querfinanzieren… Wir erwirtschaften Erlöse dank unserer hohen Auflage im Kernverbreitungsbereich sogar auch noch durch gedruckte Werbung. Da kommt Einiges rein. Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie.
Hofmann: In einer prosperierenden Region wie München drängen außerdem gerade zur Weihnachtszeit erfreulich viele Unternehmen ins Werbegeschäft. Manchmal wird es dann mühsam, um die alle auf den Printseiten herum zu layouten.
Bringen solche Luxusprobleme auch mit sich, dass Ihre Lokalausgaben nicht den einen großen Werbepartner vieler Landkreise haben, über den sie besser nicht allzu kritisch berichtet, weil sein Verlust Riesenlöcher in den Etat reißen würde?
Hofmann: Natürlich gibt es große und wichtige Anzeigenkunden, aber um die kümmert sich die Anzeigenabteilung. Für unser Standing im Haus ist es sicher gut, dass das, was wir journalistisch bieten, auch einen ökonomischen Wert hat.
Heidenreich: Das ist die eine Seite. Um immer auf Augenhöhe zu sein, haben und fördern wir als Ressortleitung auch den redaktionsübergreifenden Personal-Austausch. Viele aus der Lokalredaktion wechseln in Mantel-Ressorts, umgekehrt geschieht dies auch, zuletzt zum Beispiel aus der Politik in den Bayern-Teil.
Ist das Bestandteil einer strukturellen Fluktuation?
Heidenreich: Natürlich gibt es in den Außenredaktionen Leute, die noch nicht in den großen Mantelressorts gearbeitet haben. Aber wir achten wirklich sehr drauf, dass unsere Leute auch für andere Ressorts schreiben – sei es als lokale Zulieferung von Geschichten in der Politik, sei es auf der Meinungsseite oder auch als eigene Geschichte auf der Seite Drei. Gerade zum Beispiel der Text mit dem hinreißenden Titel „Ein Mann für jeden Kuhfladen“ über Hubert Aiwanger, den bayerischen Wirtschaftsminister. Die Reportage haben unsere Bayern-Reporter Andreas Glas und Johann Osel gemeinsam mit Roman Deininger, dem SZ-Chefreporter, verfasst.
Hofmann: Deshalb hat natürlich die Kollegin Carolin Fries aus der Redaktion Starnberg über den ersten Corona-Fall in Deutschland geschrieben, der dort aufgetreten war. Sie hatte die Kontakte, sie hatte die Informationen – was brauchte sie da noch?!
Offene Türen!
Hofmann: Genau. Dabei hilft zum Beispiel, dass die langjährige Leiterin der Redaktion in Erding jetzt in dem Team ist, das sich um die Titelseite und das Thema des Tages, also die zweite Zeitungsseite, kümmert. Dafür kümmert sich die ehemalige stellvertretende Nachrichtenchefin jetzt um Wirtschaftsthemen im München-Teil, weil sie wieder mehr inhaltlich arbeiten wollte. Ein erfahrener Sportkollege hat die Chance ergriffen, Polizeireporter im München-Teil zu werden, der Kollege, der sich hier schon um Kirchen-, Schul- und Umweltthemen gekümmert hat, ist dagegen jetzt im Wissen-Ressort. Durchlässigkeit in beide Richtungen finde ich schon deshalb gut, weil Erfahrungsaustausch immer hilfreich ist.
Das klingt jetzt, mit Verlaub, fast ein bisschen zu harmonisch für eine Qualitätszeitung, in dem einige Ressorts bundesweit höchstes Ansehen genießen, die – wie zuletzt im Falle Nico Frieds oder Frederick Obermaiers – entsprechend Personal an Konkurrenten verloren haben…
Hofmann und Heidenreich: (beide lachen) Bundesweites Ansehen genießt übrigens auch der MRB-Teil, denn wir bestücken täglich eine Seite auch für die Fernausgabe in Print. Und auf der Homepage stehen unsere Texte sowieso.
Gibt es hier wirklich keine Form von Mantel-Dünkel, die wahrnehmbarere, preiswürdigere, weltbedeutendere Arbeit zu leisten als das tägliche Brot im Lokalen?
Heidenreich: Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssten Sie mal morgens an der Konferenz aller Ressorts teilnehmen; da herrscht gegenseitige Wertschätzung, also auch für die kreative und gut recherchierte Arbeit der Lokalredaktionen.
Hofmann: Und als Sportredakteur, der freiwillig ins Lokale geht, bin ich doch das beste Beispiel, dass dieser Dünkel nicht existiert. Wir beiden haben vorher die Wochenendausgabe im Mantel koordiniert.
Heidenreich: Ich habe zu viele Stationen in verschiedenen Medienhäusern in verschiedenen Städten hinter mir, um Vorbehalte zu haben. Umso mehr achten wir drauf, den Stempel des Seppltums lokaler Geschichten gar nicht erst zuzulassen. Außerdem versuchen wir – da sind wir als Lokalredaktion sogar echte Vorreiter – möglichst viele Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen.
Hofmann: Dennoch darf man diesen Wechsel ins Lokale durchaus als Signal verstehen, dass das Pendel in beide Richtungen und wieder zurückschwingen darf. Aber das kann man nicht verordnen, sondern nur fördern – etwa, indem wir uns eine Kollegin mit der Seite Drei auf einer doppelten Stelle teilen. Die Idee kam übrigens von der Chefredaktion und beugt Stockwerksdenken vor.
Also Großkopferte, die sich für was Besseres halten?
Heidenreich: Die Silberrücken am Konferenztisch sind definitiv seltener geworden in den letzten 15, 20 Jahren, und das ist auch gut so.
Hofmann: Ein Prozess, den das Zusammenwachsen der Print- und Onlineredaktion beschleunigt hat. Das war ein echter – ohne dass es sozialistisch klingen soll – Gleichmacher.
Heidenreich: Wir haben vor einem halben Jahr den Podcast München persönlich gegründet, der mit exakt der gleichen Akkuratesse gepflegt wird wie die politischen Podcasts.
Aber wie ist es denn auf der horizontalen Ebene vor Ort: treten Ihre Lokalredakteur:innen gegenüber Kolleg:innen kleinerer Zeitungen bei den angesprochenen Gemeinderatssitzungen nicht manchmal großkopfert auf, weil man schließlich von der prächtigen SZ kommt?
Heidenreich: Interessante Frage, aber auf dem platten Land ist die SZ manchmal verglichen mit der Lokalzeitung gar nicht so wichtig, denn wir berichten ja nicht mehr über jede kleine Pressemeldung eines dort möglicherweise gewichtigen Amtsinhabers.
Aber aufregend ist schon, wenn die Süddeutsche vorbeikommt, oder?
Heidenreich: Allein durch die Höhe der Auflage genießen wir da ein gewisses Ansehen, das stimmt. Aber wie gesagt: Wir befinden uns nicht im Wettlauf um die größtmögliche Präsenz, sondern pflegen das, was wir als SZ mit digitaler Expertise am besten können. „Leuchtturmprojekte“ hört sich womöglich zwar auch wieder von oben herab an, aber sie stehen für das, was uns auszeichnet. Deshalb haben wir für unsere Kolleginnen und Kollegen ohne Redaktionsschließungen, aber durch beispielsweise Seiten, die von zwei benachbarten Redaktionen gemeinsam erstellt und eingehängt werden, Freiräume geschaffen, die sie nun für digitale Projekte nutzen können.
Dennoch ist das Arbeiten im Lokalen mit einer hohen Taktung wie in der Politik doch ein anderes als, sagen wir: im Feuilleton oder Wissen…
Hofmann: Ich bin 2000 von der Journalistenschule als Sportredakteur zur Süddeutschen Zeitung gekommen, und einmal im Jahr gab es die Redaktionsvollversammlung, wo immer die Klage geführt wurde, dass die Arbeitsbelastung im Lokalen so hoch sei. Das hab‘ ich mir ungefähr zehn Jahre lang angehört und meinte dann, im Sport ist die Arbeitsbelastung fast jeden Tag oft bis tief in den Abend genauso hoch.
Zuzüglich Wochenenden.
Hofmann: Jede Redaktion hat halt ihre Herausforderungen. Denken Sie an die Ministerpräsidenten-Konferenzen der Corona-Krise, wo das Politikressort bis spätnachts am Platz war. Weil wir jedoch gemerkt haben, dass diese Arbeitsbedingungen unsere eifrigsten Leute ausbrennen, haben wir in den letzten zwei Jahren gezielt darauf hingewirkt, sie – etwa durch Teilzeitmodelle und Freizeitausgleich – beherrschbar zu machen.
Mithilfe der ominösen Work-Life-Balance?
Hofmann: Ja, denn im Wettbewerb um die besten Köpfe müssen wir ihre Arbeit konkurrenzfähig organisieren. Dazu gehört allerdings auch, dass unsere Autorinnen und Autoren sich für ihre Geschichten die Zeit nehmen, die sie brauchen; nur dann sorgen sie auch im Digitalen für Zuspruch. Seit der thematische Vollversorgungsanspruch im Lokalen Geschichte ist, garantieren wir lieber, große Geschichten groß, wichtige Geschichten schnell und schöne Geschichten schön zu erzählen. Die Leute erwarten von uns gutes Story-Telling.
Alle Leute oder nur jüngere, während ältere noch etwas mehr am chronistenpflichtigen Lokaljournalismus früherer Jahre hängen?
Heidenreich: Alle, die auch alle von den Lesegewohnheiten der jeweils anderen profitieren.
Hofmann: Wenn wir, was unser Ziel ist, neue Leserschichten erschließen wollen, müssen wir diesen Weg gehen. Mit der Stadt hat sich ja auch ihr Umland radikal gewandelt. Weil Jahr für Jahr Zehntausende Menschen nach München ziehen, nimmt die durchschnittliche Verwurzelung ab. Dass jemand 30, 40, 50 Jahre in Feldkirchen wohnt, kommt inzwischen seltener vor, und dieser Fluktuation müssen wir gerecht werden.
Heidenreich: Weil sich die Lebens- und Arbeitswelten gewandelt haben, bilden wir sie seit langem schon urbaner ab, wozu auch gehört, das, was wir können, digital und analog gleichwertig zu verbreiten. Dafür wollen wir im Regional-Bereich auch eine Investigativ-Abteilung aufbauen, denn damit können wir dank unseres Ansehens ebenso punkten wie zum Beispiel in den Bereichen Gastronomie und Kulturberichterstattung.
Hofmann: Viele der Münchnerinnen und Münchner sind nicht mehr hier geboren, weniger als die Hälfte sind inzwischen in keiner kirchlichen Konfession mehr organisiert. Auf sowas muss man journalistisch eingehen.
Ohne die anderen 50 Prozent zu verschrecken.
Hofmann: Ja, wobei diejenigen, die wir schon haben, wahnsinnig treu sind und uns größtenteils durch alle Neuerungen folgen. Das hätte ich vorher nicht gedacht und das gibt uns viele Freiheiten, weniger verwurzelte Zielgruppen – etwa durchs Digitale oder Podcasts – zu gewinnen, um nicht hinter den Stand anderer Redaktionen zurückzufallen.
Wie sehr sind Sie beide denn in München verwurzelt?
Heidenreich: Ich bin in Bayern geboren, habe 1985 bei der Neuen Passauer Presse volontiert und arbeite seit 1996 bei der SZ, bin zwischendurch aber von Italien über Norddeutschland bis Ost-Berlin gut rumgekommen und spreche nicht mal Dialekt, wie Sie hören. Nach meiner Zeit im Politikressort und als Wochenendkoordinatorin wollte ich daher eigentlich auch gar nicht mehr unbedingt zurück ins Lokale, fühle mich hier jetzt aber sehr wohl.
Hofmann: Als Schüler habe ich bereits im Sublokalen der Würzburger Main-Post gearbeitet und kam 1995 an die Journalistenschule nach München, bin hier klassisch hängengeblieben, dann aber durch Themen wie Formel 1 oder Olympische Spiele ebenfalls viel rumgekommen.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht als Regional-Chefs denn da, dass Ihre Autorinnen und Autoren im eigenen Arbeitsumfeld verwurzelt sind?
Heidenreich: Man sollte die Leute schon kennen und auch ein bisschen mögen; das gilt ja in gewisser Weise auch umgekehrt. In München sind René und ich vermutlich bekannter als die Mantel-Chefredaktion und müssen uns entsprechend öfter mal sehen lassen. Deshalb war ich gestern auf der Gedächtnisveranstaltung mit Frank-Walter Steinmeier für die Weiße Rose und René beim Jahresempfang der Grünen.
Um zu berichten oder zu repräsentieren?
Heidenreich: Teils, teils, aber wenn wir irgendwo auftauchen, dann immer auch als Repräsentanten der SZ.
Könnte ein hervorragender Journalist aus Berlin oder Saarbrücken ohne Vorkenntnisse und Wurzeln über und aus Erding berichten?
Heidenreich: Klar, sofern er die Leute verstehen will und es auch kann. Buchstäblich! Denn obwohl ich selbst aus Bayern komme, war ich schon mal in Außenredaktionen und habe den harten Dialekt der Leute dort kaum verstanden (lacht).
Hofmann: Auch deshalb schickt die SZ all ihre Volontäre zum Lackmus-Test in die Landkreise, da gibt es dann beiderseits wundervolle Erfahrungen zu machen. Am Ende hängt es zwar immer vom Einzelnen ab, aber der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis ist Commitment mit der Region, den Menschen, ihren Themen.
Und wer sind dabei als Lokalteil Ihre Hauptkonkurrenten – kleine Kreiszeitungen, größere Regionalblätter, die Bild?
Heidenreich: Wir beobachten alles. Wenn wir zur Arbeit kommen, hat der MRB-Desk daher schon die erste Auswertung bayerischer Medien erstellt – aber nicht nur, um zu wissen, was die Konkurrenz macht, sondern um nachfolgende Berichterstattungen oder eventuell Kampagnen zu erspüren.
Hofmann: Wobei zur Konkurrenz nicht nur klassische Medien, sondern auch digitale zählen wie muenchen.de oder Instagram-Accounts, die besonders im Servicebereich interessante Sachen machen. Weil die wirtschaftliche Ausrichtung bei der Geschäftsführung liegt, sind wir dabei aber stets inhaltlich getrieben, also aus journalistischer Neugier. Unser Selbstbewusstsein ist groß genug, um zu sagen, dann setzen wir halt eigene Geschichten als andere weiterzuspinnen. Schon weil es nicht viele Quer-Leser gibt, die bei Bedarf eben eine andere Zeitung aus den stummen Verkäufern ziehen.
In denen Sie aber auch gar nicht immer liegen, oder? Am Bahnhof Berg am Laim jedenfalls gab es kein SZ-Fach…
Hofmann: Ausverkauft! (lacht) Wie immer!
Heidenreich: Wir überlegen noch, wie wir damit umgehen, dass die Zeit der so genannten Stummen Verkäufer zuende geht. Auch die Zeit der Abendverkäufer, die abends durch die Bars und Restaurants gingen und Charles Schumann ihn gleich mal fünf Exemplare abgekauft hat, ist vorbei. Denn das hat sich leider alles nicht mehr rentiert.
Hofmann: Die Herausforderung unserer Marke an diesem Ort besteht deshalb darin, sie trotz Digitalisierung sichtbar im Ortsbild zu halten. Früher funktionierte das über Leser mit Zeitung in der Tram oder Studierenden-Abos. Heute werden wir zwar von mehr Menschen als früher gelesen, aber auf dem Smartphone bleibt es halt unauffällig.
Und wie lautet der Ausweg?
Hofmann: Fahrgastfernsehen zum Beispiel in der Trambahn, in Bussen oder der S-Bahn, wo die Süddeutsche Zeitung – wie auch der BR – Nachrichten präsentiert. Oder auch Kulturveranstaltungen, mit denen wir uns im Gespräch halten.
Trauern Sie der Nostalgie sichtbarer Zeitungen und Abendverkäufer nach?
Heidenreich: Ach, wer wie ich mit Print groß geworden ist, hat da doch ständig nostalgische Gefühle.
Hofmann: Aber wenn du abends spät auf einem Termin warst und morgens früh siehst, wie viele Menschen den Text gelesen haben, oder wenn bei Instagram zu deiner Glosse über Wiesen-Plakate die Herzchen nur so aufploppen – das sind neue Freuden, die den Verlust der alten mindestens kompensieren.
Aber auch die Gefahr des Click-Baitings mit sich bringen, also Resonanz um der Resonanz willen…
Heidenreich: Das ist wie überall Teil einer permanenten Diskussion im Haus. Unser Grundsatz lautet da: Wir orientieren uns an Zahlen, machen uns aber nicht zu ihren Sklaven.
Hofmann: Wir alle hier, mich eingeschlossen, freuen uns doch, wenn unsere Inhalte goutiert werden. Aber wir alle haben auch einen inneren Kompass, Qualität von Quantität zu unterscheiden. Wichtig ist, dass das Bedeutsame auf jedem SZ-Kanal ausgespielt wird, wofür wir uns – auch wenn Ihnen das vielleicht wieder zu schön, um wahr zu sein klingt – dann entsprechend gemeinsam verantwortlich fühlen.
Und wofür fühlen sich alle hier in, sagen wir: zehn Jahren gemeinsam verantwortlich – die letzte große regionale Tageszeitung im Konkurrenzkampf mit ein paar Redaktionsgemeinschaften und Social Media?
Heidenreich: Untersuchungen in dieser Richtung führen regelmäßig zum Ergebnis, dass große Häuser wie die Süddeutsche bleiben, kleinere eher nicht. Aber um zu wissen, woran wir sind, wollen wir nun gemeinsam mit der Chefredaktion eine Perspektive für München-Region-Bayern 2030 erarbeiten. Denn am Ende ist alles davon abhängig. Auch, wohin jetzt schon Personal und Etats verschoben werden.
Hofmann: Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter. Aber im Moment steht unsere Zeitung sehr solide auf ihren zwei Standbeinen.
Und bleiben sie mittelfristig beim lokalen Standbein?
Heidenreich: Bislang habe ich im Berufsleben in regelmäßigen Abständen mein Themengebiet und die Ressorts gewechselt und empfehle das auch anderen, weil es einem selbst und dem jeweiligen Medium guttut. Weil mein Job hier als Ressortleiterin aber mit unglaublich viel Personal verbunden ist, etwaeinem Viertel der SZ-Belegschaft, und man alle gut kennen muss, um eine sinnvolle Personalpolitik mit entsprechendem journalistischen Output zu leisten, könnte es für mich hier aber auch ein bisschen länger dauern.
Hofmann: Als ich hier angefangen habe, hatte ich das Lokale kaum auf dem Schirm. Aber in den vier Jahren habe ich darin und davon so viel gelernt, dass ich die ganze Welt tagtäglich im Kleinen spannend genug finde, um damit weiterzumachen. Der Rennfahrer Gerhard Berger meinte mal, in der Formel 1 erlebe man in fünf Jahren so viel wie andere im Leben. Dieses Gefühl habe ich hier manchmal auch.
Alfred Döpfner & Claas Relotius
Posted: March 20, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
13. – 19. März
Der schlechtgealterte Best-Ager Mathias Döpfner sieht sich bekanntermaßen als allgewaltige Fügung deutsch-amerikanischer Publizistik, wenn nicht gar Gottkaiser an. Als solcher hat er jetzt entsprechend absolutistisch verfügt, sein Himmelreich auf Erden neu zu besetzen und die gesamte Bild-Chefredaktion entlassen. Nun fällt es dem vernunft- und empathiefähigen Teil der Weltbevölkerung naturgemäß schwer, Johannes Boie, Alexandra Würzbach oder Claus Strunz nachzutrauern, aber die Kaltherzigkeit, mit der Döpfner drei digitalaffine Demokratieverächter:innen durch zwei aus der papierraschelnden Printhistorie ersetzt, ist bemerkenswert.
Der Move, Marion Horn aus der PR und Robert Schneider vom Focus zu holen, um seinen Verlag zukunftsfähig zu machen – das scheint selbst für einen Springer-Boss, der dem alten NS-Steigbügelhalter Alfred Hugenberg längst näher ist als dem jungen Feuilletonspund Mathias Döpfner, verblüffend irrational. Mal sehen, wen er noch so auf die Kreuzberger Führungsetage lässt. Frei hätte zum Beispiel grad Michael Wendler.
Keine 24 Stunden nämlich, nachdem RTLzwei den verschwörungsschwurbelnden Ex-Schlagerstar mit einer Schwangerschafts-Dokusoap quersubventionieren wollte, hat man sie mit der zerknirschten „Entschuldigung, sollten wir hier Gefühle verletzt haben“, wieder abgeblasen weil – hoppla – irgendwer bemerkt haben muss, dass der Wendler ein verschwörungsschwurbelnder Ex-Schlagerstar ist. Aber darüber hatte die linksgrünversiffte Lügenpresse zuvor ja auch echt kein Wort verloren…
Springer-kompatibel wären selbstverständlich auch jene BBC-Verantwortlichen, die den beliebten Sportmoderator Gary Lineker für einen regierungskritischen, also nicht rechtsnationalen Tweet zu Großbritanniens menschverachtender Flüchtlingspolitik rausgeworfen und – hoppla – nach einer Reihe Kündigungen solidarischer Kolleg:innen plus Shitstorm – gleich wieder eingestellt haben. Verzichten muss Alfred Döpfner hingegen auf Louis Klamroth.
Der darf trotz seiner Beziehung zur Klima-Aktivistin Louise Neubauer weiter Hart, aber fair moderieren und lässt somit die Frage im Raum, ob seine Unabhängigkeit wohl auch in ebendie gestellt worden wäre, wenn er vorab erklärt hätte, täglich fünf Kilo Industriefleisch zu essen und sonst nichts ohne Palmöl. Ist aber eh alles egal, denn Im Westen nichts neues hat vier Oscars abgeräumt und ist damit der erfolgreichste deutsche (Netflix-)Film aller Zeiten.
Die Frischwoche
20. – 26. März
Dass Netflix auch anders, also richtig anders kann, zeigt derweil die RomCom Faraway um eine deutschtürkische Frau über 50, die ihr Leben im Eheknast spontan gegen den Freiraum einer geerbten Finca in Kroatien tauscht und damit ein kleines Juwel reifer Selbstermächtigung liefert. Die Agentenserie The Night Agent ab Donnerstag an gleicher Stelle scheint dagegen keiner Erwähnung wert zu sein.
Aus Skandinavien ganz neu auf Magenta TV: die seltsame Real-Fantasy-Serie Fenris um unsere Angst vor Wölfen, die Todesstrafen-Auseinandersetzung Cell 8 ab Donnerstag und bereits auf Arte online: Blackport, ein achtteiliges Gesellschaftspolitökonomiedrama aus dem Island der frühen Achtziger. Zwischendurch auf Paramount+: Sly Stallones Rückkehr als Mafioso Tulsa King in Oklahoma oder das niedliche Londoner WG-Experiment Flatshare und bei Apple, zum Dritten: Ted Lasso.
Bei joyn geht Freitag derweil die pubertäre, aber liebenswerte Große-Jungs-Youtube-Empowerment-Zote Intimate der Kleinen Brüder Bruno Alexander, Oskar plus Emil Belton in Serie. Und auf RTL schlüpft Katharina Thalbach in Raute und Blazer von Miss Merkel, die nach ihrer Kanzlerschaft nun also zur Ulknudel drolliger Landkrimis degradiert wird, was selbst die Mitschuldige an Klimawandel und Putinmacht nicht verdient hat.
Unweit ihres Brandenburger Comedy-Exils spielt der ARD-Mittwochsfilm Wolfswinkel, in der Claudia Eisinger ein Dorf rechts unterwandert, während das Erste mit der Promi-Presenter-Reportage Wir können auch anders ab heute nur good news verbreitet und Freitag einen vierteiligen Schritt zum Abgrund eines Stalking-Thrillers geht. Das Beste zeitgleich zum Schluss: Erfundene Wahrheit, ein Dokumentarfilm von Daniel Sager, der nach den Recherchen zur Ibiza-Affäre erneut unter seinesgleichen wühlt: in der Spiegel-Affäre um Claas Relotius. Und zwar brillant.
CVC, Unknown Mortal Orchestra, Assistent
Posted: March 19, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentCVC
Nostalgie ist ein Wadenwickel. Sie wärmt uns in der Kälte dieser frostigen Zeit und weckt dabei wenigstens den Anschein, Heilung zu bringen. Meistens ist das pure Autosuggestion, wirkt aber besonders dann wahre Wunder, wenn man sie als Vertonung angeblich besserer Zeiten anlegt. Das walisische Church Village Collective, kurz CVC, hat demnach fast therapeutische Wirkung, wenn es Sixties und Crooner mit etwas Britpop und Progressive Rock zu einer zukunftsweisend rückwärtsgewandten Symphonie verdickt.
Alles eigentlich bisschen zu altbacken, alles eigentlich bisschen sämig, alles eigentlich bisschen maskulin für einen Boomer-Sound mit GenZ-Potenzial. Aber wie Sänger Francesco Orsi, Bassist Ben Thorne, Schlagzeuger Tom Fry, Keyboarder Naniel Jones mit den zwei Gitarristen David Bassey und Elliott Bradfield auf ihrem Debütalbum Get Real bei den Beatles oder Supertramp wildern, um Oasis im Kakao von We Are Scientists zu verrühren – das ist einfach ganz große, ja fast schon berauschende Retro-Kunst.
CVC – Get Real (Cargo Records)
Unknown Mortal Orchestra
Ungefähr im selben Referenzspektrum bedient sich seit zwölf Jahren auch das Unknown Mortal Orchestra im Fundus antiquierter Klänge, um sie gegenwartstauglich zu amalgamieren. Wobei Orchestra – das klingt wuchtig nach XL-Proberaum und rappelvoller Bühne, was rein arithmetisch Quatsch ist. Der Neuseeländer Ruban Nielson allerdings schafft es in der Tat, sein Trio zum Dutzend aufzublähen und das Repertoire von CVC nochmals zu erweitern. Um eine Prise seiner hawaiianischen Ursprünge etwa.
So gerät das 6. Album mit dem drolligen Titel V zur nostalgischen Klangkollage, die noch nicht mal allzu aufwändig aktualisiert wurde, weil es Nielsen darum gar nicht geht. Der gitarrensoloversessene Small-Big-Band-Leader schafft es einfach abermals, amerikanische Westcoast mit ozeanischer Eastcoast so zu vereinen, dass selbst Folklore urban klingt und Kreuzfahrtschiff-Piano clubtauglich. Kleines Orchester, großer Anspruch, gewaltiger Spaß, wie immer halt beim UMO
Unknown Mortal Orchestra – V (Jagjaguwar)
Der Assistent
Und damit zu jemandem, dessen Retrostyle schon als Sänger der Hamburger Avantgardepopper Fotos einer Seele zu entspringen schien, die offenbar bereits im Grundschulalter Ü-40 war und auf Solo-Pfaden entsprechend überreif daherkommt. Der Assistent, so nennt sich Tom Hessler jetzt ohne Band, sediert das Werk seiner früheren Tage so virtuos mit analogem Lo-Fi und einer Prise Laid Back, bis es fast schon Wienerische Wattebäuschigkeit vermittelt, also ein bisschen an Bilderbuch erinnert.
Allerdings, ohne sich anzubiedern. Dafür ist sein selbstbetiteltes Debütalbum einfach auf zu lässige Art elegant und schön. Vom ersten der acht karibisch angehauchten Tracks an sendet er wie im Opener Signale “eine Botschaft, die Trost schafft” nach der anderen, gefolgt von je einer “Nachricht, der Nachsicht”, was nur oberflächlich nach Wortspielerei klingt. Tatsächlich entspringt die Platte einer inneren Überzeugung vom heilsamen Drang der Reduktion, dass man darin versinken will – und glücklicherweise auch kann.
Der Assistent – Der Assistent (Papercup Records)
Sebastian Fitzek: Literatur & Fernsehen
Posted: March 17, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch bin erkennbar-Speed-Boot-Fan
Sebastian Fitzek (Foto: Martin Kraft, CC BY-SA 3.0) hat 14 Millionen Bücher in 36 Sprachen verkauft und mit der RTL-Adaption seiner Auris-Reihe nun ein paar mehr davon werbewirksam am Bildschirm platziert – auch wenn er nur Co-Autor der eigenen Idee war. Ein Interview über forensische Phonetiker, erfolgreiche Psychothriller, druckreife Sätze und auf welchen Sinn er nicht verzichten könnte.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Fitzek, die Verfilmung vom Auftakt Ihrer Romanreihe Auris nimmt von der ersten Minute an Fahrt auf. Entspricht die gesendete Beschleunigung 1:1 der literarischen oder wird sie am Bildschirm nochmals hochgefahren?
Sebastian Fitzek: Es entspricht jedenfalls meiner Art zu arbeiten, aber auch der von Vincent Kliesch, mit dem ich Teil 1 ja noch sehr eng gemeinsam geplottet und geschrieben habe.
Hat Auris demnach Ihr persönliches oder eher typisches Thriller-Tempo?
Stephen King hat mal gesagt, beim Schreiben eines Thrillers gäbe es nur zwei Transportmittel: Speed-Boot oder Ozean-Dampfer. Ersteres setzt in Höchstgeschwindigkeit ab und fesselt damit pausenlos, letzteres dagegen langsamer, ist dafür bei voller Fahrt aber kaum noch aufzuhalten. Ich bin erkennbar ein Speed-Boot-Fan.
Auch als Konsument?
Auch als Konsument. Obwohl ich mir da eher mal gemächliche Thriller gefallen lasse.
Mittlere Bootsklassen, um im Bild zu bleiben, interessieren Sie als Autor gar nicht?
Doch. Wenn ein Thriller zum Psychothriller wird, darf er selbst über Hunderte Seiten hinweg zum Kammerspiel ohne Action oder Leiche geraten. Bei mir ist es nur so: Ich lese mir alles – ob Roman oder Drehbuch – immer laut vor. Und wenn dabei auffällt, dass ich Stellen schneller als nötig lese, streiche ich sie tendenziell raus. Erst durch Kürzung entsteht oft Spannung. Aber nur, weil ich Fan einer gewissen Ereignisdichte bin, haben Millionen andere Arten natürlich trotzdem ihre Berechtigung.
Das ist also kein Stil- oder Genre-Urteil?
Nein, es ist meine persönliche Präferenz. Weil ich mich selbst nicht langweilen will, lege ich daher schnell den Rotstift an. Ein großer Regisseur meinte mal, gute Filmszenen beginnen so spät wie möglich. So halte ich es beim Schreiben auch und glaube, das tut ganz gut.
Wo Frank Schätzing gerade die Serien-Verfilmung von Der Schwarm kritisiert hat…
Ach, hat er das?
Ziemlich offen und sogar ein bisschen wütend über die Mutlosigkeit des ZDF. Wie zufrieden sind Sie mit der Verfilmung von Auris bei RTL?
Ich finde es gelungen und die beiden Hauptdarsteller machen ihre Sache wirklich gut!
Wobei die Reihe zwar Ihre Idee war, aber das Werk eines anderen.
Na ja, ich wollte Auris zunächst als Hörspiel umsetzen, das ich mit Audible dann auch entwickelt habe. Aber weil mir mehrere Eisen im Feuer die Konzentration rauben, arbeite ich generell nur an einem Projekt zurzeit und hatte Glück, dass mein Kollege Vincent, den ich sehr schätze, angeboten hat, daraus auch noch Romane zu machen, die dann vom Hörbuch abweichen. Anfangs habe ich daran noch als Co-Autor mitgearbeitet.
Und dann?
Wurde ich von Teil zu Teil mehr zum Sparringspartner und bin sehr glücklich mit den Ergebnissen. Und letztlich wurde auch bei der Verfilmung mehr richtig als falsch gemacht: Schauspiel, Production Value, visuelle Ausarbeitung, also Look & Feel finde ich wirklich gut. Geradezu brillant finde ich dagegen, wie das akustische Empfinden der Hauptfigur Hegel in Szene gesetzt wurde.
Wie kommt man eigentlich auf die Idee eines forensischen Phonetikers? Ich wusste nicht mal, dass es so was gibt…
Ich auch nicht. Die Idee kam mir beim Telefonieren auf der Autobahn, als die Verbindung so schlecht war, dass ich nicht wusste, wer mich anruft. Da dachte ich, wie spannend es wäre, anhand von Geräuschen allein Rückschlüsse auf die Person am anderen Ende der Leitung zu ziehen. Über Recherchen habe ich mich dann ans Thema herangetastet und bin auf Fachleute gestoßen, die bei Geiselnahmen Stimm- und Geräuschanalysen vornehmen. Für Verfilmungen, insbesondere bei Thrillern, ist dieses sensorische Werkzeug perfekt.
Auf welchen Ihrer sieben Sinne könnten Sie als Mensch und Autor auf keinen Fall verzichten?
Das Sehen, unbedingt. Sätze, die ich schreibe, muss ich sehen und verändere sie deshalb beim Lesen am Computer. Leider fehlt mir nämlich die Gabe, schon im Kopf druckreife Sätze entstehen zu lassen.
Können Sie am Computer druckreife Sätze entstehen lassen, die sich automatisch zur Verfilmung eignen?
Das nicht, aber ich habe beim Schreiben Bilder im Kopf, die sich daher auch visuell leichter umsetzen lassen. Andererseits ahne ich oft schon beim Schreiben, wenn dies nicht der Fall sein wird, und schreibe es trotzdem hin, weil es für die Geschichte wichtig ist
Nehmen Sie dennoch Einfluss auf Verfilmungen?
Auch hier bestenfalls als Sparringspartner, der seine Meinung nur sagt, wenn er gefragt wird. Schließlich ist alles, was am Set passiert, eine Kunst für sich, die ich zu beherrschen mir niemals anmaßen würde. Ob Drehbuch, Casting, Ausstattung, Regie, Schnitt – niemand aus der zweiten Reihe sollte den Profis sagen, wie es läuft. Nur weil ich schon viele Fußballspiele gesehen habe, könnte ich – auch wenn 80 Millionen Trainer das vor jeder WM glauben – keine Nationalmannschaft aufstellen.
Schön, dass Sie den Gewerken hier mal Ihren Respekt zollen!
Klar, sie liefern auch meinen Romanen das Fundament funktionierender Verfilmungen. Ohne sie bricht alles zusammen! Jeder Film ist ein Kunstwerk, das aus Kunstwerken anderer Künstler und ihren Visionen besteht.
Welche Kunstform macht Ihnen mittlerweile den meisten Spaß – das Recherchieren, das Schreiben, das Verkaufen, das Lesen, das Podcasten, das Verfilmen lassen?
Recherchieren definitiv am wenigsten; es sei denn, mir kommen Aha-Erlebnisse wie beim forensischen Phonetiker. Mein Kollege und Freund Peter Prange sagt, am meisten Spaß mache ihm das Geschrieben-haben. Wenn etwas den Anschein erweckt, es könnte so ineinandergreifen, dass es funktioniert, bereitet mir schon das Schreiben ein gutes Gefühl. Ob es am Ende dann wirklich aufgeht, bleibt am Anfang aber immer nur eine Hoffnung.
„Auris – Der Fall Hegel“ und „Die Frequenz des Todes“, beide in der RTL-Mediathek
Jeanette Hain: Luden & leise Töne
Posted: March 12, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | 1 CommentEs bricht selten richtig aus mir heraus
Jeanette Hain (Foto: Susanne Schramke/Prime Video) ist die Schauspielerin der leisen Töne mit großer Wirkung. Ihre Prosituierte im Amazon-Sechsteiler Luden kann auch mal laut werden. Damit verleiht sie dem schillernd brutalen, explizit frauenfeindlichen St. Pauli der frühen 80er damit enorme Dringlichkeit – und Prime Video damit verblüffend bedeutsame Unterhaltung. Beides gilt auch fürs vorab bei DWDL erschienene Interview.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Hain, Sie sind im Münchner Speckgürtel aufgewachsen, also Lichtjahre vom Hamburger Rotlichtviertel der Achtzigerjahre, das Luden beschreibt.
Jeanette Hain: In Neuried, total dörflich.
Was hatten Sie seinerzeit für ein Bild von St. Pauli?
Oh Gott, als Kind war ich dort viel zu sehr mit Baumhausbauen beschäftigt, um einen Bezug zum Kiez zu entwickeln. Ich bin ihm einfach niemals begegnet. Und falls doch mal ein Funke zu mir aufs Land geflogen ist, war er für mich überhaupt nicht greifbar.
Wenn das Traumschiff vom Hamburger Hafen in See gestochen ist, haben Sie es in ZDF aber schon gesehen?
Auch nicht. Bis ich mit 15, 16 erstmals in Berlin war und mich sofort darin verliebt hatte, waren Stadt und Land für mich getrennte Planetenkonstellationen.
Was war denn dann Ihr Blick auf diese weit entfernte Galaxie, bevor Sie Luden gedreht haben?
Ich habe einmal mit Hermine Huntgeburth neben Martin Brambach dort gedreht und hatte mal zwei, drei Drehtage in der legendären „Ritze“ mit Boxring im Keller, durfte das also live erleben. Dort spürt man zwar noch den Herzschlag vergangener Jahrzehnte, kriegt ihn aber kaum zu fassen. Bei aller Neugier nehme ich mir daher nicht heraus, diesen Kosmos zu bewerten.
Sondern?
Versuche mit Achtung und Respekt langsam einzutauchen. Dieses Erspüren durch Annäherung ist mir durch viele Dokumentationen jener Zeit hoffe ich gelungen, also nicht wie bei Aaron Hilmer der aus Hamburg stammt, aus eigener Erfahrung, sondern reiner Beobachtung.
Ist das grundsätzlich ihre schauspielerische Herangehensweise?
Schon. Aber ich sehe es so, dass wir – ob als Menschen oder als Schauspieler – viele fremde Räume in uns tragen, aber noch nie betreten haben. Bei der Suche nach passenden Schlüsseln helfen dann die Geschichten der Menschen dort, ihre Erzählungen und Bilder. Wenn ich ihn dann gefunden habe, wird in mir oft etwas geweckt, was gar nichts mit Schauspielerei zu tun hat, sondern dem Gefühl, wie viel meiner Rollen ohnehin in mir stecken. Also auch von Jutta.
Was genau verbindet Sie denn mit dieser gealterten Sexarbeiterin mit Drogenproblem?
Ein Alleinsein, das nichts mit Einsamkeit zu tun hat. Ich bin mit Anfang 20 Mutter geworden, mein Sohn ist 31, meine Tochter 16. Trotzdem habe ich als Frau fast immer alleine gelebt und war, wie Jutta, auf der Suche nach Geborgenheit, Miteinander, Gemeinschaft mit Leib und Seele, ohne dass mein Leben schlecht gewesen wäre. Das verbindet uns.
Wobei Jutta unglaublich verzweifelt wirkt.
Absolut, das war ich nie, habe mich aber auch nicht annähernd in einer Situation wie ihrer befunden, mit jahrzehntelanger Heroin-Abhängigkeit und weggegebener Tochter. Zugleich aber teilen wir Grundbedürfnisse, die man auch an so verschiedenen Orten hat wie Jutta und ich.
Obwohl Jutta eine durchsetzungsfähige, selbstbewusste Frau dieser männlich dominierten Zeit war, war sie aber doch immer auch ein Objekt anderer und dadurch stets getrieben.
Dass andere über sie bestimmen, ist mir in der Tat fremder. Aber das Gefühl von Abhängigkeiten oder Unfreiheit kenne ich natürlich trotzdem – wenngleich nicht in solchem Ausmaß. Dem nachzugehen, sich ihm hinzugeben, wächst beim Spielen fast automatisch. Wichtig ist, seine Figuren im Ganzen aller Aspekte zu sehen, ohne sie zu verurteilen.
Dass Jutta trotz allen Elends, in dem sie sich befindet, immer leise bleibt – ist das da die Drehbuchfigur oder deren Darstellerin, von der man ebenfalls kaum laute Töne hört?
Es bricht in der Tat – ob vor oder abseits der Kamera – selten richtig aus mir raus. Jutta hat es sich in ihrer Situation zwar eingerichtet, lässt sich aber trotzdem nicht alles gefallen und begehrt auf, auch wenn das nicht zu grundliegenden Veränderungen führt. Die übernimmt dann ihre Tochter, obwohl der Kiez auch von ihr Besitz ergreift und versucht sie leiser zu machen.
Was an Ihrer Rolle auffällt, ist wie sehr Sie sich dafür seelisch, aber auch körperlich entblößen. Waren Sie je zuvor in einer Rolle nackter als bei dieser?
Seelisch versuche ich immer nackt zu spielen. Körperlich erinnere ich an Arbeiten mit Dominik Graf zum Beispiel oder zuletzt Faking Hitler – nur nicht in dieser Intensivität.
Was macht das mit einer Schauspielerin, sich physisch wie psychisch so auszuziehen?
Ich finde, wenig. Am Anfang hat die Regisseurin uns geraten, alles fallenzulassen wie in den freizügigen Achtzigern. Was mir dabei hilft, ist dass ich beim Drehen gar keinen Plan, kein Bild von mir habe, sondern nur die Rolle bin. Ob die angezogen ist oder splitternackt, verändert demnach kaum etwas für mich, solange Nacktheit etwas erzählt. Dann beschreibt sie Zustände, die von Bedeutung sind. Wir Menschen setzen uns aus so vielen Puzzleteilen zusammen – da gehört Nacktheit einfach dazu.
Es sei denn, sie wird selbstreferenziell, also voyeuristisch?
Genau, aber das spürt man ja schon beim Lesen des Drehbuchs, so wie man jedem Dialog anmerkt, ob er inhaltlich bedeutsam ist oder nicht. Aber obwohl mir Nacktheit normal erscheint, muss ich mich dann auch nicht ausziehen…
Oder nach dem Sex nur mit Bettdecke überm Dekolletee aufstehen, wie im prüden Hollywood…
Stimmt, wobei auch das eine Bedeutung haben kann, sofern es etwas über die Beziehung aussagt, in der es ja trotz Sexualität verklemmt zugehen kann. Bei Luden jedenfalls ging es nie darum, etwas über die Zurschaustellung ihrer Zeit hinaus zu entblößen. Das macht die Serie so gut.
Was machen Sie denn nach so einer intensiven Rolle voller Gewalt jeder Art – müssen Sie da erstmal mit einer Romantic Comedy detoxen oder sind im Gegenteil gestählt für die wirklich harten Stoffe?
Detoxen nein, harte Stoffe ja. Denn je länger ich über die Serie nachdenke, desto klarer wird mir, dass solche Serien nötig sind, um Tabus zu brechen. Deshalb erzählen wir die Geschichte in all ihren Facetten. Nur so kann man sich mit den Figuren identifizieren, und uns aus unseren Mustern lösen. Die Serie lässt schon wegen ihres Humors viel Raum für konstruktive Gedanken. Auch bei mir.
Döpfners Millionen & Körners Unbeugsame
Posted: March 6, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
27. Februar – 5. März
Um es trotz und wegen aller Polemik mit der akkuraten Menge Zynismus festzuhalten: jeder journalistische Arbeitsplatz birgt ein menschliches Schicksal, das Solidarität, Zuwendung und Schutz bedarf, aber nicht jeder journalistische Arbeitsplatz ist erhaltenswert, womit wir bei Welt und Bild wären. Beide Blätter haben sattsam Erfahrung damit, menschliche Schicksale so zu manipulieren, dass sie – sorry, fürs billige Wortspiel – in(s) Welt-Bild passen.
Erstere zum Beispiel empfand palästinensisches Leben vor 40 Jahren offen als unwert, was bei der Bild für praktisch alle Lebensformen abseits von der erhofften Kaufzielgruppe gewissensreduzierter Populismusfans gilt. Wie also soll man all jene, die ihr Gewissen am Axel-Springer-Platz 1 parterre abgeben, mit Solidarität, Zuwendung, Schutz versorgen? Gar nicht, liebe Springer-Bagage! Wer dem Teufel ins Rektum kriecht wie die schreibende Gauleitung des Gossenjournalismus, stinkt nicht nur schwefelig, er verdient die Arbeitslosigkeit.
Wenn Mathias Döpfner an euch nun 100 Millionen Euro spart, damit sein Konto mittelfristig die Zehnstelligkeit entert, könnt ihr die freie Zeit vielleicht dafür nutzen, in euch zu gehen, Buße zu tun, Schweigekloster vielleicht oder mal ein paar Wochen im Flüchtlingslager helfen. Alles besser als der Dreck, den ihr sonst in die Welt kübelt und damit schlimmer seid als Rupert Murdoch, der wenigstens zugibt, wie sein rechtes Pöbelforum Fox News nach der US-Wahl 2020 Lügen verbreitet hatte.
Dass Sean Hannity, Jeanine Pirro oder Maria Bartiromo dafür rausgeflogen sind, ist im Gegensatz zum RBB-Programmchef Jan Schulte-Kellinghaus freilich nicht überliefert, der nun durch die (vorerst) unbescholtene Martina Zöllner ersetzt wird. ARD und NDR haben währenddessen die Serienloser vergangener ESCs durch eine Band namens Lord of the Lost ersetzt, die sich im Mai um den letzten Platz bewirbt. Viel Erfolg dabei!
Die Frischwoche
6. – 12. März
Wenig Erfolg dürfte nach Wochen verheerender Kritik normalerweise die lineare Ausstrahlung von Der Schwarm ab heute im ZDF haben, aber deutsche Zuschauer sind mindestens ebenso merkwürdige Wesen wie das Nord- und Ostseegetier, dem der Naturfilmer Thomas Behrend parallel für die ARD-Reihe Erlebnis Erde: Unserer Meere nachgeschwommen ist. Unsere und überhaupt alle weiblichen Wesen dürften zwei Tage später dagegen gern im Zentrum aller Kanäle stehen.
Am Weltfrauentag allerdings haben sich die meisten davon fürs alltägliche Regelprogramm entschieden, weshalb der Bachelor zur Primetime RTL-Sexismus kultiviert und selbst Arte nur ein Re:-Plätzchen vor acht für feministische Themen (Frauenmorde) bereithält. Immerhin zeigt 3sat um 20.15 Uhr Torsten Körners herausragende (Un-)Gleichberechtigungsdokumentation Die Unbeugsamen über Politikerinnen der ersten fünf BRD-Jahrzehnte und wie die Herren der Schöpfung sie darin bekämpft haben.
Selbstgerechte, graue, misogyne, lächerliche, aber mächtige Typen übrigens, die auch den italienischen Sechsteiler Und draußen die Nacht bevölkern, mit dem Arte in seiner Mediathek parallel eines der folgenschwersten Attentate der europäischen Nachkriegsgeschichte nachstellt: Den Mord am Christdemokraten Aldo Moro, der 1978 ein Bündnis mit der kommunistischen Partei eingehen wollte. Ähnlich historisch: Der Reichstagsbrand, dem Arte linear zugleich einen Schwerpunkt widmet. Und damit zur Fiktion dieser Woche.
Heute startet Magenta TV die Biopic-Miniserie Becoming Karen Blixen. Mittwoch zeigt Netflix die liebenswerte, aber bisweilen seichte Late-Coming-of-Age-Dramedy Faraway um eine deutsch-türkische Frau auf Selbstfindungstrip. Bei Paramount+ läuft ab Donnerstag die sechsteilige Romanze Love Me, während die Sky-Serie Christian zeitgleich Mystery mit Mafiosi verbindet und In Search of Tomorrow tags drauf fünfmal die Geschichte der Science-Fiction erzählt. Unwissenschaftliche Fiction zum Schluss: Bernd Münchow als Thirtysomething in der dreiteiligen Neo-Komödie Like a Loser und die nächste Paartherapie, diesmal: Familie Anders, ab Sonntag mit wechselnden Promi-Patient:innen im ZDF.
Macklemore, Gruff Rhys, OY
Posted: March 4, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentMacklemore
Dass die Welt, in der wir leben, verrückt geworden ist, darüber dürfte nirgendwo mehr ein Zweifel bestehen. Aber es liegt nur noch teilweise darin, dass – in den Worten von Chris Rock – der beste Golfer Schwarz sei und der beste Rapper weiß. Schließlich haben Tiger Woods und Eminem ihren Zenit überschritten. Doch während die besten Golfer wieder Weiße sind, ist es der beste Rapper auch, nur ein anderer: Macklemore. An der Seite von Ryan Lewis, aber auch solo – wie sein fabelhaftes Solo-Album BEN aufs Neue belegt.
Anders als der Reimstapler Marshall Mathers macht Ben Haggerty zwar weniger emblematischen HipHop. Seine Wort-Kaskaden sind dafür origineller instrumentiert und sinfonischem Pop näher als der reinen Lehre, aber so ausgeklügelt, dass sie unter 10.000 Samples und Field-Recordings, den Wokeness- und Pride-Fanfaren aller Ecken der Weltmusik ihre Stellung behaupten. Bestes Beispiel: die Single Heroes ft. DJ Premier – ein Feuerwerk aus orientalem Dub und Westcoas-Rap, der ebenso von den Füßen reißt wie No Bad Days zuvor. Schlechte Tage hat man mit dieser Platte nicht.
Macklemore – BEN (ADA/Warner)
Gruff Rhys
Soundtracks sind normalerweise selten empfehlenswert. Zu selten nur wirken sie eigenständig, also vom visuellen Kontext völlig entkoppelt, aber bei Gruff Rhys’ Score zu Charlotte Gainsbourgs Drama The Almond And The Seahorse machen wir mal eine Ausnahme. Gemeinsam mit dem National Orchestra of Wales nämlich hat deren Landsmann und Ex-Sänger der Super Furry Animals die ergreifende Beziehungsgeschichte einer Archäologin und einer Architektin zum Meisterwerk der Stimmungsschwankungen gemacht.
Das Repertoire reicht von eleganten Cello-Sonaten (Skyward) bis experimentellem HipHop (The Brain and the Body), von Alternative-Pop (Sunshine and Laughter Ever After) bis Electro-Clash (People Are Pissed), von Gaga-LoFi (Amen) bis Crooner-Rock (I Want My Old Life Back). Und immer transportiert es die Aura des Gezeigten ebenso eletang wie die des Gehörten. Weil Soundtracks längst monochrome KI-Konstrukte sind, ist dieser hier also endlich mal wieder wirklich der Rede wert.
Gruff Rhys – The Almond And The Seahorse (Rough Trade)
OY
Beim polyphonen Berliner Ethno-Expermintal-Duo OY ist es dagegen ein bisschen umgekehrt. Keyboarderin Joy Frempong und ihr drummender Produzent, sprechender Nom de Paix: Melodydreamer, machen seit zehn Jahren Soundtracks, denen der Film zu fehlen scheint. So ist es auch mit World Wide We, ein Titel der seine Vielfalt bereits im Namen trägt. Das Album ist eine so liebenswerte Sammlung verschrobener kleiner und großer Melodien, dass die fehlenden Bilder dazu vorm inneren Auge ablaufen.
Und das Interessanteste: obwohl ihr Fokus so sehr auf der Kompilation aller Tonabfolgen, die der Welt so innewohnen, zu liegen scheint, haben sämtliche 15 Stücke alle Zeit dieser Erde, globale Sorgen anzusprechen, Identitätspolitik zum Bespiel, strukturelle Benachteiligung, Neoimperialismus – all die Fehlentwicklungen des nationalstaatlichen Kapitalismus, denen sich einst die so genannte Weltmusik widmen musste. Jetzt machen es OY. Und es klingt fantastisch wie das World Wide We, von dem sie träumen. Träumt bitte weiter!
OY – World Wide We (Mouthwatering Records)
Christoph Waltz: Tarantino & The Consultant
Posted: March 2, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: Uncategorized | Leave a commentIch sehe mehr gute als böse Jungs
Auf Leinwand ist Christoph Waltz (Foto: Michael Desmond/Amazon) ein Weltstar, am Bildschirm kaum zu sehen. Die Amazon-Serie The Consultant könnte das ändern. Seit Februar spielt der Wiener darin seine Paraderolle: einen manischen Menschenmanipulierer. Ein Interview über Soziopathen, Fernseher, Ängste und was er nach der Morgenzeitung gern täte.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Waltz, haben Sie im früheren oder vielleicht sogar im späteren Leben öfter Videospiele gespielt?
Christoph Waltz: Ein, zweimal vielleicht, und ich fand sie so furchtbar langweilig, dass ich nie in Gefahr geraten bin, mich daran zu gewöhnen. Meine persönliche Erfahrung mit dem Thema dieser Serie ist demnach sehr limitiert.
Und wie sieht Ihre Erfahrung mit den Großraumbüros des Computerspiel-Herstellers aus, den Sie als Unternehmensberater nach dem Tod des Besitzers radikal umstrukturieren?
Ähnlich. Ich habe auch noch nie wirklich im Büro gearbeitet, bin diesem System glücklicherweise also früh entflohen.
Haben Sie darüber hinaus denn schon mit übergriffigen Chefs wie The Consultant Regus Patoff gearbeitet?
Natürlich, wer hätte das nicht in meinem Alter. Aber davon unabhängig imitiere ich für meine Rollen generell weder reale Figuren noch eigene Erfahrungen, sondern spiele das, was aufgeschrieben wurde. Und Regus Patoff ist schon deshalb gar kein übergriffiger Chef, weil Übergriffigkeit immer auch mit den Perspektiven der Betroffenen zu tun hat und wer dazu beiträgt oder sie erst ermöglicht.
Es geht in The Consultant also gar nicht um toxische Arbeitgeber, sondern toxische Arbeitsbedingungen im Hamsterrad der New Economy?
Dem könnte ich nicht mehr zustimmen! Und aus dramaturgischer Sicht sorgt Patoffs Störung missbräuchlicher Arbeitsverhältnisse durch meinen Unternehmensberater sogar dafür, dass sie vielleicht weniger toxisch werden. Gerade im digitalen Hamsterrad der New Economy würde ich mir wünschen, dass es mehr unorthodoxe Leute wie ihn gäbe, die den digitalen Gleichschritt aller Beteiligten analog ein bisschen durcheinanderbringen.
Für Sie ist Patoff also gar nicht der Schurke, den seine diabolische Art mutmaßen lässt?
Nein.
Aber schon eine Figur mit soziopathischer Persönlichkeitsstruktur, die mehrere Ihrer Erfolge als Schauspieler kennzeichnet?
Ich möchte nicht respektlos klingen, aber wenn Sie auf meine Karriere zurückblicken und nur Schurken sehen – gut. Wenn ich auf diese 45 Jahre zurückblicke, sehe ich sogar mehr gute als böse Jungs – wobei letztere natürlich zwar oft interessanter, vielschichtiger und lebhafter sind; aber wenn Sie in dieser Figur etwas Diabolisches sehen, sagt das am Ende mehr über Sie als über mich und die Serie (lacht).
Die nach Most Dangerous Game vor zwei Jahren Ihre erste seit dem ARD-Klassiker Parole Chicago ist…
(lacht herzlich) Das ist doch mal eine schöne Erinnerung, die Serie muss vom Ende der 70er stammen! Most Dangerous Game betrachte ich dagegen eher als – nicht besonders funktionierendes – Experiment eines in 15 Stücke zerteilten Filmes, an dem mich die Form mehr interessiert hat als der Inhalt. Weil ich meine bevorzugte Erzählform – das Drama – immer vom Ende her denke, unterstelle ich Serien oft, es bloß herauszögern. Damit spreche ich Ihnen nicht die Gültigkeit ab, sie wecken nur selten mein Interesse.
Klingt, als wenn Sie nicht nur selten Serien drehen, sondern auch sehen…
Ich mache hiermit ein Geständnis: Ich besitze gar keinen Fernseher und schaue zwar das eine oder andere am Computer, aber auch das eher ungern.
Und was hat Sie dann an dieser hier überzeugt?
Der Autor. Tony Basgallup. Normalerweise vertraue ich, in den Worten von D. H. Lawrence, der Geschichte mehr als ihrem Erzähler. Hier war es umgekehrt. Trotzdem hat sie mich nach dem Lesen der Pilotfolge sofort reingezogen.
Angesichts einer so vielschichtigen Figur kein Wunder, die zwar bedenkenlos Leute entlässt, aber sich vorm Treppensteigen fürchtet. Wovor haben Sie Angst?
Ängste sind immer situations- und altersabhängig. Als junger, zumal männlicher Mensch, bei dem sich der frontale Kortex nur verzögert entwickelt, hat man ja vor allem, was einen am 40. Geburtstag plötzlich entsetzt, überhaupt keine Angst. Aber selbst der fürchtet letztlich ja den Tod. Warum sollte ich da anders sein?
Sind Sie generell ein ängstlicher Typ?
Wenn ich sehe, was in der Welt gerade alles schiefläuft – sehr sogar! Sobald ich die Zeitung öffne, möchte ich eigentlich sofort zurück ins Bett und mir die Decke über den Kopf ziehen.
Haben Sie auch Angst vor Einflussverlust? In Ihrer ersten Streaming-Serie als Hauptdarsteller sind Sie zugleich Executive Producer. Klingt nach persönlicher Qualitätskontrolle…
In gewisser Weise ist es das auch, wenngleich mein Einfluss eher formeller als praktischer Art ist. Ich bin zwar ein bisschen mehr in die Kommunikation eingeklinkt und ein bisschen behilflicher als Schauspieler, die morgens zum Set kommen und abends wieder gehen. Mehr Macht will ich aber schon deshalb nicht, weil mich zunächst interessiert, was der Autor beabsichtigt. Für mehr bin ich viel zu sehr mit dem Spielen meiner Rolle beschäftigt.
Die es als The Consultant mit einer weiteren Meta-Ebene zu tun kriegt: Dem Bedürfnis, der Nachwelt etwas zu hinterlassen, was womöglich größer ist als das Leben selbst.
Allerdings eine Meta-Ebene unter vielen, ja.
Was würden Sie der Nachwelt – auch wenn es noch lange hin ist – gern hinterlassen.
Meiner unmittelbaren zunächst keine Schulden, aber die Nachwelt flicht Mimen keine Kränze oder wie man Neudeutsch sagt: Augen auf bei der Berufswahl. Ich kann mir daher aber kaum vorstellen, dass die künftige Filmgeschichte nicht genügend neue Alternativen bereithält, um mich und meinen Namen in Vergessenheit geraten zu lassen.
Immerhin setzen Sie sich am Ende der Serie ein kleines Vermächtnis, wenn Sie Frank Sinatras My Way singen und damit an ihre eigenes Gesangsstudium anknüpfen.
Und wie Sie da hören, hatte es einen tieferen Sinn, dass mir der Prüfer nach bestandener Aufnahmeprüfung an der Musikakademie in Wien seinerzeit sagte, da hätte ich aber Glück gehabt, weil – „so schön haben Sie jetzt nicht gesungen“. Damit hatte er möglicherweise nicht Unrecht.