Fernsehquerdenker & Rollergirls

Die Gebrauchtwoche

19. – 25. April

Puh. Also. Hmm. Sagen wir mal, auf dem Weg vom We Love to Entertain You zum We’d like to Inform You ist noch reichlich Luft nach oben. ProSieben mag mit Jan Hofer, Linda Zervakis oder Matthias Opdenhövel gerade öffentlich-rechtliches Fachpersonal fürs Journalistische horten – was Thilo Mischke und Katrin Bauerfeind der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock direkt nach ihrer Nominierung am vorigen Montag im Exklusiv-Interview abverlangt haben, war – hüstel – doch eher gut gemeint als gelungen.

Natürlich kann ein bisschen frischer Wind das Info-Genre ähnlich auflockern wie Jörg Kachelmanns Blumenkohlwolken einst den Wetterbericht. Aber ob man den siegreichen Teil einer grünen Doppelspitze fragen muss, ob sie nicht im Duo mit Robert Habeck antreten wolle, ob ihr der Arsch auf Grundeis gehe und Eierstöcke vonnöten seien, vom Applaus am Ende ganz zu schweigen – nun ja… Aber wie ARZDF auf die Hoffnungsträgerin vom Trampolin reagiert haben, lässt auch nichts Gutes bezüglich der Überparteilichkeit befürchten.

Selbst Claus Kleber behandelte Baerbock so zahm, dass Caren Miosga in den Tagesthemen als einzige jenen Biss zeigte, der sie weiter östlich ins Fadenkreuz demokratiefeindlicher Regime rücken würde. Während die Pressefreiheit in Russland, Polen, Ungarn stirbt, ist diesbezüglich aber auch Deutschland abgerutscht. Für Reporter ohne Grenzen sie nur noch gut statt zufriedenstellend. Während der Journalismus vielerorts unter staatlichem Sperrfeuer steht, wird er hierzulande allerdings eher vom rechten Pöbel angegriffen.

Ach ja, und von Jan Josef Liefers. Unterm Hashtag #allesdichtmachen brachte er 52 Kolleg*innen dazu, ulkige Videos gegen die Corona-Politik zu drehen. Vorgeblich wollte der diktaturerfahrene Dresdner mit seiner „Ironie“ gegen „die Medien“ den Meinungskorridor erweitern; doch produziert vom populistisch auffälligen Konrad A. Wunder wühlen TV-Stars von Wotan Wilke Möhring bis Ulrich Tukur (weibliche von Heike Makatsch bis Ulrike Folkerts ziehen ihre Videos grad reuig zurück) so tief im Verschwörungssumpf, dass es Applaus nur von der AfD und ihrer SA aus Pegida, Querdenkern, Bild-Zeitung hagelt.

Bis auf Liefers, der sich bei 3 nach 9 zuschalten ließ und die BRD im WDR-Interview unterschwellig mit der DDR gleichsetzte, offen debattiert haben nur Gegner der Aktion wie Kida Khodr Ramadan, die meisten der Allesdichtmacher*innen allerdings ließen Presseanfragen unbeantwortet und origineller noch: ihre Kommentarspalten gesperrt. So viel zum Thema, man wolle zu einer offenen Debatte anregen.

Die Frischwoche

26. April – 2. Mai

Leider kann man sich nicht mehr wünschen, sie landen alle bei Promis unter Palmen: die heutige Fortsetzung hat Sat1 nach einer Reihe homophober Mobbing-Skandale abgesetzt. Ist eh interessanter, zeitgleich den ZDF-Film Das Versprechen zu sehen, in dem Regisseur Till Endemann gleich zwei soziokulturelle Tabuthemen behandelt: Alleinerziehende Väter und männliche Depression – beides eigentlich rein weiblich besetzt Themen, also für Schauspielerinnen wie Tanja Wedhorn.

In der zweiten Staffel Fritzie wächst das Telenovela-Pflänzchen parallel im ZDF weiter zum ernstzunehmenden Schauspielbaum heran. Jan Josef Liefers dürfte das alles zu modern sein, weshalb wir ihm hier lieber das konventionelle Vorwende-Melodram Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution empfehlen. Leicht ostalgischer Pathos – genau sein Stil. Und im Anschluss deckt sein Soulmate Maria Barth bei RTL auf.

Für Leute mit mehr Geschmack als Sendungs- und Marketingbewusstsein und gäbe es folgendes: Die spanische Magenta-Serie Alive and Kicking, in der ab Dienstag vier verhaltensauffällige Teenager aus der Psychiatrie fliehen und sich selbst entdecken. Ebenfalls im Coming-of-Age-Spektrum mit unerwartetem PoC-Faktor spielt ab Freitag die amerikanische Netflix-Serie Concrete Cowboy, bevor Neo (23.25 Uhr) den französischen Zehnteiler Derby Girl aus der französischen Rollerball-Szene zeigt. Und zwischendurch verpflanzt der Psychothriller Things Heard & Seen ein New Yorker Ehepaar am Donnerstag in ein Vorstadthäuschen, das sich als House of Horrors entpuppt – alles wie das SciFi-Stück Voyagers (Freitag, Amazon) garantiert Liefersfrei.

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Internat. Music, Dinosaur Jr., Eydís Evenson

International Music

Wenn man Ja, Panik und Wanda mit viel Bilderbuch in den Dampfgarer schmeißt und einen Löffel Tauchen Prokopetz darunter rührt, müsste das eigentlich klingen, als entstünde das Mahl in Wien, also tendenziell sehr weit südlich vom Ruhrgebiet. Dabei kommt die Austropopband der Stunde aus Essen, wird aber auch nicht ganz zufällig in Ostberlin produziert. Dort hat das weltbeste Label Staatsakt vor ein paar Jahren International Music entdeckt, und ihr zweites Album belegt, warum es die aktuell weltbeste Gitarrenrockband ist. Mindestens.

Wie auf Die besten Jahre vor drei Jahren, nur noch viel facettenreicher, leuchte Peter Rubel, Pedro Goncalves Crescenti und Joel Roters mit der klassischen Instrumentierung den Resonanzraum des bombastischen Minimalismus bis in den hinterletzten Winkel aus und entdecken dort Klangstrukturen, von denen niemand geahnt hätte, wie geordnet das Chaos klingen kann. Gitarre, Schlagzeug, Bass, Gesang, bisschen Keyboards und deutschsprachiger Postpunk hat den steinigen Weg von der NDW zur Hochkultur endgültig geschafft.

International Music – Ententraum (staatsakt)

Dinosaur Jr.

Weil die hinterletzten Winkel bombastisch minimalistischer Resonanzräume aber auch mal anstrengend sind, lohnen sich gelegentliche Abstecher auf jene Lichtungen populärer Musik, die schon immer unkompliziert und angenehmm gut beleuchtet waren. Von Dinosaur Jr. zum Beispiel. Seit 1984 singt Joseph Donald, genannt J, Mascis mit seiner querzerkratzten Wiegenliedstimme davon, wie sehr ihm das Leben zu schaffen macht. Wenn er dazu wie immer die Indie-Klampfe scheppern lässt, klingt das fast 40 Jahre später also schwer angestaubt – und sowas von schön!

Postrock ist längst Alternative ist längst Grunge ist längst Crossover ist längst in 1000 Richtungen mal zarter mal harter Riffs zerfasert, aber J, Bassist Lou Barlow und Drummer Murph machen weiter das, was sie halt machen, nur faltiger als zuvor auf dem Dutzend Platten zuvor. Die neueste heißt Sweep it into Space und abermals schafft das Trio den Spagat zwischen breitbeinigen Gitarrensoli und androgyner Selbstbeschränkung mit einer melancholischen Fröhlichkeit, die im Sitzen mitreißt.

Dinosaur Jr. – Sweep it Into Space (Jagjaguwar)

Eydís Evensen

Und damit wir zwischen ziemlich neu und ganz schön alt, zwischen irgendwie eigensinnig und eigenartig vertraut, zwischen Dadapop und Indierock noch ein paar Zwischentöne setzen, kommt hier etwas aus dem Herzen orchestraler Kammermusik: Island. Hoch im Norden der Insel, wo die Sommer kurz sind und die Winde rau, hat Eydís Evensen das Klavierspielen gelernt und später in London oder New York zur Perfektion gebracht. Wenn eine Isländerin Klassik macht, klingt das allerdings wie selbstverständlich völlig anders als im großen Saal der Elbphilharmonie, wenn er denn wieder öffnet.

Ihr Debütalbum Bylur ist eine Ode an die Natur, vertont mit dem sinfonischsten aller Instrumente, aber mit urbanem Gespür für Ästhetik und Sound. Aufgenommen von Valgeir Sigurðsson im Greenhouse Studio, wo der ortsansässige Komponist bereits mit Björk oder Ben Frost produzierte, mäandern die 13 Stücke stilistisch durch Fjorde und Gletscher, klingen aber stets auch nach Reykjavík, dem heißesten Hotpot atmosphärischer Popmusik. Postklassisches Piano für Hirn und Herz denaturierter Stadtbewohner – extrem wohltuend.

Eydís Evensen – Bylur (XXIM Records)


Prinz Philip & Brennpunkt Wedding

Die Gebrauchtwoche

12. – 18. April

Sieben. Was nach einem Drama von David Fincher klingt, ist die Zahl der Sender, denen das Begräbnis von Prinz Philip Übertragungen wert war, Spitzenmeldung bei Tagesschau und heute inklusive. Das Ableben eines Greises, der seine Privilegien, den Reichtum, all die feudale Selbstherrlichkeit auf Usurpation entrechteter Untertanen, Völker, ganzer Nationen begründet, sollte das Jahr 2021 zwar pietätvoll verschweigen, aber gut: zuvor hatte sich Prinz Marcus von Anhalt, Herzog zu Sachsen und Westfalen, mit Drittnamen nicht zufällig Adolf getauft, auf Sat1 so homophob geäußert, dass es die Woche verachtenswerter Aristokratie in den Medien war.

Zumindest in solchen, die Jan Böhmermann tags zuvor im ZDF Magazin Royal als erlogenen Auswurf skrupelloser Verlage entlarvte oder wie er ihn nennt: Quantitäts-Journalismus. Mit dem nämlich belügen Bauer, Burda, Funke, Klambt ihr Publikum nach Strich und Faden, bis auch die Reputation des Qualitäts-Journalismus an den Abgrund des demokratiefeindlichen Rechtspopulismus gerissen wird. An dieser Stelle sind wir gar nicht weit weg von der neofeudalen Kleptokratie unzähliger Unionspolitiker*innen, denen die Schlammschlacht zwischen Armin Laschet und Markus Söder sehr gelegen kam.

Seit sich die Alpharüden der strukturkorrupten CDU/CSU öffentlich um den Eisernen Thron zanken, ist von Maskendeals bestechlicher Mandatsvergewaltiger nicht mehr die Rede. Die Presse liebt nun mal den aktuellen, nicht verachtenswertesten Skandal, weshalb der kleinere um Elke Lehrenkrauss ins Feuilleton der Zeit abgewandert ist, wo die Filmemacherin dem NDR-Redakteur ihrer inszenierten Doku Lovemobil eine Teilschuld zuschob. Der habe sie vernachlässigt. Einmal nur sei er vorbeigekommen. „So baute sich keine vertraute Atmosphäre auf“, sagt Lehrenkrauss.

Lügen wegen Unterbehütung? Muss man auch erst mal drauf kommen. Worauf vor kurzem auch noch niemand gekommen wäre: dass der oder die grüne Spitzenkandidat*in heute nicht ins Hauptstadtstudio von ARZDF zum Antritts-Interview geht, sondern – kein Scherz: zu ProSieben. Aber da gehen neben Baerbock/Habeck ja jetzt auch Leute wie Linda Zervakis hin…

Die Frischwoche

19. – 25. April

Auch interessant: es ist abgesehen von Joko & Klaas gegen ProSieben am Dienstag das einzig bemerkenswerte Angebot der Woche beim Entertainmentkanal. Fast schon uninteressant: Stattdessen bestimmen Streamingdienste das Geschehen. Etwa TNT, wo Özgür Yıldırım nach 4 Blocks die nächste Berliner Kiez-Serie liefert. Herausragend an Para ist dabei nicht nur, wie authentisch seine Hauptfiguren die Sehnsucht des Brennpunkts Wedding nach Krümeln vom Kuchen der Wohlstandsgesellschaft suchen. Herausragender ist, dass es vier erfrischend derbe Frauen sind, die hier im (klein)kriminellen steilgehen.

Nachdem Martin Freeman ab morgen als verklemmter Bibliothekar der Sky-Liebeskomödie Ode to Joy die Richtige sucht, hört Christoph Maria Herbst als vereinsamter Pädagoge Tilo Neumann zwei Tage später bei Now auf innere Stimmen, um sein tristes Dasein umzukrempeln. Zeitgleich wandert derselbe Hauptdarsteller vom gleichen Portal zu RTL, wo Der große Fake mit anschließender Doku zur Wirecard-Story im Free-TV läuft. Tags drauf gibt es mit der Netflix-Serie Shadow & Bone Fantasy-Futter für Fans der Roman-Trilogie Legenden der Grisha, während Sky mangels ausreichender Kino-Auswertung bereits Christopher Nolans Lockdown-Meisterwerk Tenet zeigt.

Anything else? Nicht viel. Ab Freitag (23.30 Uhr) unterhält sich der Berliner Schauspieler Daniel Donskoy in der WDR-Latenight Freitagnacht Jews ausgerechnet am Ruhetag Schabbat mit Glaubensbrüdern und -schwestern über jüdisches Leben in Deutschland. Zwei Tage, nachdem ProSieben die bedrückende SuperGau-Serie Chernobyl fortsetzt, zeigt Arte am Mittwoch um 20.15 Uhr seine themengleiche Dokufiktion Die letzten Tage Luxemburgs. Und Freitag zeigt der Kulturkanal die ganz und gar wunderbare Christina Hecke beim nächsten Einsatz als Kommissarin Mohn der Krimi-Reihe In Wahrheit. Darüber hinaus bieten die realen Krimis vom Führungsstreit der Union bis zum Kampf der Inzidenzwerte aber ja schon genug reales Entertainment.


Haiyti, Mädness, Low Island

Haiyti

Über Ronja Zschoche alias Haiyti alias Germanys Best Trap-Model alias Mischung aus Nina Hagen, Falco und Haftbefehl ist eigentlich schon alles gesagt, seit die Hamburgerin dem Gangsta-Rap vor drei Jahren ein Feuer aus gewaltzem HipHop und Autotune-Kaskaden unterm Hintern machte. Jede Punshline seither: brillant. Jeder Track: gefeiert. Jedes Album: noch gefeierter.  Viel neues zu erzählen gibt es also selbst dann nicht übers Alleinerziehendenkind aus St. Pauli, wenn ihre Schmusestimme eine neue Plattenrille zerkratzt.

Trotzdem kann man Mieses Leben aber natürlich nicht einfach so an sich vorüberziehen lassen. “Oh mein Gott / ich grüße alle meine Dealer aus dem Block”, spachtelt sie in OMG über dronige Attacken aufs Harmoniegefühl “ich bin anscheinend doch mehr Smoke als Pop / alles funkelt aber düster in meim Kopf”. Damit wäre alles gesagt, was auch dieses Album so grandios macht: Der permanente Kontrast des falschen Lebens im Falschen, verdichtet auf 18 Stücke, die tieftraurig euphorisieren.

Haiyti – Mieses Leben (Hayati Records)

Mädness

Und gäbe es, was selbstverständlich nicht der Fall ist, ein männliches Äquivalent, das dem ghettofeministischen Multilayer-Zeugs von Haiyti auch nur annähernd das Wasser reichen könnte, wäre es vermutlich Mädness. Nicht ganz so streetcredible Herkunft (Darmstadt), aber ähnlich eigensinnige Genrezersetzung, rappt sich De Gude Hesse Marco Döll durch sein siebtes Album Mäd Love, als wäre sein Stil ein Zuckerbäckerladen mit brennender Mülltonne vorm Tresen und gelegentlichem Drive-by-Shooting in der Gummibärchenecke.

Kein Rapper mit dieser Ausstrahlung schafft es hierzulande, Agonie und Aufbruch glaubhafter in Reime zu kleiden. Hier verteilt er beide Mittelfinger an Faschisten, Antisemiten, Nationalisten, dort nennt er seine Grundzufriedenheit meinen größten Erfolg, gern schlendert er mit Mojo-Samples durch die Plattenbausiedlung und verortet sich entsprechend überall und nirgendwo. “Sie nennen es conscious nennen es Cro nenn’es Erwachsenen-Rap”, spricht er zum Auftakt in 2 Cent, “nenne es wie du willst / ich nenne es immer noch das was ich mach bis zuletzt”. Mach weiter!

Mädness – Mäd Love (Mädness/Groove Attack)

Low Island

Und einfach, weil wirs können, wird an dieser Stelle mal so mit dem Prinzip der stilistischen Grunstruktur gebrochen, dass völlig ironiefrei auf hochpolitischen Sprechgesang säuseliger Britpop folgt, der ohne Witz auch noch aus Oxford stammt, also irgendwie Ruderrennen und ondulierte Hecken atmet, die Leadsänger Carlos Posada allerdings gleich im ersten Stück des Debütalbums knapp unter Hüfthöhe mit der Kettensäge stutzt. Schon die konfusten Drums darunter zeigen, dass man auch hier seinen Ohren nicht trauen sollte. Und dann…

Dann folgend elf Tracks, in denen die englische Band alles Britpoppige so hinreißend schräg mit Synths aus dem Hecksler Marke Dubstep zerdeppert, dass Paul Weller die Trommelfelle bluten. Dass If You Could Have It All Again ihr Publikum dennoch unversehrt lässt, liegt dabei am Achtziger-Sound, der immer wieder tiefenentspannt durch die Disharmonien wandert und ein Album komplettiert, dass Haiyti vielleicht doch näher ist als Oasis.

Low Island – Don’t Let The Light In (Emotional Interference)


Haltungswut & Tonis Welt

Die Gebrauchtwoche

5. – 11. April

Nee, nee – Rezo, dieses neue Video war kein Geniestreich. Seit deiner legendären CDU-Zerstörung giltst du zu Recht als Stimme einer wütenden Vernunft, der die Generationen X bis Z gleichermaßen zuhören. Dein Furor war faktenbasiert, der Jugendslang altersaffin. Jetzt aber zerhackst du gewohnt hochfrequent die Corona-Politik der Bundesregierung, doch so richtig und wichtig das ist: globalisierte Netzvokabeln wie ranten und wack und shady und was weiß ich in die Glasfaser zu keifen, ersetzt nicht das, was du eigentlich am besten kannst: verwertbare Informationen mit einer Mischung aus Wut und Haltung in die Köpfe zu dreschen.

Diesmal jedoch flog definitiv zu viel Geifer am Headset vorbei, diesmal warst du einfach zu zornig, um Nachhaltigkeit zu erzeugen. Und das ist angesichts deiner Kontrahenten, call them Feinde, die falsche Strategie. Von denen nämlich gab es auch in der vorigen Woche zu vernehmbare. Den BR-Komiker Helmut Schleich zum Beispiel, der sich im SchleichFernsehen schwarz angemalt hat, um einen afrikanischen Sohn von Franz Josef Strauß zu karikieren. Blackfacing! Im Jahr 2021! Und das auch noch beispiellos humorfrei!

Der öffentlich-rechtliche Rassismus ist aber nur halb so schäbig wie die Reaktion des Senders. Eine BR-Sprecherin verteidigt Schleichs AfD-Humor ja damit, „künstlerische Freiheit“ sei „ein hohes Gut, lotet aber manchmal auch Grenzen aus“ und die Aufgabe der Satire, „Dinge überspitzt darzustellen“. Gut, überspitzen wir’s mal so: Helmut Schleich ist ein Rassist, und wo wir beim Überspitzen sind: Hendrik Streeck ein Querdenker, weshalb es zwar überraschend war, dass der „Virologe“ seinen RTL-Podcast mit der „Journalistin“ Katja Burkart nach nur zwei Folgen aus „Termingründen“ einstellt, aber ein Grund zur Freude.

Das gilt indes nicht dafür, dass Linda Zervakis nach zehn Jahren die Moderation der Tagesschau abgibt – schon, weil Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung zur Hauptsendezeit jetzt wieder fest in blutsdeutscher Hand ist. Apropos Diversität: Nachdem die Sendung der Vorwoche mit The Mole auch schon eine Dokumentation war, ist der Tipp auch diesmal sachlicher Art.

Die Frischwoche

12. – 18. April

In Schwarze Adler schildert Thorsten Körner ab Donnerstag bei Amazon Prime das bizarre Schicksal farbiger Fußballnationalspieler, seit mit Erwin Kostedde in den Siebzigern erstmals einer mit dem titelgebenden Vogel auf der Brust spielte. Dabei sammelt der renommierte Medienjournalist nicht nur ergreifende Geschichten betroffener PoCs, sondern erstellt die Milieustudie einer Nation, die bis heute auf der Suche nach ihrem Umgang mit Andersartigkeit ist.

Mit weniger Realismus versucht das auch ein Spin-Off der Serienlegende Club der roten Bänder. In Tonis Welt kauft sich ein ehemaliger Stations-Insasse mit Asperger-Syndrom das Großelternhaus seiner Freundin mit Tourette-Syndrom. Auch, wenn die achtteilige Selbstbehauptungs-Dramedy ihren Diversitätshumor ab Mittwoch oft überzieht, entsteht daraus ein Dorfporträt von ähnlicher unterhaltsamer Wahrhaftigkeit wie Mapa. Voriges Jahr glänzte das Schicksal eines Witwers mit neugeborenem Baby bei Joyn+, Samstag ist es frei zugänglich in der ARD-Mediathek zu sehen.

Die Neustarts der Woche derweil im Schnelldurchlauf: Heute startet bei Sky die HBO-Superheldinnenserie The Nevers, eine Art retrofuturistischer Spionage-Mystery im viktorianischen Zeitalter. Ähnlich nostalgisch wirkt die Science-Fiction der Joyn+-Serie Strange Angels ab Donnerstag. Parallel dazu lässt Magenta eine Gruppenreise schwererziehbarer Jugendlicher in die Berge so eskalieren, dass Wild Republic nach zwei Folgen an Herr der Fliegen erinnert. Tag drauf startet Disney+ seinen Highschool-Basketball-Dreiteiler One Shot. Samstag porträtiert Judd Apatows fiktives Biopic The King of Staten Island auf Sky den Standup-Komiker Pete Davidson als Feuerwehrmann. Und bevor der dokumentarische Fünfteiler Interview mit einem Serienmörder die Woche bei Starzplay abschließt, empfehlen wir das fünfteilige 3sat-Porträt Wie ein Fremder am Samstag, 20.15 Uhr. Sechs Jahre hat der Filmemacher Aljoscha Pause dafür den Musiker Roland Meyer de Voltaire begleitet, dessen Band Voltaire 2005 als kommende Superstars gehandelt wurde, dann aber in sich zusammenbrach.


Merab Ninidze: Dr. Ballouz & Caroline Link

Filme sind nun mal Quatsch

Merab Ninidze stammt aus Georgien, lebt in Wien und ist seit dem KZ-Drama Hasenjagd von 1994 ein Star der stilleren Art, die ihn über Caroline Links Nirgendwo in Afrika zur HBO-Serie Homeland führte. Dass er nun den ZDF-Arzt Doktor Ballouz spielt, könnte ein Rückschritt sein – wäre sein seelenwunder Klinikchef nicht völlig anders als die meisten seiner Kollegen. Der 55-Jährige über Fernsehquatsch, Zeitkonten, seinen Akzent und wo er sich am heimischsten fühlt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Ninidze, der erste Satz von Doktor Ballouz beginnt mit den Worten „Ich schaff‘ das nicht!“. Hat sich ein deutscher Fernseharzt zum Einstieg schon mal so klein gemacht?

Merab Ninidze: Vermutlich nicht, aber ich bin auch kein Experte für Arztserien. Genau dieses Understatement gefiel mir jedoch sofort an der Rolle. Er ist zunächst mal Mensch, dann Mediziner.

Was unterscheidet ihn noch vom Rest seiner Branche im Fernsehen?

Sein völliger Mangel an Oberflächlichkeit. Ballouz ist komplett echt und unverstellt, schaut jedem in die Augen, ist nicht nur neugierig, sondern gelegentlich philosophisch und ergänzt das Fachliche ein bisschen spirituell, wie er mit seiner toten Frau redet. Das ist abgesehen von seiner Herkunft einmalig und soll auch kein Trick der Drehbuchautorin sein, um ihn interessant zu machen, sondern die Zustandsbeschreibung eines emotional verwirrten Mannes, dessen Schmerz unerträglich scheint.

Was in deutscher Fernsehfiktion weder sonderlich männlich noch sonderlich ärztlich ist.

Aber dafür sorgt, dass er sich gut mit seinen Patienten identifizieren kann, deren wesentlicher Grund, Ärzte aufzusuchen, ja genau das ist: Schmerzen, Ängste, Existenzängste, zuweilen Todesängste. Darin liegt ein wesentlicher Grund dafür, dass Dr. Ballouz so wenig Wert auf Äußerlichkeiten legt, ob er also überhaupt wie ein erfolgreicher Chefarzt rüberkommt.

Ist es Ihnen wichtig, äußerlich wie ein erfolgreicher Schauspieler überzukommen?

Nein! Die Arbeit ist mir wichtig, die Entscheidung darüber, überlasse ich dem Publikum. Und Dr. Ballouz spricht ja auch nicht in dieser medizinischen Fachsprache, dafür fühlt er sich dem Leid seiner Patienten einfach zu nah.

Aber da liegt doch der Fehler im System. Von Stations- und Chefarzt über Gynäkologe und Psychologe bis hin zu Seelsorger und Personalchef ist Dr. Ballouz nahezu alles und zwar mit einem schier unerschöpflichem Zeitkonto, aus dem er ständig lange Einzelgespräche schöpft. Das ist doch völliger Quatsch.

Klar, aber Filme sind nun mal Quatsch! Das dürfen sie auch sein; wir erzählen ja Geschichten, keine Dokumentationen, allerdings im Rahmen der Wirklichkeit, sonst wären es Märchen. Bei den Regieanweisungen von Andreas Menck, der die ersten drei Folgen gemacht hat, habe ich öfter gesagt, Ballouz müsste doch wie jeder Mensch mal irgendwas Egozentrisches, Unangenehmes haben. Da meinte er: Nein. Unser Krankenhaus mag realistisch sein, aber Ballouz ist Meister Yoda. Sie wissen ja, woher ich stamme.

Ursprünglich aus Georgien.

In dem Land hatten Mediziner genau diesen Status. Es waren zwar keine Wunderheiler, aber für alles zuständig. Sie mussten daher auch alles einigermaßen gut können. Gynäkologen und Zahnärzte in einem, kein Problem. Hier mag das ein wenig märchenhaft klingen, aber so was gibt es.

Rührt seine innere Ruhe dabei eigentlich auch aus ihrer Persönlichkeit her? Man kennt Sie eigentlich nur so tiefenentspannt…

Glauben Sie mir, ich habe auch wildere Rollen gespielt, und weil es so wenige waren, liegen sie mir auch sehr am Herzen. Aber klar, ich würde mich selbst auch als ruhigen Menschen bezeichnen, der sich zwar schnell mal aufregt, aber umso schneller wieder beruhigt. Angesichts dessen, was ich in meinem Leben bereits durchgemacht habe, war das auch wichtig, um mich nicht zu verlieren. Und das strahlt natürlich auch auf meinen Rollen ab.

Die selten etwas wirklich Leichtes, gar Heiteres haben.

Dabei war ich als junger Mensch ein Clown, der Schauspieler geworden ist, weil er die Leute zum Lachen bringen konnte. Schon interessant, dass ich sie in dieser Serie eher zum Weinen bringe (lacht). Wichtiger an dieser Figur ist aber, Kranken die Angst zu nehmen. Dafür sind Ruhe und Herz unerlässlich. Deshalb – noch mal zurück zur Frage nach dem Realismus.

Ja?

Vielleicht sollten wir Dr. Ballouz nicht als wirklich, sondern wünschenswert sehen. Gerade in unserer Zeit könnte es inspirierend sein, dass da jemand in dieser Position nicht an Macht und Geld interessiert ist, sondern seinen Mitmenschen. Damit hat er auch in mir was Verborgenes, fast Archaisches geweckt – das Bedürfnis ganz pur, ehrlich, rein zu sein. Das ist in einem metaphysischen Beruf wie meinem, wo man ständig jemand anderes ist, heilsam.

Interessanterweise wird die Herkunft von Dr. Ballouz zumindest bislang kaum thematisiert. Spielt sie auch im weiteren Verlauf keine Rolle?

Ganz zu Anfang gab es mal die Idee, das zu tun. Mich hat das nicht nur deshalb erschrocken, weil ich selber aus Georgien stamme, sondern weil mir das so egal vorkommt. Ja, er hat einen Akzent, heißt anders als Müller und erwähnt manchmal, dass in seiner Heimat Krieg herrscht, aber was würde es der Geschichte bringen, das zu vertiefen? Am Ende hätte es von der persönlichen Geschichte, die wir erzählen, in eine Richtung abgelenkt, über die ohnehin zu viel geredet wird. Erinnern Sie sich an die Szenen in der Klinikkapelle?

Wo Dr. Ballouz gern mal seine Pausen verbringt?

Beim Drehen dort habe ich mal gefragt, welche Religion er eigentlich hat. Da haben zwar alle gelacht, aber niemand wusste die Antwort, einfach weil es egal ist. Das ist es bei meinen Rollen sonst anders. Bis auf Nirgendwo in Afrika von Caroline Link, wo ich ein deutscher Jude war, spiele ich ja ausschließlich irgendwie ausländische Figuren. Da fand ich es toll, wie wenig bedeutsam mein Hintergrund hier ist.

Spielt dieser Hintergrund in Ihrem Alltag denn eine Rolle?

Zuhause nicht, aber sobald ich im Supermarkt bin, natürlich schon. Bis heute neige ich dazu, mich dort für sprachliche Lücken zu entschuldigen. Das bleibt für einen Migranten wie mich wohl immer so. Aber das ist kein großes Problem, ich habe mich eigentlich fast nie diskriminiert gefühlt. Und wenn doch, versuche ich es nicht ernst zu nehmen.

Wo fühlen Sie sich nach je einer Hälfte Ihres Lebens in Georgien und Österreich oder Deutschland denn heimisch?

Ich bin sehr gerne in Berlin, das vermisse ich am schnellsten, wenn ich woanders bin. In Georgien fühle ich mich mittlerweile fremder als in Österreich, das mir mein Leben gerettet hat.

Inwiefern?

Durch die Arbeit entwickeln sich Netzwerke und persönliche Kontakte, die in der Mehrzahl in den letzten Jahren in Deutschland entstanden sind. Aber wissen Sie, wo ich mich am heimischsten fühle?

Na?

Bei Dreharbeiten!


Gesundheitsdoku & Dokumaulwurf

Die Gebrauchtwoche

29. März bis 4. April

Während eine sprunghaft steigende Zahl Einzelfälle der strukturkorrupten CDU/CSU die Pandemie zur Selbstbereicherung mit medizinischem Material nutzt, während Querdenkende aller Herren Lager dem Pflegepersonal ins Gesicht spucken, während ihm der bürgerliche Rest ab und zu mal gönnerhaft vom Balkon zuklatscht, hat Pro7 am Mittwochabend einmal mehr allen gezeigt, wohin sich Anstand und Ethik des Privatfernsehens verkrümelt haben.

Statt um 20.15 Uhr zweimal 9-1-1-Notruf L.A. und Seattle Fire Fighters zu zeigen, räumte der kleine Bruder von Sat1 seine Primetime für eine Reportage aus dem Uniklinikum Münster. Durch den Wackelblick ihrer Bodycam führt die Pflegerin Meike Ista vom Morgengrauen an sieben Stunden unsichtbar durch ihren Arbeitsalltag, während Kolleg*innen anderer Einrichtungen im Splitscreen schildern, wie kaputt das Gesundheitssystem ist, wie unterbesetzt, überlastet – und wie das Personal darin auf applaudierende Balkons pfeift, sofern man ihnen endlich Respekt, Geld, Zeit, Anerkennung spendet.

TV

Obwohl das Hauptprogramm an Ereignislosigkeit kaum zu unterbieten war, verbuchte ProSieben gut zwölf Prozent, in der Zielgruppe gar 17,2 Prozent Quote – gegen Fußball auf RTL und das Märchen eingefahrener Sehgewohnheiten, die angeblich ständiger Reizüberflutung bedürfen. Die qualitativ wie quantitativ abgestürzte Sendermutter Sat1 landete unterdessen mit Bullshit-Fernsehen à la Claudias House of Love in der Publikumsgunst hinter Nitro im Promillebereich.

Kurz, bevor Hape Kerkeling so auszusehen beginnt wie Jens Riewas Vater, hat RTL ihn wie zuletzt 2015 in Let’s Dance für einige Shows und Serien verpflichtet. Noch während sich der Komiker Helmut Schleich allen Ernstes das Gesicht dunkel färbte, um einen afrikanischen Sohn von Franz-Josef Strauß zu spielen, hagelte es Rassismusvorwürfe an den BR. Und nachdem CEO Julia Jäkel so auszusehen begann wie Sabine Christiansen, verlässt sie G+J, wo künftig ihr Vorstandskollege Stephan Schäfer (46) daran mitarbeiten wird, Bertelsmann mit RTL zu fusionieren.

Die Frischwoche

5. – 11. April

Ob das etwas daran ändert, wie belanglos der Ex-Marktführer ist? Schwer zu sagen. Aber in dieser Woche ist das Bemerkenswerteste die Intelligenzverachtung Pocher vs. Influencer ab Mittwoch. Zwei Tage zuvor macht es ZDFInfo: Für seine Frontaldoku The Mole schickte der dänische Filmemacher Mads Brügger den arbeitslosen Koch Ulrich Larsen nach Nordkorea, wo er mit dem falschen Milliardär „Mr. James“ illegale Waffendeals einfädelt. Das ist fast zu bizarr, um wahr zu sein, aber von der ersten bis zur 120. Minute so real, dass es schmerzt.

Gleiches gilt auf leichterem Niveau für einen Film der New York Times, die nun auch beim Streamen mitmischt. Framing Britney Spears porträtiert den weiblichen Megastar der Boygroup-Ära ab heute auf Amazon als selbstbestimmtes Opfer einer misogynen Branche, die es gezielt in den Abgrund gerissen hat. Ebenfalls auf der Sachebene gutgemacht dürfte der Late-Night-Ausflug des Podcasters Tommi Schmitt (Gemischtes Hack) sein. Ab Donnerstag leuchtet sein Studio Schmitt die Schnittmengen von Realität und Fiktion aus.

0-Frischwoche

Eine Schnittmenge, die auch Ralf Husmanns neuester Streich, bei dem das Lachen im Halse steckenbleibt, ab Donnerstag auf TVNow liefert: Mirella Schulze rettet die Welt acht Teile lang in Gestalt eines 13-jährigen Quälgeistes, der nicht nur optisch an Greta Thunberg erinnert, sondern zum Leidwesen ihrer Umgebung inklusive lokalem Chemiekonzern und eigener Familie auch noch ständig Recht hat mit ihrem Einsatz fürs Klima. Bei AppleTV trifft Oprah Winfrey dafür Mittwoch eine leibhaftige Freiheitskämpferin: Amanda Gorman.

Der Rest in Stichworten: Tom Hanks brilliert heute auf Sky als Der wunderbare Mr. Rogers. In der SyFy-Serie Resident Alien leben Außerirdische ab Donnerstag unter uns. Der Neo-Zwölfteiler Dead Pixels karikiert Freitag eine britische WG unverbesserlicher Gaming-Nerds. Und schon, weil es so selten ist: Doktor Ballouz hat tags zuvor mit der medizinischer Realität zwar so viel zu tun wie das Querdenker-Kuscheln der Stuttgarter Polizei mit Recht & Ordnung, aber einen so schön traurigen Chefarzt, hat die ZDF-Medizin noch nie gesehen.


Thorolf Lipp: Lovemobil & Wahrheit

Das ist ein echtes Problem

Die NDR-Prostitutionsdokumentation Lovemobil hat Protagonist*innen durch Schauspieler*innen ersetzt und damit einen Streit über Fakes im Sachfilm entfesselt. Ein Gespräch mit dem Filmemacher und Ethnologen Dr. Thorolf Lipp (48), der seit Jahren im Vorstand der AG DOK sitzt, von 2015 bis 2019 Sprecher des Deutschen Medienrates war und sehr strikte Ansichten über die Inszenierung der Wirklichkeit hat.

Interview: Jan Freitag

Herr Lipp, wann haben Sie erstmals die Dokumentation Lovemobil, für die Elke Margarete Lehrenkrauss Darsteller*innen als Prostituierte und Freir eingesetzt hat, ohne es zu kennzeichnen?

Thorolf Lipp: Tatsächlich schon bevor publik wurde, dass Frau Lehrenkrauss mehrere Protagonist*innen durch Darsteller*innen ersetzt hat. Und jetzt wollen Sie von mir bestimmt wissen, ob man das sehen konnte.

Konnte man?

In der Dreiviertelstunde, die ich aus Zeitgründen nur sehen konnte, fiel mir als Dokumentarist und Kameramann auf, wie extrem der Film ästhetisiert, also dass die Bilder sehr sorgfältig kadriert sind, bewusst mit Licht gearbeitet wurde, Dialoge spielfilmreif sind. Es fehlten erzählerische Unebenheiten, die für offene Formen des Dokumentarischen typisch sind und Apologeten des direct cinema wie Klaus Wildenhahn oder Frederick Wiseman in Kauf nehmen, statt etwas nachzustellen. Das macht es den an Spielfilmdramaturgie gewöhnten Zuschauer*innen aber mitunter schwermachen, sich im Film zurechtzufinden.

Ist dieses direct cinema identisch mit dem cinéma verité?

Nein. Das direct cinema ist rein beobachtend und postuliert, dass man Wirklichkeit unverfälscht abbilden kann. Das kann man, muss man aber nicht so sehen. Das cinéma verité vertritt die gegenteilige Auffassung, dass nämlich in dem Moment, wo ein Film gedreht wird, nichts wichtiger ist als der Umstand, dass ein Film gedreht wird. Sobald ich die Kamera anschalte, verändert sie die Wirklichkeit.

Also ist das Cinema Verité der aufrichtigere Ansatz des Dokumentarfilms?

Es ist vor allem der intellektuell anspruchsvollere und steht insofern im diametralen Gegensatz zu Dokumentarfilmen, die den Prozess des Erzählens nicht thematisieren oder sogar wie im Fall von Lovemobil bewusst verschleiern. In unserer komplexen, anstrengenden Welt will man sich von Spielfilmen ablenken lassen. Im Kino boomt im Grunde ausschließlich Illusionskino von Star Wars über Herr der Ringe bis Avengers. Diese erzählerischen Mittel, aber auch die glatte Oberfläche ohne die genannten Unebenheiten, erwartet der Zuschauer heute auch vom Dokumentarfilm, der deswegen mehr und mehr dem Spielfilm gleicht. Das ist ein echtes Problem.

Inwiefern?

Jeder Dokumentarfilmemacher weiß, dass es nicht reicht, die Kamera hinzustellen und Aufnahme zu drücken. Das ergibt keinen Film, sondern ein Dokument von vielleicht archivarischem Wert. Wer hingegen einen Film machen will, auch einen Dokumentarfilm, irrealisiert die Welt durch Verdichtung. Jeder Film ist also eine Ver-Wirklichung mit Mitteln der Kunst. Darüber herrscht Konsens in der Dokumentarfilmtheorie. Über den Grad an Inszenierung und Verdichtung kann man dann trefflich im Detail streiten. Hier aber ging es um etwas anderes: Es ging um die bewusste Lüge und Täuschung des Zuschauers, dem vorgegaukelt wird, echte Menschen mit echten Geschichten kennenzulernen, während es sich um bezahlte Darsteller*innen handelt. Dies wurde nicht kenntlich gemacht.

Das geht gar nicht?

Nicht in dieser Form! Nicht in dieser Zeit! Solche Lügen tragen massiv zur Erosion des Vertrauens in die Medien bei, und in einer Welt ohne Medienvertrauen macht das Dokumentarische als Genre keinen Sinn. So ein Fake beschädigt willentlich und wissentlich die Übereinkunft zwischen Filmemachern und Zuschauern einer erkennbaren Trennung dokumentarischer und fiktionaler Formen. Das Problem ist aber, dass diese Form der Dramaturgie und Ästhetik beim Zuschauer, bei Festivals und Kritikern gut ankommt. Im Grunde haben alle Profis bei der Bewertung des dokumentarischen Gehaltes versagt, was zeigt, wie weit auch in der Branche die Grenzen der Trennschärfe inzwischen verschoben sind. Dass das ein breiteres Phänomen ist, was insbesondere auch mit der Erwartungshaltung der beauftragenden Institutionen zu tun hat, in diesem Fall des NDR, sehen wir auch in anderen Fällen.

Wo zum Beispiel?

Nehmen Sie die Reportagen von Henning Relotius. Oder die gefakten Storys von Menschen hautnah im WDR, wo ebenfalls Darsteller auftraten. Oder Scripted Reality bei den Privatsendern. All das beschädigt das Vertrauen der Zuschauer ins Dokumentarische als reflektierte Blicke auf die Wirklichkeit. Ich sehe hier, wie gesagt, insbesondere auch ein Versagen des Systems.

Aber wie kommen wir aus der Zwickmühle von Angebot und Nachfrage je wieder raus?

Schwierig. Schon weil es andere unebene Darstellungsformen kaum noch gibt. Gehen Sie mal zu einem Sender und bieten ihm ein spannendes Thema, dass sie innerhalb der nächsten drei Jahre begleitend ins Offene drehen möchten. Anders als in den Siebzigern, Achtzigern, mit Abstrichen gar Neunzigern ist es so gut wie unmöglich, dafür von den Öffentlich-Rechtlichen ein angemessenes Budget zu erhalten.

Es sei denn, Sie legen sich auf die Lauer nach Schneeleoparden.

Tierfilme bieten die letzten Protagonisten, mit denen sich Aufwand und Ergebnis noch lukrativ ins Verhältnis setzen lassen. Tatsächlich kommen die meisten Tierdokus heute aber ohnehin aus dem Zoo. Selbst aus der Szene hat sich das deutsche Fernsehen, abgesehen von Koproduktionen mit der BBC, weitgehend zurückgezogen. Das ist den Sendern einfach zu teuer geworden. Insofern ist es verlogen, wenn der NDR nach Lovemobil behauptet, sich in der Tradition von Eberhardt Fechner nichts als dem Wahren, Wirklichen verpflichtet zu fühlen. Leute wie er oder Wildenhahn, die dann gerne genannt werden, waren festangestellt und lebten insofern in gesicherten Verhältnissen. Sie durften damals mit angemessenem Budget und ohne Zeitlimit arbeiten. All das gibt es heute nicht mehr.

Kennen Sie das Zeit- und Geldbudget von Lehrenkrauss‘ Lovemobil?

Der Co-Produktionsanteil des NDR betrug knapp 40.000 Euro. Das ist viel zu wenig, um über Jahre einen beobachtenden Film zu drehen. Insofern ist für mich klar, dass der NDR mit einer Aufarbeitung, bei der die Autorin alle Verantwortung trägt, während sich die Redakteure betrogen fühlen wollen, danebenliegt. AG DOK und ARD laden seit 2016 Produzent*innen, Regisseur*innen und Redakteur*innen zum jährlichen Branchentreffen, das ich von Anfang an federführend plane. Die strukturellen Probleme sind bekannt, da muss man jetzt nicht so tun, als sei man von so einem Fall überrascht und habe Gesprächsbedarf! Es war eine Frage der Zeit, bis sich die Probleme in so einem Supergau manifestieren. Dass der NDR jetzt großzügig die Hand zum Gespräch ausstreckt, dient am Ende vor allem dem Machterhalt.

Aber wie bringt man Anspruch und Wirklichkeit so zueinander, glaubwürdige Dokumentationen für viele Menschen zu machen?

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat gesagt, wir werden, was wir sehen. Das heißt: die Art und Weise, wie wir mit Wirklichkeit umgehen, ist in erster Linie von Konventionen geprägt. Und diese Konventionen fallen nicht vom Himmel, sondern werden durch systemische Rahmenbedingungen geschaffen. Wenn es einerseits wenig Mittel und andererseits eine Vorliebe für glatte, geschlossene äußere Formen gibt, kann ein Film wie Lovemobil entstehen. Deshalb brauchen wir gänzlich neue Produktionsmodi. Das Dokumentarische muss sich wieder von den Verwertungszwängen unserer Branche, mit wenig Geld in kurzer Zeit möglichst gefällige Lesarten zu produzieren, lösen.

Aber können Dokumentarfilmer*innen nicht auch im Falschen das richtige Leben führen?

Ich bin da inzwischen skeptisch. Deshalb erarbeite ich mit ein paar Kollegen in der AG DOK gerade ein Reformmodell namens Docs for Democracy. Es verfolgt einen Ansatz, den man mit Harald Welzer als „Heterotopie“ bezeichnen könnte: zwei Prozent des Rundfunkbeitrages sollen für ein neues Modell der Beauftragung und Bewertung von Dokumentationen und Dokumentarfilmen den bestehenden Anstalten entzogen und in Form von Direktbeauftragungen durch einen Medieninnovationsfonds vergeben werden.

Wie viel sind es denn bislang?

Die ARD lässt sich das gesamte Dokumentargenre zurzeit etwa 0,77 Prozent der kumulierten Gesamteinnahmen kosten, beim ZDF sind es mit 2,13 Prozent etwas mehr. Aber gemessen am gesellschaftlichen Mehrwert und der gesellschaftlichen Akzeptanz, den dokumentarische Medien für öffentlich-rechtliche Anstalten generieren, ist dieser Betrag verschwindend gering.

Zumal sich die ARD als Informationsgemeinschaft mit begleitendem Show-, Sport- und Spielfilmprogramm geriert…

Diese Schieflage ist ohnehin nicht tolerierbar. Wahr ist aber auch, dass Institutionen von Festivals über Gutachter und Kritiker bis zum Grimme-Institut den Betrug durch Lovemobil nicht bemerkt haben – oder nicht bemerken wollten. Meines Erachtens, weil er perfekt ins gelernte Bedürfnisraster passt. Und was vergessen wird: Den bezahlten Darsteller*innen wurde offenbar vorgegaukelt, es ginge um die Produktion eines Spielfilms. Auch das geht nicht! Die einzigen, die in diesem Spiel eine vergleichsweise gute Figur gemacht haben sind diejenigen, die nicht auftauchen. Die echten Prostituierten haben die Mechanismen offenbar am ehesten durchschaut und sich der Sache entzogen. Ich habe nicht mit ihnen geredet, aber daran lässt sich vielleicht ablesen, wie viel Schaden die Fiktionalisierung der Wirklichkeit bereits angerichtet hat.

Umso mehr nochmals die Frage: kommen wir da wieder raus?

Im bestehenden System nicht, nein. Ich glaube das geht nur durch einen partiellen Neustart!

Das Interview ist vorab bei DWDL erschienen