So irreal die Messung der Einschaltquote auch sein mag – manchmal hilft ihre Gegenüberstellung beim Begreifen des Fernsehens ein Stück weiter. Wenn etwa der vorige Tatort Münster fünfzehnmal mehr Zuschauer hatte als der letzte Einsatz von Reinhold Beckmann, der sich am Donnerstag muchsmäuschenstill von seiner Talkshow verabschiedet hat, dann wird deutlich: Was laut ist, schrill und ulkig, scheißt im Zweifel, was dezent, leise und ernst ist so zu mit Effekthascherei, dass es schnell mal ignoriert wird.
Andere Formate dagegen hallen halbe Ewigkeiten nach ihrem Ende nach, als seien sie noch auf Sendung. Vorige Woche zum Beispiel wurde ein Jahrzehnt nach dem Abschied von Friends das berühmte Wohnzimmer der noch berühmteren Sitcom in New York aufgebaut und tausende von Fans setzten sich zum Selfie in die Kulissen, was zuvor schon mit dem Original-Sofa in Berlin der Fall war, wo man sein Gesicht in Pappkameraden wie Jennifer Aniston stecken konnte. Für richtig Furore sorgte allerdings auch eine Mitteilung für die Welt von morgen: Vince Vaughn und Colin Farell lösen Matthew McConaughey und Woody Harrelson als Ermittler der Krimiserie True Detective ab, die 2015 ihrer 2. Staffel entgegensieht. Das ist schon einen kleinen Medienhype wert. Von dem die alten Druckmedien nur träumen.
Dass G+J die Verleihung des bedeutsamen Henri-Nannen-Preises 2015 aus Spargründen ausfallen lässt, interessierte da im Grunde nur die Anhänger des Qualitätsjournalismus. Dass der gleiche Großverlag seinem Flaggschiff Stern vorige Woche eine rein männliche Chefredaktion verpasste, interessierte dagegen vornehmlich den Gleichberechtigungsverein ProQuote, der die Frauenfreiheit im Fünferteam völlig zu Recht als „Schritt zurück in die redaktionelle Steinzeit statt in eine moderne Medienzukunft“ geißelte. Den der Focus mit der Inthronisation des Alphatiers Ulrich Reitz übrigens gewohnt maskulin mitgeht. Und dass mit der Düsseldorfer Wirtschaftswoche ab Mittwoch das erste Zentralorgan ökonomischer Berichterstattung weiblich geführt wird, nämlich von Miriam Meckel, war im Vorfeld sogar nur für die Branche selbst ein Anlass zum Aufmerken.
Die Frischwoche
29. September – 5. Oktober
Überhaupt – die Branche. Dieses hermetische Wesen mit Außenwirkung. Seit jeher beweihräuchert sie sich selbst mit allerlei internen Trophäen wie dem Deutschen Fernsehpreis, durch den sich die vier großen Sender seit 1998 gegenseitig auf die Schultern klopfen. Bis jetzt. Die Verleihung am Donnerstag, von der ARD tags drauf nach der Degeto-Schnulze gezeigt, ist die letzte ihrer Art. Und somit auch die letzte Chance für RTL, für sein Anti- bis Nichtprogramm ausgezeichnet zu werden. Um zu zeigen, wie absurd das ist, wird an dieser Stelle abermals kein einziges Format der Privatsender empfohlen, was nichts mit Trotz zu tun hat, sondern mit purer Sachlichkeit.
Exemplarisch sei daher nur mal auf Die Schlikker-Frauen verwiesen. Mit denen verwurstet Sat1 morgen die Schlecker-Pleite, in dem Sky Du Mont als elitärer Drogerie-Boss von vier entlassenen Verkäuferinnen gekidnappt wird, was leider nur ulkige Hausmannskost zum Schenkelklopfen ist und fix vergessen. Humor sollte Sat1 lieber seinem Partner Pro7 überlassen. Und gutes Fernsehen den Öffentlich-Rechtlichen. Mittwoch zum Beispiel läuft in der ARD Die Auserwählten. Ein Film über die berüchtigte Odenwaldschule, der am Originalschauplatz ebenfalls die Realität eines Missbrauchssystems verarbeitet, allerdings seriös und unterhaltsam. Vor allem dank Ulrich Tukur, der den Direktor mit verstörendem Charisma spielt. Wenn er ihn denn spielen darf – denn vorab muss noch juristisch entschieden werden, ob die ARD womöglich Persönlichkeitsrechte Betroffener verletzt.
Mit solchen Fragen muss sich das ZDF tags drauf nicht rumschlagen. Eher mit der, ob Die Fremde und das Dorf so schmalzig ist, wie es heißt. Ist es nicht. Was in Titel und Sendeplatz auf pilchereske Schnulzen schließen ließe, gerät zum klugen Drama über Abschottung im ländlichen Raum. Mit der famosen Henriette Confurius als italienische Lehrerin, die eine Gruppe junger Erdbebenopfer in Österreich regenerieren soll und dabei Teil eines Familienthrillers wird. Unbedingt empfehlenswert ist auch Vladimir Kotts vielfach preisgekröntes Regiedebüt Mukha (Mittwoch, 20.15 Uhr, Arte) um den russischen Fernfahrer Fjodor, der sich zwischen seiner Freiheit und einer unbekannten Tochter entscheiden muss.
Es sind gute Filme. Flankiert von guten Schwerpunkten wie 30 Jahre Mauerfall, mit dem Arte ab Dienstag allerlei Sehenswertes zur Wende zeigt. Flankiert auch von kritischen Dokumentationen wie Projekt Hühnerhof, wo Dirk Steffens zwei Dienstage zur besten Sendezeit im ZDF dem Irrsinn industrieller Geflügelproduktion auf den Grund geht. Flankiert sogar von ordentlicher Satire wie Ein Fall fürs All, in das sich Urban Priol und Alfons bildlich schießen lassen, um von oben den Aberwitz der Weltpolitik zu analysieren. Dass das Geburtstagsständchen des gestandenen Journalisten Hanns-Bruno Kammertöns für Der Mann, der Udo Jürgens ist am Montag im Ersten etwas arg lobhudelig ausfällt – geschenkt.
War noch was? Ach ja – Wetten, dass…? kehrt zurück aus der Winterpause, was irgendwie zum Tipp der Woche passt, der auch mit Horror zu tun hat: Black Sheep (Dienstag, 22 Uhr, Tele5), ein famoses Splatter-Movie über biotechmutierte Killerschafe in Neuseeland.
Wahrhaft maßgeblich zu sein, über den Augenblick des Hörens hinaus bedeutsam, nicht gerade kommerziell, aber atmosphärisch erfolgreich – das gilt in den Höhenlagen der Popkultur als höchste Auszeichnung. Erst soziokulturelle Relevanz adelt profane Bands zu wirklich erhabenen. Zu dumm, dass sie manchmal kaum jemand kennt. Wie Mutter. Die Band. Das muss man schon hinzufügen. Allein den Namen des Berliner Quartetts zu googeln bedarf spezifischer Begleitbegriffe. Auf Wikipedia erscheint er nicht mal im automatischen Trefferangebot. Es ist also nicht so einfach, von dieser maßgeblichen, über den Augenblick des Hörens hinaus bedeutsamen, nicht gerade kommerziell, aber atmosphärisch erfolgreichen Band Notiz zu nehmen. Dabei hat sie, was arg akademisch “Diskurspop” genannt wird, kaum weniger geprägt als, sagen wir, Blumfeld. Dessen Bauchhirnseele Jochen Distelmeyer sagt daher in einem Dokumentarfilm über Mutter vor Ehrfurcht ungewohnt ungeschliffen, “später werden die Leute merken, hier, das hat kein Schwein wahrgenommen, das ist aber das Geilste gewesen”. Womit er völlig recht hat. 1986, als die Band aus einer Gruppe namens Campingsex hervorging, ebenso wie heute, da sie ihr zwölftes Album veröffentlicht.
Es heißt Text und Musik, was in seiner Schlichtheit mehr ist als Reduktion aufs Wesentliche. Neunmal punkrockkurze, mal pophymnenbreite Stücke lang betreiben zwei Drittel der Urbesetzung um den Sänger Max Müller die kreative Inklusion von Wort und Klang. Loteten frühere Platten gern die Grenzbereiche gegenseitiger Zuträglichkeit aus, was sich besonders in brachial dadaistischen Live-Auftritten zeigte, so zanken sich Gitarren und Gesang nun nicht mehr um die Deutungshoheit. Dadurch ist Text und Musik jedoch keinesfalls milder geworden, sozusagen altersweise. Das Album liest sich eher wie der lebenskluge Versuch, den Erzählungen vom richtigen Leben im Falschen auch musikalisch stärker zu vertrauen. Dafür muss es gar nicht harmonisch zugehen. Zu Beginn tröpfeln zwar die Flowerpornos in Früher oder später, was Müller mit gewohnt süßlicher Stimme unterlegt, als stünde Tom Liwa Pate. Es gibt flötensamplebegleitete Instrumentalgespinste wie das anschmiegsame Qui oder Am Abend im Anschluss, wo der Gesang des 50-Jährigen wie der des gleichaltrigen Andreas Dorau klingt. Zwischen den Durtonleitern im Viervierteltakt aber äußert er sein Unbehagen übers urbane Menschsein mit passgenauen Zeilen wie “Wer hat schon Lust zu denken / wie sie denken / die uns hassen” und lässt darunter die Dissonanzen flattern, bis es im Finale doch wieder an Atari Teenage Riot erinnert.
Wie beim hochgelobten Vorgänger Mein kleiner Krieg fehlt darin allerdings das strikte Bemühen um Besonderheit, das den deutschsprachigen Pop kennzeichnete, als ihn Mutter dem Underground zuführte. Die Maßgeblichkeit kommt einfach instinktiver daher, aus sich selbst heraus. Ohne Ziel. Ohne Gestus. Das macht Text und Musik zur ungeheuer selbstgewissen Platte. Keine, die die Musik ihrer Zeit prägen wird wie vor fast 30 Jahren. Aber ungebrochen erfolgreich. Atmosphärisch. Nicht kommerziell.
Mutter – Text und Musik (Clouds Hill)
Gnarwolves
N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak. Hardcorepunk funktioniert meist nach eher schlichter Methodik. Kurzes Intro, schnelle Strophe, also wirklich richtig schnell, in Technometrik 130 bpm aufwärts. Dann kurze Brüllgitarrenbridge und rein geht’s in den Brüllstimmenchorus, ohne zwischendurch an Tempo zu verlieren. Fertig ist der Moshpit auf Platte. Von daher ist auch das selbstbetitelte Debütalbum der britischen Gnarwolves nicht gerade ein Ausreißer vom punkrockenden Allerlei, das es zu Tausenden, ach: Abertausenden gibt. Und dennoch hat Gnarwolves etwas, das es aus der Masse hervorhebt: es transportiert den Moshpit ohne Reibungsverluste ins Wohnzimmer/Auto/mobile Abspielgerät. Wer die zehn monochromen Stücke mit zackigen Titeln von Ebb über Boneyard bis Flow hört, spürt dabei keine Retortenversorgung, sondern echtes DIY-Gefühl wie frisch aus dem Übungsraum und dennoch satt produziert.
Das ist wie gesagt nicht die Neuerfindung des Punk-Rads, und die Köpfe des Trios auf dem Cover aus einer dicken Schicht Skateboards herausgucken zu lassen, wirkt zudem marketingbewusster als konsequent von Herzen kommend. Aber – egal! Wer one-two-three-four-Hochgeschwindigkeitshardcore mit Garagenattitüde mag, wird von der Band aus Brighton bestens bedient. So politisch wie nötig, so respektlos wie möglich, live geschult in zahllosen Hinterzimmerkonzerten und einfach nur geradeaus aufs Mett. N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak-N-Tchak auf solidem bis hohem Niveau. Viel mehr muss man von Punkrock nicht erwarten. Weniger auch nicht. Die Gnarwolves machen einfach nur Spaß zum Mitgrölen. Oder Mitspringen. Meist beides.
Gnarwolves – Gnarwolves (Big Scary Monsters)
The Gaslight Anthem
Die vielleicht ausdrucksstärksten Textzeilen zeitgemäßer Popmusik zum Alterswerk verdienter Rockmusiker stammen vermutlich von zwei deutschen Kunstkollektiven: Männer, betitelten die grandiosen Fishmob vor vielen Jahren eine frühe Platte, können seine Gefühle nicht zeigen. Und falls doch, ließe sich mit den kaum weniger famosen Aeronauten hinzufügen, fangen sie “mit dem Alter” an, “sich für Country zu interessieren”. Die ebenfalls wirklich ganz und gar wunderbaren The Gaslight Anthem liefern dazu These und Antithese zugleich. Was das amerikanische Emorock-Quartett aus dem Ostküstenstädtchen New Brunswick seit zehn Jahren zu Gehör bringt, ist schließlich von so selbstentblößender Emotionalität, dass Männern ihre Gefühle schon wieder zu den Ohren rauskommen könnten. Davon zeugt nicht zuletzt der Name des sechsten Albums: Get Hurt. Andererseits kommt im gefühligen Rock’n’Roll des charismatischen Sängers und Gitarristen Brian Fallon mittlerweile ein Americana-Sound zum Tragen, dass es zu echtem Country, also der testosterongesättigtsten Musik jenseits von Death Metal, nicht mehr allzu weit sein kann.
Wie nah er wirklich ist, zeigen Stücke wie Underneath The Ground. Hier scheint allen Ernstes eine Steelguitar in den Westcoast-Indie hinein zu suppen. Im springsteenesk betitelten Rollin’ And Tumblin’ kurz darauf erklingt sie tatsächlich, bis sich die Ballade Break Your Heart zum Ende hin am Lagerfeuer niederlässt. Das war auf den Alben zuvor schon etwas anders. Da schepperte noch mehr vom rustikalen Alternative, geboren aus der Punkwiege seiner Protagonisten. Da war der Rock einfach noch härter als heute. Jetzt klingen The Gaslight Anthem zuweilen ein wenig versöhnlich, als mache da einer unterm Sternenhimmel der Prärie seinen Frieden mit der wilden Vergangenheit.
Doch keine Sorge: Auch auf Get Hurt wird noch gehörig in die unverzerrte Klampfe gedroschen. Gleich zu Beginn nagelt Fallon die Böse-Jungs-Parole Stay Vicious über Alex Rosamilias Black-Sabbath-Gedenk-Riff. Allerorten knattern rabiate Tonfolgen unter die Liebesbekundungen mit dem Kernwort You, das geschätzte 2759 Mal durch die textreichen Songs fegt. Die neue, alte ostamerikanische Härte geht sogar soweit, dass der Hörer sich kurz fürs Prollorockgehabe in Stray Paper fremdschämt, das schmerzhaft an John Farnham erinnert. Insgesamt aber bleiben The Gaslight Anthem, was sie seit 2007 sind: eine verlässliche, überaus empathische Rockband, deren Empfindsamkeit nie aufgesetzt, sondern verinnerlicht daherkommt. Mit einer Art rückwärtsgewandter Analogie im Sound, die stilsicher statt nostalgisch wirkt. Damit haben sich die fünf Jugendfreunde eine solide Basis anspruchsvoller Fans geschaffen, die sich über Get Hurt freuen wird. Ihre Gefühle werden diese Männer also auch weiterhin zeigen. Bis zum ersten echten Country-Album werden sich The Gaslight Anthem höchstens noch vier, fünf Jahre Zeit lassen. Aber dann kommt es. Und wahrscheinlich wird es nicht das schlechteste.
Zwischen alten Sofas, noch älteren Teppichen und unwesentlich jüngeren Instrumenten laden Die Sterne zum Interview in ihr Studio im Hamburger Stadtteil Altona. Mit Flucht in die Flucht (Staatsakt) bringen die einstigen Oberprimaner der Hamburger Schule gerade die zehnte Platte in 22 Jahren raus. Und wie das Vorgängeralbum 24/7 geht es völlig neue Wege – diesmal in den Psychobeat. Sänger Frank Spilker (re.) und Bassist Thomas Wenzel über Richtungswechsel, Publikumserwartungen, Teenagerfragen und was genau Diskurspop ist.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Die neue Platte beginnt gleich mal mit einer Ansammlung von Fragezeichen. Ist das ein Ausdruck von Ratlosigkeit angesichts der herrschenden Verhältnisse?
Frank Spilker: Nein, ich betrachte Fragezeichen eher als Aufforderung, das Gegenüber zum Sprechen zu bringen. Wir wollen ja niemandem die Welt erklären, sondern Angebote zum Mitdenken machen. Auch die Frage von „Was hat dich bloß so ruiniert?“ war weder eine Bitte um Antwort noch das Eingeständnis, keine eigene zu haben, sondern ein Vorschlag, sie sich selbst zu stellen. Da empfinde ich die Frage, Wo soll ich hingehen, als hervorragenden Einstieg eines Albums mit dem Namen: Flucht in die Flucht.
Was wiederum bedeutet?
Frank Spilker: Wie der Albumtitel deutet auch das zugehörige Stück eine gewisse jugendliche Ungeduld in einer konkreten Konfliktsituation an, nämlich es nicht auszuhalten, dass das Leben, wie man es sich vorstellt, einfach nicht beginnen will. Aus Erwachsenensicht gibt es in diesem Fall nur drei Möglichkeiten: Rebellion. Flucht. Resignation.
Die typischen Pubertätskrankheiten im Angesicht der drohenden Logik.
Frank Spilker: (lacht) Wenn man so will. Den Druck des Lebens nur auf einem dieser Wege aushalten zu können, ist definitiv eine Teenager-Frage. In meinem Alter sollte man sie eigentlich anders beantworten können als auf diese drei Arten.
Dennoch stellst du sie auch mit fast 50 und antwortest mit Flucht.
Frank Spilker: Schon. Aber es ist ein großes Missverständnis bei Sterne-Platten, dass man nicht alles darin immer eins-zu-eins dem Sänger zuschreiben sollte, als sei alles daran autobiografisch.
Hat das Album trotzdem biografische Züge?
Frank Spilker: Es ist schwer, die vollends rauszulassen, wenn man konkrete Lebenswelten beschreibt. Aber es geht eher ums realbiografische Dokumentieren allgemeiner Umstände, etwa dass das was man Gentrifizierung nennt auch für uns persönlich Existenzängste mit sich bringt. Wie also ein übergeordnetes Problem schleichend zum eigenen wird, wenn man sich überlegen muss, ob man sich die Wohnung im nächsten Monat noch leisten kann. Das klingt vielleicht etwas neurotisch, ist aber nun mal nah dran an meiner Großstadtexistenz.
Du hast die gelösten Teenagerfragen eben im Konjunktiv beantwortet, wo man als Erwachsener also eigentlich sein sollte. Bist du denn schon so weit?
Frank Spilker: Ich bin zwar nicht unabhängig von gesellschaftlichem Zwängen und Ängsten, aber von der Ungeduld, mit der Jüngere ihnen begegnen. Sich darin eingesperrt zu fühlen, empfinde ich als eher jugendlich.
Thomas Wenzel: Und es fällt nach 20 Jahren Musikmachen vielleicht schwerer, dieses Gefühl, eingesperrt zu sein zu empfinden. Wenn man diese Ungeduld und die zugehörige Wut aber wieder in sich wachruft, vermittelt das für die Musik eine positive Energie.
Wut und Ungeduld entfachen positive Energie?
Thomas Wenzel: Wenn man sich ihrer bewusst wird und versucht sie nutzbar zu machen, auf jeden Fall. Gerade, wenn man die Ungeduld als Musiker einsetzt, ist das ein ebenso legitimer wie sinnvoller Kunstgriff.
Aber wie holt ihr diese Ungeduld denn zurück in euer erwachsenes Gemüt – Erinnerung, Autosuggestion, Fantasie?
Frank Spilker: Das muss man wie Theater auffassen: Du musst ja nicht Hamlet sein, um ihn zu spielen. Je mehr man erlebt hat, desto mehr hat man in sich. Diese Gefühle sind darstellbar, selbst wenn sie nicht mehr deinen Alltag bestimmen. Es geht bei dieser Platte ebenso wie in der Musik allgemein nicht darum, ständig Gemütszustände abzubilden, sondern Tendenzen zu beschreiben und gegebenenfalls zu übertreiben.
Musikalisch bedient ihr euch dafür auf „Flucht in die Flucht“ psychedelischer Klänge. War das eine bewusste Entscheidung, jetzt mal so eine Platte zu machen, oder hat sie sich beim Spielen im Proberaum entwickelt
Thomas Wenzel: Vielleicht bewusster Entscheidungsprozess, der sich nach und nach entwickelt.
Frank Spilker: Wir haben hier nach Gemeinsamkeiten gesucht zwischen unseren eigenen musikalischen Entwürfen und die dann abgeglichen mit Inspirationen von außen. Ich zum Beispiel fand Bands wie Tame Impala aus Australien toll, die den düsteren Psycheldelic der 60er Jahre ebenso brillant wie vielschichtig reproduzieren. Oder Dirty Projectors, die ihre Stücke dekonstruieren, bis kaum noch was davon da ist. Auf der Basis solcher Einflüsse haben wir ein Demo aufgenommen, das von Olaf O.P.A.L. produziert die aktuelle Gestalt angenommen hat. Er hat unsere zerstreuten Ideen eines Jahres auf einen Sound gebündelt.
Thomas Wenzel: Wir jammen manchmal einfach drauflos, bringen aber auch fertige Songs, die teilweise schon länger bei Frank in der Schublade lagen, ins Bandkonstrukt ein und nehmen darauf alle Einfluss. So ein Findungsprozess ist vielfältig.
Frank Spilker: Wichtig ist dabei weniger, etwas zu haben, worauf man aufbauen kann, als sich für etwas zu begeistern. Wenn ich mir alte Sachen anhöre, die zu ihrer Zeit nicht gepasst haben, ist da für aktuelle Zwecke manchmal viel Gutes, Verwertbares dabei. Musik spiegelt auch immer die Energie eines Momentes wieder, in dem sie entsteht wie bei uns im Proberaum. Und in einer Band, die sich als solche versteht, ist sie immer auch Ergebnis einer Einigung aller Beteiligten.
Auf euer technoides Vorgängeralbum „24/7“ habt ihr euch also auch im Zusammenspiel geeinigt?
Frank Spilker: Genau. Ich kann mich da sehr konkret ans Titelstück erinnern. Ein toller Groove, den man viel länger spielen konnte als unsere Stücke sonst dauern. Plötzlich empfanden wir es als Verschwendung, daraus die übliche Tracklänge zu machen, haben ein Echogerät gekauft und sind der Logik das Anfangs das ganze Album über gefolgt.
Thomas Wenzel: Es gab auch da einen ähnlichen Prozess mit Abzweigen in völlig andere Richtungen, die sich letztlich als Sackgassen erwiesen haben.
Frank Spilker: Und wenn dann noch ein Produzent wie Mathias Modica dazukommt, der solche Prozesse weiter verstärkt, entstehen so unterschiedliche Alben wie diese beiden.
Bleiben solche Platten dann Exkurse eures eigentlichen Schaffens oder geben sie auch Richtungen vor?
Frank Spilker: Wenn du die Frage stellst, hast du womöglich die alten Sterne missverstanden. Alles, was sich auf den aktuellen Alben ballt, war auf den vorherigen bis zurück zu „Posen“ bereits in Ansätzen enthalten. „24/7“ war so gesehen nur die Vertiefung einer bestehenden Groove-Verliebtheit.
Was überwiegt denn nach 20 Jahren gemeinsamer Bandgeschichte: Das Bedürfnis, sich zu erneuern, oder das Bedürfnis der Kontinuität?
Thomas Wenzel: Das Bedürfnis der Kontinuität besteht bei mir nur insofern, keine schlechteren Platten als die vorherigen zu machen. Das Gewohnte zu reproduzieren ist doch eher langweilig.
Frank Spilker: Und ist, glaube ich, auch nichts, was sich die Sterne vorwerfen müssen.
Thomas Wenzel: Aber vielleicht war „24/7“ ein größerer Schritt raus aus dem, was zumindest von außen gern als Sterne-Kosmos wahrgenommen wird, während „Flucht in die Flucht“ wieder ein kleiner zurück in die Songhaftigkeit ist.
Frank Spilker: Man arbeitet immer ein wenig gegen die Trägheit des Publikums an. Was ich gut nachvollziehen kann; ich bin ja auch Publikum anderer. Wer eine Platte besonders toll fand, möchte, dass sich das auf der nächsten wiederholt, besser noch verstärkt. Radikale Abweichungen irritieren da oft eher als zu begeistern. Ich möchte von Tame Impala auch noch ein Album in der Art des Debüts haben. Aber wer sich vier, fünfmal wiederholt, gräbt sich musikalisch sein eigenes Grab.
Gibt es dennoch eine musikalische Klammer, die eure zehn Platten in 22 Jahren verbindet?
Thomas Wenzel: Hmm.
Frank Spilker: Weiß nicht.
Vielleicht Diskurspop?
Frank Spilker: Wenn es denn einen Diskurs mit dem Publikum gäbe…
Ich dachte die eingangs erwähnten Fragezeichen stünden dafür einen Austausch?
Frank Spilker: Das stimmt. Aber das Diskursive am Diskurspop bezog sich ja neben der Abgrenzung zur Hippiegeneration auch auf den Austausch zwischen den Bands einer gemeinsamen Stilrichtung. Heute würde ich sagen, das Einlassen auf einen Diskurs ist zu selbstverständlich geworden, um damit eine stilistische Abgrenzung zu umschreiben. Insofern ergibt der Begriff „Diskurspop“ ebenso wie „Hamburger Schule“ nur in einem bestimmten zeitlichen Rahmen Sinn.
Diskurspop heißt ja auch, nicht nur Entertainment zu liefern, sondern Stoff zum Nachdenken und Mitmachen.
Frank Spilker: Um das zu beantworten, bräuchte man mehr Abstand zum eigenen Schaffen. Aber keine Veränderung zu wollen, ist ja nicht bloß ein Ausdruck vom tiefen Einverständnis mit den Verhältnissen, sondern ein Zustand des Scheintodes.
Anders gefragt: Hat Musik die Kraft zur Veränderung der Welt?
Frank Spilker: Bei Kritik geht es immer darum, Verhältnisse zu verbessern. Aber zu glauben, man könne die Welt mit Musik verändern, ist absurd. Dennoch will jeder, dass sein Handeln Wirkung zeigt. In unserem Fall, dass Hörer jene Lebenswirklichkeit, die wir in unseren Liedern beschreiben, nachvollziehen können und womöglich das Gefühl kriegen, mit ihrer Wahrnehmung nicht allein zu sein. Veränderung beginnt immer mit Kommunikation.
Das Interview ist zuerst erschienen bei http://www.musikblog.com/2014/08/veraenderung-beginnt-mit-kommunikation-die-sterne-im-interview/
Die Fernsehversion des alternativen Fußballmagazins 11 Freunde im RBB hätte dem Fußballjournalismus durchaus etwas Neues hinzufügen können. Was Magazin-Chef Philipp Köster und Ko-Moderatorin Jessy Wellmer in der ersten Folge vor einem Monat ablieferten, war dann aber doch bloß eine halbgare Mischung aus Sport1-Stammtisch und Sat1-Comedy, die wenig Hoffnung macht, dass es heute wesentlich besser wird.
Von Jan Freitag
Die Assimilierung alternativer Ideen in den Mainstream ist ein probates Mittel der herrschenden Meinung, Abweichlern ein Stück ihrer renitenten Kraft zu rauben. Nach diesem Prinzip wurden schon grüne Gedanken christlich-demokratisch und rechtsradikale christlich-sozial, so gerieten Atomkraftwerke auf konservative Streichlisten, besetzte Häuser ins Stadtmarketing und nun also 11 Freunde ins Fernsehen. Seit gestern nämlich ist das rotzfreche Fußballmagazin früherer Tage beim RBB auf Sendung. Nach einer Testphase von zwei Folgen soll es dort monatlich zu vorgerückter Stunde zeigen, was das gedruckte Magazin schon lange nur noch so nebenbei liefert: Die abseitigen Seiten von Deutschlands Leib- und Magensport. Oder wie es Moderatorin Jessy Wellmer vor der Premiere herausposaunt hat: „Wir berichten leidenschaftlich über Fußball, wir beziehen Stellung, vor allem aber haben wir Spaß an diesem Spiel“.
Das ist der Kommunikationswissenschaftlerin vom ZDF-Morgenmagazin mit Sportschau-Erfahrung sogar zu glauben. Allein – ihr Spaß am Spiel erschließt sich gesendet noch ein bisschen weniger als in Heftform. Im Mittelpunkt des Auftakts aus dem Hause der Hamburger Produktionsfirma Riesenbuhei, stand schließlich nicht irgendein Bolzplatz im Umfeld glitzernder Champions-League-Städte, kein Randgruppenkicker im Ringen um Anerkennung, nicht mal zweite, dritte, gar Verbandsliga – nein, es ging ausnahmslos um die Belletage vorm Auftaktspiel am Freitag. Um profane Fragen nach Bayerns Durchmarsch, Hamburgs Abstieg oder Wolfsburgs Einkaufspolitik. Es ging also exakt um jene fußballerische Massenkultur, der die 11 Freunde vor 14 Jahren von der Etagenwohnung des Chefredakteur Philipp Köster aus doch eigentlich das Herz, genauer: die Magengrube des Fußballs entgegensetzen wollte.
So begrüßte dieser graswurzelbewegte Edelfan der drittklassigen Bielefelder Arminia sein Publikum im Schwiegersohnhemd zur Klugscheißerbrille allen Ernstes mit den Worten: „Herzlich Willkommen – hier ist Berlin Mitte“. Womöglich, weil das mehr an die Hitparade als Instagram erinnert, feuerte das Format fortan aus allen Rohren Wackelzooms und Zappelschnitte, als hätten die Kameraleute kollektiv Pennälerblasen. Und auch sonst erinnerte abseits der obligatorischen Turnschuhe aller Protagonisten vieles an Schultheater. Das Interview der ersten Studiogäste Arne Friedrich und Thees Uhlmann wirkte unstrukturiert wie ein Drittklässler-Referat. Jessy Wellmer kombinierte im gewagten Zebrastreifenshirt Fragen nach der Fußballbiografie des Popstars (Tomte) völlig haltlos mit solchen nach seiner jeweiligen Frisur. Und wie oft Friedrichs früherer Verein Hertha BSC in Wort und Bild verarbeitet wurde, das roch dann doch schwer nach den frisierten Ranglisten von Kerners Besten und NDR-Rankingshows.
Dabei hätte man von 11 Freunde TV durchaus ein wenig mehr erwarten können als Kneipengespräche im Barambiente und Duzen als Distinktionsmoment. Schon auf gediegen mattiertem Papier hatte sich das selbsternannte „Magazin für Fußballkultur“ zwar nicht erst seit der Übernahme durch Gruner + Jahr 2010 dem Milliardenevent samt seiner unersättlichen Gier nach Stars, Pokalen, Big Business verschrieben. Doch wer abseits handgemachter Fanzines nach Geschichten mit Grant statt Geld an den Hacken sucht – in Kösters Blatt wird er noch ab und zu mal fündig.
Seine Anmoderation, die Sendung werde sich „irgendwo zwischen Lionels Messis Goldfuß und verregneten Auswärtsspielen in Usbekistan“ bewegen, muss man dennoch eher als Fiebervision abheften. Denn was da gestern kurz vor Mitternacht zu sehen war, befasste sich von der ersten bis zur letzten Sekunde mit Spitzensport. Die Rubrik „Fünf steile Thesen“ konstatierte zu Beginn Bayerns Sturz auf Platz 2, Paderborns Abstieg und natürlich irgendwas mit Friedrichs Hertha. Ein leidlich unterhaltsames Puppenzirkusstück mit Papp-Kahn als Direktor persiflierte den Toptrainer Rangnick, den Topstürmer Lasogga, solche Kaliber. Der lange Bericht übers Chaos beim HSV ließ immerhin einen Fanvertreter zu Wort kommen, doch das einzige Stück mit echten Tribünenflair war eine Satire über – was sonst – einen Hertha-Anhänger auf der erfolglosen Suche nach einer BSC-Kneipe in der Hauptstadt.
Witzig.
Und so dümpelten die ersten 30 Minuten ziemlich überdreht zwischen teurem Formatfernsehen und billigem Abi-Scherz herum – nie so ganz mit sich selbst im Reinen, ob das nun echte Satire sein soll oder doch ein ernster Blick hinter die Kulissen. Den größten Witz allerdings hob sich der leicht seifige Köster bis zum Schluss auf. „Damit“, behauptete er nicht spürbar ironisch vorm Abspann, „hätten wir fast alle Fragen zur anstehenden Bundesliga-Saison zufriedenstellend beantwortet“. Bis auf eine: was 11 Freunde TV dazu künftig Erhellendes beitragen könnte. Kleiner Vorschlag: Zurück zu den Wurzeln, fort vom Hochglanzprodukt, hin zum Fußball wie er leibt und lebt, also etwas mehr von der unterschwelligen Kapitalismuskritik, zu der man den St.Pauli-Fan Uhlmann immer mal wieder nötigte, und viel weniger vom biederen Promikult, der in einem skurrilen Fakevideo des gescheiterten Exnationaltorwarts Tim Wiese gipfelte. Dann wäre die Premiere vielleicht doch nur eine verpatzte Generalprobe gewesen. Und das Beste kommt vielleicht noch. In der Winterpause.
Am Dienstag war es so weit: Mit Netflix ging ein Film- und Serienportal online, das Fernsehen ernsthaft Probleme bereiten könnte. Und das liegt weniger am duften Eröffnungsfest, das der amerikanische Streamingdienst in Berlin mit Stars und Sternchen, Superessen und Superstimmung gefeiert hat. Es liegt auch nicht unbedingt an den technischen Möglichkeiten, die endlich untertitelte Importserien im Original erlauben. Nein, leicht macht es dem flexiblen Emporkömmling, was ihm die linearen Platzhirsche zur allerbesten Sendezeit so entgegen zu setzen haben.
Um 20.15 Uhr zeigte etwa die ARD an jenem Abend Mord mit Aussicht, was langsam zum zeitversetzten Schmunzelkrimi vergilbt. Das ZDF dagegen lobhudelte Prinz Harry als wilden Windsor. RTL wiederholte mal wieder Bones, Sat1 ein Stromliniendrama mit Anwältin im Rollstuhl und bei Pro7 machten Two and A Half Men die ewig gleichen Adoleszenzverweigerungswitze. Außerdem im Angebot: Restauranttester, Wohnungswechsler, Existenzgründer, Tatort-Retorten und eine tolle Reportage auf Arte, die kaum jemand sah. Da hätte sich Netflix die schöne Supersause zwischen angemieteter Vierzimmerwohnung zur Programmpräsentation und anschließender Megaparty in einem hauptstädtischen Opernhaus, wo natürlich alles „really awsome“ war, eigentlich sparen können; denn so erledigt sich das alte Glotzenangebot eher früher als später von selbst.
Und würde somit das vielfach beschworene Schicksal der Tageszeitung als Medium ereilen, deren einstiges Primiumprodukt Frankfurter Allgemeine gerade 200 Stellen abbauen lässt, davon ein Fünftel redaktionell. Oder auch der Castingshow. Der hat RTL höchstselbst das Grab geschaufelt, indem der DSDS-Kanal nicht nur die neueste Version Rising Star vorzeitig vom Sender nahm, sondern zugleich verkünden ließ, nach mehr als zehn Jahren sei der Bedarf nach derlei Gesangswettbewerben im deutschen Fernsehen „jetzt mal gedeckt“.
Die Frischwoche
22. – 28. September
Gedeckt nannte Reinhold Beckmann voriges Jahr auch den Bedarf nach seiner gleichnamigen Talkshow im Ersten und kündigte seinen freiwilligen Rückzug an. Am Donnerstag steht der nun an, um Mitternacht ist nach den letzten 75 Minuten von 624 Sendungen Schluss. Und was die einen bedauern, sehnen die anderen im Grunde schon seit der ersten Ausgabe vor 15 Jahren herbei. Was man vom gefühligen Host von mehr als 2000 Gästen letztlich hatte, könnte vielleicht das Best-of im Anschluss belegen. Tatsache aber bleibt bei aller Distanzlosigkeit, die Beckmann Kuschelstunden oft zugrunde lagen, dass sich seine Befragten kaum einem Fragenden so öffneten wie ihm. Bedarf noch ungedeckt, könnte man da durchaus behaupten.
Bedarf seit 29 Jahren gedeckt, meinen dagegen viele Kritiker der Lindenstraße, deren Teilung in Hass und Liebe noch intensiver gepflegt wird als beim Strom deutscher Talkshows. 1985 als frühzeitig beschworene Totgeburt gestartet, feiert die Leistungsschau bürgerlicher Fernsehunterhaltung am Sonntag die 1500. Folge. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Das teilt die langlebigste Serie hierzulande mit dem Dauerbrenner Kindesmissbrauch. Die Fiktionalisierung keines anderen Deliktes steht abgesehen von Vatermord in einem so eklatanten Missverhältnis zur Realität. Urs Eggers ARD-Mittwochsfilm Der Fall Bruckner müsste einem also schon vor Beginn um 20.15 Uhr auf die Nerven gehen – gäbe Corinna Harfouch darin nicht eine so unglaublich glaubhafte Jugendhelferin zwischen Fürsorge und Verleumdung.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch ein exzellenter Film aus Frankreich, den Arte am Freitag zeigt. Jean-Philippe Amars Adaption der Graphic Novel Niemand weiß davon erzählt die Geschichte des Illustrators JB, dessen Freundin samt Kind HIV hat, was er nur in Comicform verarbeiten kann. Verarbeitung ist ein guter Übergang zur wichtigsten Dokumentation dieser Woche. Vier Tage vorm 34. Jahrestag, wagt sich 3sat heute abermals an die Aufklärung des Oktoberfestattentats vom 26. September 1980. Längst weisen sämtliche Indizien und diverse Zeugenaussagen darauf hin, dass die gerichtlich festgestellte Einzeltätertheorie des vermeintlich verwirrten Gundolf Köhler ein Lügenkonstrukt auf Anordnung der CSU ist. Ein Wiederaufnahmeverfahren steht dennoch aus.
Dass belegt auf erschreckende, wie eng Macht und Recht gerade in Bayern verwoben sind. Wäre das Ganze nicht so lange her, Die Anstalt könnte sich des Themas nochmals annehmen, wenn sie morgen im ZDF (22.15 Uhr) aus der Sommerpause kommt. Und wem all dies ohnehin zu politisch ist, kann sich ja mit dem Tipp der Woche vom Alltag ablenken: ZDFkultur zeigt Dienstag ab 21.40 Uhr erst Die Dinge des Lebens, dann Das Mädchen und der Kommissar, zwei Meilensteine des französischen Kinos von 1970. Zweimal mit Michel Piccoli und Romy Schneider, dem Traumpaar jener aufregenden Tage.
Ein halbes Jahr gibt es den Nationalpark Schwarzwald und langsam gewöhnen sich selbst Gegner an ein Naturschutzgebiet, in dem Argumente schnell die Seiten wechseln und selbst Winzlinge zu Monstern werden. Ein Ortsbesuch in der gestörten Kirschtortenidylle, bei Parkranger Charly Ebel (Foto) und seinen Widersachern.
Von Jan Freitag
Der Weg in die Zukunft führt steil zu Tal. Das Geläuf ist schmal, der Boden verwurzelt, die Luft dick wie Nebel. Man sollte trittsicher sein in diesem Teil des Schwarzwalds. Und zur inneren Einkehr bereit. „Seid mal ruhig“, befiehlt Charly Ebel mehr als zu bitten und hebt den Zeigefinger. Der Abstieg sei ja mehr als eine Wanderung ins Herz seines Arbeitsplatzes. „Es geht darum“, flüstert er, „was ihr hier kultursoziologisch empfindet.“ Selbst Schweigepflicht im Nationalpark kann ihn eben nicht auf Dauer zügeln: den Fachmann im Naturburschen, den Geographen im Ranger. Ebel will das Schicksal der Gegend nicht nur erlebbar machen, sondern verständlich. Im Kopf, in der Seele, dem Bauch, überall wo Zivilisation mit dem Urzustand des Menschen ringt.
Also gehorcht man und schweigt. Lauscht seinen Schritten auf knirschendem Grund, den Vögeln darüber und plötzlich, wenige Hundert Meter Luftlinie vom Sessellift am quirligen Naturschutzzentrum Ruhestein entfernt, steht man am braunen Wasser des eiszeitlichen Wildsees und wird, ja, demütig. Vor 100 Jahren ist hier Deutschlands zweiter Bannwald entstanden und mit ihm die Idee einer Schöpfung, die nur sich selbst überlassen zu sich selber findet. Das klang schon am Übergang vom bäuerlichen ins urbane Zeitalter verträumt. Aber 2014? Charly Ebels Gesicht zerkratert in tiefe Lachfalten: „Könnte sich der ganze Nationalpark so entwickeln.“
Er heißt „Schwarzwald“, obwohl er nur einen Teil davon umfasst, kaum zwei Prozent der Gesamtfläche, exakt 10.062 Hektar, auf denen die Natur seit 1. Januar werden soll wie im Bannwald: Von Menschen besucht, statt gestaltet, klimatisch gewollte Flora, floragewollte Fauna, nicht mal Beeren darf man künftig sammeln. Geschweige denn Totholz, einst das Gold im waldreichsten Gebiet Baden-Württembergs, demnächst nur noch Teil dessen, was Charly Ebel am Fuße der uralten, viel gerühmten, oft fotografierten Großvatertanne mit „Zyklusmosaiktheorie“ umschreibt. Wie beim Menschen folge auch beim Wald auf die Phase des Wachstums maximale Stärke, bis Verfall und Tod neues Wachstum bedingen. Ebel lacht sein Kraterlachen. „Es ist der ewige Kreislauf“.
Auch Karl Gaiser lacht faltenreich, als er ihn erwähnt. Nur: es ist kein herzliches Lachen im Schwarzwälder Bannwald. Eher ein bitteres bei Schwarzwälder Kirsch. Und als die Frau des wichtigsten Aktivisten wider den Nationalpark rollenbewusst Filterkaffee ins Sonntagsservice gießt, erklärt er warum: „Ein sauberer, schöner, gesunder Wald ist mir lieber als ein rot-grüner.“ Ebel und Gaiser, sie stehen für die Fronten im Stellungskrieg: Ein Wildhüter, der zwei Drittel seiner 49 Jahre auf allen Ebenen gegen die Zerstörung der Umwelt im Ganzen kämpft, gegen einen Ortsvorsteher, der zwei seiner 60 gegen die Zerstörung der Umwelt am Gartenzaun kämpft.
So geht es weiter: Hier ein Naturschützer, der sein Gemeinschaftsprojekt lobt; da ein Verwaltungsangestellter, der Spaltung und Zerfall beklagt. Hier ein Kind der Grünen, das 30 verlorene Jobs der Holzindustrie mit 650 neuen dank Park verrechnet; da ein schwarzer Holzfällersohn, der ein Verhältnis von 70 zu 140 kennt und auf 75 Prozent der Bürgerbefragung gegen ein Projekt verweist, für das man, hält Ebel gegen, besser mehr als sieben der 105 betroffenen Gemeinden befragt hätte. Stuttgart 21, Pkw-Maut, Energiewende oder Naturparks – wenn Leute öffentlichkeitswirksam um Großprojekte streiten, klingt es stets, als sprächen sie von völlig verschiedenen Orten. Dabei sind verschieden nur die Perspektiven, kaum ein Argument, das nicht zum Gegenargument taugte.
Und sei es noch so klein.
Statt Zähne, Stacheln, Riesenwuchs hat eins davon feines Haar und kleine Fühler am winzigen Körper. Am Lotharpfad kann man den Borkenkäfer gut betrachten: Was Gegner als „Schrecken des Schwarzwalds“, hockt dort, wo 1999 ein biblischer Orkan den Schwarzwald planierte, in einer kleinen Kiste. Angelockt von Pheromenen haben sich allerdings nur zwei Käfer in den Schaukasten verirrt. Wo man die Natur zur Anschauung Natur sein lässt, ist von Plage also keine Spur. Auch spricht Charly Ebel lieber vom „Herrn der Rinde“. Er befalle ja allein jene Fichten, mit denen der einst kahlgeholzte Schwarzwald 200 Jahre lang wieder aufgeforstet wurde, und dann auch nur die alten, kranken. Zyklusmosaiktheorie? Ließe man den Borkenkäfer walten, meint Karl Gaiser, „sieht bald alles aus wie nach Lothar“.
So wird dasselbe Insekt zum Kronzeugen des Für und Wider eines Parks, den man mit dem Auto an einem halben Tag gemütlich umfahren kann. Zwischenmeinungen, Kompromisse? Da muss man zwischen die zwei Teilbebiete fahren, zu Nico Sackmann nach Schwarzenberg. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht am Vater, vielleicht auch an ein paar Kilometern Distanz zum Park – aber der 26-jährige Sohn des Sternekochs Jörg Sackmann aus dem Dorf, das Wilhelm Hauff einst zur Köhler-Novelle vom Kalten Herz animierte, sieht die 10.062 Hektar neutraler, als „Einschnitt wie Chance“.
Ersteres fürs Gewohnheitsrecht der Bewohner, die seit je an, mit, von dem Staatsbesitz leben. Letzteres für Umwelt, Tourismus, also nicht zuletzt ihn selbst. „Er ist da, er bleibt da“, übersetzt der weitgereiste Maître in spe das resignierte „s‘isch wie‘s isch“ ringsum. Die Jüngeren verbinden damit allerdings eher Zugewinne: neue Gäste fürs eigene Hotel samt Gourmettempel Schlossberg oder neue Zutaten für seine Kochkunst, die als Kandidatin künftiger Sterne gilt. Deren Kräuter sammelt er selbst vor der Haustür. Bis rein ins Schutzgebiet. Wer weiß, sagt Nico Sackmann, als er Knoblauchranke fürs abendliche Lamm aus der feuchten Erde zieht, „welche alten Kräuter entstehen, wenn man den Park mal in Ruhe lässt“.
Noch dürfte er sie sogar pflücken. Der Nationalpark ist unumkehrbar, aber im Wandel. Wohin genau, das weiß auch Karl Gaiser nicht. Er wartet die Landtagswahl ab, wo der Freie Wähler ausgerechnet den Sieg jener CDU herbeisehnt, die den Nationalpark erst erdacht und dann, als der Widerstand wuchs, bekämpft hat. Doch beerdigt, das weiß auch Gaiser, wird er wohl nie. Also arrangiert man sich. PR-Legenden von Starkstromzäunen und abgeworfenen Braunbären sind ebenso verebbt wie utopische Gästezahlen von drei Millionen jährlich. Die Atmosphäre beruhigt sich. Zumal bis auf ein paar Schilder mit den drei stilisierten Baumkronen wenig vom Park zu sehen ist. „I werd mi mei Lebbe lang ned mit ihm abfinde“, schwäbelt Gaiser noch. „Aber jetzt isch er halt da.“ Und das wohl länger als die Menschen.
Im neunten Jahr hat sich das Reeperbahn-Festival zu einem der wichtigsten Musikereignisse Europas entwickelt. Fast 400 Künstler und Bands zeigen ab heute in 70 Spielstätten, was die globale Independent-Szene Neues zu bieten hat. Trotz der großen Resonanz, die das Festival auch beim Fachpublikum nach sich zieht, dürfe es aber nicht auf amerikanische Verhältnisse wachsen – meint Festival-Geschäftsführer Alexander Schulz (47) in einem Hamburger Kiezhotel, als nebenan gerade ein Schlagerstar mit dem Pop-Fürsten Thomas Stein verhandelt.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Alexander, gibt es eigentlich einen offiziellen Rekord an Konzerten, die ein einzelner Besucher an den drei Tagen Reeperbahn-Festival bislang geschafft hat?
Alexander Schulz: (lacht) Gezählt haben wir das nicht, aber es gibt natürlich Leute, die haben die vollen drei Tage durchgehalten. Wer dabei fünf Shows pro Abend schafft, also insgesamt 20, dürfte weit vorn liegen. Das Angebot ist ja doch gewaltig.
Und doch Augenwischerei, ein Trugbild.
Inwiefern?
Insofern, als es den Eindruck erweckt, der Independent-Szene, insbesondere der Hamburger Clubkultur gehe es blendend?
Zunächst mal sind wir nicht angetreten, ein bestimmtes, geschweige denn falsches Bild der Realität zu zeichnen. Fakt ist aber, dass es diese gewaltige Zahl an neuen, spannenden Künstlern gibt. Diese Bandbreite bilden wir ab. Ob alle ausreichend im Radio gespielt und bezahlt werden, ob sie gute Auftrittsmöglichkeiten finden und die politischen Rahmenbedingungen – das steht auf einem anderen Blatt. Es gibt bestimmt Leute, die Augenwischerei betreiben und sagen, guck euch mal dieses Festival an – ist doch alles chiko. Das ist es nicht. Aber wir sind ein Baustein, der helfen kann, all dies auf einen besseren Weg zu bringen. Nur, weil es abseits unseres Festivals 362 Tage Alltag gibt, der auch funktionieren muss, würde ich dieses Highlight nicht lassen. Trotzdem sagen wir nicht, hier ist alles heile Welt.
Ist das Festival als Ganzes ein Statement gegen die Verhältnisse?
Durchaus. Aber wir wollen nicht das Sprachrohr sein, sondern die Plattform für jene, die thematisieren, wie schwer es Independent im Vergleich zu anderen Musikformen so hat. Wenn ich mich so umschaue [blickt zum Nachbartisch, wo der Musikmanager Thomas Stein gerade mit einem Volksmusikstar verhandelt], gibt es dafür reichlich Bedarf. Dafür sind wir ein guter Rahmen, weil hier an vier Tagen ein anderer Auftrieb, vor allem eine andere Aufmerksamkeit herrscht, als böte das Molotow eine einzelne Show an. Das müssen wir nutzen.
Herrscht denn auf den begleitenden Konferenzen eher ein klagender oder optimistischer Ton vor?
Ach, wer Tonträger vertreibt, hat das Klagen doch längst aufgegeben. Alles, was mit Live-Performances zu tun hat, ist dagegen unglaublich gewachsen. Gerade im Herbst und Frühjahr steigt die Zahl der Konzerte so drastisch, dass mittlerweile ein Überangebot bedauert wird. Die klagen also auf einem recht hohen Niveau, während Produzenten noch nicht genau wissen, ob Streaming nun Heilsbringer oder Totengräber der Branche ist. Klar ist, dass auch die Bühne stets digitale oder physische Tonträger braucht, um Künstler bekannt zu machen. Deshalb hat die digitale Revolution auch nicht nur Bedrohungen gebracht, sondern Möglichkeiten. Etwa eine gute Idee kostengünstig aufnehmen und technisch verbreiten zu können. Ob man sich damit durchsetzt, ist eine andere Frage und bindet individuell Ressourcen. Aber die Chancen, sich selbstständig bekannt zu machen, sind gewachsen. Und Musikverlagen geht’s auch weiterhin blendend. Ebenso wie Musikautoren, die ihre Produkte auf diversen Kanälen verbreiten können. All dies bündeln wir erstmals unter der Klammer „Sync“ für Synchronisation, weil viele Künstler ihre Kompositionen eben selber vermarkten, etwa für Werbung oder Games. Das bringt dieses Internet auch mit sich. Es ist alles in Bewegung und hat mindestens zwei Seiten. Du kannst mit drei Akkorden für ein Computerspiel Einkünfte generieren.
Also scheint die Stimmung insgesamt eher positiv zu sein.
Würde ich auch sagen. In 15 Jahren haben sich alle langsam an die neuen Zeiten gewöhnt. Dennoch muss es endlich politische Rahmenbedingungen geben, die vor allem in Deutschland Vergütungsmodelle schaffen, um aufgenommene Musik irgendwie auskömmlich zu machen. Live läuft so oder so.
Auf dem Reeperbahn-Festival ist die Zahl der Auftritte nun nochmals gestiegen. Kann das Festival immer weiter wachsen?
Nein. Dieses Jahr sind es gut 350 Acts, also rund 40 mehr als 2013. Wir haben die Veranstaltung um einen Tag erweitert, der Mittwoch ist sozusagen erwachsen geworden, da wird die Zahl der Spielstätten um zehn erhöht, am Donnerstag auch um ein paar. Die Clubs an der Feldstraße sind hinzugekommen. Aber Freitag und Samstag bleiben konstant, denn wenn man die Atmosphäre hier so beibehalten will, kann man das nicht sinnvoll erweitern.
Nach welchen Kriterien werden die Künstlerinnen und Künstler ausgewählt?
Etwa 90 kommen über Partner, im Wesentlichen Musikexportbüros, die uns einen bunten Strauß anbieten sollen, der zu uns passt. Knappe 300 buchen wir selbst. Es geht darum: sind die erfolgreich in ihrem Heimatland? Welche Aktivitäten stehen an? Gibt es Touren, Veröffentlichungen? Und musikalisch müssen die in den Zeitgeist passen, der nach dem Folk-Hype der vergangenen Jahre wieder zusehends elektronisch wird. Das reicht bis in die Klassik hinein. Unser Anspruch ist, dass wir vor allem ausländische Künstler hierzulande als erste zeigen wollen. Das klappt nicht immer, aber danach suchen wir.
Was in der Vergangenheit zu großen Reeperbahn-Entdeckungen wie Bon Iver oder Jake Bugg geführt hat.
Oder Ed Sheeran, ganz genau. Das ist immer die Hoffnung, so was steht jedem Festival gut. Und jetzt fragst du mich sicher, wer das dieses Jahr sein wird.
Wer wird das dieses Jahr sein?
Da dachten wir zuerst, der irische Songwriter Hozier. Aber die Single ist raus, die Platte kommt nächste Woche, da kriege ich jetzt keine besonders guten Quoten mehr, wenn ich auf den als neues Ding setze. Trotz der Suche nach den Stars von morgen, ist das Festival in der Breite zu gut aufgestellt, um nur auf einzelne Künstler zu schauen.
Wie kriegt man diese Breite als Veranstalter organisiert – übers Prinzip Selbstausbeutung oder verdient ihr mit dem Festival richtig Geld?
Na ja, richtig – wir arbeiten kostendecken, als vor allem fürs Personal. Übers Jahr gesehen kümmern sich 14 Hauptamtliche ums Festival, was ab Mai zügig anschwillt. Und die wollen alle bezahlt werden, das ist schon ein Riesenposten. Wenn wir dennoch mal ein bisschen drüber liegen wie im Vorjahr, fließen die Mehreinnahmen in Sachen wie den Website-Relaunch, der unglaublich teuer ist. Wir wachsen also, wenn auch sukzessive.
Wachst ihr denn so, dass ihr euch bald auf Augenhöhe mit dem SXSW in Austin befindet, wie manche schon behaupten?
Das ist Wunschdenken. Wir sind für nationale, auch europäische Verhältnisse gut aufgestellt. Aber das SXSW ist auch vom Spirit her eine so außergewöhnliche Veranstaltung, dass wir uns keinen Gefallen täten, uns an denen zu messen. Zumal auch in Austin viele nur noch davon sprechen, was sie verpasst, statt was sie gesehen haben. Vor amerikanischen Verhältnissen sollten wir uns besser hüten, wo immer alles gleich „really awsome“ ist. Wir sind da vielleicht ein bisschen biederer.
Hanseatischer.
Wahrscheinlich, ich bin ja aus Hamburg. Zumal jener Konferenzteil, der sich seit dem dritten Reeperbahn-Festival theoretisch mit der Musiklandschaft befasst, immer mehr ausgeweitet wurde. Wir haben 3000 Fachbesucher vom Clubbetreiber über die großen Medien bis hin zum internationalen Label. Seither ist auch das Publikum fachkundiger geworden, es herrscht kein reines Konsumverhalten, sondern echte Musikleidenschaft. An der darf gern was verdient werden, indem die Label hier ihre Bands und Künstler promoten. Umso mehr müssen wir aber darauf achten, nicht übertrieben zu wachsen. Wir bräuchten zwar mehr Clubs mit bis zu 1500 Zuschauern, aber eben keine weiteren Läden mit 50 Plätzen. Das verursacht nur Kosten, keine Kapazitäten. Insofern war es eine bewusste Entscheidung, das Wochenende nicht zu erweitern: gegen das Wachstum, für die Atmosphäre.
Der Text ist vorab erschienen unter http://www.musikblog.com/2014/09/live-laeuft-so-oder-so-reeperbahn-festival-geschaeftsfuehrer-alexander-schulz-im-interview/
So alt und immer noch kein Haarausfall: Günter Netzer wird 70. Zum Geburtstag dokumentieren die freitagsmedien ein Interview im Vorfeld der vorvorigen WM, bei dem der früheren Nationalspieler, Komoderator und Berufsjugendliche endlich mal nicht von jenem Pokalspiel erzählen muss, bei dem er sich selbst eingewechselt hat um dann in der Verlängerung blablabla. Stattdessen geht es ums Eingemachte.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Netzer, kann es sein, dass sich die Frisuren von Ihnen und Gerhard Delling zum Ende Ihrer Beziehung hin immer mehr angleichen?
Günter Netzer: Ja, da ist was dran. Nur das ich meine nicht verändert habe.
Herr Delling meint dazu, er wisse gar nicht, was Ihr Friseur beruflich macht.
Also bitte, ich habe immer noch denselben Friseur wie 1976 und er versteht sein Handwerk vortrefflich. In Hamburg und anderswo hatte ich natürlich andere, immer solche, die einen guten Namen hatten, die was konnten. Aber keiner hat es so gemacht wie mein Friseur in Zürich. Doch ob Sie’s nun glauben oder nicht: Meine Haare waren das Letzte, worum ich mich gekümmert habe. Das hat einst eine langjährige Freundin übernommen; die ist verantwortlich für die Anfänge meines Äußeren.
Die hat Sie zum Trendsetter gemacht.
Aber gar nicht unbedingt wegen der Haare. Ein Journalist hat mal geschrieben, ich hätte schon Schwarz getragen, als es andere nur zur Beerdigung getan haben. Das hat mir sehr gefallen. Diese Farbe war schließlich gerade in der Provinz verpönt. Meine Diskothek in Mönchengladbach war ja auch komplett schwarz eingerichtet. Viele sagten beim Betreten, das war aber das letzte Mal, dass wir hier waren, bis ich sie dann um 6 Uhr früh rausfegen musste. Das war außergewöhnlich, auch mutig für die damalige Zeit.
Genau genommen haben Sie also Stil den deutschen Fußball gebracht, als er noch den Geist des Arbeitersports in sich trug.
Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich bin sicher nicht angetreten, um dem Fußball durch meine Erscheinung zu bereichern oder zu entstauben. Aber die Art und Weise, wie ich Fußball gespielt habe, die war zweifellos eine andere als üblich, das ganze moderne Gladbacher Spiel hat die Leute fasziniert. Es hat sogar die 68er damals in unsere Richtung gezogen. Von den zwei großen Clubs dieser Jahre war Bayern München der geordnete, CSU-Verein, ganz ruhig, ohne Besonderheiten; in Gladbach gab es die Auffälligen, die Außergewöhnlichen. So wie den Netzer. Wie der aussieht – der lässt sich von der Obrigkeit nichts vorschreiben, der macht, was er will, der muss einer von uns sein…
Weit gefehlt.
Und wie! Ich bin und war ja nie ein politischer Mensch. Nichtsdestotrotz fand ich das überaus amüsant, aber völlig falsch.
Wollten Sie das Außergewöhnliche, Auffällige später dennoch in Ihre Funktion als Kommentator hineintragen?
Überhaupt nicht. Es haben schon viele versucht, meine Außenwirkung auf der menschlich-psychologischen Ebene zu erklären. Aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nie versucht, mich zu verändern! Ich bin völlig authentisch, immer eins-zu-eins. Mit mir kann man keine Show machen. Und ich hasse das Fernsehen eigentlich. Deshalb kann ich mich dort selbst auch nicht anschauen. Das tue ich wenn möglich nie. Ich zeichne meine Sendungen nicht auf, um sie mir hinterher noch mal anzusehen.
Und Ihre aktiven Spiele?
Genauso wenig. So, wie sich besonders gute Schauspieler die eigenen Filme nicht ansehen können, konnte ich meine Spiele als Fußballer kaum ansehen.
Da ist Ihnen zweifellos etwas entgangen. Welche Fußballerlebnisse anderer Spieler sind Ihnen im Gedächtnis haften geblieben?
Ich tue mich mit solchen Erinnerungen, mit Vergangenheitsbewältigung im Ganzen unheimlich schwer. Wenn Sie mich jetzt also so fragen: ich habe da überhaupt nichts präsent. Daraus folgt, dass ich es mir auch abgewöhnt habe, Erwartungen in die Zukunft zu setzen. Grad vermeintliche Topspiele erfüllen die nämlich in der Regel nie. Das war zu unserer Zeit so und wird sich kaum ändern. Zwei Spitzenteams mit Superstars gespickt werden uns immer wieder enttäuschen.
Weltmeisterschaften werden folglich Feste hochklassiger Außenseiterbegegnungen.
Das wünscht sich jeder. Aber wir werden auch dieses Mal nicht in den Genuss kommen, dass zum Beispiel eine afrikanische Mannschaft weit kommt.
Wer wird denn der prägende Spielertyp?
Da gibt’s nur einen, das ist der Messi. Ich sage schon seit Jahren, das dass der beste Spieler der Welt ist.
Was Kollege Delling ganz anders sieht.
Sehen Sie – ich habe noch nie viel Wert auf das Fachwissen von Herrn Delling gelegt; das ist nachgewiesenermaßen nicht so toll.
Nach 13 Jahren vor der Kamera an seiner Seite – sind Sie da noch Fußballer oder schon Fernsehmann?
Ich wusste frühzeitig, dass ich weder Fernsehmann noch -profi sein werde. Weil ich es – und das ist jetzt kein Kokettieren – im Grunde überhaupt nicht kann. Das Medium ist mir nach wie vor suspekt, deshalb bin ich nach jeder Sendung froh, sie hinter mich gebracht zu haben. Der Grund ist ganz einfach: Meine Authentizität ist für mich das alles Entscheidende und die hat es am Bildschirm schwer. Die Leute werden mich auf der Straße genauso erleben wie im Studio, da gibt’s keinen anderen Netzer. Bei den meisten anderen geht das rote Licht an und die mutieren zu völlig anderen Personen, die spielen dem Zuschauer eine Rolle vor. Ich bin nie anders als im normalen Leben und erkenne mich dort jederzeit wieder. Dass meine Art vor der Kamera trotzdem Erfolg hat, ist natürlich hocherfreulich, aber wer er selbst bleibt in diesem Genre ist kein Fernsehmann.
Ist Ihre nüchterne Gelassenheit dennoch ein Statement in einer Branche, die immer schriller, lauter, bunter, sportferner wird?
Es entspricht zunächst mal mein Charakter. Aber stimmt schon: Das Schrille ist für mich im Fußball keine Lösung. Er ist nach wie vor eine hochseriöse Angelegenheit, die ich entsprechend hochseriös betreiben möchte. Ich hatte einen Trainer in Madrid, der sagte: Ich gestatte keine Scherze in meinem Beruf.
Oder wie es Liverpools verstorbener Trainer Bill Shankly ausdrückte: „Beim Fußball geht es nicht um Leben und Tod, es geht um mehr.
Großartig. Ich finde es nicht gut, wenn der Fußball zur bloßen Unterhaltung verkommt. Die soll auf dem Platz stattfinden; die Spieler da unten sind die Hauptpersonen, die sollen eine Show bieten, nicht wir oder irgendein anderer abseits des Rasens. Wenn deren Bedeutung die des Sports an sich übertrifft, wäre das fürchterlich für den Fußball.
Sie bestreiten Ihren eigenen Unterhaltungswert?
Nein, nein. Aber der war für mich eine riesengroße Überraschung. Und mir hat niemand gesagt, ich müsse das oder das tun, um ihn zu erreichen. Es gab überhaupt keine Strategie, um bei den Zuschauern möglichst gut anzukommen. Die Kommunikation von Delling und mir ist so gesehen ein purer Glücksfall. Das Schönste, das Wichtigste, was mir der Fußball fürs Leben mitgegeben hat, ist, dass ich ein Menschenkenner bin. Als es zu einer Zeit, da ich ihn noch gar nicht kannte, mal ein Gespräch zwischen ihm und mir beim NDR gab, 45 Minuten lang, nichts besonders, da wusste ich schon nach wenigen Momenten, dass wir einen Draht zueinander haben.
Was verbindet Sie noch?
Er ist ein Spießer. So wie ich. Er ist ein hochseriöser Junge. Man kann sich auf ihn verlassen. Er ist sprachlich auf dem allerbesten Stand. Und schon damals, bei diesem Gespräch, habe ich gemerkt, dass wir ganz eigene Ebene der Unterhaltung pflegen konnten. Die Sprache des Fußballs ist eben eine ganz eigene, geprägt von Humor. Man veralbert sich da gern, besonders die Rheinländer untereinander, von ihrem Naturell her.
So wie Gerhard Delling aus Rendsburg in Schleswig-Holstein.
Trotzdem ist es auch bei ihm der Fall. Nur nie auf einem billigen Niveau. Man muss über die Scherze der Gegenseite häufiger nachdenken. Aber der Glücksfall war nicht allein, dass es so ist, sondern dass die Leute es auch noch sehen wollen. Wir wollten beide nicht weltberühmt werden; solche Pläne kann man mit mir nicht schmieden. Ich lasse mir Erfolg nicht verordnen. Aber er war eben da.
Klingt ja fast wehmütig?
Ja? Ich lebe dieses Gefühl jedenfalls anders aus als normale Menschen. Die Minuten werde ich also gewiss nicht zählen, die mir noch verbleiben, um mit Gerhard Delling über Fußball reden zu dürfen. Ich bin nicht so ein Mensch, der in Momenten des Abschieds von den schönen Dingen melancholisch wird. Wenn es vorbei ist, dann ist es halt vorbei um Himmels Willen! Ich drehe es malm: In meinem Leben gab es so viele tolle Dinge und die Zeit mit Delling gehört dazu. Nicht wegen unserer Preise, sondern wegen der Leute draußen, weil mich auf der Straße Taxifahrer angesprochen haben. Sogar Frauen. Deren Beurteilung war für mich von jeher das Wichtigste
Die fachliche?
Nein, eben nicht. Das war mir schon immer ein Gräuel. Eine Frau, die mir sagt: na das war ja wirklich eine katastrophale strategische Leistung, strategisch alles falsch – so was brauche ich grad noch, am besten zuhause. Nein, der weibliche Instinkt hat mich schon immer zusammenzucken lassen. Frauen wissen im Zweifel nicht mal welche Mannschaft grad von wo nach wo spielt, aber ihr Instinkt, das Geschehen trotzdem einordnen zu können, gleich das aus. Toll!
Unglaublich, aber wahr: Die ARD-Telenovela Sturm der Liebe sucht seit ein paar Tagen bereits das zehnte Hochzeitspaar in spe, diesmal also Julia und Niklas. Damit dürfte das Erste auch im Jubiläumsjahr Topquoten erzielen. Ein Versuch das Unerklärliche zu erklären.
Von Jan Freitag
Amnesie geht immer. Wenn Filmhandlungen zu verworrene Filmwendungen nehmen, wenn Filmfiguren unerkannt in andere Filmfiguren schlüpfen oder spätere Filmsequenzen plötzlich nicht mehr auf spätere passen wollen, dann eben: Amnesie. Mit der Diagnose Gedächtnisverlust lässt sich jeder dramaturgische spielend Graben überbrücken, und sei er noch so tief. Julia zum Beispiel nimmt die Identität ihrer tödlich verunglückten Freundin Sophie an, um deren Vater Geld zur Heilung ihres sterbenskranken Bruders abzuringen. Sollte der Geschäftsmann mit dem eisenharten Namen Stahl nicht ebenso wie sein gesamtes Umfeld taub, blind, blöd, jedenfalls ungeheuer naiv sein, ist das natürlich trotz eiartiger Ähnlichkeit der Rollentauscherinnen grotesker Unsinn; aber – hey! Wir sind hier in einer Telenovela.
Und da geht es nicht um Logik, es geht um den fiktionalen Rahmen eines Fernsehjahrs im Sturm der Liebe, an dessen Ende die „herzliche, aufrichtige Thailand-Aussteigerin“ Julia Wegener (Jennifer Newrkl) garantiert ganz in weiß vorm Traualtar landet, um dort den „leidenschaftlichen, erfolgreichen Sternekoch“ Niklas Stahl (Jan Hartmann) zu freien. Mit derlei Attributen versieht die ARD also nun bereits zum zehnten Mal ein Hochzeitspaar in spe, um dem Endlosformat sein Stammpublikum zuzuführen. Und wie gut das klappt, ist durchaus bemerkenswert.
Denn als vor ziemlich exakt neun Jahren das Premierentraumpaar im Dunstkreis vom Luxushotel „Fürstenhof“ und seiner wiederkehrenden Besatzung auf Tuchfühlung ging, war dieser Typus Seifenoper grad auf dem Weg nach oben. Seit Bianca – Wege zum Glück, die das südamerikanische Genre einer Protagonistin auf ihrem beschwerlichen Weg zur Ehe 2004 zugkräftig importierte, gab es mehr als ein Dutzend süßer Fräuleins mit „a“ am Ende, die das Format in 99 bis 333 Folgen zu ehrbaren Frauen machte. Heute gibt es abgesehen vom Heidschnuckenschmalz Rote Rosen allerdings nur noch Sturm der Liebe, die praktischerweise direkt hintereinander weg laufen.
Das wäre keiner Erwähnung wert, würde nicht Nachmittag für Nachmittag fast jeder dritte Zuschauer am Nachmittag zuschalten, insgesamt bis zu drei Millionen, überwiegend weiblich, selten unter 60. Und es dürften auch diesmal kaum weniger werden, wenn der blauäugig-kernige Zupacker Niklas um die rehäugig-kesse Julia buhlt. Den ersten Kuss dazu gab‘s schon zum Finale der vorigen Staffel, als SIE beim Baden im Gebirgssee ihre Herzchenkette verlor, die ER ihr flugs vom Grund fingerte, worauf es so heftig funkte, dass noch am Ufer tropfend die Lippen glühten, was allerdings nur Auftakt der branchenüblichen Irrungen Wirrungen bildet.
Das Wirkprinzip lautet: Wechselbäder der Gefühle, Distanz und Nähe in schneller Abfolge, prozessuale Liebesharmonielehre mit Misstönen, bis sämtliche Standards serieller Eheanbahnung durchdekliniert sind: Fieslinge, die auch fies aussehen, Sympathen, die aber mal sowas von nett sind. Dazu bei guter Laune Sonnenschein, bei schlechterer Wolken. Und Geigen, bis die Saiten reißen. Schließlich sind Telenovelas die Musicals der Seifenoper. Jede Mimik ist eine Spur drüber, jedes Lächeln etwas arg selig, jeder Furor viel zu furios. Trachten sorgen in Bayerns Bergwelt für Verlässlichkeit, Intriganz ist eine genetisch kodierte Wesenseigenschaft, Liebe währt wirklich, bis dass der Tod sie scheidet. Und Julia braucht genau 90 Sekunden sozialer Interaktion mit ihrem Zukünftigen, bis ihr erstmals das Wort „Schicksal“ über die bebenden Lippen kommt. Dem muss sie auf dem Weg zum Happyend zwar noch allerlei Schnippchen schlagen.
Aber es kommt. Und damit Jennifer Newrklas Chance, Henriette Richter-Röhl nachzueifern. Die erste Liebesstürmerin hat es als einzige zur wahrnehmbaren Anschlusskarriere gebracht. Sprungbretter sind selbst die haltbaren Versionen des Schrumpfgenres längst nicht mehr; ein gutes Training für höhere Aufgaben jedoch allemal. Vor allem dank der Leistung, täglich ganze Folgen abzudrehen, wo ernst gemeinteres Fernsehen kaum drei Minuten schafft. Kein Schauspieler muss sich schämen, da mitzumachen. Tag für Tag für Tag zuzusehen, wie bessere Laiendarsteller banale Baukastensätze billiger Drehbücher durchs Zahnarztlächeln drücken – dafür vielleicht schon eher.
Niemand – also gut: niemand ohne Einkünfte bei RTL, hat dem Sonntag vor acht Tagen eine Chance gegeben. Vor der ersten Privatübertragung eine EM-Spiels mit deutscher Beteiligung ahnte jeder: Das wird schlimm. Und siehe: es wurde schlimmer. Zwischen An- und Abpfiff war der Qualifikationsauftakt gegen Schottland noch manierlich; Kommentator Hagemann hat nicht wesentlich mehr vermasselt als Réthy oder Poschmann an öffentlich-rechtlichen Tagen. Aber davor. Und danach. Oh Gott!
Nach Aussagen jener, die das siebenstündige Sperrfeuer voll durchlitten haben, war es zu bunt, laut, banal, distanzlos, kritiklos, sinnlos, lang, dumm, ergo: zu RTL, die zum Beispiel den ganzen Abend über nicht ein Mal das anstehende Referendum über die Unabhängigkeit des Gegners erwähnt haben (dafür jedes schottische Vorurteil von Manneskraft bis Geiz). Jens Lehmann und Florian König waren lausige Moderationskarikaturen. Und Teile des Interviews mit Jogi Löw liefen zeitversetzt. Ein Desaster.
Was das Publikum aber nicht daran hinderte, RTL eine bessere Quote als dem parallel laufenden Tatort zu bescheren. Gut, es war der Schweizer, und magere drei Millionen Zuschauer mehr zeigen, dass RTL weder ein Fernseh- noch ein Sport-, geschweige denn Fußballsender ist. Entsprechend stank ein tagelanger Shitstorm, der den Verdacht nahelegt, dass RTL die Deutschen eher vom der Nationalmannschaft entfremdet als neue Kunden zu gewinnen. Die dürften ohne weiter in Scharen abwandern, wenn der Streaming-Dienst Netflix diese Woche ins Netz geht. Ohne House of Cards zwaar, aber mit der Sendung mit der Maus.
Ohne Blacky Fuchsberger muss das Fernsehen schon lang auskommen. Dennoch vergrößert sein Tod am Donnerstag den Riss im kollektiven Gedächtnis. Zu seiner Glanzzeit hatte das Fernsehen ja noch Relevanz und Größe – etwa wie der Spiegel, der ab 2015 samstags erscheint. Warum das hier erwähnt wird? Weil der Focus nachzieht. Natürlich nicht wegen der Hamburger Konkurrenz, macht BurdaNews-Chef Burkhard Graßmann unglaubhaft. Weil es den „Gewohnheiten unserer Leser entgegen“ komme. Stimmt, die freuen sich dann nämlich auf zwei Tage RTL und Saufen, Inhalte stören da nur.
Die Frischwoche
15. – 21. September
Inhalte jedenfalls, wie jene, mit der das ZDF zeigt, was öffentlich-rechtliches Fernsehen ausmacht: Abschied von den Fröschen ist exquisite Unterhaltung, läuft aber Dienstagfrüh um 1:00. In Worten: ein Uhr. Diese Anstoßzeit hat das bewegende Porträt des gefeierten Berliner Filmemachers Ulrich Schamoni, der sein Leben bis zum Krebstod 1998 gefilmt hat, echt nicht verdient. Im Gegensatz zum royalen Mumpitz Prinz Harry – der wilde Windsor. Doch für Blaublutbäder reserviert das Zweite liebend gern die morgige Primetime.
Anspruchsvoller werden darf es wieder nach Mitternacht, wenn auf gleichem Kanal das aufwühlende Drama The Help über eine junge Reporterin läuft, die 1963 den rassistischen Alltag Mississippis in einem Buch beschreiben will – und auf rüden Widerstand stößt. Das dürften also ein paar weniger sehen als tags drauf den Auftakt der Bayern in die Champions League 2014/15, wofür das ZDF Millionen verpulvert, die Sat1 auch nicht schlechter verpulvert hätte. Und es ist kaum zu erwarten, dass die Quote von etwas Besonderem parallel auf EinsPlus verglichen damit messbar wird: Um 20.15 Uhr zeigt EinsPlus die Doku Soundwave2Berlin, das Ergebnis eines Segeltörns durch 40 Länder, auf dem die Österreicher Hannes Koch und Benni Schaschek Töne für ein beispielloses Album gesammelt haben.
Bilder hat dagegen Fatih Akin gesammelt, im türkischen Dorf seiner Großeltern. Dessen Kampf gegen eine riesige Deponie hat der Regisseur sechs Jahre begleitet; das Ergebnis Müll im Garten Eden zeigt der NDR heute um 23.15 Uhr. Ebenfalls ein Experte für Müll, allerdings als Verursacher, ist Lakshmi Mittal, der es zum reichsten Inder ever gebracht hat. Dienstag (20.15 Uhr) zeigt Arte Die Schattenseiten des Stahlmagnaten und damit, dass man Kapitalismus ruhig kritisieren darf. Das muss jetzt nur noch RTL erfahren, wo drei Stunden später zwar immerhin mal eine ernstgemeinte Reportage läuft. Dabei kümmert sich Baust du noch? jedoch weniger um all die Proteste gegen das erste innerstädtische Ikea in Hamburg, sondern staunt lieber darüber, was man doch für Riesenklötze mitten ins Wohngebiet bauen kann. RTL lernt es eben nie.
Im Gegensatz zur ARD. Deren Schnulzenfabrik Degeto hat sich nämlich dahingehend reformiert, dass der Freitagabend nicht mehr grundsätzlich seifig ist, sondern manchmal richtig gelungen. Der Seitensprung etwa, den Claudia Michelsen als Mutter und Managerin ihrem untreuen Mann verzeiht, sorgt für ein Patchworkkonzept, das ziemlich sehenswert erzählt wird. Was direkt zum Tipp der Woche führt, Dienstag um 22 Uhr auf Servus: Absolute Giganten, mit dem Sebastian Schipper 1999 nicht nur die dreckigen Seiten Hamburgs schön gefilmt hat, sondern drei Darsteller zu Stars: Frank Giering, Antoine Monot, Florian Lukas. Geil.