Nicholas Ofczarek: Berserker & Hausmann

Kein Absturz nach Feierabend…

… sorry. In der sensationell abgründigen Sky-Serie Der Pass spielt Nicholas Ofczarek (Foto: Sky) derzeit wie so oft einen Berserker mit Grandezza und Drogenproblem. Dabei ist der Wiener Burgschauspieler privat das Gegenteil seiner exaltierten Filmfiguren. Ein Gespräch übers deutsch-österreichische Pendent der skandinavischen Serie Die Brücke, was sein zerrütteter Kommissar Winter mit ihm zu tun hat und wie eine Jugend im Umfeld der Oper prägt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Ofczarek, Kritiker neigen ebenso wie Journalisten dazu, Künstler nach ihrem Werk zu beurteilen.

Nicholas Ofczarek: Na nach was denn sonst, wenn man die Privatperson nicht kennt?!

Holt sich die Privatperson Ofczarek nach der Arbeit also auch erstmals Wodka aus dem Eisfach und lässt sich danach in einer verrauchten Kneipe am Tresen volllaufen?

Was glauben Sie?

Ich könnte es mir bei keinem Schauspieler eher vorstellen, dass sich seine Persönlichkeit so mit den Rollen deckt…

Toll! Denn ich führe ein ganz bürgerliches Leben, arbeite wahnsinnig viel, bin gerne daheim, also überhaupt kein großer Feierer und brauche daher auch nicht dauernd Menschen um mich herum. Nicht weil ich keine mögen würde, aber mir wird vieles schnell zu viel. Also kein Absturz nach Feierabend, sorry.

Wo holen Sie dann die Exzesse ihrer Braunschlag-Fieslinge und Bösen Friedrichs her?

Imagination und Handwerk. Man muss das Spielerische nicht leben, um es aus sich selbst zu schöpfen. Dafür reicht es, offen in die Welt zu schauen. Davon abgesehen, weiß ich natürlich, wie es ist, besoffen zu sein, hab aber nie Drogen genommen; nicht aus moralischer Überzeugung, sondern weil es dazu nie kam. Ich bin ein empathischer Mensch, der versucht, mit all seinen Mitmenschen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Umso interessanter ist es, einen narzisstischen Psychopathen wie den Friedrich im Tatort zu spielen oder jetzt den bitteren Gedeon Winter in Der Pass.

Suchen Schauspieler gezielt nach Seiten des Menschlichen, die ihnen fremd sind sind?

Durchaus. Und falls die Charaktere gut geschrieben sind, substituieren sie diese anderen Seiten manchmal sogar. Drehbücher sind ja auch nur materialisierte, in Sprache gebündelte Gedanken des Autors, die wir als Schauspieler im Idealfall zum Blühen bringen – sei’s am Theater oder im Film. Trotzdem sind es beinahe verschiedene Berufe, denn im Film darf man keinesfalls für die Leute spielen, die gerade mit im Raum sind, im Theater für niemanden sonst.

Ihre Eltern kommen gewissermaßen aus der Steigerung des Theaters – der Oper. Haben Sie ihre exaltierte Art zu spielen womöglich daher?

Genau genommen kamen die sogar von der leichten Operette – Lustige Witwe und Wiener Blut. Das ist nochmals eine völlig andere Welt, in der es fast nur schön ist. In diesem Umfeld aufzuwachsen, hatte seinen Reiz und mich sicher beeinflusst, aber wenn deine Eltern morgens um zwei in der Küche verzweifelt nach Tönen suchen, kannst du das nie ganz ernst nehmen. Außerdem bin ich nicht sonderlich musikalisch.

Dafür singen Sie in Der Pass aber ganz passabel…

Ja, in der Kneipe.

Und Sie haben auch schon mal eine Platte aufgenommen.

Na ja, schon, aber nein… Als ich mal den Kinofilm Am Ende des Tages gedreht habe, wollte der Regisseur als Titelmusik einen österreichischen Hit der Achtzigerjahre, Wunderwelt, und den haben wir Schauspieler noch mal aufgenommen. Das war eher Promotion als Überzeugung. Einmal hab ich an der Wiener Volksoper im Weißen Rössl mitgewirkt, aber mehr als die Lust an der Darstellung, wenngleich realerer Figuren, habe ich von meinen Eltern nicht mitgekriegt.

Gibt es in der österreichischen Polizei demnach zynische Eigenbrötler wie Gedeon Winter in Der Pass oder ist er eine Abstraktion?

Er ist zwar eine Fiktion, aber eigentlich gibt es doch eh alles, und falls es ihn vorher nicht gab, existiert er eben ab jetzt und wird somit Realität. Ich habe halt immer Lust darauf, Dinge ein wenig anzuschärfen. Daher die Gegenfrage: Ist es wichtig, dass es ihn gibt?

Ja, denn die Frage stellt sich besonders dann, wenn das Umfeld dieses fiktiven Charakters so realistisch inszeniert wird wie in Der Pass.

Der Reiz der Serie liegt doch generell in der Mischung aus Märchen und Wahrhaftigkeit. Alles darin ist möglich, selbst die mystische Darstellung der Natur, ihre Unerbittlichkeit voller Wölfe und Raben. Was am Winter allerdings definitiv real ist, sind seine engen Kontakte ins Rotlicht-Milieu. Das werden Sie aus Hamburg gewiss ebenso kennen wie wir in Wien.

Und sei es, um durch kleine Deals die großen Exzesse zu vermeiden.

Ganz genau. Man liebt sich, man schlägt sich. Genauso wie Ärzte im Krankenhaus haben halt auch Polizisten schwerste Probleme mit Drogen, weil beide dazu Zugang und permanent mit dem Grauen zu tun haben. Winters Exzesse sind daher absolut denkbar. Dass er sich entsprechend kleidet, mag zu exaltiert wirken, aber Entschuldigung: Sie sehen mit diesem Truckerbart auch nicht aus wie ein Journalist; wenn ich Sie mit dem Outfit spielen würde, man würde mir dieselben Fragen stellen wie Sie mir. Aber genau das macht die Sache ja spannend.

Zumal im Kontrast zu Julias Jentsch als Winters ehrgeiziger Kollegin.

Die bei aller Naivität noch wirklich was bewirken will. Dass beide sich im Verlaufe des Falls mit- und aneinander verändern, unterscheidet ihn am Ende von gewöhnlicher Fernsehunterhaltung.

Und erinnert ein wenig an die Piefke-Saga der Achtziger, in der sich die Protagonisten ähnlich skurril an deutsch-österreichischen Klischees abarbeiten.

Das stimmt, aber es steht und stand nicht im Vordergrund, dass der Wiener eher lässig ist und die Deutsche eher sittenstreng. Es geht eher um das Gegenüber von Visionen und Desillusionierung. Meine Figur entsprechend zu kleiden, in diesem alten Puff-Mantel mit Pelzbesatz – das war Gegenstand großer Diskussionen.

Die Sie mitführen?

Es war der Vorschlag des Wiener Kostümbildners, der der Regie too much war, worauf ich gesagt habe, wenn ihr mich fragt, ich finde, das Risiko muss man gehen. Lieber was wagen als den nächsten Parka anziehen.

Kannten Sie das Drehbuch eigentlich vor der Rolle?

Lustigerweise bekam ich vorm Buch ein Treatment mit Fotos, auf denen ich bereits in meiner Rolle zu sehen war. Die dachten wohl früh an mich. Und als ich dann gehört habe, dass Julia Jentsch mitspielt, war ich außer mir vor Freude.

Haben Sie dennoch einen Moment lang gedacht, solche leicht abgerockten Typen schon zu oft gespielt zu haben?

Barbesitzer, Schwerstalkoholiker, Rotlichttypen meinen Sie? Nicht, dass ich die dauernd spielen würde, aber das sind doch – zumal sie so weit von mir weg sind – die interessanteren Figuren. Menschen am Rand spiele ich schon gerne.

Aber ist es nicht noch interessanter, aus einer Beamtenseele Unterhaltung zu holen?

Nein, denn auch der exaltierten Figur muss man eine Seele geben, die nicht nur auf Exaltiertheit beruht. Beamtenseelen gegen den Strich, also mit mir, zu besetzen, sind gewiss größere Wagnisse und wie der klassische Held sehe ich nun mal nicht aus. Aber auch das wird noch passieren, keine Sorge.

Für den Helden fehlt Ihnen womöglich der Waschbrettbauch.

Aber wer bitte schön hat den denn? Waschbrettbäuche sind harte Arbeit. Dafür brauchst du Zeit und Disziplin. Für beides bin ich zu sehr Genussmensch.

Kennen Sie vor der Kamera so etwas wie Schamgefühl?

Na klar, auch ich bin nicht frei von Scham. Und das wurde mir hier wieder bewusst, als ich in der Kneipe lauthals Wolfgang Ambros singen musste. Aber wenn’s der Geschichte dient, also einen Mehrwert hat, moch i ois.

Der Text ist vorab auf DWDL erschienen
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Staats- & Bildungsauftrag

Die Gebrauchtwoche

21. – 27. Januar

Als die ARD vorigen Donnerstag parallel zur Verkündung von Florian Silbereisen als neuer Traumschiff-Kapitän wie jedes Jahr um diese Zeit ihr fiktionales Angebot in Hamburg präsentierte, war endgültig klar: Den Kampf ums junge Publikum hat sie aufgegeben. Nicht, dass die Saison frei von Qualität wäre. Auch 2019 bietet das Erste soziokulturell relevante, dabei oft unterhaltsame oder auch nur leichtverdauliche Filme für reife, aber keinesfalls nur vergreiste Zuschauer an. Allein, es fehlt an zwei Zukunftsaspekten: Das Boom-Thema Serie bleibt komplett auf die Zielgruppe 60+ zugeschnitten. Und experimentelle Low- oder Mid-Budget-Projekte für die Generation Y bis Z werden allenfalls mal für Funk produziert, also das genuine Internet.

Wenn aber der Randgruppensport Handball zugleich achtstellige Quoten einfährt, damit das Doppelte des Dschungelcamps und mehr als der Rückrundenstart der Fußballbundesliga, kann man den Verantwortlichen schwer verdenken, weiterhin den Massengeschmack der Stammzuschauer zu bedienen. Das macht die lineare Konkurrenz schließlich nicht anders, sie macht es halt nur ohne Staatsver- oder Bildungsauftrag. Das merkt man dem privaten Programm allerdings oft ebenso an wie den Portalen. Die 8. Staffel der einstigen Sat1-Serie Pastewka zum Beispiel ist auf dem Streaming-Asyl von Amazon Prime abermals so vulgär vollgestopft mit Schleichwerbung, dass Folge 4, die fast vollständig in einem Elektromarkt spielt, nicht mehr ausgestrahlt werden darf.

Der zurückgekehrte Frauensender tm3 von Timo C. Storost zeigt auf der früheren Frequenz von Familiy TV dagegen so viel Content, ohne die Rechte daran zu besitzen, dass sich der Mediendienst DWDL fragt, warum es den Spartenkanal überhaupt noch gibt. Der DWDL-Konkurrent Meedia kriecht derweil dem Springer-Konzern beim Bericht über eine Bild-Veranstaltung in Rostock so tief in den Allerwertesten, dass man die heillos überdrehte Aufmerksamkeit sämtlicher Medien für das Schicksal eines verschütteten Jungen in Spanien fast schon für echte News halten könnte, statt das, was es ist: Pure Emotionalisierung.

Gibt’s denn auch was Positives aus der kommerziellen Welt des Fernsehens zu vermelden? Ja! HBO plant ein Prequel der Sopranos, die vor 20 Jahren nicht weniger als das neue Kino Fernsehserie revolutioniert haben. In der Hauptrolle als psychotischer Mafia-Boss: James Gandolfinis Sohn Michael. Zu sehen wäre das hierzulande dann vermutlich bei Sky.

Die Frischwoche

28. Januar – 3. Februar

Dessen Gegner Netflix präsentiert am kommenden Freitag gleich zwei bemerkenswerte Formate: Dan Gilroys Mystery-Horror-Thriller Die Kunst des toten Mannes, der voriges Jahr mit Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle auf dem Sundance-Festival für Furore gesorgt hatte. Und parallel dazu die Dramaserie Russian Doll, eine Art Und täglich grüßt das Murmeltier aus New Yorks schillernder Subkultur, in der ein russisches Model jede Nacht auf derselben Party stirbt, um tags drauf lebendig dort zu landen. Eine Art Küchenmurmeltier ist Tim Mälzer.

Seit er vor 15 Jahren den Fernsehkochboom losgetreten hat, war er immer wieder totgesagt, aber nicht totzukriegen. Heute kehrt er, zumindest hinter den Kulissen, zur Alltagsküche à la Schmeckt nicht, gibt’s nicht zurück und lässt vier Kollegen auf RTLplus werktäglich ab 17 Uhr essen & trinken. Für jeden Tag zubereiten. Wer’s mag… Wer drei Stunden später den ZDF-Beitrag zur Publikumsüberalterung mag, dem ist hingegen echt nicht mehr zu helfen. Der Zweiteiler Bier Royal, eine Art modernisiertes Erbe der Guldenburgs, will unbedingt den zynischen Glamour von Dietls Kir Royal auf eine Münchner Brauereidynastie anno 2019 übertragen, gerät dabei jedoch so platt und öde, dass Dallas vergleichsweise Shakespeare war.

Donnerstag ist übrigens Welt-Jodie-Whittaker-Tag. Die hinreißende Hauptdarstellerin der britischen Krimi-Sensation Broadchurch ist im Arte-Vierteiler Verrate mich nicht als Krankenschwester in falscher Existenz zu sehen und übernimmt parallel dazu als erste Frau den Titelpart der Serien-Legende Doctor Who auf Sky. Da dürften britische Populisten ähnlich laut aufheulen wie deutsche beim Anblick der farbigen Florence Kasumba als neue Tatort-Kollegin von Maria Furtwängler alias Charlotte Lindholm am Sonntag. Apropos Krimi: Kühn hat zu tun ist zwar eher ein Gesellschaftsporträt, aber ganz ohne Kommissar möchte die ARD mit dem tollen Thomas Loibl in der Hauptrolle offenbar selbst am Mittwoch nicht mehr unterhalten. Noch ein kurzer Doku-Tipp für Couch-Potatoes: Vox widmet dem Samstagabend mal wieder ein einziges Thema, diesmal: Planet der Dicken um das Übergewicht der Industrienationen.

Die Wiederholung der Woche reist in eine davon: Italien. Der WDR zeigt heute um 23.20 Uhr die bitterböse Realsatire Il Divo von 2008 über den siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, der insgesamt 33 Regierungen korrumpiert hat und den Vulgärpopulisten von heute somit zur Machtübernahme verhalf. Der Tatort: Im freien Fall spielt kurz zuvor (22 Uhr, RBB) dagegen im kultivierten Milieu der Münchner Kunstszene, wo Leitmayer und Batic 2001 noch mit sehr dunklem Haar ermitteln.


Júníus Meyvant, Special-K, Dendemann

Júníus Meyvant

Guðmundur Kristinn Jónsson, Hljóðriti, Unnar Gísli Sigurmundsson – wer im Kosmos des Northernsouthernsonstwoclassicsoul zuhause ist, der seinen Fetisch rarer Seveninches im weißen Cover pflegt wie Metalheads ihre Kutten, dürfte damit wenig anfangen. Noch! Denn ersterer ist ein isländischer Produzent, der im zweitgenannten Studio für letzteren ein Album aufgenommen hat, das die Nostalgie des Stils mit skandinavischer Verschrobenheit garniert und daher alle Aufmerksamkeit der Platzhirsche verdient. Vor zwei Jahren hatte der orgelsynthetisierte Orchesterpop von Sigurdmundssons Band Júníus Meyvant den Soul noch so aufgeblasen, dass er sein Plattendebüt Floating Harmonies auf maximal gewaltiger Weltbühne uraufführen durfte.

Als die Hamburger Elbphilharmonie noch jung und hip und cool war, flatterte sein kratziges Engelsfalsett durch den großen Saal, dass es die Zuschauer von den Sitzen risse. Auf dem neuen Album Across The Borders (Record Records) nun legt sich der feenhafte Vollbartgesang vom verblüffenden Popkulturstandort Reykjavik zwar nicht mehr über so unglaublich epische Arrangements wie noch 2016. Der eklektisch aufgepoppte Retro-Nu-Funk schafft es aber auch mit etwas weniger Grandezza, selbst Soul-Puristen zu überwältigen. Nicht schlecht für einen Fjordschrat von Westmännerinseln.

Júníus Meyvant – Accross The Boarders (Record Records)

Special-K

Und wo wir uns gerade auf Island befinden. Und wo wir gerade bei flatterhaft durchscheinenden Gesangsstimmen sind. Und wo es hier um zurückhaltenden Pop von autosuggestiver Strahlkraft geht: Neben all den irren, tollen, einzigartig verschrobenen Bands von der präpolaren Insel gibt es jetzt gleich die nächste, besser – ein Soloprojekt, vor dem man nach einer Weile der Gewöhnung instinktiv niederkniet und gar nicht mehr hochkommen will. Es heißt Special-K, und dass der Name ein wenig nach Cornflakes klingt, ist vielleicht ebenso wenig ein Zufall, wie der aktuelle Lebensmittelpunkt Berlin.

Dort nämlich lebt die isländische Künstlerin Katrín Helga Andrésdóttir seit ein paar Monaten, nachdem sie sich daheim bereits im feministischen Rap-Kollektiv Reykjavíkurdætur einen Namen gemacht hatte. Von dort aus hat sie allerdings nicht den HipHop, sondern einen zuckrig süßen, melodramatischen Dreampop mitgebracht, der einzig keyboardbegleitet im Ohr verweht wie entspanntes Atmen und sich dennoch im Gemüt verfängt, als hätte er Widerhaken. Dabei hilft es ungemein, das Special-K ihr Debütalbum I Thought I’d Be More Famous By Now vollumfänglich visualisiert und als Video-Sammlung erstellt hat. Musik zum Fühlen, Gucken, Wirkenlassen.

Special-K – I Thought I’d Be More Famous By Now (Teto Records)

Hype der Woche

Dendemann

Nicht elfenhaft, sondern raubeinig, nicht aus Island, sondern Hamburg, kein Feen-, sondern Sprechgesang – Willkommen zurück im  Plattenbau, hochverehrter Dendemann; was haben wir dich vermisst. Mit seinem ersten Solo-Album seit beun Jahren, das dem besten Titel aller Zeiten von Fettes Brot (Außen Top-Hits, innen Geschmack) ein hinreißendes Vom Vintage verweht vor den Latz geknallt hatte, tritt der nette Daniel Ebel mit da nich für! (Universal) wieder ins Rampenlicht, das er nach dem Abgang aus Jan Böhmermanns Neo Magazin Royale verlassen hatte, und nein – sein Kratzbürstenrap liegt musikalisch betrachtet noch immer nicht im oberen Drittel der Niveauskala. Aber seine Reime, dieses Gefühl für Punchlines, ach, das ganze grandiose Konstrukt: auch ohne Eins, Zwo ist und bleibt Dendemann mit Mitte 40 der Toppoet unter den Poppoeten!


Skadi Loist: Filmvorurteile & Diversität

Wir brauchen einen Kulturwandel

Die renommierte Medienwissenschaftlerin Skadi Loist forscht seit 20 Jahren über Ungleichbehandlung in Film und Fernsehen. An der Film-Universität Babelsberg hat die Gastprofessorin kürzlich nun eine Workshop-Reihe eröffnet, in der sie mit Sendern, Produzenten und Kreativen Stereotype aufdecken und bekämpfen will. Ein Gespräch über vernetzte Männer, riskante Frauen, erfolgreiche Diversität und die rechtspopulistische Reaktion.

Von Jan Freitag

Frau Dr. Loist, beim Pilotprojekt Beyond Stereotypes: Genderbewusstes Erzählen der Film-Uni Babelsberg geht es um neue, diverse Figuren und Narrative – welche sind damit gemeint?

Skadi Loist: Wie der Name des Workshops schon sagt, geht es zunächst darum, Stereotypen jeder Art sichtbar zu machen, ob zum Beispiel weibliche Hauptfiguren in Film und Fernsehen als zickig, emotional, teilzeitbeschäftigt oder mütterlich gezeichnet werden. Erst gestern gab es im Tatort eine, die lesbisch war und wie üblich die Mörderin.

Immerhin mal eine lesbische Figur.

Und immerhin mal nicht die Leiche, wie bei Facebook geschrieben wird. Da beispielsweise Homosexualität in der Fiktion immer noch als etwas Besonderes beschrieben wird, ist unser Hauptziel, Stereotype ausfindig zu machen, die mit der Lebensrealität 2019 nichts mehr zu tun haben.

Bezieht sich der Diversitätsbegriff demnach auf die LGBTQ-Gemeinde nicht heterosexueller Lebensentwürfe?

Nein, das ist nur ein Aspekt unter vielen, die der Komplexität unserer Gesellschaft nicht mehr gerecht werden. Aber ein Fokus liegt natürlich auf der Geschlechterfrage. Wie die größte repräsentative Erhebung über Ungleichbehandlung in Film und Fernsehen der MaLisa Stiftung…

Von Maria und Elisabeth Furtwängler, mit der Ihre Universität und das Erich Pommer Institut den Workshop ausrichtet.

Ihrzufolge kommen in den Medien viel weniger Frauen vor als Männer – und zwar nicht nur fiktional, sondern mehr noch im Informations- und Showsegment. So verheerend die Zahlen aus Diversitätssicht sind, haben sie gezeigt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Inhalten und Erzählweisen auf Bildschirm und Leinwand. Wenn mehr Frauen in Regie, Produktion, Buch verantwortlich sind, sind auch mehr und komplexere Frauenfiguren zu sehen.

Trotz andauernder Thematisierung dieser Ungleichbehandlung durch Initiativen wie ProQuote Film zeigt sich keinerlei Besserung. Woran liegt das?

Auf zwei Worte herunter gebrochen: unconscious bias, also ungewollte, unterschwellige Vorurteile. Die meisten Film-Gewerke sind ja von vorneherein gegendert gedacht. Während im Bereich Make-up und Kostüm zu 90 Prozent Frauen arbeiten, ist das Verhältnis bei Kamera und Ton umgekehrt. Das hat mit Geschlechterzuschreibungen zu tun. So werden Frauen in der Branche immer noch als Risiko gesehen und vermutet, dass sie nicht alles fürs Projekt geben, weil sie sich nebenbei ja noch um Haushalt und Kinder kümmern müssten. Einem Regisseur würde das niemand absprechen, egal ob er Vater ist oder Familie hat.

Aber entscheiden darüber am Ende nicht weiterhin Männer, die unter ihre Führungsetagen bewusst gläserne Decken einrichten?

Sicher, diese gewachsenen Strukturen und Netzwerke existieren. Und weil viele Entscheidungen darin zugunsten all jener gehen, die den Verantwortlichen ähneln, existiert das Ungleichgewicht fort. Das heißt allerdings nicht, dass diese Vorurteile nur von Männern gepflegt werden. Deshalb ist es nicht mit Quoten getan. Wir brauchen einen echten Kulturwandel, der sich nicht als Kampf gegen Männer versteht, sondern für Fairness und Gerechtigkeit. Da müssen wir uns etwa fragen, warum sich 50 Prozent hochqualifizierte Absolventinnen der Filmhochschulen später nicht annähernd auf den Führungsebenen der Branche wiederfinden.

Und Ihr Lösungsansatz?

Wir müssen den Menschen klarmachen, wie viel kreatives Potenzial durch dieses System verloren geht, wie viel Mehrwert. Und weil es in unserem Workshop ums Erzählen geht: wie viel reicher wären Geschichten, wenn sie nicht nur von und aus Sicht von Männern erzählt würden. Diese Mutlosigkeit der Branche, alte Strukturen zu zerschlagen, müssen wir angehen.

Aber wie soll das gelingen, wenn die Branche nicht mal den Mut aufbringt, mehr Geschichten ohne Mord und Totschlag, also kriminalistischen Kern zu erzählen?

Unser Grundansatz ist erstens, möglichst viele Partner ins Boot dieser Debatte zu holen. Deshalb sind mit der FFA und dem Österreichischen Filminstitut Filmförderer und mit ARD Degeto, ZDF, UFA und Sky ebenso Sender und Produktionshäuser dabei. Andererseits ist uns wichtig, die Handelnden der Arbeitsprozesse dabeizuhaben, also Kreative und Gewerke, aber auch Redakteur*innen. Der Dialog ist ein Anfang, aber wir wollen, dass er von Dauer ist.

Erwachsen aus diesem Dialog bereits konkrete Forderungen?

Wir sind keine Gruppe von Aktivisten und Aktivistinnen, sondern praxisbezogene Diskussionsplattform, und streben daher auch kein Manifest oder ähnliches an, sondern eine Auseinandersetzung mit unserer praktischen Arbeit, quantitativ und qualitativ, vor allem inhaltlich.

Aber wäre es bei aller Selbstverpflichtung nicht zielführender, den rechtlichen Rahmen mit zu verbessern, etwa durch Änderungen am Rundfunkstaatsvertrag?

Unser Workshop setzt auf anderer Ebene an. Wir wollen ihn in anderen Städten mit anderen Filmhochschulen und anderen Gewerken fortsetzen. Kamera ist bislang noch gar nicht dabei oder das Casting. Daran müssen wir arbeiten; mit einem ersten Workshop für 18 Leute ist es da noch lange nicht getan. Bis dahin ist es allerdings unser Ziel, inhaltlich zu diskutieren, aber auch zu schauen, wo es bereits positive Veränderungen und gute Beispiele gibt.

Was wäre das denn, gibt es positive Veränderungen?

(überlegt lange) Schon, aber es ist schwierig, da einzelne rauszuziehen.

Uns fiele da die Lindenstraße ein, der Diversität bei aller dramaturgischen Schwäche von Beginn an ein sichtbares Herzensanliegen ist.

Die Lindenstraße hat über viele, viele Jahre verlässlich eine Vorreiterrolle eingenommen, nur: 2020 ist mit der Serie bekanntlich Schluss. Wen wir beim Pilotprojekt dabeihaben, ist zum Beispiel Dr. Lisa Blumenberg. Als Ideengeberin und Produzentin der ZDF-Serie Bad Banks hat sie voriges Jahr bewiesen, dass man herausragendes Fernsehen mit drei Frauen in tragenden und untypischen Rollen produzieren kann.

Die allesamt permanent den Bechdel-Test bestehen, weil sie selbst untereinander nicht bloß über Männer reden.

Sondern über Wirtschaft und Politik, ganz genau. Wobei die Geschichte fast ebenso starke Männerfiguren hat; es dreht sich nur endlich mal nicht alles nur um sie. Und Diversität wird darin auch nicht nur am Geschlecht festgemacht, sondern an der Herkunft – mit einer deutsch-asiatischen Bankerin, ihrem arabisch anmutenden Kollegen und einem körperlich behinderten Steuerfahnder. Da ist wirklich mal alles sehr durchdacht dabei.

Könnten die Trippelschritte hin zur Diversität in absehbarer Zeit dazu führen, dass ein Transmensch, um dessen Gender Null Aufhebens gemacht wird, im Tatort ermittelt?

Da bin ich jetzt ein bisschen skeptisch. Ich fürchte, das ist zwei Schritte zu weit gedacht.

Wird ihr Workshop dahingehend etwas bewirken?

Klar! Sonst würden wir ihn ja nicht machen. Wir sagen ja nicht akademisch von oben, wie es gemacht wird, sondern laden zur Diskussion mit allen ein und machen Angebote zur Unterstützung. Was mich da besonders zuversichtlich macht: wir kämpfen nicht mehr gegen Windmühlen! Besonders auf der Ebene des Kinderfernsehens, wo die Geschlechterverteilung bislang noch viel schrecklicher war als im Gesamtangebot, tut sich was. Der KiKa-Redakteur Benjamin Manns wird uns drei neue, fortschrittliche Produktionen vorstellen. Es geht also alles noch relativ langsam, aber in die richtige Richtung.

Droht diese Richtung durch den Erfolg emanzipationsfeindlicher Rechtspopulisten nicht gerade wieder umgedreht zu werden?

Wer sich die Situation der Türkei, Ungarn oder den USA anguckt, muss gewiss erkennen, wie schnell sich der Wind drehen kann. Hierzulande allerdings befinden wir uns noch oder bereits an einem Punkt, hinter den man nicht so leicht zurückfallen kann – wenn wir uns gemeinsam offen davorstellen.

Sind die Feinde von Emanzipation und Chancengleichheit demnach auch Ansporn zur vertieften Zusammenarbeit?

Nein, da brauchen wir keinen Ansporn. Ich arbeite seit 20 Jahren in diese Richtung und befinde mich trotz aller rechtspopulistischen Erfolge zusehends in einem Umfeld, das sie auch unterstützt. Wir sollten uns keinesfalls einschüchtern lassen.


True Detective III: Mahershala & Pizzolatto

Schonungslos ohne Schaum

Anders als in der viel kritisierten Staffel 2 knüpft die Fortsetzung von True Detective ab heute auf Sky ans grandiose Debüt der HBO-Thrillerserie an – und skizziert bei der Aufklärung eines Ritualmords gleich noch das reaktionäre Kernland der Trump-Wähler.

Von Jan Freitag

Das Böse, so sehr die Popularier aller Ränder vom Gegenteil brüllen, lauert da, wo man’s am wenigsten erwartet: unter Freunden, Verwandten, Nachbarn. Äußerlich gesehen ist etwa der subtropische Süden Nordamerikas von solch unspektakulärer Ödnis, dass die Menschen darin unmöglich für das infrage kommen können, was ab heute auf Sky ermittelt wird: den Ritualmord an einem Kind. Eigentlich. Doch der Täter hat das Opfer ja nicht nur getötet, sondern betend im Gebirge drapiert, was für seine verschwundene Schwester Schreckliches befürchten lässt. Wer tut sowas bloß?

Gut, in der Realität fast keiner; Ritualmorde sind ein Fetisch des Fernsehens, das sein Publikum lieber mit absurder als realistischer Gewalt unterhält. Aber im Bibelgürtel der USA traut man den Leuten alles zu – was allerdings weder an ihnen noch dem Ort liegt. Es liegt an der Art, wie Nic Pizzolatto beides in Szene setzt. Nach missratenem Zwischenstopp in L.A., verlegt der Showrunner die 3. Staffel True Detective nämlich zurück zum Start seiner Reihe: Arkansas – ähnlich arm, reaktionär, zerrüttet wie das angrenzende Louisiana, wo Woody Harrilson und Matthew McConaughey 2014 Krimiseriengeschichte schrieben.

Jetzt also stochert Oscar-Gewinner Mahershala Ali (Moonlight) mit dem dramaturgisch schlichteren Actiondarsteller Stephen Dorff im provinziellen Dickicht. Ende 1980, am Tag als – wie ständig erwähnt wird – Steve McQueen stirbt, sitzen die Polizisten Hays und West auf einem Schrottplatz und erschießen beim Feierabendbier Ratten. Kurz darauf aber werden sie zu einem Redneck mit Schnauzbart und Basecap gerufen, dessen Kinder verschwunden sind. So beginnt eine Jagd, die den empathischen Hays vom Moment der Tat über ein Wiederaufnahmeverfahren zehn Jahre später in unsere Gegenwart führt, wo der demente Ex-Cop als Protagonist eines True-Crime-Formats auf die Dämonen seiner beruflichen Vergangenheit trifft.

Dieser Wechsel der Zeitebene erinnert wie die Kulisse ans preisgekrönte Reihendebüt. Und wie damals ist alles von einer unterschwelligen Intensität, die das Publikum von der ersten Sekunde bar aller Effekthascherei fesselt. Es beginnt bereits bei den Hauptfiguren. Anders als vor fünf Jahren Detective Rust (McConaughey) und Hart (Harrelson), sind ihre Kollegen Hays (Ali) und West (Dorff) zwar der Hautfarbe, nicht aber dem Wesen nach grundverschieden. Während ersterer bei der Tätersuche im rassistischen Süden gegen eine Mauer der Verachtung prallt, gibt letzterer so wenig auf Vorurteile wie die drei Filmemacher.

Gemeinsam mit Regie-Neuling Pizzolatto skizzieren die erfahrenen Jeremy Saulnier und Daniel Sackheim den white trash, hierzulande wohl mit „Wutbürger“ übersetzbar, schonungslos, aber ohne Schaum vorm Mund. Und diese Neutralität wird durch eine Ästhetik gestützt, in der keine Figur, kein Stein, nicht das kleinste Requisit berechnend wirkt. Die Sonne scheint, nur selten gleißend. Die Kleidung ist zeitgemäß, ohne je kostümiert zu wirken. Und Mahershala Ali darf 25 Jahre berufliches Leiden mit einer Diskretion spielen, an der selbst im Alter kein Fältchen geschminkt daherkommt.

So gelingt es True Detective abermals, ein präzises Gesellschaftsporträt als Kriminalfall zu verkleiden, der nirgends mit Ermittlungsstandards nervt und nebenbei erklärt, warum Donald Trump in Gegenden erfolgreich ist, wo Rasse plus Nation das letzte ist, was weiße Männer in ihrer Misere sinkender Bedeutung noch eint. So relevant, wertes deutsches Fernsehen, kann Entertainment sein.


Fernsehkonsum & Grenzgebiete

Die Gebrauchtwoche

14. – 20. Januar

Was die einen womöglich als Beleg für lebensbereichernde Freizeitgestaltung betrachten, das halten andere womöglicher für den Untergang des TV-Abendlandes: Laut einer GfK-Studie sahen die Deutschen 2018 mit 217 Minuten pro Tag zwar nur vier weniger fern als im Rekordjahr zuvor; das liegt aber ausschließlich an denen über 50, die mittlerweile mehr als fünf Stunden pro Tag glotzen, während der Konsum in der Zielgruppe drunter radikal sank – bei den 14-  bis 29-Jährigen gar auf Spielfilmlänge.

Worauf sich altersübergreifend in der Vorwoche – Mediathekenzugriffe nicht eingerechnet – nochmals gut fünf Millionen Zuschauer einigen konnten, war einmal mehr das Dschungelcamp. Nach holprigem Start erzielt RTL kurz vorm Finale seiner Cash-Cow am kommenden Samstag also wieder Topquoten. Was vor allem daran liegt, dass die Teilzeitbewohner des australischen Kleintierrestaurants trotz Dauerbeobachtung durch Dutzende Kameras als vergleichsweise real gelten, unverstellt, ja wahrhaftig.

Alles Dinge, die man von der WDR-Reihe Menschen hautnah bei aller Kritik am seifigen Charakter irgendwie auch immer gedacht hatte. Nun aber wurde bekannt, dass eine Autorin mehrere Alltagsprotagonisten der Porträtreihe gecastet hat, was uns wieder und wieder und wieder zum Fall Claas Relotius mitsamt der Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Fernsehformate bringt. Ohne die Aufrichtigkeit durchdachter Medien kriegen rechtsradikale Spinner wie die Identitären halt nur immer noch mehr Rückenwind, der sie erst kürzlich dazu animiert hat, von der taz über den Spiegel bis zur Tagesschau politisch missliebige Redaktionen zu attackieren.

Am Bildschirm heißt ein durchaus wirksames Gegenmittel gegen die geistig Armen, aber physisch Präsenten unverdrossen: Gutes, relevantes, breitenwirksames Angebot an alle. So, wie es das Grimme-Institut dieser Tage für den wichtigsten TV-Preis nominiert hat. Unter den 70 Kandidaten sind viermal RTL, fünfmal funk, meistens ARZDF und erstmalig – Achtung! – Youtube mit dem unermüdlichen LeFloid und der Talkshow Neuland. Gegen den Favoriten Bad Banks (ZDF) dürften Online-Serien wie Hackerville (TNT) oder Das Boot (Sky) zwar keine Chance haben. Aber Streamingdienste zählen längst automatisch zum Kreis der Preisanwärter.

Die Frischwoche

21. – 27. Januar

Deshalb beginnen wir die aktuellen Highlights auch einfach mal mit denen. Die Miniserie Valley oft the Boom etwa, in der Sky seit gestern Nacht die frühen Jahre des Silicon Valley nachstellt. Ab Mittwoch dann an gleicher Stelle die 2. Staffel der herausragenden Hotelzimmeranthologie Room 104, gefolgt von der 9. Staffel Pastewka ab Freitag auf Prime Video, wo die Titelfigur seine Freundin zurückerobern will und dabei ähnlich unterhaltsam wie bei Sat1 und hoffentlich weniger Schleichwerbung als in vorherigen Zyklus am eigenen Ego zerschellt. Parallel dazu zeigt Sky aber das absolute Zuckerl dieser Tage: Der Pass, eine Art deutsch-österreichische Die Brücke, bei der Nicholas Ofczarek und Julia Jentsch als grundverschiedene Cops Ritualmorde im alpinen Grenzgebiet aufklären. Das ist vom Thema her zwar arg aufdringlich, ästhetisch und dramaturgisch aber vielfach herausragend.

Was man am Mittwoch weder von ARD noch ZDF sagen kann. Im Ersten inszeniert Tödliches Comeback die heillos unwahrscheinliche Konstellation eines Kleinganoven, dessen Sohn bei der Mordkommission anheuert, mit Paps einen Fall löst und trotz des großartigen Martin Brambach die Frage aufwirft, warum selbst Komödien in Deutschland ohne Polizei schwer denkbar sind. Im Zweiten ist die Vorabendserie Die Spezialisten weiter so flach, dass selbst die tolle Alina Levshin als soziopathische Forensikerin das tiefe Niveau nicht hebt.

Bleiben zwei öffentlich-rechtliche Dokus. Morgen um – danke, ZDF – Mitternacht erklären uns Dimitrij Kapitelmann und Ralf Dörwang in Meschugge oder was, warum hierzulande 100 Menschen pro Jahr zum Judentum konvertieren. Und Freitag (21.50 Uhr) zeigt Arte den überwältigenden Konzertfilm Rammstein: Paris, für den Jonas Akerlund einen Auftritt der Brachialrocker 2017 mit 30 Kameras eingefangen hat. An der Grenze zur Doku ist hingegen der Tatsachenspielfilm Nebel im August mit Sebastian Koch als empathischer Euthanasie-Arzt nach Robert Domes gleichnamigem Roman, für den das ZDF die zugkräftige Geisterstunde am Sonntag geräumt hat. Danke … ach, das hatten wir ja schon.

Zu den Wiederholungen der Woche: In schwarzweißer Erinnerung kann man Samstag (23.35 Uhr, MDR) in der Wallace-Verfilmung Das Rätsel der roten Orchidee von 1962 mit Christopher Lee als Polizist, Eddi Arent als Ulknudel und Klaus Kinski als Klaus Kinski schwelgen. Farbig zeigt Tele5 tags drauf (20.15 Uhr) Monty Pyhtons Das Leben des Brian (1979), gefolgt vom fünf Jahre älteren Ritter der Kokosnuss. Und der Tatort: Mann über Bord begleitet Kommissar Borowski heute (22 Uhr, RBB) ins Jahr 2006 zu einem Mord auf hoher See.


De Staat, Frances Cone, Scarabæusdream

De Staat

Wer der alternativen Rockmusik jenseits tradierter Anti-Riffs und -Gesten noch wirklich Neues abgewinnen will, muss sich schon was einfallen lassen. De Staat haben sich dafür zweierlei erwählt: Einen aufgeweckt dystopischen Kunstpunk voller Sprachwitz, Spielfreude, Drones und Samples, gern visualisiert in Videos von ikonografischer Wucht. Mit Witch Doctor zum Beispiel hat die holländische Band um den charismatischen Sänger Torre Florim dabei fast, hüstel, Kultstatus erreicht. Und jetzt also KITTY KITTY.

Stilistisch angelehnt an Maximo Parks Meisterwerk Our Velocity zoomt die Kamera beim Opener ihres sechsten Albums Bubble Gum immer wieder auf das Quintett aus Nijmegen, das sich dabei permanent vervielfältigt. Dazu schleicht ein hypnotischer Bass unterm proklamatorischen Gesang über die Welt im Griff Donald Trumps hindurch, dass man sich in Film und Song verlieren kann. Wie in fast jedem der elf  variabel sägenden Stücke, die selbst für Autotune, R’n’B und Nu Metal nie zu monochrom sind. Ein irres, aber eingängiges Album.

De Staat – Bubble Gum (Caroline)

Frances Cone

Das neue Video von Frances Cone Arizona dagegen sticht mit wenig hervor, das sich nicht durchs Genre des Duos aus Nashville/Tennessee erklären ließe: gleißend trüber, leicht zerkratzter Indie-Pop, visuell in Zeitlupenbildern von Hedonisten mit Haltung vermittelt, die sich zwischen Lagerfeuer und Landstraße zwar mit der der hinreißenden Natur des amerikanischen Bible Belt, nicht aber dem reaktionären Konservatismus darin gemein machen. Obwohl – so funktioniert Neo Folk ja fast immer…

Und doch ist das Duo der gelernten Pianistin Christina Cone, die mit ihrem Bassisten und Freund Andrew Doherty eine Gemeinschaft fürs Leben bildet, weit mehr als der alternative Mainstream des zugkräftigen Metiers. Manchmal leicht schwulstig, meist angenehm rau erzählt die Tochter einer Opernsängerin wenige Millimeter unterm Rand nostalgischer Verklärung vom Gestern im Heute und erzielt damit eine Wirkung, die nicht ohne Grund millionenfach gestreamt wird, ohne Starrummel zu erzeugen. Die Nische für die Masse.

Frances Cone – Late Riser (Living Daylight Records)

Scarabæusdream

Dass Rockbands im Schnitt drei bis fünf Mitglieder und mindestens ein Saiteninstrument haben, hat die Digitalisierung des Pop zwar hinlänglich widerlegt. Trotzdem bleibt es bemerkenswert, wenn Rockbands ohne größere Unterstützung elektronischer Hilfsmittel auf Bass und Gitarre verzichten. Falls das allerdings doch gelingt und dann auch noch so grandios klingt wie Scarabæusdream, ist es kein Wunder, dass dieser ungemein gelungene Versuch der Reduktion mit größtmöglicher Opulenz aus dem Wunderpopland Österreich kommt, wo die Kulturszene seit langem schon auf engstem Raum ein Mehrfaches der Kreativität ihres nördlichen Nachbarlandes generiert.

 

Mit nichts als Schlagzeug und Piano erzeugen Hannes Moser und Bernd Supper eine Wall of Sound, als habe ein ganzkörpertätowiertes Symphonieorchester in Johannes Caps Studio gesessen, um sein drittes Album aufzunehmen. Zwischen Mathrock und Kammermusik, Postpunk und Neoklassik füllen allerdings nur zwei hagere Virtuosen den Raum mit einem Klangkonvolut, das dem Publikum alles, echt alles abverlangt. Aber es es lohnt sich! Suppers Stimme wechselt zwar bis an die Schmerzgrenze von Screamcore über Countertenor zum Hairmetal und zurück; doch jedes der zehn Stücke lotet die Bandbreite des Noise-Spektrums so ergreifend aus, dass man von Ideenreichtum und Leidenschaft schlicht mitgerissen wird. Hypnosemusik.

Scarabæusdream – crescendo (Noise Appeal Records)


Isabell Sonnenfeld: Google & Gefahr im Netz

Quasi Hilfe zur Selbsthilfe

Nachdem sie mit 26 Jahren Twitter in Deutschland aufgebaut hat, wechselte Isabell Sonnenfeld 2015 zu Google und verantwortet dort mit Anfang 30 das News Lab, eine Art Schnittstelle zwischen Internet und Journalisten für eine – so sieht es zumindest ihr weltumspannender, mächtiger, hoch umstrittener Arbeitgeber – bessere Berichterstattung im digitalen Zeitalter. Ein Gespräch über Medien im Zeitalter von Populisten und Fake News, Herausforderungen statt Bedrohungen und wie man so jung schon so viel bewegen kann.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Sonnenfeld, ist Google ein Medium im Sinne eines Zwischenhändlers oder Lieferanten von Information und Wissen?

Isabelle Sonnenfeld: ​ Google ist ein Technologie-Unternehmen, das mit der Suchmaschine eine Plattform aufgebaut hat, um Informationen besser im Netz zu finden. Wir geben tagtäglich milliardenfach Antworten auf Fragen unserer Nutzerinnen und Nutzer, leiten aber auch Verlagsinhalte weiter – beispielsweise auf der Suche nach politischen News.

Aber greift die ​Google News Initiative​ mit dem von Ihnen geleiteten ​News Lab nicht aktiv in den Informationsbildungsprozess ein und wird so vom Vermittler zum Produzenten?

Nein, wir greifen inhaltlich nicht ein. Ich würde hier eher von “ermöglichen” sprechen. Die Google News Initiative will Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit geben, Technologien bei ihrer Arbeit zu nutzen. Dazu gehören Recherche und Storytelling, aber auch Erlös-Chancen. Es geht, abgesehen von einem Know-How zu nötigen Tools, vor allem um das Training. In den ersten drei Jahren der Initiative haben wir mehr als 50.000 Journalistinnen und Journalisten darin geschult, mit den passenden Werkzeugen richtig umzugehen, damit die Medienbranche optimal für das digitale Zeitalter gerüstet ist.

Das klingt jetzt durch und durch altruistisch. Welche Intention steht aus Sicht des Konzerns hinter solchen Projekten?

Es geht darum, Partner zu sein, aber auch Verantwortung wahrzunehmen. Google pflegt seit mehr als 15 Jahren den intensiven Austausch mit Verlagen und Medienunternehmen in der ganzen Welt und die Forderung, diesen Austausch zu institutionalisieren, kam von Seiten der Verlage. Deshalb haben wir in Europa die ​Digital News Initiative​, kurz DNI, mit dem ​News Lab ​ als Trainingseinheit für Redaktionen und redaktionelle Innovation aufgebaut und für drei Jahre mit 150 Millionen Euro ausgestattet. Im März dieses Jahres haben wir die DNI als globale Google News Initiative erweitert. Als eine der größten teamübergreifenden Google-Projekte, bei dem auch Strategie- oder Produkt-Units und Web-Anwendungen wie YouTube zusammenkommen, hat es sich zu einem Meilenstein entwickelt.

Auf welchen Feldern konkret?

Eine Rückmeldung, die wir immer wieder von Verlagen erhalten, bezieht sich auf die Ladegeschwindigkeit der Verlagswebseiten. Online-Leser springen von diesen Seiten ab, wenn der Ladevorgang eines Artikels zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Wir beobachten, dass 53 Prozent aller Nutzer das Laden einer mobilen Webseite abbrechen, wenn dies länger als drei Sekunden dauert. Um dieses Problem gemeinsam zu lösen, haben wir das Open-Source-Projekt ​Accelerated Mobile Pages (AMP) entwickelt. Wenn wir das Internet so beschleunigen, dass Inhalte schneller konsumiert werden können, verbessern wir auch den Journalismus insgesamt. Anfang diesen Jahres haben wir Google Subscribe auf den Markt gebracht um Verlagen weitere Erlösquellen zu ermöglichen.

Klingt immer noch selbstloser als von einem profitorientieren Konzern erwartet…

Das Geschäftsmodell dahinter ist simpel: Wir sind nur dann erfolgreich, wenn auch unsere Partner, in diesem Fall die Verlage, erfolgreich sind. Die Google-Suche basiert darauf, dass die gefundenen Inhalte dem qualitativen Anspruch der Anfrage entsprechen. Medienmarken erfolgreicher zu machen, ist auch für uns wirtschaftlich von Nutzen. Dabei dürfen wir aber nie vergessen, dass seriöser Journalismus – gerade in Zeiten des Populismus – eine der wichtigsten Säulen lebendiger Demokratie ist.

Sind das die „wichtigsten Herausforderungen“, bei denen sie Journalisten laut Selbstbeschreibung Ihres News Labs unterstützen wollen?

Auch. Denn für die freie Meinungsbildung ist der freie Zugang zu einer ausgewogenen Informationsbandbreite unerlässlich. Wenn wir die Verlage hochwertiger Medien darin fördern, zahlt sich das auch für uns aus. Mit der Weiterentwicklung entsprechender Tools und Instrumente fördern wir nicht nur die ausgewogene Berichterstattung, sondern auch unsere Erwerbsmöglichkeiten.

Google liefert aber nur die technische, nicht die inhaltliche Basis?

Richtig. Wir schulen Journalistinnen und Journalisten in den Trainings nicht inhaltlich, sondern erklären Ihnen, wie sie unsere Angebote langfristig nutzen können – über bekannte Tools wie Google Trends und ​User-generated Content ​ auf YouTube bis hin zu Google Earth. Es mir persönlich ein großes Anliegen, dass sie sich intensiv mit den erwähnten neuen Herausforderungen auseinander setzen. Ich bekomme viel Feedback von Daten-Journalisten, die den Online-Dienst ​Google Trends nutzen und uns Hinweise darauf geben, wie man bestimmte Features zum beiderseitigen Nutzen verbessert. Die GNI sieht sich ganz klar in der Vermittlerrolle.

Wenn wir als Journalisten Probleme bei oder Fragen zur Arbeit mit Ihren Werkzeugen haben, können wir uns also jederzeit kostenlos an Google wenden?

Ja. Wir erhalten zum Beispiel viele Anfragen aus Redaktionen, die wissen möchten, wie sie Informationen oder Videos mithilfe von Google Earth verifizieren können.

Haben Sie das Labor nach drei Jahren schon mal evaluiert?

Nicht im Sinne eines Zwischenfazits. Es gibt drei Dinge, die für mich von Relevanz sind: Zum einen haben wir den Austausch zwischen Verlagen und uns verstärkt. Zum anderen haben wir die Herausforderungen der Verlage und Redaktionen herausgearbeitet und Möglichkeiten, wie wir sie gemeinsam angehen können. Und zuletzt haben wir es geschafft, mit den Partnern der Medienbranche Innovation im Journalismus auf technologischer Ebene definieren zu können. Neben dem News Lab hat der Innovationsfonds vom April 2015 dazu geführt, dass in den Redaktionen über neue Technologien nachgedacht wird. Von dort wird mir berichtet, dass allein die Bewerbung für den DNI Fonds oder auch unsere Trainings eine Initialzündung für die spätere Entwicklung von journalistischen Formaten oder Produkten ist.

Quasi als Hilfe zur Selbsthilfe?

Wenn Sie so wollen, etwa um zu unterschiedlichen Themen journalistische Prototypen zu entwickeln, die sich mit Audio, Video oder Podcasts befassen, aber auch Virtual Reality und Data Journalism. Es geht vor allem um das Experimentieren.

Auffällig ist aber ja, dass Google diesbezüglich vor allem auf den Märkten aktiv ist, wo die Pressefreiheit zwar unter Druck gerät, aber noch nicht bestandsgefährdet ist.

Die Google News Initiative ist mit den drei Bereichen “Produkt”, “Partnerschaften” und “Programme” global angelegt.

Das News Lab ist also auch in einem Land wie China anwendbar?

Die ​Google News Initiative ​ ist zunächst ein globales Anliegen und arbeitet in den wenigsten Ländern allein, sondern mit Partnern vor Ort – zum Beispiel mit ​Code for Africa​, die Trainings oder Hackathons organisieren. Das ist allerdings erst der Startpunkt eines wirklich globalen Ansatzes und für alle Mitwirkenden einerseits ein moralischer, andererseits ein wirtschaftlicher Faktor.

Wie groß ist denn dieser wirtschaftliche Faktor?

Über die Google-Suche und Google News kommen Millionen von Leser auf die Webseiten der Verlage. Wir leiten monatlich über zehn Milliarden Klicks kostenlos zu den Verlagswebseiten weiter. Außerdem vermarkten wir Werbung auf diesen Webseiten. Rund zehn Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr an unsere Publishing-Partner ausgespielt. Die Google News Initiative wurde mit 300 Millionen Dollar über dreieinhalb Jahre aufgesetzt. DNI, im April 2015 gestartet und als Grundlage für die jetzige GNI, war mit 150 Millionen Dollar aufgesetzt worden.

Wird sich durch die Änderung des EU-Leistungsschutzrechts da etwas für Google News ändern?

Wie Richard Gingras dem Guardian erklärt hat, gibt es mehrere Varianten des Europäischen Leistungsschutzrechts, die diskutiert werden. Es ist zu früh, um zu spekulieren, welche Auswirkungen die finale Direktive auf unsere Produkte hat. Wir begrüßen die Möglichkeit, mit politischen Entscheidern und der Medienbranche an einer Lösung zu arbeiten, die für den Journalismus und die Verlage gewinnbringend ist.

Also wird der Fonds neu aufgelegt?

Die sechste und letzte Bewerbungsrunde lief bis Anfang Dezember. Seither evaluieren wir den DNI-Fonds. Und noch ist der aktuelle nicht geleert worden. Bislang hat er mehr als 115 Millionen Euro für 559 Projekte im Bereich des digitalen Journalismus in 30 europäischen Ländern zur Verfügung gestellt.

Und welche Länder sind das?

Die üblichen, in denen sich die Verlagsbranche schon frühzeitig mit technologischer Innovation auseinandergesetzt hat, z.B. in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Es wurden aber auch Projekte aus Ländern gefördert, von denen man es weniger erwartet hätte, wie Dänemark, Polen und Ungarn.

Geht die Initiative allein von Ihnen, also dem Anbieter, oder den Verlagen also Nutzern aus?

Das ist immer wechselseitig. Die Verlage haben großes Interesse, auch im freien Raum Projekte zu entwickeln, für die die Routine des Produktionsalltags weder Zeit noch Ressourcen zulässt.

Aber Google spricht die Medien nicht von sich aus an und weist sie daraufhin, welche Defizite oder Verbesserungsmöglichkeiten deren Online-Auftritt noch haben?

Sicherlich diskutieren wir im engen Austausch Verbesserungsmöglichkeiten. Der DNI Fonds ist ein offener Call to Action, sich mit innovativen Ideen zu bewerben. Und auch bei unseren News Lab Trainings können wir Tipps geben, wie sich journalistische Werkzeuge einsetzen lassen können. Wir geben keine inhaltlichen Ratschläge, gelegentlich helfen wir aber dabei, den Fokus neu zu justieren. Die Ideen zu den verschiedenen Projekten kommen aus den Redaktionen.

Aber gibt es gerade aus kritischen Redaktionen nicht den Vorwurf des informationellen Greenwashings, also dass sich die Datenkrake Google, der gerade mal wieder vorgeworfen wird, sich der chinesischen Zensur zu unterwerfen, ein soziales Gewissen erkauft?

 

Wir arbeiten seit 15 Jahren intensiv mit der Medien- und Verlagsbranche zusammen. Diese Zusammenarbeit wurde durch die GNI nur institutionalisiert – und hat übrigens auch unsere eigene Arbeit nachhaltig verändert. Ohne die Initiative hätten wir ein Open-Source-Projekt wie AMP womöglich niemals in Kooperation mit den Verlagen realisieren können.

Die Antwort lautet also: Nein, kein Info-Greenwashing?

Bei einem Technologiekonzern der Größe von Google steht dieser Vorwurf immer im Raum, keine Frage. Umso mehr glaube ich, dass man ihm nur durch offenen Austausch aller Beteiligten eines qualitativ hochwertigen Journalismus konstruktiv begegnen kann. Allerdings immer als Partner, nicht als Content-Lieferant.

Aber wenn man sich ​YouTube Premium ​ oder ​YouTube Originals ​ ansieht, wo längst eigener Inhalt online geht – konkurriert Google da nicht auch inhaltlich mit Video-on-Demand-Portalen, Streamingdiensten, gar Fernsehsendern?

Nein, denn das beschränkt sich lediglich auf Entertainment – besonders, was YouTube Premium betrifft. Dass wir zum Beispiel eigene Nachrichten produzieren, halte ich für ausgeschlossen.

Es gibt da nicht mal Gedankenspiele?

Nein, derzeit nicht.

Besteht die Aufgabe der ​Google News Initiative ​ inklusive Ihres ​News Lab ​ trotzdem auch darin, das Renommee des Unternehmens zu verbessern?

Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. ​Zu erklären, was wir tun und wollen, ist Teil unserer Verantwortung – ob nun in der Zusammenarbeit mit Medien, Bildungseinrichtungen, anderen Unternehmen oder Nutzern. Um transparent zu zeigen, was im News Lab geschieht, suche ich deshalb den direkten, gerne auch kritischen Austausch. Voriges Wochenende war ich beim „Vocer Innovation Day“ von VOCER und ​Der ​ ​Spiegel ​ in Hamburg, wo genau solche Fragen erörtert werden. Dort Gesicht zu zeigen, beugt Sorgen besser vor als alle Verlautbarungen.

War das Bedürfnis, für Transparenz in der Medienbranche zu sorgen, mit ein Grund, warum Sie vor drei Jahren von Twitter zu Google gewechselt sind?

Die viereinhalb Jahre bei Twitter waren großartig – allein weil es so herausfordernd war, das Geschäft in Deutschland als damals erste Mitarbeiterin bei Null mit aufzubauen. Genau darin liegt auch mein Talent. Und als dann die Idee im Raum stand, das ​News Lab ​ im deutschsprachigen Raum zu entwickeln, empfand ich das als spannende Herausforderung.

Sie sind eine Herausforderungsnomadin?

Ich finde Herausforderungen spannend und wachse gerne an und mit ihnen. Aber eine Nomadin bin ich nicht.

Ziehen Sie dennoch nach dieser hier weiter zur nächsten?

Nein, nein! Ich bin mit meiner Rolle gerade sehr glücklich, suche aber im Kosmos des News Lab ständig neue Herausforderungen.

Als Sie die Herausforderung bei Twitter gesucht haben, waren Sie erst 26 und als ​Head of News, Governance & Politics für Medien und Politik verantwortlich. Woher rührt ihr frühes Interesse an harten Fakten?

Ich habe Europapolitik studiert und wollte eigentlich nach Brüssel. Von dem war ich schließlich aber doch nicht so fasziniert, wie zunächst gedacht. Deshalb habe ich im Masterstudium Politikmanagement mit Fokus auf das Zusammenspiel von Technologie, Politik und Medien studiert. Meine Abschlussarbeit habe ich über Twitter geschrieben, wofür ich unter anderem mehrere Tausend Tweets analysiert habe. Darüber hinaus bin ich von Kindesbeinen an News-Junkie.

Wie kam es dazu?

Schon meine Eltern hatten immer ​Zeit​Spiegel und den ​Bonner General-Anzeiger​ zuhause. Durch die Beschäftigung mit Twitter, habe ich mich dann mit dem Prozess der digitalen Transformation des Journalismus und dessen Geschwindigkeit auseinandergesetzt. Die technischen Möglichkeiten, Informationen zu produzieren und verbreiten, haben mich da besonders interessiert. Diese Interessen werden erst bei Twitter, dann im News Lab perfekt gebündelt. Ich hatte anfangs zwar keine Ahnung, ob ich das kann, bin aber einfach mal los gerannt.

Und haben beim Laufen festgestellt, welche Relevanz digitale Medien und soziale Netzwerke für politische Diskurse kriegen oder war Ihnen das beim Start schon bewusst?

Dadurch, dass ich mir beim Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier ein relativ kleines Spektrum der Twitter-Konversation angeschaut hatte und wie normale User in die Kommunikation der Journalisten und Politiker eingebunden waren – zunächst nämlich fast gar nicht –, war es hierzulande im Gegensatz zu den USA nur zu ahnen. Aber es war ungemein spannend zu beobachten, wie die neuen Kanäle den Journalismus beschleunigt, aber auch niedrigschwelliger gemacht haben. Plötzlich konnte jeder von jedem Ort berichten.

Niedrigschwellig klingt, wenn es um die Verfügbarkeit von Infos und Wissen geht, positiv. Negativer ist, wie sehr seriöse News im Meer unseriöser, oft falscher untergehen.

Das stimmt.

Haben Sie das damals schon kommen sehen?

Anfangs nicht, dafür war die Nutzergruppe in Deutschland zu klein.

Und jetzt?

Hat diese Entwicklung natürlich auch negative Aspekte. Die Verbreitung von Fake News und die Schwierigkeit, sie von richtigen zu unterscheiden – das hat uns im News Lab gerade im Zusammenhang mit Wahlen stark beschäftigt. Wie man damit umgeht, ist allerdings nicht nur technologisch eine Herausforderung. Das betrifft die Branche generell und beschleunigt sich weiter. Das Ausmaß der Manipulation im Netz ist allerdings erst ein paar Jahre so richtig spürbar. Wie sehr der Missbrauch gerade wächst, war damals noch nicht abzusehen.

Sehen Sie, was die Informations- und Debattenkultur betrifft, da optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

Ich sehe die Größe der Herausforderungen. Umso wichtiger ist, dass Technologie- und Medienunternehmen mit NGOs und Experten zusammenarbeiten. Deshalb arbeiten wir im News Lab seit langem mit der internationalen Fact-Checking-Organisation ​First Draft ​ zusammen. Mit dem Fact-Check-Tag können Redaktionen ihre Artikel für die Google-Suche und Google News als zuverlässig kennzeichnen. User erkennen verifizierte Nachrichten dank des Tags sofort. Bei der Bundestagswahl haben wir mit dem Investigativ-Recherchebüro Correctiv zusammengearbeitet. Unsere Unterstützung bestand im technischen Versand eines täglichen Newsletters an deutsche Journalistinnen und Journalisten zum Thema Desinformation.

Sie sprechen konsequent von „Herausforderungen“, nicht „Bedrohungen“ – ist das eine Mentalitätsfrage oder gute PR?

Während man auf Bedrohungen eher reagiert, kann man bei Herausforderungen agieren. Ich benutze das Wort, weil es aus meiner Sicht etwas Aktives hat und den Raum öffnet, statt ihn zu schließen. Das liegt mir mehr.

Wie ist es um Ihren Ehrgeiz bestellt, damit im Unternehmen aufzusteigen?

(lacht) Ich finde mein Arbeitsumfeld gerade sehr spannend, aber frau möchte doch immer über sich hinauswachsen bzw. sich weiterentwickeln, oder? Nach acht Monaten Elternzeit habe ich, bildlich gesprochen, erstmal ein Stück weißes Papier genommen und überlegt, welche Themen und Möglichkeiten sich für News Lab in Zukunft ergeben können. Die erste Woche habe ich deshalb damit verbracht, mich mit Kolleg*innen und meinen Verlags-Partnern zu treffen. Mit einer neuen Perspektive in die Rolle zurückzukommen, hilft auch, kreativer zu sein.

Möchten Sie denn grundsätzlich eher an der Basis bleiben, also im Arbeitsprozess, oder den doch eher von der Spitze weg dirigieren?

Mir gefällt beides. Ich bin gut darin, Neues aufzubauen, aber auch strategisch Dinge weiterzuentwickeln. Ich würde den Job nicht mit soviel Leidenschaft machen, hätte ich nicht den Ehrgeiz, weiter aufzusteigen.

Womöglich auch aus weiblicher Sicht, um den Frauenanteil im Führungspersonal, das besonders in der Tech-Branche extrem männlich ist, zu erhöhen

Ich würde es mal als positiven Beitrag betrachten, unseren Anteil zu erhöhen. Weil zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl in meiner Branche als auch in Medien, Politik und Wirtschaft allgemein weibliche Vorbilder fehlen, ist mir das wichtig. Ich habe vor drei Jahren abseits von Google und Twitter ein Projekt namens „Role Models“ gegründet, das in einem wöchentlichen Podcast und monatlicher Eventreihe weibliche Vorbilder in Spitzenpositionen jeder Art sichtbar macht. Wir hatten in diesem Zusammenhang kürzlich die Justizministerin Katarina Barley auf der Bühne. Sowas inspiriert auch mich selbst ungemein und ich versuche, es auch im Unternehmen voranzutreiben. Aber es ist noch ein langer Weg…


Unsichtbare Kanthölzer & True Detectives

Die Gebrauchtwoche

7. – 13. Januar

Wer aufmerksam Medien hört, schaut, liest, lerntgerade einiges über die Welt da draußen – Begriffe ebenso wie ihre Anwendungsmöglichkeiten. Dass die illegale Verbreitung digitaler Daten zum Beispiel Doxing heißt, dank dessen sich der Grünen-Chef Robert Habeck wortreich von Twitter und Facebook verabschiedet hat, was er drolligerweise über Facebook und Twitter verbreitet. Oder dass Abend für Abend ARD-Brennpunkte aus dem Schneechaos der Alpen kein Widerspruch sein müssen. Und nicht zuletzt, dass Kanthölzer auf glaubhaften Videos zuweilen unsichtbar sind, sofern linke Gewalttäter damit rechte Politiker verprügeln.

Außerdem lernen wir, dass Blattgold nur ein paar Euro pro Bogen kostet, weshalb der Fußballkrösus Franck Ribery für sein Monatsgehalt locker eine Million Stück rohen Fleischesdamit verzieren könnte oder wahlweise ein paar Tausend tranchierte „Pseudo-Journalisten“, denen der Bayern-Profi nach seinem Protzskandal im Wüstensand vorwarf, „immer wieder für meine Handlungen kritisiert“ zu werden. Frechheit aber auch! Fast so eine dreiste wie jene, sich als Claas Relotius auszugeben und deutschen Medienanstalten falsche Interviews mit dem Totengräber der publizistischen Glaubwürdigkeit anzubieten.

Da spricht es dann übrigens unbedingt für die Redaktionen von NDR bis Radioeins, dass sie dem Fake-Betrüger mit falschem Mail-Account nicht auf den Leim gegangen sind – so verlockend der Scoop nach dem Scoop auch gewesen wäre.Umso mehr stellt sich die Frage: Wann wird der Fall bloß endlich verfilmt – wahlweise sachlich mit Heino Ferch als Juan Moreno oder satirisch mit Francis Fulton Smith als Spiegel-Hochhaus am Hamburger Hafen? Das Treatment könnte Harald Schmidt liefern, dessen Medien-Schwank Labaule und Erben gerade donnerstags im SWR läuft und zeigt, dass gute Ideen nicht automatisch gutes Fernsehen hervorbringen.

Dass andererseits selbst abgeschmackte Ideen ausgewiesener Schnulzensender durchaus unterhaltsam geraten können, beweist seit vorigem Montag die Sat1-Serie Der Bulle und das Biest, wo ein arschcooler Cop (Jens Atzorn) mit knuddeligem Hund (Bullmastiff Rocky) auf Kommissar Rex‘ Spuren ermittelt und das erstaunlicherweise garnicht mal peinlich. Aber für Peinlichkeiten ist dieser Tage ja auch das Dschungelcamp zuständig, dem am Freitag bemerkenswerte sechs von zwölf Insassen aus dem eigenen Saft gescheiterter Casting-Karrieren zugeflossen sind – zynisch ergänzt um die vollumfänglich ruinierte Pornodarstellerin Sibylle Rauch, einen Ex-Schlagerbarden namens Orloff und Alfs Synchronstimme mit Mensch.

Die Frischwoche

14. – 20. Januar

Die 17-tägige Fleischbeschau gescheiterter oder noch scheiternder Existenzen dürfte trotzdem auch in 13. Staffel unterhaltsam werden. Im dritten Anlauf gilt das ab heute auf Sky mit einem Vielfachen an Niveau und Stil ebenfalls für die HBO-Serie True Detective. Nach einem Zwischentief der zweiten Staffel kehrt Showrunner Nic Pizzolatto in die Südstaaten zurück. Und obwohl es Oscar-Preisträger Mahershala Ali und sein Action-Kollege Stephen Dorff dabei als erstaunlich ununterschiedliche Cops mit einem dieser heillos überdrehten Ritualmorde zu tun kriegen, ist die Täterjagd im wütenden Mob der Trump-Wählerschaft von unvergleichlicher Intensität.

Ein Attribut, das hierzulande meist nur dann erlaubt ist, wenn sich das Fernsehen wie so oft dem größten aller denkbaren Verbrechen widmet. Der ARD-Mittwochsfilm reist daher mal wieder zurück in die letzten Kriegstage und begleitet unterm denkbar dusseligen Titel Die Unsichtbaren – Wir wollen leben vier untergetauchte Juden (u.a. Alice Dwyer, Ruby O. Fee) beim Versuch, den Nazi-Terror zu im Berliner Untergrund zu überstehen. Wem das ein paar Spuren zu wahrhaftig ist, kann sich ja mit der Scheinwirklichkeit der Scripted Reality auf Vox sedieren, wo 6 Mütter ab Montag zum dritten Mal simuliert, es gehe um echte Sorgen (Kinder!) echter Menschen (Promis!).

So richtige Fake-Realität bietet allerdings erst der Freitagabend, wenn der junge Retortenclub Hoffenheim den tyrannischen Fußballreichsverweser Bayern zum Rückrundenauftakt der Bundesliga live im ZDF zu Gast hat und uns für 90 Minuten sportliche Chancengleichheit vorgaukelt. Betäubt von so viel Publikumsbetrug, kehren wir zurück in die Wahrhaftigkeit der Fiktion und empfehlen als erste Wiederholung der Woche die letzten zwei Teile der dramaturgisch mäßigen, soziokulturell weltbewegenden US-Serie Holocaust (Montag und Dienstag, jeweils 22.10 Uhr, WDR). Nach der Erstausstrahlung 1979 konnte das Tätervolk schließlich endgültig nicht mehr leugnen, von (fast) allem gewusst zu haben. Obwohl: noch immer zögen es viele vor, in einer Matrix zu leben, die Kabel 1 am selben Tag ab 20.15 Uhr wiederholt, statt der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Das versucht 24 Stunden später dafür der BR, wenn es seinen Tatort: Totentanz wiederholt, bei dem Leitmayr/Batic 2002 im damals noch diffusen Umfeld der Partydrogen ermitteln.


Debatte: Klimawandel & Ökodiktatur

Mehr Kauze oder Klimakollaps!

Der Klimawandel ist keine Bedrohung, er ist längst Realität. Und was machen wir Verursacher? Einfach immer weiter wie bisher. Ein linksliberaler Appell zu mehr exekutiver Härte im Umgang mit unser aller Konsumverhalten, der nach seiner Erstveröffentlichung auf Zeit.de tausendfach meist hitzig diskutiert und geteilt wurde.

Von Jan Freitag

Wer im Sommer aus dem Fenster sah, spürte es: Die Klimakatastrophe kommt nicht, sie ist schon da. Und Schuld? Sind wir. Alle. Auch ich, soviel Ehrlichkeit muss sein. Würde das Gros der Menschheit meinen Lebensstil im Herzen einer deutschen Großstadt kopieren, die Erde hätte sich längst um weit mehr als zwei Grad erwärmt. Und das, obwohl ich vegetarischer Radfahrer mit Palmölphobie, Vintagehandy und biodynamischem Umweltschutztick bin, der mich lieber aus Pfützen als Einwegplastik trinken ließe. Meine Frau meint schon, ich werde kauzig. Mag sein. Aber Käuze wie ich müssen allein 6,3 Milliarden Dosen Red Bull kompensieren, deren Herstellung maßgeblich dafür mitverantwortlich ist, dass es zuletzt kaum Pfützen gab.

Trotzdem darf man mich gern als Kauz bezeichnen. Als was ich mich hingegen nicht mehr bezeichnen lasse: Missionarisch. Seit einem Kurztrip in den (Mitte der Neunziger noch masochistischen) Veganismus habe ich mir das Predigen nämlich abgewöhnt. Schlachtlaute im Grillimbiss schon ja damals destruktiv. Mein karnivorere Freund Christopher zum Beispiel hat auf Tierwohlmahnungen hin nur ein zweites Big Meal bei McDreck geordert. Weil Druck nur Gegendruck erzeugt, moralisiere ich daher kaum noch und falls doch, verständnisvoll. Vorleben statt verbieten, lautet die Devise. Und immer schön freundlich.

„Wenn alle wären wie du“, heuchle ich auf die vielen Selbstauskünfte von Karnivoren hin, sie äßen echt voll selten noch Fleisch, „hätte das Klima kein Problem“. Das ist zwar gelogen, aber ich kann dazu sehr glaubhaft lächeln. Doch jetzt ist Schluss mit der Demutsroutine, denn die Katastrophe beginnt ja bereits im Kleinen. Nehmen wir Bäckertüten. Wie viele davon benutzt werden, zählt nicht mal der Fachverband. Da sich die mobile Gesellschaft jeden Snack einzeln verpacken lässt, summieren sich einige Gramm aber auf enorme Tonnagen. Gleiches gilt für Kunststoff. Einzeln wiegt erdölbasiertes Gebinde wenig, pro Kopf werden es gut 25 Kilo – und da ist vom virulenten coffee to go noch gar nicht die Rede, dessen Becher bundesweit 320.000 Mal in den Müll wandert. Pro Stunde.

Wie ich bei all den globalen Problemen auf die lokalen komme? Ich hole mein Mittagessen an der Salatbar ums Eck in der Mehrwegschale. Plaste gespart, gar Bargeld – so mache ich das seit Jahren. Wortlos, versteht sich. Vorleben statt verbieten. Kürzlich aber hab ich den Besitzer gefragt, wer sein Grünzeug sonst eintuppert. Die Antwort, entgeisterter Blick inklusive: Keiner! Genauso lief es zuhause. Seit meinem Einzug 2005 kaufe ich die Brötchen beim Kiosk nebenan im Stoffbeutel, den ich zwar waschen, aber nie wechseln muss. Auch hier die Nachahmerfrage, auch hier das Antwortstaunen: Nullkommanull.

Ähnliches geschah am Bahnhof: Außer mir bringt niemand seinen Kaffeebecher mit, und wer es mal mit diesen fancy Reise-Cups versucht, wird enttäuscht. Passen nicht unter die Maschine, sagt der Barista, leider. Was ich sagen will: Zurückhaltung ist gescheitert und zwar so nachhaltig wie unser Konsum auch dann nicht wird, wenn vor Sylt längst Pelikane brüten. 1972, Willy war Kanzler, hat der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums verkündet, also Verzicht gefordert. 2018, im heißesten Jahr der Neuzeit, werden weltweit eine Billion Plastiktüten verbraucht, die mitverantwortlich sind für den höchsten CO2-Ausstoß seit Messbeginn.

Ausgerechnet jetzt, da sich die Leugnung des Klimawandels auf ein versprengtes, aber lautes Häufchen Rechtsradikaler beschränkt, steigen die Emissionen auf ein Rekordhoch. Und was waren die Aufreger 2018? Flüchtlinge, Fußball, Sommerzeit – im Gegensatz zur Erderwärmung Aufgaben von aufreizender Lösbarkeit. Es ist eine Feuerzangenbowle in Endlosschleife: Während die Einschläge im Vernichtungskrieg des Konsumismus gegen den Planeten näher kommen, sediert sich dessen Bevölkerung mehrheitlich mit Eskapismus wie Diesel-Fahrverboten. Und da sollen wir Aufgeweckten zwar Vorbilder sein, aber die Klappe halten, wie Michael Allmaier rät?

Mit jeder Grenze gegen Amazon-Kunden, SUV-Fahrer oder Fast-Food-Junkies, meinte der ZEIT-Autor kürzlich in einer Breitseite gegen die „Gemeinschaft der anständigen, vernünftigen Menschen“, werde „die richtige Seite kleiner“. Stimmt. Nur: Mit jeder Grenze, die sie nicht zieht, wird auch die Zeit bis zur Sintflut kürzer. Erste Forscher datieren den Point of no Return, an dem sich die Erderwärmung selbst befeuert, aufs nächste Jahrzehnt. Was aber raten reflexive Gänsestopfleberfans wie Herr Allmaier Sparfüchsen wie mir? Heitere Gelassenheit.

Dabei ist auch unser Fußabdruck desaströs. Mein Faible für Käse emittiert wie das für Schokolade oder O-Saft Schadstoffe fern des planetarisch Erträglichen, und vier Flüge pro Jahr heizen den Globus auch dann auf, wenn sie beruflich sind. Ich verhalte mich keineswegs so makellos, wie Fleischesser meinen, wenn sie Vegetariern zuraunen, für den Salat sei ja wohl auch, tihi, Gemüse gestorben. Lustig… Aber ernsthaft: weniger geht immer. Weil das Individuum dazu jedoch außerstande scheint, hilft nur Druck von oben. So schwer es mir als linksliberalem Freund der Eigenverantwortung fällt: Dem Totalverlust unseres Wohlstands nach dem Kollaps kann nur durch unverzügliche, rechtsverbindliche, fiskalisch flankierte Verbrauchssteuerung davor beginnen.

Von rechts schallt es jetzt laut Ökodiktatur! Aber der größte Widerspruch des Anthropozäns besteht nun mal darin, dass wir linksgrün versifften Bilderstürmer mit regierungsamtlicher Macht eine Schöpfung bewahren, die konservative Wachstumsfanatiker nicht selten im Namen Gottes vernichten. Denn was beschneidet wessen Freiheit mehr: ein Tempolimit die freie Fahrt freier Bürger oder deren freie Fahrt meine zum Überleben? Wäre die individuelle Entscheidung wirklich das Maß aller Dinge, wir könnten auch Feuerwaffen freigeben; kann ja jeder selbst entscheiden ob er…

Nein! Da der Klimawandel im Sorgen-Ranking nach Migration, Armut, Rente, Kriminalität, Wohnen nicht mal in den Top-10 ist, muss das dringlichste Problem unserer Zeit grad aus Sicht des Freiheitsgedankens exekutiv gelöst werden. Sofort! Andernfalls wird die Ökodiktatur infolge ständiger Naturkatastrophen, Missernten, Völkerwanderungen bald total. Ein paar Vorschläge im Licht der EU-Entscheidung, ab 2021 Wegwerfplastik zu verbieten: Förderung nachhaltiger Produktion bei steuerlicher Belastung von Flächen-, Ressourcen-, Energieverbrauch, alles gekoppelt an Einkünfte und Vermögen. Ahndung gravierender Umweltverschmutzung als Kapitalverbrechen. Verbot intensiver Landwirtschaft, schwer recyclebarer Verpackungen, von Kohleverstromung, Getränkedosen und (zunächst für Neuwagen) Verbrennungsmotoren bei massivem Ausbau von ÖPNV, Rad- und Mehrwegsystemen, Wind- und Solarstrom, falls nötig im nationalen Alleingang.

Und da der industrialisierte Mensch das größte Risiko ist, muss gar die Subventionierung des Kinderreichtums auf den Prüfstand, von der des Fliegens durch steuerfreies Kerosin ganz zu schweigen. Zwar zeigen etwa 50 Prozent weniger Plastiktüten in zwei Jahren, dass preisbedingte Freiwilligkeit ab und zu Folgen hat; weil sich die Zahl der Flüge seit 2000 verdoppelt, die der Pakete verfünffacht, die der Handys vervielfacht hat; weil wir einmal jährlich das Handy erneuern, dreimal in Urlaub fliegen, fünfzigmal Dinge ordern, siebzigmal Essen und mehrmals täglich Fleisch konsumieren; weil der Benzindurst wieder steigt und auch 198 Kunststoffbeutel pro Kopf das Meer vermüllen, stößt alle Autonomie aber mehr denn je an die Grenzen des Wachstums.

Ich erinnere mich noch gut, wie Opel mal mit Wonderful WorldAutos verkaufte. Jetzt bewirbt Mercedes seine SUV, für die der ADAC breitere Parklücken fordert, mit „Ausdruck innerer Stärke“. Leider begreifen zu wenige, dass die auch im Verzicht besteht – sonst hätte sich Deutschlands Stadtpanzerflotte nicht auf mittlerweile 22 Prozent verzehnfacht. Was da hilft? Die autofreie Stadt, darunter geht’s nicht! Ohne Druck fahren Umweltkiller weiter und weiter und weiter. Mit Vollgas in die Klimakatastrophe.