Der Jazz ist ein erbitterter Erbfeind des grassierenden Jugendwahns. Wer musikalisch spät einsteigt oder früh aussteigt, kann sich dem Sound ergrauter Schläfen ebenso wenig entziehen wie dem Altern an sich. Die Konzeptkünstlerin Catharina Boutari ist gewissermaßen beides: spät eingestiegen, früh ausgestiegen und jetzt wieder zugestiegen auf den D-Zug altersweiser Musik, den sie vor fünf Jahren mit ihrem Debütalbum bestiegen, aber dann erst mal wieder verlassen hatte. Mit irgendwas über 40 ist die Hamburgerin unterm Projektnamen Puder nun wieder an Bord und macht, genau – elaborierten Pop mit Jazz- und Soulelementen. Nur: er klingt irgendwie weder jazzig noch poppig, sondern angenehm ortslos. Was man der Platte unbedingt zugute halten muss.
Denn Session Tapes 1+2 mag zunächst mal ein eher orchestraleres Werk reifer Studio-Arrangements sein, die von exzellenten Gastmusikern mit reichlich Hintergrundgesang perfektioniert wird. Darüber aber schwebt stets Puders exzellentes Songwriting, das mit Gitarre, Bass, Samples, Moogs, Keyboards, gar Drones und ein paar putzigen Fieldrecordings zu wahrhaft erwachsenem Deutschpop anschwillt. Einer, der nicht nach Literaturcafé duftet wie Element of Crime und zum Glück auch nicht nach der entmotteten Motorradlederjacke von Jule Neigel, sondern sehr eigensinnig, erzählerisch, reflektierend und kreativ. Der Jazz darin wirkt daher nicht alt, sondern frisch. Ziemlich selten sowas.
So wie Leslie Feist, besser bekannt unter ihrem Nachnamen, der längst zum Markenzeichen geworden ist. Die gelernte Punkrockerin aus Kanada macht schließlich eine Art Alterntive Pop, der seinesgleichen sucht, seit die große Zeit hinreißend verituoser Singer/Songwriterinnen der Neunzigerjahre vorbei ist. Leslie Feist hat 1999 ihr erstes Album produziert, als die Ani Di Francos oder Heather Novas ihren Zenit bereits überschritten hatten, aus deren Erbe allerdings einen Sound kreiert, der wie kaum einer sonst melodramatisch und zugleich lebensbejahend die Welt der Männer durch die Augen der Frauen besingt. The Reminder und mehr noch Metals haben da wirklich Neuland betreten.
Und jetzt kommt nach sechs Jahren Pause das neue Studioalbum und schafft beides: das Bestehende zu konservieren und gleichsam auf höhere Ebenen zu hieven. Der akustisch zubereitete Gitarrenfolkpop auf Pleasure nämlich klingt wie eh und je so ergreifend, dass man sich mit der Sängerin sofort ins nächste Café von Orlando oder Brooklyn setzen und drei Tage durchquatschen möchte. Zugleich aber steckt darin ein sprühender Aberwitz mit Hang zum Regelbruch, dass das diskursiv emotionale A Man Is Not His Song am Ende von einem Thrash-Metal-Riff zersägt wird und auch sonst immer mal wieder der Punk aus dem Präkambrium der 41-Jährigen durchbricht. Wenn kluger Independent mit Gefühl einen Namen verdient, dann diesen: Feist.
Feist – Pleasures (Universal)
Pinegrove
Männer machen manchmal aber auch echt gute Musik. Musik, die endlich mal überhaupt nicht nach dicken Eiern und sonstwie maskulin übersteigertem Selbstwertgefühl klingen oder was die Herren der Branche halt so verunstaltet in ihrer Art der Performance. Pinegrove zum Beispiel, das amerikanisches Indie-Projekt um die beiden Stammmitglieder Even Stephens Hall und seinen Drummer Zack Levine, die schon als Kinder daheim in Ohio musiziert haben sollen. Voriges Jahr haben sie in neuer Besetzung ihr Debütalbum Cardinals aufgenommen, von dem hierzulande nur ein verschwindend kleiner Menschenkreis Wind bekommen hat. Jetzt bündeln sie Songs von damals mit bislang unbekanntem Zeugs zur Compilation Everything So Far. Und das hätte Leslie Feist kaum besser hingekriegt.
Denn wie die großen Anti-Kerle des Emorock vor zwei Jahrzehnten, Hootie and the Blowfish etwa oder The Watchmen, wirkt die schepperig schöne, flächig aufgeblähte, dabei feingliedrig fuzzige Americana darauf wie ein permanentes Statement zur Verlorenheit des Männlichen in der Leistungsgesellschaft mit ihrem Anspruch an alle, alles zu sein und zwar perfekt. Nichts daran ist je mackerhaft, alles daran ist bei aller DIY-Attitüde elegant und glaubhaft. Indierock kann vieles sein: laut und derb und krass und selbstverliebt. Dieser hier ist vor allem: unglaublich eigensinnig und gut.
Pinegrove – Everything So Far (Rund For Cover Records)
Fast jeder von Martin Suters Romanen wird mittlerweile verfilmt. Mit Heino Ferch als Titelheld erwacht nun auch der nostalgische Aristokrat Allmen zu neuem Leben (29. April und 6. Mai, 2015 Uhr, ARD). Ein Gespräch mit dem 69-jährigen Bestsellerautor (Foto: Sven Teschke), einem der weltweit meistgelesenen Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, über unvernünftigen Hedonismus, stillosen Reichtum und die Kraft der Zuversicht.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Suter, sind Sie besonders hedonistisch veranlagt, also den schönen Dingen des Lebens auch ohne Rücksicht auf alle Vernunft fröhlich zugewandt?
Martin Suter: Ich muss zugeben, dass Sie mit dieser Vermutung nicht ganz daneben liegen.
Worin zeigt sich das?
Nun, ich mag zum Beispiel schöne, also durchaus auch teure Hotels. Und offen gestanden besitze ich wie meine Romanfigur Johannes Friedrich von Allmen weit mehr Anzüge als ich unbedingt brauche, um mich bloß warmzuhalten.
Dieser formvollendete, aber leider heillos verschuldete Gentleman wirkt zumindest in der verfilmten Fassung als permanente Feier des gediegenen Geschmacks, obwohl ihn sich die Hauptfigur schon längst nicht mehr leisten kann…
Und so wirkt er auch in den Romanen. Ich mag Leute, die schöne Dinge mögen. Und Hochstapler empfand ich schon immer als besonders sympathische Figuren. Damit dürfen Sie aber nun nicht wieder Rückschlüsse auf den Autor, also meine Person ziehen.
Ist Ihr Hochstapler der Allmen-Reihe in seiner eleganten Art elitärer Noblesse aus der Zeit gefallen oder angesichts einer wachsenden Schicht finanziell sorgloser Millionäre allerorten schon wieder modern?
Er ist definitiv aus der Zeit gefallen. Schauen Sie nur mal auf die Vereinigten Staaten: Die Vulgarität, die in der Wirtschaft und Politik Einzug gehalten hat, erschreckt mich mittlerweile zutiefst. Den heutigen Millionären jedenfalls fehlt es ganz im Gegensatz zu dem im Film meistens an Stil.
Da klingt fast ein wenig Enttäuschung durch.
In der Tat. Deshalb versucht mein Johannes Friedrich von Allmen diesen Typus vergangener Epochen im Roman ja auch mit viel Hingabe zu verkörpern. Und ich finde, es gelingt ihm im Roman dabei ebenso schön wie Heino Ferch in der Verfilmung. Er wurde dafür ja nicht umsonst mit dem Hessischen Film- und Kinopreis ausgezeichnet.
Hat ihm da womöglich seine aristokratische Körperhaltung geholfen, die er sich aus Zeiten als reitender Kunstturner bewahrt hat?
So etwas kann tatsächlich nur hilfreich sein. Seine Noblesse jedenfalls lässt mich jenen Protagonisten, den ich einst beim Schreiben im Kopf hatte, nahezu vergessen. Dummerweise gab es bei diesem Filmpreis nur einen ersten Platz, denn auch die zweite Hauptfigur Carlos wird von Samuel Finzi so gespielt, wie sie literarisch gedacht war und ist.
Ist der Zweiteiler dennoch mehr Interpretation als Adaption Ihrer Bücher?
Gute Verfilmungen sind meistens mehr Interpretation als Adaption, aber hier dreht sich das Verhältnis schon ein wenig um. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten: von allen Verfilmungen meiner Bücher ist die Allmen-Serie bislang nicht nur am elegantesten, sondern auch am stilsichersten.
Ihre anderen Bücher, etwa Ein perfekter Freund oder auch Der Koch, bestechen vor allem durch eine nüchterne, extrem präzise Betrachtung zwischenmenschlicher Zustände, während es bei Allmen stets funkensprühend zugeht und oft genug skurril. Wie kam es zu diesem Gattungswechsel?
Meine Romane sind meistens Würdigungen eines bestimmten literarischen Genres. Die Allmen-Reihe etwa ist eine Hommage an die Gattung der Serienkrimis. Auch, weil ich die Autoren solcher Reihen manchmal darum beneidete, dass sie nicht jedes Mal Personen und Schauplätze einführen müssen.
War die Verfilmbarkeit dabei gewissermaßen schon mitgeschrieben?
Nein, ich denke beim Schreiben niemals an die möglichen Verfilmungen. Ich baue meine Geschichten zwar gerne als Szenenfolgen auf, aber das hilft den Drehbuchautoren meistens nicht beider Arbeit. Im Gegenteil.
Atmosphärisch, vor allem aber ästhetisch wirkt das Ganze dabei wie eine Hommage an die Heist-Movies der Sechziger. Hätten Sie es auch in dieser Mischung aus James Bond, Oceans’s Eleven und Graf Yoster inszeniert?
Inszenieren ist nicht so mein Fach, bedaure. Aber ich war wirklich angenehm überrascht von der Stilsicherheit des Settings oder auch der Garderobe. Und ich freue mich über schauspielerische Leistung und Regie ebenso wie über das nostalgische Flair der Filme.
Verspüren Sie selbst diese Sehnsucht nach Nostalgie, die Thomas Bergers Regie permanent ausstrahlt?
Nein, nein. Die Allmen-Romane sind reine Fiktion und strahlen wie die Adaptionen fürs Fernsehen allenfalls die Sehnsucht nach Nostalgie des Protagonisten aus.
Was den kennzeichnet, ist seine unwiderstehliche, unverbrüchliche Zuversicht. Ist Ihnen dies beides auch zueigen?
Eine gewisse Zuversicht habe ich zum Glück schon in den Genen. Im Übrigen gilt: Ich versuche mich möglichst aus meinen Romanfiguren herauszuhalten. Aber natürlich bin ich es, der schreibt. Insofern haben alle und hat alles immer auch ein wenig etwas von mir.
Braucht es in der weltpolitischen Lage unserer Zeit mehr solcher Optimisten oder eher rationale Analytiker?
Ich glaube, Optimismus ist in diesen Zeiten immer hilfreich. Und sei er noch so unangebracht.
Disarstar, „das ist Rap der nach Gewichten klingt“, wie er selber sagt. Tatsächlich erregt der Rapper, 1994 als Gerrit Falius in Hamburg geboren, seit seinem Debüt Kontraste vor zwei Jahren viel Aufmerksamkeit – genau wegen dieser deutlichen Worte und den klaren politischen Statements. Im Gespräch bei Bier und Tee erzählt er, warum HipHop trotzdem nicht immer politisch sein muss und seine Lieblingsplatte so gar nichts mit Rap zu tun hat.
Von Marthe Ruddat
freitagsmedien: Was inspiriert dich?
Disarstar: Ähm… na das ist ja immer so eine Frage…
Immer? Schon genervt davon?
Nee, überhaupt nicht! Ich schlage mich ja viel mit Rapmedien rum und ohne da jetzt bösen Hate verbreiten zu wollen, sind die inhaltlich ja manchmal schon ein bisschen flach. Und die Frage ist ja eher deeper. Naja, also eigentlich inspiriert mich mein Leben. Das klingt halt immer so plakativ, deshalb habe ich gerade ein bisschen überlegt. Aber eigentlich würde ich sagen, alles was mir wiederfährt inspiriert mich. Starke Gefühle, Wut, Traurigkeit, Enttäuschung, das sind so Sachen, die mich dazu anregen, etwas zu schreiben.
Inspiriert dich denn manchmal auch die Musik anderer Künstler?
Musik, die ich selber konsumiere, die ich feiern kann, die finde ich meist so gut, dass sie mich eher einschüchtert und dadurch nicht wirklich inspirierend ist. Deshalb höre ich auch in Albumentstehungsprozessen eher wenig Musik und konzentriere mich auf meine eigene.
Wenn ich dich jetzt nach einer Lieblingsplatte frage, fällt dir spontan trotzdem eine ein?
Ja, auf jeden Fall. Die Wish You Were Here von Pink Floyd.
Wish You Were Here erschien 1975. Die Originalplatte umfasst nur fünf Songs, die nahtlos ineinander übergehen. Das Album ist mittlerweile in der original Quadrophonie-Version erschienen. Quadrophonie ist einfach gesagt ein Vorläufer von Dolby Surround und verleiht den Songs einen dementsprechend tieferen Sound.
Damit hätten jetzt wohl die wenigsten gerechnet. Warum diese Platte?
Mein Vater hat früher immer viel Pink Floyd gehört, überhaupt hat er immer viel Musik gehört. Ich glaube er ist aber auf Pink Floyd nie so abgegangen wie ich. Mich hat das Album einfach komplett weggeflasht. Es ist irgendwie so die einzige Platte, die mir auch nach dem 150.000 Mal nicht langweilig wird, feiere ich immer wieder, macht mir immer wieder Spaß.
Pink Floyd ist eher ungewöhnliche Musik für Kinder und Jugendliche.
Ja, als ich sie das erste Mal gehört habe war ich 11 oder 12. Da konnte ich auch tatsächlich noch nicht so viel damit anfangen wie heute. Aber das hat sich dann von Jahr zu Jahr gesteigert. Anstatt dass es mir langweilig wurde, hatte ich eher das Gefühl, dass ich es von Jahr zu Jahr besser finde. Und heute habe ich die Platte immer im Auto.
Und obwohl dich Pink Floyd seit deiner Kindheit begleitet hast du dich entschieden Hip Hop zu machen. Warum?
Das ist eigentlich dem Umstand geschuldet, dass ich nicht singen kann. Obwohl das meinen Eltern tendenziell schon wichtig war, ist es auch nie dazu gekommen, dass ich ein Instrument gelernt habe. Und wenn man unter diesen Bedingungen Bock hat sich ein Medium zu suchen, dann nimmt man halt das Format, was am naheliegendsten ist. Und das war bei mir halt Rap. Wer weiß, was in ein paar Jahren noch kommt.
Du selber legst sehr viel Wert auf die Inhalte deiner Texte. Sind sie Dir deshalb auch bei der Musik, die Du hörst, wichtig?
Ich glaube, das ist davon abhängig, wie man Musik konsumiert. Ich zum Beispiel hasse es, nebenbei Musik zu hören. Ich höre sie zwar beim Sport oder Autofahren, da folge ich aber Automatismen und mache so gesehen nicht zwei Dinge gleichzeitig. Ich könnte manche Dinge nicht gleichzeitig machen, Lernen und Musik hören zum Beispiel. Und ich glaube, wenn man nur bewusst Musik hört, dann sind einem die Inhalte zwingend wichtig. Wenn ich nämlich genau hinhöre und dann kommt da nix, dann macht mir das auch keinen Spaß. Es gibt natürlich so Ausnahmen wie Kendrick Lamar. Den kann man gut auch nebenbei laufen lassen, und trotzdem ist da richtig was, wenn man genau hinhört. Aber das ist auch einfach die Königsklasse finde ich.
Das könnte man auch über Pink Floyd sagen oder?
Auf jeden Fall! Aber Pink Floyd würde ich trotzdem nicht nebenbei hören. Bei denen sind auch die Instrumente schon extrem wichtig, da hab ich immer richtig Bock drauf. Bei der Wish You Were Here ist es auch so, dass ich mich eher auf bestimmte Passagen oder ein Gitarrensolo freue, als dass ich mich total auf die Vocals konzentriere. Und das ist eben so ein bisschen die Ausnahme, weil mir das halt eigentlich immer sehr wichtig ist.
Welche Songs auf der Platte gefallen Dir in der Hinsicht besonders?
Also ich finde den Titelsong Wish You Were Here derbe gut. Und Have a Cigar. Ich meine, auf dem Album sind ja nur fünf Songs drauf und zwei davon haben nur vier Textzeilen und sind trotzdem zehn Minuten lang. Das ist einfach extrem musikalische Musik. Ich kann auch einfach das ganze Album durchhören, ich feiere echt alles.
Pink Floyd – Wish You Were Here
So, so you think you can tell
Heaven from Hell
Blue skies from pain.
Can you tell a green field
From a cold steel rail?
A smile from a veil?
Do you think you can tell?
Did they get you to trade
Your heroes for ghosts?
Hot ashes for trees?
Hot air for a cool breeze?
Cold comfort for change?
And did you exchange
A walk on part in the war
For a lead role in a cage?
How I wish, how I wish you were here.
We’re just two lost souls
Swimming in a fish bowl
Year after year
Running over the same old ground.
What have we found
The same old fears.
Wish you were here.
Du sagst, dir sind die Texte wichtig. Wie kritisch bist du diesbezüglich gegenüber der Künster*innen, mit denen du dir die Bühne teilst?
Im letzten Jahr stand Disarstar besonders in der linken Szene in der Kritik, weil er unter anderem mit MC Intifada und PTK ein Konzert in Berlin spielte.
Ich weiß auf welches Thema Du hinaus möchtest und gehe da gerne drauf ein. Ich sehe mich selbst als einen Menschen, der in linken Kreisen verkehrt und sich trotzdem eine differenzierte Meinung bildet. So ist das auch bei dem Konflikt zwischen Israel und Palästina. Ich stehe da total in der Mitte. Es werden einfach auf beiden Seiten Fehler gemacht, und ich bin deshalb ganz einfach pro Frieden und wünsche mir eine Lösungsstrategie, mit der beide Seiten zufrieden sind. Weil ich mich aber nicht auf einer Seite positioniere bin ich halt für die einen ein Antideutscher und für die anderen ein Antisemit. Ich bin in meiner Haltung und in meinem Standing aber so klar, dass mir egal ist, wer vor oder nach mir auf der Bühne steht. Ich würde auch auf einem Rechtsrock-Festival auftreten, wenn man mich fragen würde. Klar! Das ist doch Infiltration hoch zehn! Ich würde halt trotzdem genau das sagen, was ich immer sage: Rassismus ist Scheiße, Sexismus ist Scheiße, Homophobie ist Scheiße, die AfD ist Scheiße. Im besten Fall gäbe es dann nach meinem Auftritt so einen Tumult, dass die Konzerte abgebrochen werden würden und die ganzen wirklichen Rechtsrocker nicht mehr auftreten könnten. Das wäre ja praktische, antifaschistische Arbeit und ein voller Erfolg!
Wie passt es dazu, dass Du dich in der Vergangenheit recht eindeutig zur NATO und zu Netanjahu geäußert hast?
2015 rappte Disarstar in einem seiner OneTakeClips: Tod der NATO und Tod Netanjahu.
Das passt schon dazu. Wenn ich merke, dass das Feuilleton oder irgendwelche Juppi-Hippster anfangen mich gut zu finden, obwohl ich das gar nicht will, dann mache ich halt mal so Sachen, die die Leute irritieren, mit denen sie sich nicht anfreunden können. Auch um einfach mein Standing als Künstler nicht zu verlieren. Manchmal denke ich mir am nächsten Tag auch schon, dass ich mir das hätte sparen können. So etwas ist aber natürlich auch ein künstlerisches Stilmittel. Musik ist ein Stück weit auch expressionistische Kunst und ein bisschen überspitzt und überzeichnet. Oder sagen wir intensiviert. Natürlich mache ich mir damit auch Feinde, aber das finde ich voll okay. Wenn man etwas sagt, wo sich die Leute dann ungläubig an den Kopf fassen, dann ist das für mich auch eine Art Befreiungsschlag. In diesem Fall dann auf Kosten Netanjahus, das hätte aber auch jeder andere Staatschef einer kapitalistischen Demokratie sein können.
Muss Musik politisch sein?
Nein. Inhaltsstarke Musik muss nicht immer politisch sein. Es gibt ja auch inhaltsstarke und lyrisch starke Musik, die nicht politisch ist.
Nochmal zurück zu Pink Floyd. Die Band ist über Jahrzehnte hinweg bekannt und relevant geblieben. Sind sie in Sachen Konstanz damit Vorbilder für dich?
Auf jeden Fall. Ich glaube der Erfolg gründet auch darauf, dass ihre Musik extrem fortschrittlich und trotzdem zugänglich war und ist. Das ist zwar keine Mucke für jedermann, aber sie zeichnen extrem große Bilder, die trotzdem nachvollziehbar sind. Das finde ich extrem beeindruckend und ein bisschen Vorbild-mäßig, aber eigentlich habe ich keine Vorbilder, weil ich niemandem nacheifern möchte. Ich wünsche mir manchmal auch deepe Musik für jedermann zu machen, aber eben ohne nachzueifern. Ich mache das was ich mache, andere machen, was sie machen.
Ein Cover oder Sample wäre also keine Möglichkeit für dich?
Ich habe da wirklich schon oft und lange drüber nachgedacht, was man machen könnte und wie man es machen könnte. Vielleicht ein Mixtape, auf dem man viel samplet, vielleicht Hooks übernimmt und umbaut. Vielleicht würde sich das mal anbieten, Disarstar meets Pink Floyd oder so. Ich würde auch nicht denken, dass ich das irgendwie übertreffe oder bessere Songs mache. Ich hätte einfach nur voll Bock da künstlerisch etwas damit zu machen. Vielleicht würde ich es auch nie veröffentlichen, vielleicht kommt es auch nie dazu. Mal sehen, ich denke auf jeden Fall darüber nach.
Mit seinem neuen Album – x – = +ist Disarstar ab 24. April auf Deutschlandtour. Am 9. Mai spielt er im Uebel & Gefährlich. Tickets und weitere Infos gibt es auf www.disarstar.de
Es ist ein einziges Kommen und Gehen dieser Tage am Bildschirm. In den USA wird Bill O’Reilly, das ultrakonservative Sturmgewehr des donaldtrumphörigen Pseudonachrichtensenders Fox, wegen sexuellen Missbrauchs diverser Kolleginnen entlassen, leider jedoch nicht durch einen Journalisten, sondern die faschistoide Sturmhaubitze Tucker Carlson ersetzt, der selbst einen Donald Trump vermutlich für kommunistisch hält.
In Deutschland hingegen kehrt der vom Vorwurf der Vergewaltigung entlastete Wetterfrosch Jörg Kachelmann am 4. Mai dank sonnenklar.tv auf den Bildschirm zurück, während Fritz Wepper, über dessen Liebesleben nichts Negativeres bekannt ist als seine weitestgehend talentfreie Tochter Sophia, nach zehn Jahren schaler Krimi-Kost an ihrer Seite vorigen Donnerstag die letzte Folge von Mord in bester Gesellschaft hinter sich gebracht hat.
Derweil kündigt die zeitgeschichtsduselige ARD an, Staffel 4 der bislang vorwiegend hervorragenden DDR-Serie Weissensee in Angriff zu nehmen, bei der es auch nach dem Mauerfall garantiert um reichlich Stasi-Zeugs gehen dürfte. Zugleich muss das ZDF allerdings schwer um die Champions League bangen, dessen milliardenteure Vergabe in der kommenden Woche neu verhandelt wird. Mit guter – und „guter“ heißt hier ganz bewusst positiv formuliert „guter“ – Chance, dass die absurde Gebührenverschwendung dann endlich ein Ende hat. Das würde nicht nur dem Staatsvertrag ein bisschen besser entsprechen, sondern böte auch die Chance, sich wieder ein bisschen aufs Kernanliegen zu konzentrieren.
Fernsehfilme zu machen etwa.
Die Frischwoche
17. – 23. April
Wie das überaus sehenswerte Drama Im Tunnel. Am Montag um 20.15 Uhr stößt die erfolgreiche Architektin Maren darin scheinbar auf einen gewaltigen Skandal: Als sie ihren Bruder erschlagen auffindet, scheint er nämlich das Opfer gewissenloser Geschäftemacher geworden zu sein, die in einem uralten Hamburger Schmugglertunnel Gift-, schlimmer noch: Atommüll entsorgen wollen. Das könnte nun im üblichen Who-dunnit öffentlich-rechtlicher Sozialkritik zur Abendunterhaltung enden, also durchaus ansehnlich, aber klischeehaft belehrende – wäre da nicht die grandiose Maria Simon als Hauptfigur.
Während sie verbissen der Umweltsauerei nachforscht, beginnen Wirklichkeit und Wahn immer mehr zu verschmelzen. Ist Maren wirklich einem Verbrechen auf der Spur oder spielt sich alles in ihrem Kopf ab? Kaum jemand könnte diesen Grenzgang plausibler machen als die talentierte Schauspielerin aus Leipzig. Und kaum jemand taugt besser zum realistischen Korrektiv dieser psychotischen Gratwanderung als Carlo Ljubek, der ihren Mann Mehdi mit nüchterner Hingabe und großer Authentizität verkörpert.
Das darf man diese Woche ausnahmsweise auch mal von Heino Ferch behaupten. In der ersten zweier ARD-Verfilmungen spielt der große Stoiker des Hauptabenddramas am Samstag den skurrilen Detektiv Johann Friedrich von Allmen, der gemeinsam mit seinem Butler Carlos (Samuel Finzi) nach seinem Versuch, den eigenen Bankrott durch den Verkauf gestohlener Kunstwerke abzufedern, eine „Firma für die Wiederbeschaffung von schönen Dingen“ gründet. Nach den Romanen von Martin Suter, erinnert das zwar an eine Mischung aus Ocean’s Eleven und Graf Yoster gibt sich die Ehre, ist aber durchaus eigensinnig liebenswürdig. Samuel Finzi ist übrigens Donnerstag zuvor um 23.15 Uhr in der schönen Arte-Komödie Worst Case Scenario als Filmregisseur zu sehen, der an einem Film über Fußballfans in Danzig verzweifelt.
Wer noch bessere Fiktion sehen will, kriegt bei der Verleihung vom Deutschen Filmpreis am Freitag um 22.50 Uhr im ZDF zumindest Anschauungsmaterial. Ansonsten gäbe es da noch ein paar Sachfilmangebote. Die hochinteressante Doku I Am Not zum Beispiel (Dienstag, 20.15 Uhr, Arte), die James Baldwins unvollendete Chronologie rassistischer Morde in den USA vollendet, gefolgt vom Vierteiler Die Ära Obama, den der Kulturkanal am Stück zeigt. Und dann wäre da noch der nächste Beweis, dass Netflix mehr kann als Serien und Serien, den Sachfilm Casting JonBenet etwa, der ab Freitag einen Kindermord in Amerika nachzeichnet. Auf RTL hingegen kuppeln Eltern für ihre Kinder, wenn das Reality-Format Meet the Parents ab Sonntag um 19.05 Uhr mal wieder sein Publikum für dumm verkauft.
Da kann man nur noch entgeistert zu den Wiederholungen der Woche schalten. Beispielsweise Männer im Wasser (Mittwoch, 22.25 Uhr, 3sat), klischeebeladene, aber sehenswerte Groteske übers erste Männersynchronschwimmballett Schwedens. Noch viel bunter ist auf gleichem Sender am Sonntag die selbstironische Westernballad El Dorado von 1966 mit John Wayne und Robert Mitchum, der im Anschluss auch die Hauptrolle im Genreklassiker River of no Return von 1954 spielt. Und der HR wiederholt am Samstag um 21.40 Uhr den schönen alten Tatort: Das Böse von 2003, als die unvergleichliche Charlotte Sänger noch gemeinsam mit Fritz Dellwo ermittelt hat.
Tomate, Korn, Tabasco – im Steppenwolf (Foto: creativecommons.org) entstand einst ein Kurzer, der schwer nach Magenweh klingt und gerade deshalb bis heute getrunken wird – zurzeit gar als Teil einer weltweiten Kampagne gegen Donald Trump. Erinnerungen an eine seltsam beschränkte Bar.
Wer Wirte, ihre Läden und ihre Kundschaft richtig verstehen will, der sollte die Bedeutung des Wortes Gastronomie aufschlüsseln. Das “Gast” vor “ronomie” nämlich bezeichnet ursprünglich nicht eine Person, die zu Besuch kommt, es stammt vom griechischen Wort gastron, also “Bauch”. Gefolgt von nomos, vulgo: Gesetz. Rein etymologisch betrachtet, lässt man sich also vom Magen verordnen, wo man bei Hunger und Durst einkehrt. Klingt weit hergeholt, hilft aber dabei, sich eine der bemerkenswertesten Bars auf dem Kiez früherer Tage wachzurufen: das Steppenwolf.
Gastlichkeit, gar Gastfreundschaft, also das, was Gastronomie abseits von sprachwissenschaftlicher Erbsenzählerei im Volksmund kennzeichnet, stand in der schummrigen Kaschemme traditionellen Zuschnitts nie an erster Stelle. Schon der Weg dorthin führte ja ums Eck der Großen Freiheit mitten ins Herz der Finsternis. Die damals wie heute verwilderten Häuser der Schmuckstraße zur Rechten, die damals wie heute stets vermüllte Schnapsleichenwiese zur Linken, betrat man das Steppenwolf. Es kam einer Mutprobe gleich. Als blinkte vor der Tür ein Warnschild: Achtung, Rocker!
Die waren Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre zwar nur noch eine flüchtige Reminiszenz an längst verhallte Bandenkriege. Doch was im Innern folgte, rief die Erinnerung ruck, zuck wach: Musik, Personal, Einrichtung, Besucher fuhren einem sofort in die Magengrube. Als sich die Reeperbahn bereits für die Eventkultur aufplusterte, saßen da echte Kuttenträger mit echten Bärten und hörten harten Rock zu harten Drinks. Der härteste hieß Mexikaner.
Der höllenscharfe Shot aus Tomatensaft, Korn und einer gehörigen Portion Tabasco ist derzeit als Teil einer bundesweiten Kneipenkampagne gegen Donald Trump in fast aller Munde. Kneipen in aller Welt, seit neuesten sogar – wo sonst? – in Mexiko, schenken ihn aus, um Geld zu sammeln für die Proteste gegen den Wahnsinnigen am Schalthebel des Untergangs, der Anfang Juli auf dem G20-Gipfel in Hamburg erwartet wird. Erfunden wurde der kleine Longdrink im Steppenwolf. 1987, so geht die Legende, hat ihn Inhaber Mike Colani angemischt, aus purer Not. Weil er eine Ladung ungenießbaren Fusels nicht wegkippen wollte, kam ihm die Idee, dem billigen Schnaps etwas beizumengen, was den Geschmack nicht bloß neutralisierte, sondern pulverisierte. In seiner standesgemäß eher schlecht sortierten Bar stieß der Wirt auf die erwähnten Zutaten und betitelte das Ganze nach den Bewohnern eines weit entfernten Landes.
Seither stand das Steppenwolf, benannt nach der berühmten Rockband, die sich wiederum auf Hermann Hesses Weltliteratur berief, nicht mehr nur für den alten Rockerkiez; es wurde zum Synonym seines eindrücklichsten Getränks. Wer sich vor bald 30 Jahren warm trinken wollte für das, was bis zum Morgen noch kommen sollte oder schon müde war, steuerte die Kneipe in St. Paulis früherem Chinatown an. “Noch’n Mexi?” – das war auch für mich damals weniger Frage als Feststellung, dass da etwas fehlte für eine abgerundet festliche Nacht.
Der herbe Kurze passte schließlich perfekt zum Ambiente, das man im Steppenwolf geboten bekam. Wer ohne die Insignien der Stammklientel eintrat, wurde auf so offensive Art ignoriert, dass es lauter in den Ohren dröhnte als AC/DC aus den Boxen. Links die Bar, rechts die Tische, weiter hinten eine Art Bühne, die jedoch in meinem Beisein nie Livemusik bot, orderte man ohne viel Konversation eine Handvoll Mexikaner, setzte sich unauffällig in die Nähe der Tür, staunte über das Motorrad im Raum, fröstelte angesichts der potenziellen Fahrer ringsum, trank und ging. Geschafft!
So war das für Bürgersöhnchen ohne Halstattoos. Damals, als noch Eppendorf das Hipsterviertel war. Und das Steppenwolf die Antithese dazu. Eine, von der heute nicht mehr viel übrig ist. Nachdem die merkwürdige Kneipe vor knapp zehn Jahren geschlossen hat, ist das Gebäude, in dem sie sich befand, seltsam unbehaust. Es wirkt, als würde ihm bald Ähnliches widerfahren wie manch anderem Altbau dieser eher schlichten Art: Vernachlässigung, Entmietung, Leerstand, Abriss, Neubau. Schlimmstenfalls wird das neue Haus so aussehen, wie die zwei Rotklinkerzweckbauten daneben, vermutlich nur teurer.
Das Bauchgesetz des Kiezes 2017 ist eben ein anderes als 1987, als sich vom Steppenwolf aus ein Drink durchs Viertel brannte, der es dank Donald Trumps rassistischem Furor gegen sein Nachbarland nun in die große weite Welt geschafft hat. Gastritis zum saufen. So scharf, scharf war die Zeit.
In dem, was sich wenig präzise, aber griffig unterm Label Techno wiederfindet, haben selbst Superstars nur selten ein Gesicht und falls doch, nicht viel mehr. Aus diesem Korsett bricht Pilocka Krach nicht nur dem Namen nach aus; die exzentrische Berlinerin strebt auch visuell nach Höherem, Sehenswerterem, Bemerkbarerem. In jeder Hinsicht. Optisch eine Mischung aus Siebzigerjahre-Glamrock, Achtzigerjahre-Hairmetal und Zehnerjahre-Anythinggoes, fabriziert die Underground-Ikone auf ihrer neuen Platte auch stilistisch einen wilden Mix avantgardistischer Electronica. Fröhlich prasselt abstruser Hippie-Noise da auf technoiden Funk und basslastigen Dubstep, dass die Module nur so vibrieren.
Mehr noch als das ihr Debütalbum Best of vor zwei Jahren streift Sugar Cane & The Lost Amigos dabei scheinbar ziellos durch die Subgenres künstlich erstellter Sounds. Doch fast schon nostalgische Disco- und House-Sequenzen von den Produktionsort Detroit oder Mexiko mischen sich dabei ungemein kreativ mit Trance-Fragmenten, wilden Samplings und überdrehtem Brostep, bis das Durcheinander Struktur atmet und der Druck anziehend wirkt, nicht abstoßend. Ein eklektisches Konzept-Album im Spannungsfeld von analogem Anstrich und digitaler Umsetzung für Fans des bisschen-zu-viel-und-doch-genau-richtig.
Pilocka Krach – Sugar Cane & The Lost Amigos (Greatest Hits International)
Hauschka
Seit jeher daheim im Spannungsfeld von analoger und digitaler Klanggenese, also auch auf der neuen Platte voll und ganz bei sich, ist der experimentelle Pianist Volker Bertelmann alias Hauschka. Als Grenzgänger zwischen moderner Klassik und futuristischem Pop präpariert er Klaviere zu kybernetischen Wesen, die klingen wie orchestrale Großrechner. Mit dieser künstlichen Funktionserweiterung vertont der Fünfzigjährige aus Westfalen längst auch Filme von Weltrang, was ihm erst voriges Jahr eine Oscar-Nominierung für seinen Score zu Lion eingebracht hat. Kein Wunder, dass auch sein 15. Album in 13 Jahren What if Töne zu Worten formt, wo niemand spricht, und Harmonien zu Bildern, selbst wenn man die Augen schließt.
Hauschkas Geheimnis der unvermeidbaren Ergriffenheit beim Hören besteht dabei in seiner Fähigkeit, die schwelgerische Harmonie rastloser, nie fahriger Partituren unablässig mit elektronischer Dissonanz zu unterwandern und kontrastreich in Einklang zu bringen wie Ying und Yang. Live hat er das gerade wieder eindrucksvoll in Berlin vollführt. Nie wirkt dabei irgendetwas, als käme er je dort an, wo es ihn hintreibt. Jeder Song gleicht einer Suche nach Ruhe, die doch nur Antrieb der nächsten ist. Ein Film wie ein Album.
Hauschka – What if (City Slang)
Studnitzky
Wenn es um die Erzeugung von Bildern übers Ohr geht, ist Jazz meistens ganz weit vorne. Obwohl – Jazz? Was genau ist das noch mal, im eklektischen Jahr 2017, wo musikalisch alles ineinander übergeht und nichts mehr Stringenz beansprucht? Jazz, tja, Jazz ist zumindest schon mal das, wovon Menschen, die Instrumente zwanghaft von Sprache begleitet sehen wollen und falls nicht, allenfalls Computer zur Herstellung dulden, schlichtweg keine Ahnung haben. So wie dieser Blog hier also, ungefähr. Andernfalls: Wie grandios bitte klingt der deutsche Trompeten-Virtuose auch ohne, dass man beim Hören die geringste Ahnung hätte, was es genau mit dem Gehörten so auf sich hat.
Vielleicht hat dies ja damit zu tun, dass sein Solo-Projekt KY organic nach dem preisgekrönten Orchester-Werk MEMENTO zuvor ein paar elektronische Einflüsse im sehr freien Jazz verwebt. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass Studnitzky, wie sich der Mittvierziger aus dem Schwarzwald nur nennt, ein untrügliches Gespür dafür hat, flatterhafte, oft fast fiebrige Bläsersequenzen so in ein rhythmisches Konzept einzuarbeiten, dass die ganze Platte ungeheuer groovy und bigbandig klingt. Mimimal House meets Maximal Jazz. Dafür muss man ihn nicht verstehen. Es reicht, ihm einfach mal genau zuzuhören. Lohnt sich.
Die britische Miniserie Wir sind alle Millionäre (Donnerstag, 20.15 Uhr, Arte) vereint am Donnerstag auf Arte alles, was es hierzulande meist nur getrennt gibt: Politik, Humor, Relevanz, Drama, Leichtigkeit, Gewalt, Humanismus und Liebe.
Von Jan Freitag
Gentrifizierung ist ein Phantom. Sie steht nicht leibhaftig vorm Haus, stellt sich kurz vor und spricht dann Klartext. Nein, der profitgesteuerte Strukturwandel von Mammons Gnaden spukt durchs pittoreske Wohnviertel der englischen Hauptstadt wie ein Dieb oder schlimmer noch: ein böser Geist – gewissenlos, unsichtbar, ohne Erbarmen. So scheint es zumindest in der britischen Miniserie Wir sind alle Millionäre. Im Schutze der Nacht grast dieser gierige Bereicherungsdämon der modernen Klassengesellschaft die real existierende Londoner Pepys Road nach steinernem Frischfleisch ab und traktiert die fiktiven Ureinwohner des Arbeiterviertels besserer Tage mit einer Drohung auf Papier, DVD, dem Asphalt: „We want what you have“, steht darauf geschrieben. „Wie wollen, was ihr habt“. Und rasch wird deutlich: Es geht hier ums Ganze.
Ein Stück Heimat so grundverschiedener Menschen nämlich wie dem Finanzjongleur Roger oder der Malocherwitwe Petunia, dem polnischen Handwerker Bogdan oder der übereifrigen Politesse Quentina, dazu einer pakistanischen Kleinhändlersippe vom Eck und überhaupt allen, die das pittoreske Altbauquartier am Südufer der Themse ihr „Zuhause“ nennen. Zum Teil seit Ewigkeiten, jedenfalls jetzt und hier. Man nennt das heutzutage Lebensmittelpunkt, Betonung auf den ersten zwei Silben. Im Jahr 2017 allerdings, die nächste große Immobilienblase vor Augen, rattert eine Registrierkasse im Bildschirmeck regelmäßig den steigenden Preis der einst eher unattraktiven Wohngegend ab.
September: 2.750.000 Pfund. Dezember: 2.805.000 Pfund. Juni: 2.895.000 Pfund. Ende nach oben hin offen. Es sind die rasant steigenden Zahlencodes einer entfesselten Lebensmittelpunktvernichtungspolitik, die den Grund- und Bodenbesitz längst zum reinen Spekulationsobjekt machen und Spekulation zum Wesenskern der kapitalistischen Turbomarktwirtschaft. Wären wir jetzt am Mittwochabend im Ersten, entstünde aus dieser Konstellation also vermutlich ein wohlmeinendes, aber sperriges Sozialdrama mit viel gesellschaftspolitischer Wucht, aber ohne Humor.
Zum Glück jedoch sind wir bei Arte und der Regisseur heißt nicht, sagen wir: Aelrun Goette, sondern Euros Lyn. Wie zuvor schon in seiner grandiosen Provinzkrimiserie Happy Valley oder der achtteiligen Queer-Comedy Cucumber schafft es der walisische Filmemacher auch hier, die tiefgreifenden Brüche unserer vertrackten Gegenwart durch die Erzählung ihrer humanen Aspekte erlebbar zu machen, ohne in Trübsinn zu verfallen. Vor allem aber: ohne je die Leichtigkeit zu verlieren, den Humor.
In den drei Episoden, die der Kulturkanal Donnerstag zur besten Sendezeit 180 Minuten am Stück zeigt, verarbeitet Lyn zwar nahezu alles, was unser aller Zusammenleben gerade von außen wie innen beeinflusst: Banken-Irrsinn und Boni-Wahnsinn, Flüchtlingskrise und Abschiebepraxis, islamistischer Terror und rassistische Konterrevolution, Hyperindividualismus und Überwachungsfuror, Rückzug ins Private und das World Wide Web, Werteverfall und soziales Networking. All dies stülpt er seinen Filmfiguren allerdings nicht bloß über, sondern lässt sie darin erblühen wie Blumen im Beton.
Die wiederum wären, zurück zu ARZDF, aus hiesiger Produktion vermutlich ziemlich ansehnlich, höchstwahrscheinlich gar sehr attraktiv. In England hingegen darf ein Knautschgesicht wie Tobi Jones, der bei Harry Potter einst den grottenolmigen Hauself Dobby gab, die Hauptrolle des selbstgerechten Bankers Roger spielen, dessen luxuriöser Lebensstil durchs Ausbleiben einer millionenschweren Bonuszahlung ebenso ins Wanken gerät wie die prekäre Existenz der illegalen Einwanderin Quentina. Nach der vielgelesenen Romanvorlage von John Lanchester ist die Sache mit den Drohbriefen am Ende zwar ein wenig komplizierter als das bedrohliche Gentrifizierungsthema anfangs vermuten lässt. Aber so innbrünstig, so glaubhaft, so authentisch und dabei federleicht würde man sich als deutscher Zuschauer auch ein heimisches Sozialdrama öfter mal wünschen.
Das würde dann auch den Zwang zur Synchronfassung vermeiden, die hier abermals bis ins Groteske überbetont, als würde Waschmittel verkauft statt Emotionalität menschlicher Schicksale. Doch selbst in der Übersetzung bleibt Wir sind alle Millionäre ein ungeheuer sehenswertes Stück Sozialkritik mit der Kraft des Menschlichen.
Die Süddeutsche Zeitung hat Jan Böhmermann wegen seines überfälligen Industrieschlager-Bashings, dem besonders der kalt berechnende, mittlerweile aber nur noch bemitleidenswerte Kommerztroubadour Max „ich hab’s mit einem Kumpel gemacht“ Giesinger zum Opfer fällt, die Ehre erwiesen, ihn zum maßgeblichsten, weil einflussreichsten Komiker der deutschen Humorgeschichte zu erklären. Und auch, wenn Max „deine Gefühle sind bares Geld für mich“ Giesinger darüber kaum lachen kann: Stimmt. Und wurde nun auch noch mit Platz 1 mehrerer Hitparaden für Menschen, Leben, Tanzen, Welt belohnt – der bitter komischen, schmerzhaft wahrhaftigen Abrechnung mit dem berechnenden Zynismus des deutschnationalen Schlagerpops.
Witzigerweise befindet sich Jan Böhmermann damit in illustrer Gesellschaft soziokulturell grundierter Satirelegenden von Karl Valentin über Dieter Hildebrandt bis Jimmy Fallon und, kein Scherz, Matt Groening. Der Simpons-Erfinder schafft es schließlich wie kein zweiter (außer Böhmermann), den Aberwitz der Realität in mundgerechten Irrsinn zu verarbeiten. Schade eigentlich, dass dem auf Pro7 weniger Leute beiwohnen als lange Zeit üblich. Zumindest am Vorabend, weshalb der Sender ab Mai den Frevel begeht, die Doppel-Wiederholung alter Folgen auf eine zu kürzen und die zweite durch eine weitere von Big Bang Theory zu ersetzen, was ein ähnlich guter Ersatz ist, als käme Mario Barth anstelle der Anstalt im Zweiten.
Währenddessen hat sich die Lügenpresse ihre Lügenpressepreise, namentlich den Pulitzer verliehen, etwa an das Lügenblatt Washington Post für ihre verlogene Verweigerung, dem einzig wahrheitsliebenden Mann des Planeten zu huldigen: Donald Trump. Da nur amerikanische Medien gewinnen können, wurde der Rechercheverbund aus Süddeutsche, NDR, WDR für die Panama Papers nur indirekt prämiert, aber immerhin.
Die Frischwoche
15. – 21. April
Zumindest national gleich dutzendfach preisgekrönt ist der Dokumentarist Stephan Lamby, Geschäftsführer der bedeutenden ECO-Media in Hamburg. Seine Zustandsanalysen des soziokulturellen Nervensystems zählen seit jeher zum Besten, was das Sachfernsehen zu bieten hat. Am Mittwoch zeigt die ARD um 22.45 Uhr seine 90-minütige Rundreise durch die Nervöse Republik, deren Repräsentanten mittlerweile kaum einen Feind so fürchten wie den digitalen, der ihnen im Internet mit Lügen, Hass und Dummheit zusetzt.
Ebenfalls im Internet, dem ebenso dämlichen, oft unehrlichen, zumindest aber verachtungsfreien, spielt ab Freitag die neue Netflix-Serie Girlboss. Nach der Autobiografie von Sophia Amoruso verkörpert die hinreißende Britt Robertson (Life Unexpected) darin eine amerikanische Großstadt-Slackerin, die es vom Online-Handel mit Vintage-Mode zur Multimillionärin mit eigenem Label bringt – und in den Echoräumen des Netzes dann natürlich doch viel Hass auf sich zieht. Tags zuvor zeigt Arte einen britischen Dreiteiler, der nur scheinbar mit Reichtum zu tun hat. Wir sind alle Millionäre spielt in einem Londoner Arbeiterviertel, das ins Visier von Immobilienspekulanten gerät, was sich im Laufe dieser fabelhaften drei Stunden am Stück aber vor allem als Sittengemälde des Miteinanders gänzlich verschiedener Menschen am gleichen Ort erweist.
Im weitesten Sinne mit Gentrification hat auch ein Arte-Abend am Dienstag zum Thema Tourismus zu tun, der unter anderem aufzeigt, wie sich die Bewohner großer Metropolen dagegen wehren, in Puppenstuben für den Fremdenverkehr zu leben. Teil dieser Verwertungskette ist übrigens auch Street Art, deren Werke längst als Standortfaktoren urbaner Räume vermarktet werden. Sky stellt ab heute acht Städte und ihre Straßenkunst vor, darunter Berlin und München.
Abgesehen vom Ostalgismus-Event Honigfrauen, das ab Sonntag im ZDF immerhin zwei von drei spielfilmlangen Teilen den Alltag einiger DDR-Bewohner im Urlaub am Plattensee 1986 beschreibt, bevor natürlich doch wieder die Stasi ins fiktionale Spiel kommt, könnte dann noch ein so genanntes Social Factual Format auf ZDFneo interessant werden. Eine Schar Freiwilliger spielt darin vier Sonntage Diktator, was zwischen scheußlich und erhellend so ziemlich alles werden könnte. Beides in einem und doch grandios – so was kann eigentlich nur Quentin Tarintino, womit wir bei den Wiederholungen der Woche wären. Dienstag zeigt das ZDF (0.20 Uhr) Inglorious Basterds (2009) mit Christoph Waltz als charmanten Menschheitsverbrecher. Ebenfalls immer wieder sehenswert: Billy Wilders Mediensatire Extrablatt (heute, 20.15 Uhr, 3sat) von 1973 mit dem Odd-Couple Walter Matthau und Jack Lemmon.
Überhaupt nicht sehenswert, aber so trashig, dass weitere Drogenzufuhr unnötig ist: die semierotische Robinsonade Blaue Lagune mit der stets leicht, aber sehr akkurat bekleideten Brooke Shields plus Gespielen auf einsamer Insel anno 1980 (Dienstag, 20.15 Uhr, SuperRTL), dicht gefolgt von der Rückkehr des 1000. Tatorts: Taxi nach Leipzig auf N3 um 22 Uhr. Bliebe noch der heutige Schwarzweißtipp: Ein Herz und eine Krone von 1953 mit Audrey Hepburn und Gregory Peck als ungleiches Liebespaar in Rom. Hach…
Wenn die Revolution wirklich ihre Kinder frisst, war sie bei Body Count besonders hungrig. Drei der fünf Pioniere des Crossover aus Hip-Hop und Hardrock, die Ende der 80er erstmals gegen den staatlichen Rassismus der USA anbrüllten, sind längst tot. Für Frontmann Ice-T aber ging der Kampf weiter; schließlich änderte sich selbst mit Barack Obama wenig an jener Blaxploitation, der die Gangsta-Rap-Ikone schon unter Ronald Reagan testosteronsatten Zorn schwarzer Selbstermächtigung entgegen geschleudert hatte. Niemals aber nach dem Krieg gab es bessere Gründe für antirassistischen Furor als mit dem WASP-Berserker Trump im Oval Office.
Vielleicht erklärt das, warum Bloodlust exakt so brutal klingt, wie es betitelt ist. Das musikalische Accessoire knüppelharter Gitarrenriffs ist der Dominanz eines Speedcores gewichen, der akustisch dauernd an Polizeigewalt im Ghetto erinnert. Bloodlust covert also nicht nur bisweilen Slayer, es beschleunigt deren Thrash Metal, bis vom Hip-Hip nur ein Sprechgebrüll übrig bleibt, dem man sich jetzt wie einst kaum entziehen kann. „I’ve been talking about this shit for over twenty years“, rappt Ice T in Black Hoody, während Ernie C wie 1989 seine Saiten malträtiert. Es wirkt nicht, als würde die zwei Relikte je damit aufhören. Gut so.
Body Count – Bloodlust (Sony)
Formation
Die leichtere, entspannte, die Pop-Variante des Crossover mit emanzipatorischer Stoßrichtung verrührt hingegen eine Band namens Formation. Auf ihrem Debütalbum besingt das blutjunge Quintett um die äußerlich ansehnlichen Brüder Will und Matt Ritson aus der englischen Eliteuniversitätsstadt Oxford gesellschaftliche Missstände spürbar mit großer Hingabe. Andererseits beinhaltet Look At The Powerful People trotz zart angedeuteter Gesellschaftskritik, etwa ein paar Querverweisen aufs Dilemma eines schönen Lebens im Falschen, nichts Rohes, Rabiates, Zorniges. Es dominiert ein lustvoll swingender Mix aus jazzigem Funk und technoider Disco mit einer Ladung alternativem Glamrock.
Den Ballast der entfaltungswidrigen Realität formuliert er dabei eher ästhetisch als inhaltlich: Mit einem hochglänzenden Motorrad-Video aus der britischen Betontristesse zum Beispiel, gedreht von keinem geringeren als Mike Skinner aka The Streets. Oder einer selbstreferenziellen Endlosschlägerei im öffentlichen Nahverkehr namens A Friend, die das ewige Musik-Thema Freundschaft artrockig ummantelt als Gewaltorgie inszeniert. Der British Cool von heute hat wieder Spaß am Krawall. Und trotzdem Soul.
Formation – Look At The Powerful People (Warner)
Autisti
Der Schweizer Cool von heute hingegen hat keinerlei Soul, aber umso mehr Spaß am Krawall, der allerdings tief aus der Seele zu stammen scheint. Das Trio hinter dieser Konstellation des LoFi-Punk heißt Autisti. Es besteht aus der Folk-Sängerin Emilie Zoé und dem Soundakrobaten Louis Jucker, die beide sehr schrill Gitarre spielen und dazu sehr verschroben singen, was auf dem bandbetitelten Debütalbum auch darum so fabelhaft klingt, so angenehm durchgedreht und schräg schön, weil Studio-Schlagzeuger Steven Doutaz dem Ganzen eine prachtvolle Ladung Tempotrash verpasst.
Das Ergebnis klingt ein wenig wie die Supergroup aus Can und den Pixies beim Rückkopplungsweltrekordversuch mit Mudhoney. Heiter übersteuerte Riffs und Drums schieben sich da unter die Dissonanz zweier Stimmen, die nicht harmonieren, sondern verunsichern wollen. Dass kein Bass zu hören ist, macht die acht Tracks dabei nur noch schepperigiger. Trotzdem mangelt es den englischsprachigen Rotzfahnen nicht an Tiefe und Grundierung. Grunge is back, wenn man so will. Der pre-Nevermind-Grunge. Nur her damit!
Autisti – Autisti (Hummus Records)
Alexandra Savior
Alte Seelen in jungen Körpern haben oft Beschwerliches, aber vielfach auch Erlösendes durchgemacht. Bei Alexandra Savior ging das schon vor der Geburt los. Als Ihre Mutter schwanger war, blockierte der Fötus einen Gebärmutterhalskrebs, weshalb beide wie durch ein Wunder überlebten. Und das hat nicht nur Alexandras Gemüt geprägt, sondern auch die Stimme. Kaum volljährig, sang das amerikanische Naturtalent mit so viel Melancholie von sich selbst und dem, was Menschen zu Menschen macht, dass Alex Turner (Artic Monkeys) auf sie aufmerksam wurde und ein erstaunliches Debütalbum mit Alexandra Savior gemacht hat.
Belladonna of Sadness vereint dabei den gediegenen Sixties-Cool von Turners Sideprojekt The Last Shadow Puppets mit dem Schwermut von Nancy Sinatra zu einer getragenen Retropopattitüde, die beim Zuhören fesselt wie ein alter Film mit Steve McQueen. Kein Wunder, dass ihr Sound zuvor schon in der HBO-Serie True Detective zum Einsatz kam. Ein hinreißend schwulstiges, vielfach fast melodramatisches, aber durch und durch hinreißendes Album voll trauriger Schönheit und und umgekehrt.
Alexandra Savior – Belladonna of Sadness (Columbia)
Als Josef Matula 2013 die Lederjacke an den Haken hing, ging angeblich endgültig ein TV-Relikt in Rente. Vier Jahre später zieht Claus Theo Gärtner sie allerdings wieder an – für ein Special mit Fortsetzungsgarantie (Freitag, 20.15 Uhr, ZDF). Ein Gespräch über Fernsehrebellen, Stunts im Alter und Matulas Nachfolger bei Ein Fall für zwei.
Claus Theo Gärtner: (lacht) Ach, da gewöhnt man sich dran.
Wissen Sie noch, wie oft Josef Matula in den ersten 300 Folgen von Ein Fall für zwei verprügelt wurde?
Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber es waren einige Male.
Im Schnitt mehr als jede zweite Folge einmal. Nach vier Jahren Ruhestand ist es jetzt gleich dreimal in einer Episode. Lassen Sie es im gehobenen Alter nun erst recht krachen?
Absolut und ganz bewusst. Matula kämpft sich schließlich aus seiner falschen Existenz als Kaufhausdetektiv zurück ins richtige Leben.
Haben Sie wie früher alle Stunts selbstgemacht?
Bis auf einen ja, als ich an einem Container in der Luft hin, aber das hatte er juristische Gründe; bei dem Verletzungsrisiko macht ja keine Versicherungsgründe mit. Aber wenn man mich gefragt hätte, hätte ich auch das gemacht.
Aber wann droht das denn endgültig unglaubwürdig zu werden?
In dem Moment, wo sie gebrechlicher wird und man die Körperlichkeit türken muss. Ich sage den Autoren manchmal, Leute, da muss es eine intelligentere Lösung geben, als dass Matula gleich jemanden auf die Nase haut. Der Matula von heute ist allerdings auch ein wenig weiser geworden. Als er sich an einer Stelle überlegt, ob er durch das runterfahrende Rolltor springt, lässt er es lieber bleiben. Früher wäre er gesprungen.
Da schließt sich die Frage an, warum Sie sich das eigentlich noch immer zumuten?
Weil ich es mir zutraue. Und weil das ZDF gefragt hat. Als mich der Programmdirektor zum 70. Geburtstag angerufen hat, meinte er, ob ich nicht Lust hätte weiterzumachen. Worauf ich zurückfragte, ob er ein gutes Drehbuch hat.
Und er hatte?
Er hatte – und da bin ich! Es hat zwar beim Drehen einmal ordentlich gezwickt im Rücken, da ging was auf die Bandscheibe. Man hört das sogar im Film: als ich Ulrike Krumbiegel in einer Szene aus dem Wasser holen musste, hat es kurz mal Knack gemacht. Das war aber nach zehn Minuten wieder in Ordnung.
Sehen Sie selber eigentlich gern Krimis wie den Ihren?
Hin und wieder, aber Fernsehen ist für mich eher ein Informationsmedium, nicht so sehr ein Unterhaltungsmedium. Wenn ich was sehe, dann vor allem wegen bestimmter Kollegen. Ich sehe zum Beispiel den Jan Fedder sehr gern.
Und was halten Sie von Ihren Nachfolgern im Fall für zwei, Antoine Monot Jr. und Wanja Mues?
Die machen das großartig, ich finde auch die Art und Weise, wie so was heutzutage geschnitten wird, richtig cool. Aber das macht es letztlich auch zum anderen Format als zum gleichen mit anderer Besetzung. Außerdem haben wir seit den Zeiten von Günther Strack immer den Unschuldigen aus Knast geholt. Hier läuft doch vieles anders.
Aber einmal immerhin mit Ihnen als Gast.
Na ja, als Eye-Catcher. Bevor Sie sich einmal die Nase geschnäuzt hätten, war ich schon wieder aus dem Bild. Und da wurde mir abermals klar, was sich schon Jahre zuvor in einem Film über Helmut Kohl angedeutet hatte: Als ich damals den Heiner Geißler spielen durfte, fragte die Frankfurter Allgemeine: „Was macht Matula in der Pfalz?“ Ich war offenbar so verbrannt für andere Rollen, dass ich damals den Entschluss fasste, mit der 300. Folge Schluss und was anderes zu machen als Matula.
Aber was fasziniert das Publikum denn bis heute so sehr an diesem unkonventionellen Ermittlertypus, der das Recht im Zweifel zum Wohle des Rechts beugt?
Matula ist letztlich eine Kunstfigur, die sich fast alles leisten kann. Aber ich glaube, viele wären gern so wie er – ein bisschen antiautoritär, ein bisschen flippiger, ein bisschen unangepasster als man es sich meistens leisten kann.
Könnte das an einer unterbewussten Rebellion gegen deutschen Bürokratismus liegen.
Sehr reizvolle Idee, oder?
Das passt zu ihrer eigenen Rebellenzeit.
Als 68er sowieso. Auch wenn es am Ende ein Stück erdachtes Papier ist, steckt deshalb noch immer viel von mir selber im Matula. Er spricht wie ich die Sprache der Straße und stellt sich auch keinen Rotwein in den Kühlschrank.
Sind sie selber ein Haudegen?
Schon, aber nicht in dem Maße natürlich. Wenn ich die Lederjacke ausziehe, bin ich wieder Claus Theo Gärtner.
Der sich mit fast 74 Jahren ja langsam mal den wohlverdienten Ruhestand gönnen dürfte oder?
Aber da würde ich vor Langeweile doch eingehen… Ich hoffe natürlich schon, irgendwann zu der Erkenntnis zu kommen, jetzt ist aber auch mal wirklich gut. Andererseits kann ich eben nicht allzu lange stillsitzen und habe nach wie vor sehr großen Spaß daran, unterwegs zu sein. Deshalb muss ich entweder reisen oder arbeiten.
Zum Beispiel am Theater in Basel, für das Ihre Frau Drehbücher schreibt?
Könnte sein. Sie hat grad wieder ein Stück fertig, dessen Hauptdarsteller abgesprungen ist. Da hat sie mich gefragt, ob ich mir das nicht vorstellen könnte. Bei ihrer vorherigen Inszenierung war ich schlicht zu faul, so viel Text in so kurzer Zeit zu lernen; ich hab ja nicht aufgehört, um mich dann wieder zu quälen. Diesmal würde ich mitmachen, hab aber ausgerechnet am Tag der ersten Probe auch den ersten Drehtag für den nächsten Matula.
Mit der Zielsetzung, dass es darin weitergehen wird?
Ja. Das nächste Drehbuch ist in Arbeit, die Motiv-Hunter sind im Allgäu und in Südtirol unterwegs, es geht weiter. Matula wird zum reisenden Detektiv.
Das Interview ist zuvor in ähnlicher Form bei DWDL erschienen