Trumps Gezwitscher & Davids Network

Die Gebrauchtwoche

TV

24. – 30. Oktober

So, nach Lage der Dinge gehört Twitter seit Freitag dem reichsten Mann des Universums und wird in Echtzeit zur Plattform für narzisstische Demokratieverächter wie Donald Trump, denen der narzisstische Demokratieverächter Elon Musk die Schranken zur Hölle öffnet. Noch ist @realdonaldtrump zwar gesperrt, aber der Account des Chief Twit dürfte bald die Öffnung ankündigen und als Beitrag zur Debattenkultur verkaufen. Einige Populist*innen hartrechts der Mitte durften ihre gesperrten Twitter-Konten jedenfalls schon wieder voll pesten.

Jan Böhmermanns investigatives ZDF Magazin Royal hat fast zeitgleich als geheim eingestufte Ermittlungsakten zum NSU-Prozess, die das hessische Innenministerium für mindestens 30 (anfangs gar 120) Jahre unter Verschluss halten wollte, abgetippt und unter bundesverfassungsschutzschutz veröffentlicht. Der Inhalt scheint zwar alles andere als aufregend zu sein; die Tatsache allein allerdings könnte für neue Diskussionen um Wohl und Wehe geleakter Geheimnisse sorgen, die zuletzt ja auch das öffentlich-rechtliche Selbstbedienungssystem ins Wanken gebracht haben.

Nachdem Sabine Rossbach von der Antikorruptionsbeauftragten ihres – äh – eigenen Hauses vom Vorwurf der Begünstigung freigesprochen wurde, darf sich die Landesfunkhausdirektorin des NDR Hamburg auf einen Ruhestand in Saus und Braus einstellen. Frisch publizierte Zahlen nämlich zeigen, mit welch grotesken Summen staatsvertraglich garantierte Fernsehanstalten ihr Spitzenpersonal selbst dann versorgen, falls sie nur einen Tag in leitender Position waren. Erschaffen wurde hierzu ein System namens Ruhegeld, das bis zur Rente läuft.

Für Susann Lange, Juristische Direktorin des neofeudalistischen RBB, wären da satte 195.000 Euro jährlich plus 8,3 Prozent „variabler Vergütung“ drin gewesen, und zwar ungeachtet ihrer Bezüge aus anderer Tätigkeit. So fürstlich haben übrigens sämtliche Funkhäuser bis auf den klitzekleinen SR ihre Führungskräfte versorgt – auch wenn riesengroße wie der SWR oder BR diese Praxis gerade auslaufen lassen. Es lebt sich gut, im Unruhestand gebührenfinanzierter Altenteile.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

31. Oktober – 6. November

Angesichts dieser Selbstbereicherungsnetzwerke könnte man glatt denken, Ze Network wäre bereits eine Echtzeitverfilmung des ARD-Skandals. In der Agententhriller-Persiflage bastelt sich RTL+ hingegen ab Dienstag ein postkaltes Kriegsgeflecht, in dem David Hasselhoff als David Hasselhoff landet, um mit Henry Hübchen als Henry Hübchen selbstironischen Radau zu machen. Das wäre sogar ganz drollig gewesen, hätte Christian Alvert – dessen Tatort-Attrappen dank Til Schweiger eher unfreiwillig komisch sind – seinen US-Star nicht synchronisiert.

Dass er Deutsch spricht, nimmt der Serie jeden, wirklich jeden Anflug von Esprit und lenkt alle Aufmerksamkeit dieser Woche auf andere Erstausstrahlungen. Helsinki-Syndrome zum Beispiel. Im finnischen Achtteiler nimmt Vikings-Star Peter Franzén eine Zeitungsredaktion als Geiseln, um die wahren Hintergründe der Finanzspekulationskrise vor 30 Jahren herauszufinden. Und das räumt nicht nur mit diversen Klischees übers polare Land auf, sondern ist ab Donnerstag bei Arte auf fesselnde Art tiefgründig.

Beides gilt mit ein paar Abstrichen für Musik und Effekthascherei auch für den Real-Crime-Dreiteiler Das Mädchen in der Kiste, womit Sky parallel dazu einen der spektakulärsten deutschen Kriminalfälle nachzeichnet: die Entführung und Ermordung von Ursula Herrmann 1981. Der ARD-Mittwochsfilm Kalt lässt zuvor einen Kita-Ausflug virtuos eskalieren, während die großartige Friederike Becht am Samstag (ZDF-Mediathek) im #MeToo-Drama So laut du kannst brilliert und Jennifer Lawrence ab Freitag in Causeway bei Apple+ eine posttraumatische Belastungsstörung verarbeitet.

Interessant klingt auch der Ansatz von Starzplay/Lionsgate, das opulente Neunzigerjahre-Kostümfest Gefährliche Liebschaften ab Sonntag in Serienform zu gießen. Und eher chronistenpflichtig: zugleich startet die ARD-Themenwoche 2022, diesmal zum Thema WIR, also das pflegliche Miteinander in Zeiten des wütenden Gegeneinanders. Richtig los geht der Schwerpunkt aber erst am Montag drauf.

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Leftovers, Hermanos Gutiérrez, Moka Efti

Leftovers

Die Hamburger Schule, wenn sie denn je geöffnet war, ist geschlossen und hat auch keinen Ersatz hinterlassen. Deutschsprachiger Diskurspop existiert zwar weiterhin, aber er ist flatterhaft geworden, irgendwie unbehaust, allerdings mit einem Epizentrum, das undeutscher kaum sein könnte. Dass die ortsansässige Band Leftovers das Auftaktstück ihres famosen Debütalbums Wiener Schule nennt, hat damit allerdings wenig zu tun und grundiert auch keinen neuen Stil, sondern eher das Schreddern eines alten.

Krach ist schließlich kein Austro-Pop. Wenn überhaupt der Begriff darauf anwendbar ist, dann als Pogo- oder Kettensägen-Pop, was mit den Neo-Strizzis Wanda, Bilderbuch, Voodoo Jürgens wenig gemein hat – nicht mal den Schmäh. Ohrenkundig stinksauer brüllen sich Leonid, Leon, Anna und Alex hochdeutsch durch die Gossen ihrer Stadt, arten aber nur partiell in selbstreferenzielles Geschrei aus und sammeln lieber Eighties-Fetzen für ihren Postpunkt-Hardcore, der manchmal ein bisschen wie Messer auf Slayer klingt., manchmal nach Die Nerven auf Frittenbude. aber immer eigensinnig brutal britisch.

Leftovers – Krach (Phat Penguin Records)

Hermanos Gutiérrez

Und wo wir grad bei alpinen Bands sind, die so gar nicht danach klingen, woher sie stammen, muss an dieser Stelle dringend von Hermanos Gutiérrez geredet werden. Das Brüderpaar Estevan und Alejandro kommt zwar aus der Schweiz, hört sich aber schwer nach der Sierra Nevada an, irgendwas mit Mexico oder zumindest so, als würde jemand von außerhalb einen Soundtrack für Spaghetti-Western im Süden Nordamerikas drehen, wobei die ja auch nur selten dort entstanden sind, wo sie sich atmosphärisch verortet haben.

Ohne Gesang, aber mit verschwitzt verhallender Gitarre mäandert das Debütalbum El Bueno Y El Malo durch staubige Wüsten wie einst Sergio Leone oder Ennio Morricone, entfaltet zugleich aber einen fast mediterranen Charme – was natürlich auch mit dem Produzenten zu tun hat: Dan Auerbach verleiht ja auch schon seinen Black Keys grenzgängerische Vielschichtigkeit, die immer nur so wirkt, wie sie nie sein will. Die zehn Stücke mit Titeln wie Hermosa Drive oder Pueblo Man sind, wie sie wirken wollen und doch ganz woanders: schnauzbärtiger Psychopop für Eskapisten.

Hermanos Gutiérrez – El Bueno Y El Malo (Easy Eye Sound-Concorde)

Moka Efti Orchestra

Stichwort Eskapismus: Das Moka Efti Orchestra, vor ein paar Jahren bekannt geworden als 14-köpfige Bigband der Sky-Serie Babylon Berlin und damit Inbegriff der fiktionalen Roaring Twenties, bringt heute sein zweites Album raus – und es hat den Anspruch, der filmischen Vorlage zu entkommen, ohne sie ganz zu verdrängen. Babylon Berlin, wer die ersten drei Staffeln sieht, wird es nie vergessen, ist eine Art tanzchoreografierte Zwischenkriegszeit, gleichermaßen historisch korrekt und komplett drüber, wofür unter anderem Nikko Weidemanns Jazz-Combo verantwortlich war.

Auf Telegramm nun ist sie geerdeter, weniger funkensprühend, spürbar im Studio entstanden und damit nicht unbedingt besser als der Vorgänger, aber irgendwie echter weil weniger cineastisch. Während in der 4. Staffel Babylon Berlin nun die artverwandte Hamburger Bigband Meute den Ton angibt, emanzipiert sich das Moka Efti Orchestra quasi vom Fernsehen und probiert mehr aus – eher sixtiesorientierten Swing wie Sohn zum Beispiel oder Katakomben-Souljazz wie Surabaya Johnny. Eine Weiterentwicklung also. Immer gut.

Moka Efti Orchestra – Telegramm (Motor)


Heike Hempel: Emanzipation & Süßer Rausch

Heike Hempel

Die Geschlechterfrage ist keine Frauensache

Seit 1999 ist Heike Hempel (Foto: Tim Thiel/ZDF) in Führungspositionen für ZDF-Fiktionen zuständig. Wäre ein Zweiteiler wie Süßer Rausch voll reifer, ambivalenter, auch mal ätzender Frauen damals möglich gewesen? Ein Interview über Geschlecht und Alter in Film und Fernsehen.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Hempel, wann ist wahre Gleichberechtigung am Bildschirm erreicht – wenn Frauen unter 50 wie im ZDF-Zweiteiler Süßer Rausch ätzend sein dürfen, wenn Frauen über 50 dort ätzend sein dürfen oder wenn es egal ist, wer welchen Geschlechts und Alters ätzend ist?

Heike Hempel: (lacht) Zunächst mal sind wir der Gleichberechtigung nähergekommen, wenn wir beide nicht mehr darüber sprechen müssen. Aber es kommt generell darauf an, Frauen jeden Alters, genauso wie die Männer, im gesamten Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erzählen: alt oder jung, schön oder hässlich, dick oder dünn, reich oder arm, alles.

Das wäre qualitativ. Quantitativ hat eine Geschlechterstudie der Uni Rostock vor fünf Jahren herausgefunden, dass der Frauenanteil am Bildschirm über 50 bei 1:3 liegt.

Das stimmt, aber es gibt Fortschritte.

Ist Süßer Rausch, wo es um sechs teils ältere, teils jüngere Frauen im Kampf gegen männliche Machtstrukturen geht, Ausdruck oder Ausgangspunkt dieser Veränderung?

Eher Ausdruck. Das ZDF hat eine lange Tradition selbstbewusster, sichtbarer Frauenfiguren, die schon mit Inge Meysel begonnen hat. Seither gab es von Thekla Carola Wied über Hannelore Hoger bis Senta Berger und Iris Berben wunderbare Darstellerinnen in der Tradition weiblicher Persönlichkeiten im Zentrum starker Geschichten. Von daher kann man nicht sagen, das Phänomen sei neuartig.

Wobei eine Inge Meysel bei aller Stärke noch den mütterlichen Typus Frauenfigur zwischen Ehe, Haushalt, Kindern verkörpert hatte…

Ich glaube, sie hat viel emanzipiertere, ambivalentere Rollen gespielt, als Ihre Erinnerung hergibt, aber abgesehen davon hat sie die Frage, ob Frauen im Fernsehen alt werden dürfen, bereits in den Achtzigern bejaht. Aber natürlich ist, bei allen Fortschritten, die seither gemacht wurden, auch bei uns noch Luft nach oben. Das müssen wir als Auftrag verstehen – und zwar auch im Hinblick darauf, wie wir Frauen erzählen, nicht nur wie viele.

Es geht also eher um Qualität als Quantität?

Es geht um beides: die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Markt, hinter der Kamera und natürlich um die Qualität vor der Kamera– wie erzählen wir Frauenfiguren? Müssen Frauen echt alle jünger aussehen als sie sind? Das geht ja nicht nur mit Joghurt und Yoga. Hab‘ ich ausprobiert, klappt nicht… (lacht)

Aber wenn Sie sich dessen so bewusst sind, warum sind zumindest zwei der drei Frauen um die 60 in Süßer Rausch attraktiv, schlank, elegant und sportlich, also doch wieder 20 Jahre jünger als das Gros ihrer Geschlechts- und Altersgenossinnen?

Dem würde ich widersprechen: Leslie Malton, Désirée Nosbusch und Suzanne von Borsody spielen Figuren, die so alt sind wie sie selbst. Sie sind nicht „jünger“ geschminkt. Man kann in ihren Gesichtern ihre Stärke aber auch die existenziellen Probleme, mit denen sich ihre Figuren herumschlagen, lesen. Das macht „Süßer Rausch“ für mich zu einem ehrlichen Film.   

Ging dieser Ehrlichkeit ein kultureller, gesamtgesellschaftlicher Wandel voraus oder sind mehr Frauen an den Schalthebeln der Film- und Fernsehmacht wichtiger?

Idealerweise geschieht beides parallel. Es gibt interessante Entwicklungen wie age diversity oder body positivity, die Schönheit und Körperlichkeit anders definieren. Trotzdem gilt in der Kosmetik- und Modeindustrie oder Social Media noch immer: Alt sein ist okay, alt aussehen nicht. Daran müssen wir arbeiten. Der Optimierungswahn hat im Übrigen nicht nur bei Frauen zugenommen, sondern auch bei Männern. Weil Fernsehfilme und Serien diesbezüglich bewusstseinsstiftend sind, haben wir da große Verantwortung – die wir auch wahrnehmen wollen.

Wodurch?

Indem wir dem Optimierungswahn nicht auch noch befeuern und ausschließlich vollberufstätige, superemanzipierte, multitaskingfähige, idealschöne, ewig junge Frauen zeigen, sondern das ganze Spektrum – bis hin zur vielgeschmähten Hausfrau. Und da ist es in der Tat wichtig, hinter der Kamera weiblicher zu werden. Denn was und wie wir erzählen, hat auch damit zu tun, wer produziert, schreibt, Regie führt. Unser Zahlencontrolling evaluiert einmal im Jahr, an wen unsere Aufträge eigentlich gehen und wie gemischt die Teams sind.

Und?

Wir machen gute Fortschritte, haben an einigen Stellen die Parität schon erreicht, aber auch noch Baustellen.

Damit wären wir auf der mittleren Führungsebene. Wie es mit der oberen in Funkhäusern und Produktionsfirmen? Was können Führungskräfte wie Sie bewirken?

Als Auftraggeberinnen, die Leitlinien setzen und Forderungen stellen, einiges. Aber es sollte nicht nur Aufgabe weiblicher Führungskräfte sein, Rollenbilder auf der Höhe der Zeit einzufordern, sondern auch die der Männer: Die Geschlechterfrage ist keine Frauensache.

Sie selbst sind bald 30 Jahre erst beim WDR, später beim ZDF in leitender Funktion. War Ihnen die Gleichberechtigung da immer ein Anliegen?

(überlegt lange) Jetzt könnte ich es mir leicht machen und „ja“ sagen, aber es war ein wenig komplizierter. Wie so viele Frauen meiner Generation bin ich seinerzeit im Bewusstsein angetreten, es gäbe eigentlich gar nicht mehr so wahnsinnig viel zu tun – sowohl für eigene als auch die Lebensentwürfe anderer Frauen.

Aber?

Als ich mit Anfang 30 Redaktionsleiterin beim ZDF wurde, kamen Produzenten zum Antrittsbesuch. Sie drückten mir Hut und Mantel in die Hand und sagten: gern eine Tasse Kaffee, bitte schwarz.

Das klingt jetzt fast zu klischeehaft, um wahr zu sein.

Ist aber so geschehen. Da können Sie sich vorstellen, wie die geguckt haben, als ich mich als ihre Auftraggeberin zu erkennen gegeben habe.

Ich hoffe, peinlich berührt!

Sehr sogar. Aber wie sollten sie damit auch rechnen? Ich war anfangs oft die einzige Frau im Meeting, wo es dann schon mal Kommentare wie jene gab, mit Zahlen müsse ich mich nicht beschäftigen, das würden andere besser können.

Im Zweifel Männer.

Diese Erfahrungen haben mein Bewusstsein geschärft und auch den Ehrgeiz geweckt, mehr Geschichten aus weiblicher Perspektive zu erzählen. Unsere Ku’damm-Reihe, die Annette Hess mit der Frage kreiert hat, wie es sich angefühlt haben mag, weiblich zu sein in Deutschland in den 50er-Jahren, ist ein Beispiel dafür. Mittlerweile haben wir übrigens im ZDF in den Führungsebenen die Parität erreicht. Es gibt viel mehr Frauen in allen Meetings, und das ist schön.

Kippt diese Parität womöglich so, dass auch mal ein Mann unter Frauen sitzt?

Das kann schon vorkommen, ja. Aber ich finde es persönlich am besten – und lustigsten –, wenn die Teams gemischt sind.

Sind Formate wie Süßer Rausch oder Neuland in ihrer jetzigen Form mit vielen – auch älteren – Frauen an vorderster Besetzungsfront erst heute möglich?

Nein, die Konstellationen wären auch damals möglich gewesen. Aber die Art und Weise, wie Sathyan Ramesh diese Frauen mit einer gewissen Unerbittlichkeit erzählt und Sabine Derflinger sie dann in Szene setzt, mit all ihrem Schmerz, dem Humor, das ist heute möglich. Aber es ist ja generell so, dass Fiktionen à jour sein sollten, also zeitgemäß.

Sind familiäre Dramen wie diese eigentlich besser für emanzipierte, gleichberechtigte Charakter- und Geschichtszeichnungen geeigneter als, sagen wir: Actionstoffe?

Nicht grundsätzlich, aber im scheinbar Privaten hat sich in den vergangenen, sagen wir: zwei Jahrzehnten so viel verändert. Da die Überforderungen und Verwirrungen der Zuschauer*innen groß sind, eignet sich die Familie als fiktionaler Schauplatz besonders. Hier ist auch unsere Miniserie Neuland ein gutes Beispiel, in der es Ende Dezember um die Überforderung von Eltern im bürgerlichen Milieu geht und um die Hilflosigkeit ihren Kindern gegenüber.

Was ist abseits so moderner Stoffe beharrlicher: die Misogynie genannte Geschlechterdiskriminierung, Frauen weniger als Männern zuzutrauen, oder die Ageism genannte Altersdiskriminierung, Jüngeren mehr zuzutrauen als Älteren?

Oh, oh.

Ohne beide gegeneinander in Stellung zu bringen…

Wollte ich grad sagen… Beides ist beharrlich, weshalb wir uns bemühen, Frauenfiguren immer mit einer klaren Kernkompetenz zu erzählen. Ein Beispiel: Simone Thomalla in Frühling, eine unserer erfolgreichsten Herzkino-Reihen, spielt dort eine Dorfhelferin, bei der ich mich darauf verlassen kann, dass sie den Fall löst und der Familie helfen wird. Kompetenz schafft Vertrauen. Das gilt, egal ob wir Hausmänner oder Pilotinnen erzählen.

Vertrauen Sie selbst einer Pilotin denn genauso wie einem Piloten?

Ja, und einer Ärztin wie einem Arzt. Hoffe ich zumindest; das Unterbewusstsein überlistet uns ja gern. Deshalb ist es wesentlich, die Zuschauer*innen nicht nur sachlich, sondern emotional zu erreichen: Es sind Geschichten, die Einstellungen der Menschen prägen. Und das ist unsere Aufgabe.


Populismus & Parlamente

Die Gebrauchtwoche

TV

17. – 23. Oktober

Es klingt ein wenig kühn, keine zehn Jahre nach Beginn des Streamingzeitalters schon wieder dessen Ende auszurufen, aber die ersten Kommentare sagen es zaghaft voraus. Ein Grund: Mitte November erweitert Netflix sein Angebot um ein werbeunterbrochenes, was hierzulande ungefähr fünf Euro kosten soll. Dass Magenta TV beschlossen hat, keine deutschen Inhalte mehr zu produzieren, war bereits im Sommer ein Alarmsignal. Und wenn Paramount+ den rappelvollen Markt im Dezember weiter aufbläst, werden die Kuchenstücke für alle anderen erneut kleiner.

Wen das freuen könnte? Die Platzhirsche. Also ihre Ahnen der öffentlich-rechtlichen Sender. Deren Kernangebot aus Nachrichten, Sport, Seniorenunterhaltung ist in der alternden Gesellschaft schließlich vergleichsweise krisensicherer als beispielsweise Messengerdienste wie Twitter, das anders als noch vor kurzem kolportiert wohl keine Bewegtbilder produzieren wird, sondern unterm neuen Besitzer Elon Musik erstmal dreiviertel der knapp 8000 Angestellten entlässt.

Welche Strahlkraft ARZDF noch haben, zeigte sich zuletzt in Sandra Maischbergers Exklusiv-Interview mit Greta Thunberg, aus dem das Erste der nationalen Info-Industrie ein winzig kleines, angeblich atomkraftfreundliches Bröckchen vor die Füße warf – schon haben FDPCDUAfD daraus verkürzt, also falsch zitiert. Das nennt man Meinungsmacht, aber eben auch Populismus, mit dem selbst seriöse Parteien wie die von Friedrich Merz Politik machen, sobald es sich aufdrängt.

Einer, von dem man es irgendwie nicht erwartet und noch weniger erhofft hatte, übt sich jetzt auch hin populistischer Wutenbrennung: John Cleese. Einst das vielleicht witzigste Exemplar unserer Spezies, moderiert der frühere Monty Python jetzt eine Sendung beim britischem Fox-Pendant und hätte vermutlich auch für den Stürmer geschrieben, wenn der wie Cleese gegen Cancel Culture gewettert hätte. Aber gut – das passt zum britischen Kasperletheater, in dem Boris Johnson nur kurz mal durch Liz Truss ersetzt wurde.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

24. – 30. Oktober

Wie bestellt, sind die irrsten Charaktere der aktuell besten Politsatire Engländer*innen. Die 2. Staffel der sehr kleinen, sehr feinen Serie Parlament steht ab heute in der ARD-Mediathek und sorgt am Standort Straßburg erneut für hintergründiges Gelächter übers europäische Plenum. Ebenfalls international koproduziert, allerdings nicht halb so gelungen: Das Netz, ein – vorerst deutsch-österreichisches – Tandem, das den realen Fußballskandal mit gekaufter WM fiktionalisiert.

Zu schade, dass sich weder Rick Ostermann (Spiel am Abgrund) noch Andreas Prochaska (Prometheus) trauen, echte Täter beim Namen zu nennen und selbst die korrupte Fifa noch durch WFA ersetzen. Viel Action, wenig Mumm. Was ungefähr auch für Reset gilt, womit Bushidos Bild-Kumpel Peter Rossberg sein Prime-Porträt Unzensiert bei RTL+ fortsetzt und dem Rapper damit ein werbewirksames Denkmal baut. Ohne Scheiß? Da ist die dreiteilige Doku Mai time, mit der das Erste den Schlagerstar Vanessa Mai skizziert, distanzierter.

Anything else? Netflix hat vorige Woche mit Once upon a small town, Notre-Dame oder Die grünen Handschuhe gleich drei Serien gestartet und Barbaren fortgesetzt, während AppleTV+ für Raymond & Ray die Superstars Ethan Hawke und Ewan McGregor gewinnen konnte. Und diese Woche startet Netflix erst sein Cabinet of Curiosities (Dienstag) und geht Freitag Wenn ich das gewusst hätte und The Bastard Son & The Devil Himself ins Rennen, bevor das deutsche Remake von Im Westen nichts neues für ein Highlight sorgt, das Disney+ mit der zweiten Staffel seiner Mysterious Benedict Society liefert.

Das Glanzlicht der Woche schimmert aber woanders: in ihrer (ersten) TV-Serie Safe beobachtet Caroline Link zwei Berliner Psycholog*innen bei der fiktiven Arbeit. Wenn Carlo Ljubek und Judith Bohle acht Teile vier disruptive Kinder und Jugendliche behandeln, ist das ohne Übertreibung perfektes Fernsehen, also ein Glücksfall für ZDFneo und uns. Ebenso wie Anna Schudt als Die Bürgermeisterin (20.15 Uhr, ZDF). Eher Pech, dass die ARD zeitgleich die Mecklenburgerin Jessy Wellmer auf allzu kritiklose Identitätssuche Russland, Putin und wir Ostdeutsche schickt, was aber noch nicht verglichen mit dem Unglück der Woche ist: um 16 Uhr holt Sat1 Britt – Der Talk aus der Mottenkiste.


Fernsehpodcasts: Serien & Sachgeschichten

Bingenweisheiten im Streamgestöber

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Der wachsenden Zahl neuer Filme und Serien steht ein zunehmendes Angebot von Podcasts gegenüber, die es etwas vorsortieren. Eine kleine Reise durch die Welt des Fernsehradios.

Jan Freitag

Spaziergänge durch Deutschlands Städte und Gemeinden sind von Föhr bis Füssen oft Spießrutenläufe lustiger Sprachverirrung – wenngleich weniger, weil es hierzulande vor Orten von Krätze bis Kotzfeld nur so wimmelt. Nein, oft liegt es am Frisiergewerbe. Haareszeiten, Haarmonie, Sahaara und, auweia, Hairreinspaziert – der toupierten Wortspielbesessenheit kann nur ein Handwerk das Wortwitzwasser reichen: Fernsehpodcasts.

Wer online über Serien und Filme redet, verspürt offenbar den Drang, seine Sendung drollig zu betiteln. Es suppt daher Serienweise so viel Freiwillige Filmkontrolle kritischer Bingenweisheiten im Streamgestöber der Schaulustigen aus Apps und Browsern, dass Wiedersehen Freude macht. Aber auch Wiederhören? Angesichts all dieser Podcast-Namen ist das zwar Geschmackssache, aber eine vielvernommene.

Seit Katrin Fricke alias Coldmirror 2015 in ihrem 5 Minuten Harry Podcast 300 Kinosekunden ihres liebsten Zauberlehrlings pro Folge auf Fehler abgeklopft hat und damit ein wachsendes Publikum gefunden, sind Bewertungsformate handelsüblicher Fiktionen omnipräsent. Und während das Themenfeld naturgemäß auf Film oder Fernsehen begrenzt bleibt, waren der Titelschöpfungskreativität keine Grenzen gesetzt außer denen des verarbeiteten Metiers. Bestes Beispiel: Kack & Sachgeschichten.

Kurz nach Coldmirrors Dammbruch vor der heranrollenden Podcast-Welle entstanden, hat sich das Trio dahinter anno 2016 in Hamburg zur ersten Folge getroffen und allenfalls das Interesse einiger Dutzend fernsehaffiner Poetryslam-Nerds geweckt. Jetzt lauschen Woche für Woche gut 400.000 Fans dem Mix aus Talkradio, Medienkritik und Pennälerwitzen von Fred Hilke, Richard Hansen und Tobi Aengenheyster, die als selbsterklärte PoMiBi längst kleinere Mehrzweckhallen der Spaßgesellschaft füllen.

Drei Podcaster mit Bier also, die nie gendern und sehr gerne sehr laut über sich lachen, die sich 208 Folgen ohne Aktualitätsanspruch vier Stunden durch Fantasiewelten von Western bis Westeros, Weißer Hai bis White Lotus gefaselt und ihr Hobby inklusive Merchandising zum (sehr lukrativen) Beruf gemacht haben. Motto laut Jingle: „Total banale Themen/werden hier seziert/scheißegal wie albern/hart analysiert“. Klingt grob, ist grob und damit beispiellos Ansonsten nämlich übt die Szene zwar den Spagat zwischen Analyse und Entertainment vorwiegend locker im Tonfall, nimmt ihr Medium aber ziemlich ernst.

Unsere „Sehnsucht nach dem gesprochenen Wort“, die der Stuttgarter Kommunikationsforscher Oliver Zöllner in Zeiten visueller Reizüberflutung erkennt, trifft hier schließlich auf eine ebenso große Sehnsucht nach sehenswerter Fiktion. Dank HBO und Netflix, Disney oder Apple wurde das neue Kino Serie ja nicht nur zur wichtigsten Freizeitbeschäftigung der halben Welt; es ist ein Milliardenbusiness, das allenfalls inhaltlich, nicht ökonomisch auf Entspannung setzt – was sich auch im Sound der digitalen Nachbereitung spiegelt.

Dass Die Schaulustigen Sophie Passmann und Matthias Kalle im Auftrag des Zeit-Magazins ab 2017 um elaborierte Lässigkeit bemüht waren, lag noch in der Natur des gehobenen Feuilletons. Auch Podcasts tiefkulturellerer Medien wie Bingenweisheiten (TV Spielfilm) oder Streamgestöber (Moviepilot) aber sind feierlicher als ihre Titel. Die freiwilligen Filmkontrolleure des Rolling Stone Sassan Niasseri und Arne Willander etwa setzen sich alle 14 Tage 60 Minuten so nüchtern mit alten 007- oder neuen GoT-Folgen auseinander, als säßen sie im titel, thesen, temperamente. Obwohl die Serien-Nerds Daniel Schröckert und Donnie O’Sullivan zur Gaming-Guerilla Rocket Beans zählen, neigt Bada Bing seit 2017 faktenversessen zur Erbsenzählerei.

Wenn ihre (meist männlichen) Kollegen in Serienweise oder Och, eine noch mal episoden-, meist staffelweise Neuerscheinungen sezieren, wird also schon gelacht. Allerdings mehr miteinander als übers Besprochene. Atmosphärisch verstehen sich die Gesprächsformate dennoch als Gegenpol zum Thrill der True Crime und liefern zudem messbaren Mehrwert. Im Film- und Seriendschungel wildwuchernder Mediatheken und Streamingdienste sortieren die Kuratoren ein explodierendes Angebot, das Flatrate-Portale wie Spotify und Podigee jederzeit günstig verfügbar machen, wenigstens ein wenig vor. Am Ende aber bleiben Fernsehpodcasts in der Regel das, wonach es sich anhört: öffentliches Gelaber.


Lisa Stutzky: Casting & Haus der Träume

Ein Ensemble ist wie Malerei

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Lisa Stutzky sorgt seit 14 Jahren dafür, dass Film- und Fernsehrollen perfekt besetzt sind. Für RTL+ hat sie nun das Ensemble der historischen Kaufhausserie Haus der Träume erstellt – und dabei wie so oft Passgenauigkeit vor Popularität gesetzt. Ein Gespräch über namenlosen Nachwuchs, überraschende Stars, die Chemie des Castings und wer dort alles reinredet.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Stuzky, wie bitte schön sind Sie als Casterin auf Naemie Florez und Amy Benkenstein als Hauptdarstellerinnen vom Haus der Träume gestoßen. Abseits der Bühnenlandschaft dürfte die kaum jemand kennen…

Liza Stutzky: Ich gehe einfach sehr oft ins Theater, habe die Schauspielschulen im Blick und weiß, wer dort in welchem Jahrgang ist. So bin ich auch auf Naemie und Amy gestoßen, wobei wir für Vicky Tausende von Darstellerinnen gesichtet hatten, davon ungefähr 200 im Casting, und bei Elsie jeweils ungefähr halb so viele. Und nach den Live-Castings war sofort klar, dass es perfekte Matches für die Rollen sind.

Für zwei Angestellte eines Berliner Kaufhauses, das die Charaktere von Nina Kunzendorf und Alexander Scheer aufbauen. Waren unter den 300 Bewerberinnen, die letztlich vorgespielt haben, auch richtig bekannte Schauspielerinnen?

Einige ja. Die haben auch den gleichen Prozess wie die Unbekannteren durchlaufen. Am Ende haben wir aber genau die Schauspieler:innen über Castings besetzt, die perfekt auf ihre Rollen gepasst haben.

Was sagen etablierte Stars, wenn ihnen der namenlose Nachwuchs Rollen vor der Nase wegschnappt?

Absagen tun immer ein bisschen weh, aber gerade die Erfahrenen können das gut einordnen. Ich bewerbe mich auch für Projekte und kriege Absagen; damit umzugehen ist Teil des Berufes. Zumal selbst erfolglose Castings Geschenke sind, um auszuprobieren, wo man sich wohl fühlt, wo weniger. Am Ende sind das alles Lernprozesse, und auch wenn es bei einem Casting mal nicht klappt, merkt man sich die ein oder andere Person direkt fürs nächste Projekt.

Scheitern Schauspieler:innen mit weniger Castingpraxis manchmal an mangelnder Vorspielerfahrung als an schlechterem Spiel?

Das würde ich nicht so sagen. Schon die Begriffe „besser“ und „schlechter“ sind mit Vorsicht zu genießen. Man kann das mit einer Liebesbeziehung vergleichen, bei der es auch kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern ein „passt“ oder „passt nicht“. Selbst die Unerfahrenen sind in der Regel ja ausgebildete Schauspieler:innen, bei denen es für mich nur darauf ankommt, den Nährboden zu bereiten, um ihre Fähigkeiten zur Anwendung bringen. Castings sind Spielplätze, um Charaktere mit einer Vision auszuprobieren, die mit der von Buch, Regie, Produktion in Einklang zu bringen ist.

Reden die alle mit bei Ihrer Arbeit?

Das ist am Ende projektabhängig: linear oder Streaming, Serie oder Film, Kino oder Fernsehen mit oder ohne Redaktion – das spielt alles mit rein. Die Zusammenarbeit mit Sherry Hormann war hier ein wahnsinniger enger Austausch; so konnten wir eine klare Vision gegenüber allen Beteiligten vertreten, die unsere Vorauswahl, mit der wir in die Castings und Ensembleplanung gegangen sind, ebenso als richtig empfunden haben.

Visualisiert sich diese Auswahl bereits beim Drehbuchlesen oder erst, wenn man die Gesichter dazu im Casting spielen sieht?

Es visualisiert sich vage schon beim Lesen. Weil Sherry Hormann mir aber völlig freie Bahn gelassen hat, konnte ich damit wirklich wild gehen. Das ist nicht immer der Fall, aber ein großes Geschenk, da man dadurch unerwartete Leute miteinbringen kann. Die dann vorn auf der Besetzungsliste zu platzieren, ist nicht immer einfach, aber wenn es funktioniert, großartig.

Müssen Formate, die wie Das Haus der Träume auf ein größeres Publikum abzielen, dennoch Kompromisse machen und bekannte Namen aufweisen?

Klar gibt es Kompromisse. Man kann durchaus unbekannt besetzen, aber größere Namen sind je nach Format, Sender, Sendeplatz mal mehr, mal weniger gewünscht. Wobei auch sie durchs Casting gehen und sich beweisen müssen. Hier ist es wie ich finde ein guter Mix mit Stars wie Nina Kunzendorf und Alexander Scheer – allerdings in extrem ungewöhnlicher Paarkonstellation. Ein Ensemble zusammenzusetzen ist wie Malerei: da fügen sich auch verschiedene Farben zum Gemälde.

Wobei einige Farben, also Schauspieler:innen so oft zu sehen sind, dass für den Rest kaum was übrigbleibt.

Stimmt, aber das Privileg, oft besetzt zu werden, haben sich die Schauspieler:innen meist über Jahre hart erarbeitet. Außerdem ist es von Tag 1 meiner Arbeit vor 14 Jahren als Casterin der Anspruch, auch diese bekannteren Gesichter so zu besetzen, dass sie sich und andere überraschen, anstatt immer dieselben Charaktere zu spielen. Das versuche ich tatsächlich immer.

Ist das ein Versuch oder ein Kampf?

Es ist zumindest schon deshalb nicht immer einfach, weil jede Person, mit der ich zu tun habe, immer auch ein Individuum ist, das ebenfalls versucht, Wünsche und Visionen einer Redaktion oder eines Senders zu erfüllen. Das führt auch mal zu Diskussionen, aber ich diskutiere gerne.

War diese Diskussion bei RTL+ anders als bei ARD und ZDF, wo Historytainment seit Jahrzehnten zuhause ist?

Das kann ich schon deshalb nicht so genau sagen, weil mir lineare Fernseherfahrung fehlt. Ich hatte von Anfang das Glück, viel Kinofilme und Streamingserien zu machen. Dass man da andere Freiheiten genießt, hat sich bei RTL+ jetzt wieder gezeigt, wo es weniger um Namen als Resultate ging. Es ist völlig okay, mit der Besetzung Publikumswünsche zu erfüllen, aber wer mich engagiert, weiß ja, dass ich nicht immer die gleichen Leute suche und Ensembles anders zusammenstelle.

Dennoch sind Sie auch bei RTL+ eine Mediatorin von Massengeschmack und künstlerischem Anspruch.

Und dafür ist wie überall Kommunikation entscheidend, um zu vermitteln, was man mit den Figuren, der Geschichte, dem Gesamtgefüge vorhat. Wenn die Redaktion Besetzungswünsche hat, müssen auch die durchs Casting, um zu beweisen, ob die Chemie stimmt; es muss ja nicht nur bei, sondern auch zwischen den Darsteller:innen funktionieren. Zwei Superstars bringen dir wenig, wenn sie nicht zueinander passen. Weil es also letztlich viel um Dynamik untereinander geht, kämpfe ich seit jeher sehr fürs Live-Casting.

Haben Sie in ihrer Kartei gewissermaßen chemische Zusammensetzungen gespeichert oder zeigen sich die erst beim Vorspielen?

Die Chemie vorherzusagen, ist fast unmöglich. Selbst wer eine Ahnung davon hat, wird vom Casting oft überrascht. Aber diese Magie des Momentes ist ja das Schöne an unserem Beruf. Sie braucht allerdings Zeit, die wir leider oft nicht kriegen. Bei dieser Serie hatten wir zwei Jahre Zeit, aber manchmal kommen Produktionsfirmen auf mich zu und meinen, wir drehen in vier Monaten. Das sage ich mittlerweile ab. Hier haben wir zum Beispiel fast 200 Rollen, die irgendwie aufeinander wirken, das schaffst du nicht in so kurzer Zeit. Jede Rolle muss gesehen werden.

Sind Sie da für jede Rolle zuständig oder delegieren sie kleinere an andere Agenturen?

Ich besetze stets alle Personen, die auch nur ein einziges Wort sagen. Jedes einzelne, das nicht funktioniert, kann dich schließlich komplett aus der Geschichte raushauen. Schauspieler:innen müssen in ihren Figuren versinken; deshalb ist es mir wichtig, jede davon selber auszuwählen.

Auch Kinder?

Auch Kinder.

Sind die beim Casting vergleichbar mit Erwachsenen?

Der Prozess ist ein anderer, weil du dich mit dem Kind erst emotional verbinden musst, um zu erkennen, wann man es los- und spielenlassen kann. Da arbeite ich gelegentlich mit Kolleg:innen zusammen, die darauf spezialisiert sind, mache es aber auch selber, sofern es die Zeit zulässt.

Um dann was genau zu tun?

Kinder lasse ich daher oft erstmal irgendwas spielen, bei dem sich alle von der Regie über die Kamera bis hin zu mir zum Deppen machen, damit die nie das Gefühl bekommen: das sei hier eine Prüfungssituation, sondern etwas, das Spaß machen soll. Das gilt zwar auch für Erwachsene, aber die gehen natürlich mit einem anderen, ausgebildeten Grundverständnis an diesen Spaß heran. Casting ist für mich nicht hierarchisch, sondern gemeinsames Ausprobieren.

Hatte Helena Zengel bei ihrer Rolle als hyperaggressive Systemsprengerin, wofür Sie die damals Neunjährige gecastet haben, wirklich Spaß?

Härte und Spaß schließen sich nie aus. In diesem Fall auch, weil sie verstanden hat, warum es uns wichtig war, diese Figur zu erzählen. Umso bedeutender war es, dass sie sie am Ende des Tages buchstäblich von sich abgewaschen hat, um zu verstehen: ich bin nicht diese Figur. Der Spaß kam aber auch, weil Benni so wild und unberechenbar ist, wie man es selbst als Kind in der Realität nicht kennt. Zusätzlich ist der große Spaß am Schauspiel ja auch der, in Rollen zu schlüpfen – besonders die herausfordernden sind für Schauspieler:innen oft die erfüllendsten.

Zweite Überraschung in Systemsprenger war Teddy Teclbrhan als Erzieher. Wie sind Sie denn auf den gekommen – weil er Publikum in seiner jungen Bubble generiert?

Nein, weil ich ihn abseits seiner Komik kennengelernt habe und überrascht war, was das für ein ruhiger, reflektierter, intelligenter, berührender Mann ist. Ich fand es schön, dass er diese Seiten mal sichtbar machen konnte. Dass er im Casting das perfekte Match war, ist dennoch kein Wunder: Teddy ist ausgebildeter Schauspieler und spielte weit vor Systemsprenger in diversen Produktionen.

Aber auch Teil eines Versuchs, Wagnisse einzugehen?

Nee, aber es macht mir immer Spaß, um die Ecke zu denken oder andere Wege der Suche einzuschlagen. Das wird besonders deutlich, wenn wir Community-Casting machen.

Community-Casting?

Mitglieder Schwarz oder asiatisch gelesener Gruppen, die sich selbst repräsentieren. Beim Community Casting geht es darum, vor allem marginalisierte Communities direkt anzusprechen und einzuladen, um Chancengleichheit zu ermöglichen und die Filmbranche ganz aktiv für alle zu öffnen Für den Ensemble-Gedanken finde ich es unerlässlich, dass sich jede, jeder neu entdecken kann. Da sind mir Social Media, Clicks und Follower völlig egal.

Wissen Sie eigentlich, wie viele Personen Sie in 14 Jahren gecastet haben?

Eine genaue Zahl kann ich nicht sagen. Ich habe die 130.000 registrierten Schauspieler:innen in Deutschland zwar im Blick, bin aber immer wieder froh und überrascht, wie viele ich dann doch nicht kenne, obwohl ich jeden Tag bis zu 80 Mails mit Vorstellungen und Bewerbungen kriege. Im Laufe der Jahre habe ich aber in jedem Fall mehrere tausende Schauspieler*innen gesehen.

Welches war da ihr bestes perfektes Match?

Ich könnte das nicht ranken, weil jedes Projekt einzigartig ist und mein Anspruch natürlich immer, das beste Match zu finden. Ein schönes Beispiel war Kim Riedle in Back for Good, die vorher auch noch nicht so bekannt war. Aber auch Naemie, Amy und so viele andere im Haus der Träume sind aus tiefstem Herzen die einzig perfekte Besetzung für ihre Figuren.


Habets Beaujean & Theklas Martha

Die Gebrauchtwoche

TV

3. – 9. Oktober

Es war schon mal deutlich mehr los im Medienzirkus Maximus. Die meisten Fernsehsender haben den niedersächsischen Wahlabend souverän gemeistert, obwohl dem ZDF nach kurzer Zeit das Tierleben wichtiger war als das politische. Dass bei Anne Will anschließend kein(e) AfD-Vertreter(in) zur Nachbearbeitungsrunde geladen war, machte die Wutpartei zwar noch wütender als ihre Klientel, darf man aber als vorauseilende Gesprächshygiene deuten.

Beim RBB ist mit der juristischen Direktorin Susann Lange zuvor der nächste Kopf ins Rollen geraten, was bei ProSiebenSat1 vermutlich wie ein mittelschwerer Erdrutsch geklungen hat, als bekannt wurde, dass deren Vorstandssprecher Rainer Beaujean für Außenstehende unverhofft durch den früheren RTL-CEO Bert Habets ersetzt werden soll, was für Innenstehende schon deshalb wohl weniger überraschend war, weil der Niederländer ja bereits im Aufsichtsrat der Media SE sitzt.

Ach ja – und dann war da ja noch die Sache mit Twitter. Das nämlich will, besser: muss Elon Musk nun doch wie vereinbart kaufen und damit vermutlich einer gerichtlichen Niederlage wegen vorsätzlichen Vertragsbruchs zuvorkommen. Ob der Zwitscherdienst noch eine Zukunft hat, wenn Faschisten wie Donald Trump darauf wieder Lügen und Hass verbreiten, wird sich zeigen. Jan Böhmermann empfahl derweil auf – tihi – Twitter, von dort zur Konkurrenz von Fediverse zu wechseln.

Das allerdings hat vermutlich weniger Konsequenzen als der wahre Coup seines ZDF Magazin Royal. Dort nämlich hat seine Redaktion Kontakte des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik nach Russland entlarvt, was nun Ermittlungen der Bundesanwaltschaft nach sich zieht und Amtsleiter Arne Schönbohm den Job kosten könnte. Drollig nur, dass die CDU den Untergebenen der sozialdemokratischen Innenministerin Nancy Faeser in Schutz nahm. Ach ja – unter Unionsführung war er ja inthronisiert worden. Verrückte Politikwelt…

Die Frischwoche

0-Frischwoche

10. – 16. Oktober

Gewöhnliche Fernsehwelt. Denn dort gibt es heute Abend im Ersten mit dem realfiktionalen Biopic Martha Liebermann das nächste Stück Reanactment mit Widerstandskämpferin unter Hakenkreuzfahnen und Thekla Carola Wied als Malergattin in ihrer (angeblich) letzten Rolle. Morgen dann wanderte die deutsche Murmeltiertag-Variation Another Monday aus der Mediathek zu ZDFneo. In der Arte-Mediathek hingegen ereignet sich echt Bemerkenswertes.

Der Sechsteiler Die Welt von morgen zeichnet den Weg der französischen HipHop-Pioniere Nique Ta Mère nach – und herausgekommen ist ein absolut fantastisches Stück Popkulturgeschichte, für das man alle Frankophonen, die das auch im Original verstehen, nur beneiden kann. RTL+ hat sich mit Peacemaker ab Donnerstag derweil die nächste DC-Verfilmung gesichert.

Apple+ macht den Bestseller Shantaram tags drauf zur fiebrigen Verfolgungsjagd des autobiografischen Bankräubers Lindsey Ford auf der Flucht durch Indien Anfang der Achtzigerjahre, ohne sich zehn fast einstündige Episoden lang nur auf Action zu versteifen. In der ARD startet parallel die spanische Dramaserie mit dem nicht so richtig iberisch klingenden Titel You shall not lie. Am Sonntag schickt das ZDF mit Désirée Nosbusch, Leslie Malton und Suzanne von Borsody drei Frauen über 50 in die zweiteilige Melodramenschlacht Süßer Rausch um ein deutsch-italienisches Schnapsimperium schickt.

Das wahre Augenmerk sollte abends zuvor allerdings auf die ZDF-Mediathek gerichtet sein. Dort nämlich überzeugt Anna Schudt als Die Bürgermeisterin einer deutschen Kleinstadt im Kreuzfeuer eines rechtspopulistischen Mobs, der ehrenamtlichen Freizeitpolitikerinnen wie dieser auch in der Realität längst das Leben zur Hölle macht. Was im Vorweg ein bisschen nach bedeutungsschwangerem Gefühlskitsch klang, erweist sich als ziemlich solide Persönlichkeits- und Milieustudie eines irritierten, irritierenden Landes.


Die Nerven, Sorry, The Düsseldorf Düsterboys

Die Nerven

Der Bandname war ja schon immer fantastisch: Die Nerven. Auch ihr musikalischer Duktus zwischen Wut und Melancholie, Lyrikrock und Politipoesie: selbst im breiten Flussbett alternativer Indie-Seitenarme etwas ganz Besonderes. Jetzt aber schickt das Trio sein sechstes Studioalbum aus dem Stuttgarter Kessel ins krisengeschüttelte Land, und es gibt kein verklausuliertes Erbarmen mehr, nur noch klare Kante.

Wenn Max Rieger “Deutschland muss in Flammen stehen / ich will alles brennen sehen” singt, mag seine Stimme daher noch immer ein bisschen nach Tocotronic beim Beerdigungskaffeeundkuchen klingen, aber der Subtext passt sich den Begebenheiten an, und das ist gut so, weil es gut ist. Weil sich Riffs und Läufe wie und je eher unter die Haut schieben, als darauf herumzukratzen, weil Die Nerven einfach das sind, was man sich im Pop für alle wünscht: aufrichtig.

Die Nerven – Die Nerven (Glitterhouse Records)

Sorry

Noch ein fabelhafter Bandname: Sorry. Sorry für gar nix, müsste man hinzufügen oder wie es im Londoner Norden heißt, wo das Quintett schon seit Jugendtagen musiziert: Fuck you. Das nämlich schleudern Asha Lorenz und Louis O’Bryan ins weite Rund elegischen Alternativepops, sie sind also gleichsam pissed und entspannt. Ein Rezept, das schon ihr Debütalbum prägte und auf Anywhere But Here noch eindrücklicher klingt.

Elegant zerdeppert von Drummer Lincoln Barrett, Multi-Instrumentalist Campbell Baum und Elektroniker Marco Pini nämlich klingen die 13 Tracks wie eine Strandparty in der Gummizelle – gleichermaßen sonnig und betrübt, wach und betäubt, gefangen und befreit, optimistisch und dystopisch. Es sind Fanfaren des selbstgenügsamen Unwohlseins, die über industriell verzerrte Gitarren gelegt und damit spürbar werden. Das muss man eher verkraften als hören, aber dann wirkt es Wunder.

Sorry – Anywhere but Here (Domino)

The Düsseldorf Düsterboys

Und dann wäre da natürlich der depperte, aber irgendwie ja auch famose Bandname The Düsseldorf Düsterboys. Das Duo, bestehend aus Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti, die aus Mainz stammen und in Essen spielen, haben den Nachfolger ihres vielbeachteten, präpandemischen Debütalbums Nenn mich Musik herausgebracht, und wieder ist der enthaltene Zweipersonenbigbandfolk darauf alles andere als düster.

Im Gegenteil: das Potpourri aus Fieldrecordings und Studioarrangements klingt oft, als träfen sich Peter Licht und Niels Koppruch fürs deutschsprachige Coveralbum der Greatest Hits von Simon & Garfunkel im Bällebad. Das Resultat? Ein retrofuturistisches Manifest augenzwinkernden Unernstes und damit das weltbeste Poesiealbum einer Zeit, in der man ja nie weiß, ob man heulen oder tanzen soll. The Düsseldorf Düsterboys machen immer beides.

The Düsseldorf Düsterboys – Duo Duo (Staatsakt)


Maria Furtwängler: 20 Jahre & 30 Tatorte

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Maria, lass den Hut bitte liegen

In 20 Jahren Tatort hat Charlotte Lindholm (Foto: NDR) 30 Fälle geklärt. Ein Interview mit deren Darstellerin Maria Furtwängler über das Jubiläum (9. Oktober. 20.15 Uhr), ihre Stiftung, Männergewalt und warum die Kommissarin ihrer befreundeten Anwältin manchmal auf die Nerven geht.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Furtwängler, ihr Jubiläums-Tatort nach 20 Jahren im niedersächsischen Fernsehpolizeidienst scheint sich bewusst auf dünnem Eis zu bewegen.

Maria Furtwängler: Ah, ja?

Es geht um Frauenmorde und Geflüchtete als Verdächtige. Haben Stefan Krohmer und Daniel Nocke das in Zeiten rechtspopulistischer Spaltung bewusst gewählt?

Im Sinne von: Weil sie die Spaltung vertiefen wollen, sicher nein. Das hätte niemand von uns mitgemacht, da können Sie sicher sein. Was die Ausarbeitung und Umsetzung betrifft, müssten Sie Stefan Krohmer und Daniel Nocke direkt fragen. Ausgangspunkt für die NDR- Redaktion war ein realer Fall, der diesem Tatort zugrunde liegt.

2016 in Freiburg.

Ja, als Ausgangspunkt. Wichtig ist doch vor allem, mit wieviel Fingerspitzengefühl man Themen mit potentieller Vereinnahmung von der falschen Seite angeht. Das war uns allen jederzeit bewusst. Auch weil es fatal wäre, den Eindruck zu erwecken, diese Art von Verbrechen sei durch andere Kulturen nach Deutschland gekommen oder verstärkt worden. Vergewaltigung und Mord an Frauen sind in unserer Gesellschaft schon immer präsent, und die Täter sind primär im sozialen Umfeld verortet. Alle zweieinhalb Tage wird hierzulande eine Frau vom Partner oder Ex umgebracht.

Die Sozialforschung spricht von Femizid.

Und der ist nicht importiert, sondern ein dramatisches Nebenprodukt patriarchaler Strukturen, die es bei uns ebenso gibt wie überall sonst in der Welt. Machen wir uns also nichts vor: Von Millionen Geflüchteten sind die allermeisten achtbare Menschen. Aber genauso wie zu uns Biodeutschen eben auch Verbrecher jedweder Couleur gehören, gibt’s die auch unter denen, die vor Krieg, Hunger oder dem Klimawandel fliehen.

Ein Opfer ihres 30. Tatort sagt dazu, jede Kultur bringt ihre Arschlöcher hervor.

Und das auszusparen wäre ähnlich falsch, wie unsere Willkommenskultur zu diskreditieren.

Arbeitet Die Rache an der Welt Versäumnisse von 2015 auf, als über syrische Flüchtlinge im Angesicht rechtspopulistischer Abwehr vor allem positiv berichtet wurde?

Nein. Das ist nicht die Aufgabe eines Sonntagabendkrimis. Davon abgesehen hat sich die Berichterstattung über Geflüchtete ab 2016 bereits stark ins Negative verschoben. Und in diesem Kontext von Versäumnissen zu sprechen, scheint mir generell nicht passend.

Haben Sie bei der Auswahl Ihrer Rollen generell das Bedürfnis, etwas gesellschaftlich Relevantes zum Ausdruck zu bringen?

Filme wie der Tatort sollen, dürfen und wollen keine Debattenbeiträge sein. Klar haben wir die Chance, aktuelle Ereignisse aufzugreifen – aber doch nicht als politisches Statement, sondern als Bezugsrahmen. Für die Inhalte sind zwar Redaktion, Buch und Regie verantwortlich, ich hatte jedoch im Vorfeld durchaus Diskussionen mit dem NDR über das Narrativ, also warum wir schon wieder aus der Perspektive männlicher Täter statt der des weiblichen Opfers erzählen.

Mit welchem Ergebnis?

Dass wir nächstes Jahr ein Fernsehspiel machen, in dem genau das zum Tragen kommt. Man muss nicht in jedem Tatort jede Perspektive erzählen, aber in Summe müssen diverse Perspektiven eröffnet werden. Nicht zuletzt dafür setze ich mich auch mit meiner Stiftung ein.

In der Sie mit Ihrer Tochter Lisa Gleichberechtigung fördern. Sind Sie als Schauspielerin immer MaLisa-Botschafterin?

Dagegen spricht schon unser Lindenberg-Tatort, ein Riesenspaß ohne Message. Dennoch bin ich mir der Wirkmacht von Bildern bewusst und versuche, darauf Einfluss zu nehmen. Und das nicht nur, wenn es um die Darstellung von Gewalt geht, sondern um Geschlechterfragen generell. Insofern: Ja, Fiktion kann vieles zu einer neuen Sichtweise beitragen, aber nicht aus eigener Kraft Probleme lösen. Und das gilt auch für Charlotte Lindholm.

Kennen Sie eigentlich deren Wikipedia-Eintrag?

Nein.

Der hat locker vier Seiten.

Nicht wirklich! Was steht denn da alles drin?

Von Diebstählen als Kind übers Anti-AKW-Engagement bis zur Heirat eines weit älteren Manns. Ist das aus den Fällen heraus entstanden oder vorher verfasst worden?

Das hat sich jemand früh ausgedacht, spielte aber bislang keine Rolle. Angeblich soll sie Jahrgang 1968 sein. Da Kommissarinnen mit 63 in Rente gehen, hab‘ ich noch ein paar Jahre mit ihr. Schließlich haben wir längst heimlich geheiratet (lacht). Ich erinnere mich, mit Euphorie, aber auch Naivität in den ersten Fall gestolpert zu sein und mir wer-weiß-was ausgedacht zu haben, was Charlotte alles kennzeichnet.

Zum Beispiel?

Ach, dass sie außen ein bisschen trottelig ist und innen helle, so mit Miss-Marple-Hut. Der lag auch lange in der Requisite, aber die Regisseure meinten, Maria, lass den bitte liegen (lacht). Zum Glück! Eine Marotte von mir hat sich allerdings bei ihr durchgesetzt: Dass sie stets ihr eigenes Kopfkissen mit ins Hotel nimmt, das mache ich auch. Ansonsten ist wenig von langer Hand geplant; das meiste ergibt sich aus den Fällen, sollte aber schlüssig sein und nichts suggerieren, was sie niemals täte – da verstehe ich mich als Anwältin der Figur. 

Nur Anwältin oder auch Freundin?

Beides. Ein Zeichen dafür ist, dass wir dieselben, ausgelatschten Stiefeletten von Miu Miu tragen, die ich selbst mal mit zum Set gebracht habe, weil die so gut zu ihrer Jeans passen. Endlich reden wir mal über Fashion (lacht)… Immer, wenn ich zuhause in Marias Regal gucke, stehen da also Charlottes Boots. Trotzdem hat sie ein Eigenleben, das von mir unabhängig ist. Etwa, dass sie überhaupt keine Teamplayerin ist.

Sie schon?

Unbedingt.

Geht sie Ihnen da manchmal auf den Wecker?

Klar. Wir hatten auch unsere Krisen. Aber nicht wegen der Figur an sich, sondern weil ich es nicht mag, mich zu wiederholen. Das führte hier jedoch nicht zur Trennung, sondern zu mehr Sorgfalt mit ihrer Darstellung und der Reduktion auf einen Fall pro Jahr. Seither liebe ich sie umso mehr.

Hat sich da in 20 Jahren einer der 30 Fälle besonders eingebrannt?

Zwei sogar. Einmal Der Fall Holdt, als sie selbst Opfer von Gewalt wurde.

… und 2019 zum Wechsel nach Göttingen führte.

Der war toll, weil ihr Leben so aus dem Ruder läuft und offenlegt, wie brüchig ihre toughe Fassade ist; eine Eigenschaft, die so genannte – ich hasse diesen Begriff – “starke Frauen” im Fernsehen selten zeigen dürfen. Und dann natürlich der Doppel-Tatort Wegwerfmädchen und Das goldene Band.

Wieder Thema Männergewalt gegen Frauen.

Das ich selber eingebracht hatte und entsprechend stolz drauf bin, wie eindringlich die Umsetzung und wie erfolgreich die Filme waren.

Lässt Sie so ein harter Missbrauchsstoff nach Drehschluss schnell wieder los?

Schwer, schon weil das Spielen ein intimer Prozess ist, auf den ich mich intensiv vorbereite und nach einer realen Emotionalität, einer Entsprechung in mir selbst suche, also was ich der Rolle persönlich geben kann. Aber „Wegwerfmädchen“ habe ich auch so lange rumgeschleppt, weil sie keine Abstraktion waren, sondern wirklich existieren.

Ist Ihre Stiftung vier Jahre später aus Arbeiten wie dieser heraus entstanden?

Nein, der Impuls kam von meiner Tochter, nachdem wir mit den German Doctors, für die ich schon lange tätig bin, ein Schutzhaus für zwangsprostituierte Mädchen auf den Philippinen eröffnet hatten. Ich bin ihr sehr dankbar dafür – auch, weil sie zwei Generationen mit zwei Perspektiven auf Ungleichheit in diesem Land zusammenführt.

Sind Sie hauptberuflich eigentlich Schauspielerin oder Gleichberechtigungsaktivistin?

Ich spiele in Filmen, ich produziere Filme und ich blicke mit sehr wachen Augen auf Missstände und was sich dagegen unternehmen lässt. Ich bin, wenn sie so wollen, von Beruf vielseitig.


Prechts Schlägerei & Branaghs Johnson

Die Gebrauchtwoche

TV

26. September – 2. Oktober

Das Wortspiel ist älter als der Barte des Propheten, aber immer, wenn irgendwas bei gleicher Zusammensetzung irgendwie umbenannt wird, sagt irgendwer garantiert, und Raider heiße jetzt Twix. Mehr Querverweise in die Zeit, als der deutsche Schokoriegel globalisiert wurde, gibt es allerdings nicht durch die Umbenennung von Starzplay ins weltweit bekannte Lionsgate+, das Unternehmen hinter der Videoplattform, die andernorts wiederum unter Starz bekannter ist, vor 27 Jahren in Kanada gegründet wurde und damit 13 Jahre jünger ist als zwei Kinder der Raider-Epoche, die grad 40. Geburtstag feiern.

Im Herbst 1982 feierten nämlich zwei Serien Fernsehpremiere, die unterschiedlicher kaum sein könnten und einander dennoch bedingt haben: Knight Rider und Pumuckl, bedingungsloser Technikglaube hier, fortschrittsmüde Nostalgie dort. Und dass letzterer gerade ein Remake erhält, während erster schon durch die Teilnahme David Hasselhoffs längst absurder ist als der drolligste Kobold, zeigt ein bisschen, wohin die Reise im Angesicht von Krieg und Klimawandel gesellschaftlich gerade geht.

Die Sehnsucht nach dem Gestern ist so stark am Bildschirm, dass viele Zuschauer*innen sich erschüttert abwenden von der Realität – allerdings nicht aus Gründen, die Richard David Precht mit Harald Welzer in seiner philosophischen Wirtshausschlägerei Die Macht der Massenmedien insinuiert, sondern weil die Wucht der Dauerkrisen für viele nur mit Eskapismus erträglich geworden ist. Talkshows wie die, in der Markus Lanz vorigen Mittwoch mit dem Verfasser kollidierte, sehen viele von denen schon lange nicht mehr.

Der Rest konnte am Mittwoch live erleben, wie sich Precht beim ähnlich wohlfrisierten Moderator bitterlich beklagte, dass Presse-Organe links vom rechten Rand seine populistisch anschlussfähige Medienschelte nicht ebenso abfeiern wie die AfD und vermutlich auch das Kampfblatt des Springer-Chefs, über den das hauseigene Wirtschaftsportal Business Insider Ulkiges veröffentlichte: Mails des deutschen Trumpeters Mathias Döpfner nämlich, in denen er Elon Musk schon Anfang des Jahres riet, Twitter zu kaufen.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

3. – 9. Oktober

Schöne neue Alphatierwelt, der ein ausgesprochen narzisstisches Exemplar abhandengekommen ist, aber nun als Biopic-Figur zurückkehrt: Boris Johnson. In der Sky-Serie This England spielt kein geringerer als Kenneth Branagh ab Donnerstag den frisch ersetzten Premierminister, und zwar als betriebsblinde Knalltüte, deren Zögern zu Beginn der Corona-Pandemie (nicht nur) aus Sicht von Showrunner Michael Winterbottom Tausende von Menschenleben und Abermilliarden Pfund gekostet haben könnte.

So bitter das reale Resultat war, so unterhaltsam ist das fiktive – und ähnelt damit Andrew Dominiks Biopic Blond mit der Spanierin Ana de Armas als Marilyn Monroe, seit kurzem bei Netflix. Auch sonst steht die Woche im Zeichen beeindruckender Frauen. In der deutsche-schwedischen Neo-Serie Lea – The Fighter zum Beispiel wird ab Freitag eine Boxerin skizziert. Im Sky-Remake Kung Fu wird der legendäre Siebzigerjahre-Shaolin David Carradine ab Sonntag durch eine Kämpferin ersetzt. Parallel dazu feiert Maria Furtwängler den 30 Tatort-Einsatz als Charlotte Lindholm in 20 Jahren.

Tags zuvor dominiert Liv Lisa Fries (mehr als ihr querdenkender Kollege VOLKer Bruch) an gleicher Stelle auch die vierte Staffel von Babylon Berlin der wilden Zwanziger bis Dreißigerjahre (in denen heute Abend auch der schale ARD-Zweiteiler Das weiße Haus am Rhein spielt). Im achtteiligen Mystery-Thriller Himmelstal geraten Zwillingsschwestern (Josefin Asplund) ab morgen auf One in ein psychiatrisches Experiment. Und selbst die 13. (angeblich letzte) Staffel Walking Death wird ab heute bei Disney+ eher weiblich als männlich dominiert.

Aus diesem Geschlechterschema fallen nur zwei Neustarts heraus: Die Anthology-Serie The Resort verhandelt ab Freitag bei Peacock/Sky auf mystische Art Eheprobleme im Ferienparadies. Parallel dazu startet der Grusel-Spezialist Mike Flanagan sein drittes Netflix-Format mit dem sagenhaft dämlich übersetzten Titel Gänsehaut um Mitternacht, eine Art Club der roten Bänder im Spukhaus.