Gerichtsstühlerücken am Lerchenberg

Werbung, RFT Color 20, FernseherRücksichtnahme

 Die Woche, die war: 25.-31. März

Medien von Weltrang tragen seit voriger Woche andere Namen als BBC, NZZ, AFP oder das Provinzblatt New York Times; sie heißen nun Thüringer Allgemeine, Radio Arabella, Pressebüro Karlsruhe oder Friedrich Burschel und zeigen den Platzhirschen mal schön, wie man geschmeidig im fremden Revier wildert: Einfach in Echtzeit beim OLG München anrufen, schon kann die Hürriyet aus der Mainpost abschreiben, wie über die acht Mordopfer mit Wurzeln im heimischen Verbreitungsgebiet geurteilt wird. Dumm gelaufen. Und leider unwiderruflich. Die Strafprozessordnung, man möge verstehen. Auch Videoübertragung in den Nebenraum – juristisch nicht vorgesehen, also rein theoretisch ein Revisionsgrund. Es ist halt vertrackt mit dem Rechtsstaat. Aber bitte! Dafür sind RTL und Sat1 dabei, die relevante Inhalte zwar bloß als Rahmenprogramm ihrer Ballermannformate und Romanzen betrachten, aber wenigstens über ein messbares Publikum verfügen. Gut, dem bieten die kommerziellen Knalltüten statt sachlicher Informationen meist lieber frisches Ausrufezeichenentertainment wie zuletzt Entführt – Gib mir mein Kind zurück! oder gebrauchtes wie Ausgerechnet Sex!, aber, hey! – vielleicht findet sich im NSU-Prozess ja irgendein promisker Kindesentführer, der fürs Explosiv oder Akte 20.13 taugt.

Um Himmels Willen, könnte man da mit dem Titel der erfolgreichsten Betulichkeit in fortlaufender ARD-Serie ausrufen angesichts von so viel Dämlichkeit. Aber ähnlich christlich erklingt es ja aus fast allen Kanälen, wenn sämtlich, wirklich sämtliche Nachrichten die Osteransprache des Papstes gewohnheitsmäßig zur Spitzenmeldung machen, als sei dieses Jahr aber wirklich überhaupt nicht mit dem päpstlichen Urbi et Orbi zu rechnen gewesen. Und ähnlich christlich klingt es auch allerorten, seit das Osterprogramm seine Bibelfilmroutine zwischen Ben Hur, Die Zehn Gebote und ganz neu im Standardprogramm: Passion Christi abspult, wo Jesus allerdings erst nach Mitternacht in Zeitlupe gemartert wird wie eine Zielscheibe beim Biathlon.

Wobei – damit ist jetzt ja erst mal Schluss. Der Winter mag zwar nochmals furchtbar zurückgeschlagen habe, seine Lieblingssportarten haben sich in die Sommerpause verabschiedet, was mal einen Blick auf einen gängigen Samstag ohne Ski und Rodel freigab: Da wären vier Folgen Tiere bis unters Dach am Stück, gefolgt von einem alten Winnetou im Ersten, während das Zweite zwischen zwei Kochshows einmal Pilcher und Ich heirate eine Familie packt. Von dieser, man muss das so sagen: Kultserie, war dann Hauptdarsteller Peter Weck, ein altehrwürdiger Whitehead nahe 100, Gast der Jubiläumsgala 50 Jahre ZDF, was den Alterschnitt anderer Gäste aus der Sendergeschichte nur unwesentlich anhob (nicht aber den der Zuschauer).

Aussichtsplattform

Die Woche, die wird: 1.-7. April

Auch die jüngeren Zuschauer erwartet heute, also Montag, eine Rückkehr der nostalgischeren Art, die nominell nur den krimiaffinen Teil der TV-Bevölkerung interessierten dürfte, also fast die gesamte: Michael Fitz kehrt nach viel zu langer Abwesenheit als Carlo Menzinger in den Münchner Tatort zurück, was dem ältesten, aber dennoch besten Ermittlerduo noch mehr Klasse verleiht. Eine distinguierte, zurückhaltende, effektferne Klasse. Eine, die selbst auf diesem Sendeplatz zusehends seltener wird als in den großen Zeiten des Autorenfernsehens, das Arte heute mit der Wiederholung vom famosen Zweiteiler Molière ins Gedächtnis ruft, der den 68ern 1977 nochmals neuen Schwung gab. Filme über verstorbene Dramatiker nichtdeutscher Herkunft, die praktisch ohne Action und Schmalz beeindrucken, sind heutzutage leider – zumindest vor Mitternacht – kaum noch vermittelbar. Und weil das so ist, wird auch ein bemerkenswertes Experiment selbstkritischen Humors namens Lerchenberg ab Freitag zwei Tage lang um 23 Uhr versendet; muss ja nicht gleich noch jemand sehen, wenn das ZDF sich selbst und Sascha Hehn als Sascha Hehn fröhlich durch den Kakao zieht. Sonst müsste das Zweite ja sturzbiedere Freitagskrimis wie Die Chefin verschieben, also feste Alltagsabläufe im Rentenalter des Publikums durcheinander bringen.

Zeitgleich startet bei RTL übrigens die neue Staffel Let’s Dance mit den Weltstars Christian Polanc, Manuel Cortez, Melissa Ortiz-Gomez, Manuela Wisbeck, Massimo Sinató, Stefano Terrazzino, Nikita Bazev, Oana Andreea Nechiti, Paul Janke, Ekaterina Leonova, Balian Buschbaum, Sarah Latton, Simone Ballack und Erich Klann auf dem Tanzboden, die das konkurrierende Excontainergetier Jürgen Milski doch glatt wie eine bedeutsame Berühmtheit erscheinen lassen. Der Begriff Prominenz wird eben immer dehnbarer. Und zeitgleich wird dann ab heute auch noch ganz neu die nächste Generation C-Promis hinein gecastet, bei Sat1, Titel: The Voice Kids. Für tiefgründige Geister: die populistische Leistungsschau brachialen Unterschichtenfernsehens; für oberflächlichere: eine gute Gelegenheit, frühreifen Teenies auf die Hotpants zu zoomen.

Kommen wir also zu was Erbaulicherem: Real Humans zum Beispiel, ab Donnerstag in Doppelfolgen bei Arte. Die schwedische SciFi-Serie über menschengleiche Cyborgs, die (anfangs) ganz normal unter uns leben, wirft aufs Neue die Frage auf: warum ist Fernsehen aus dem der kulturellen Diaspora Skandinavien eigentlich so viel besser als das aus der Mediengroßmacht D? Weil erstere mit wenig Geld Mut zeigen, letztere dagegen mit wenig Mut Geld verbrennen! Daran ändert auch der unterhaltsame Achtteiler Verbrechen wenig, in dem das ZDF ab Sonntag nach dem Pilcherschmalz, also auf seinem Platz für ausländische Importe, den Weltbestseller des Nazischergenenkels Ferdinand von Schirach verfilmt hat. Denn das ist zwar eine quirlige Zappelschnitt-Gaudi nach realen Fällen des schreibenden Strafverteidigers, aber natürlich: Krimi. Na toll… Zur Entschädigung daher die freitagsmedien-Entdeckung: Metal Evolution,  eine elfteilige Musikdokumentation auf ZDFkultur, die endlich mal Licht ins Dunkel harten Rocks bringt. Bessr als jeder Mordfall!

Von Jan Freitag
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Die Samstagsreise: Bled, Slowenien

Cremeschnitte des Ostens

Bled ist wie ein Relikt aus alten Zeiten – betulich, fast bieder, trotzdem traumhaft schön. Denn zum Glück fehlt dem slowenischen Alpenstädtchen der eitle Glorienstolz ähnlich nostalgischer Orte.  Reisereportage von einem sahnigen Ort, dessen Spezialität nicht ohne Grund Kremašnita heißt und exakt so schmeckt, wie es klingt.

Von Jan Freitag

Wenn die Sonne orangerot zwischen Ritterburg und Klosterinsel im Gebirge versinkt; wenn pittoreske Boote darunter sanft durch blaue Wellen schaukeln; wenn sich die Promenade beim kühlenden Abendhauch mit Flaneuren füllt und die Kirchenglocken dazu ihr andächtiges Lied spielen – dann hat man entweder eine besonders kitschige Postkarte im Briefkasten, einen besonders kitschigen Pilcherfilm auf dem Flatscreen. Oder man sitzt im malerischen Städtchen Bled und genießt die sommerliche Luft an Sloweniens zweitgrößtem Gewässer.

Sollte das idyllische Land von der Größe Hessens tatsächlich, wie gern von Reisenden beschrieben, die Schweiz des Ostens sein, so ist ihre Perle am Rande der Julischen Alpen das Extrakt. Und das Konzentrat der Essenz, es wäre die Bleder Cremeschnitte, hochverdichtete Süße wie ihr Ursprungsort, das zeigt der Selbstversuch. Im nachmittäglichen Sonnenschein kämpft sich die Kuchengabel durch zwei Fingerbreit Sahne und weitere drei aus Pudding zwischen puderzuckerbeschneiten Biscuitdeckeln und man fragt sich beim ersten Bissen unweigerlich, in welcher Dosis Torte wohl toxisch wirkt. Gibt es Tortesättigungsgrade? Tortevergiftungserscheinungen? Tortenmortalität?

Falls ja, Bled wäre eine Todeszone und das Park-Restaurant am See ihr Schafott. Zehn Millionen Kremašnitas, wie das Gebäck im Original bezaubernd großmütterlich heißt, hat allein das beliebteste all der belebten Ufercafés bislang verkauft und es gibt kein anderes im Ort, bei dem das beige Rechteck nicht auf der Speisekarte ganz oben steht. Doch zur Beruhigung: wer es überlebt, bestellt auf sicher bald das nächste. Nicht am selben Tag, aber gewiss dem folgenden wie bereits am vorigen geschehen. „Eine kannste noch“, brandenburgert es vom Nachbartisch herüber, als die Bedienung eine weitere Ladung auf doppelstöckigen Servierwagen heranrollt.

„Det kann keener.“

„Zuhause verkneif ick mir det ja.“

„Das Bier könnte mehr Wumms haben, aber jeht.“

„Machste mal ’n Bild?“

„Vor der Burg oder mit Kirche?“

„Is doch allet dicht beisammen.“

Bled ist eben ein einziges, blumenbeetbuntes Fotomotiv, nicht fest in deutscher Hand, eher in englischer, die das „Habsburgische“ daran schätzen, wie die Chefin der örtlichen Tourismusagentur erklärt. Aber Deutsche findet man doch überall, zumal Ältere. „Wir hätten gern mehr Besucher um die 30“, klagt Eva Štravs, sprich: Strauß (hübsch, wie gesagt), und nimmt das sechste Handygespräch in zehn Minuten an. Bled, sagt die Dirigentin künftiger Besucherströme, ist gestern und heute zugleich, eine nationale Hassliebe vieler Slowenen, die sonntags aus allen Landesecken, besonders der Hauptstadt herbeiströmen. Zu nett, um sie zu mögen, zu nett, um sie zu meiden – die Perle des heimischen Fremdenverkehrs und sein großes Klischee.

Fremdenverkehr. Zugegeben, ein Begriff aus Epochen, da Reisende noch überalle hervorstachen aus der homogenen Eingeborenenmasse, als Zelte noch aus Leinen waren und Italien irgendwie exotisch. Hier passt er wie damals. Hier gönnen sich etwas zu prächtige Grandhotels wie das barocke Toplice noch einen Salon mit Seeblick und noch einen und noch einen, einer größer, einer leerer als der andere. Hier zeugen Messingplatten in Empfangshallen von präsidialen Gästen dunkel möblierter Suiten wie Josip Tito, der hier stets seine Sommerfrische pflegte, um bei Prager Verhältnissen rasch vor russischen Panzern ins angrenzende Österreich fliehen zu können. Die Suche nach Habsburg eben, selbst der Präsident. Hier werden morgens früh die Äppel tressenbesetzter Pferde von Kutschern in Tracht von der Straße gekratzt. Hier erinnern oft ergraute Kellner in ihrer befrackten Schluffigkeit an Hans Moser im schwarzweißen „Sacher“. Hier sind die Rabatten bonbonfarben, grafisch und gepflegt. Akkurat wäre ein gutes Wort. Und fotografiert wird noch auf Film.

Dennoch: Bled mag zuckersüß sein, klebrig wirkt es selten. Es ist sahnig, nicht zäh, betulich statt spießig, mehr adrett als sauber. Bled, das ist eine Reise in Fünfzigerjahrewelten, nach Baden Baden oder Capri, Likörsüffig, mandolinenbeschallt und sonnenschirmgeschützt, aber ihm fehlt der Konservatismus ähnlicher Ausflugsziele vom Bodensee bis Salzburg, das unablässige Gelöbnis vergangener Glorie. Und so mag die alte Ära aus gutem Grund vergangen sein – hier wird sie eher aus Selbstgenügsamkeit konserviert denn aus Tradition.

Davon erzählt auch die Vila Bled am Stadtrand. Ein prunkvoller Arkadenbau, dem der fünfte Stern nur fehlt, mutmaßt der Portier mit würdevoller Miene, weil sich das alte Gemäuer jeder stilistischen Modernisierung widersetzt. Seit 22 Jahren schlüpft Rado Bregar in die Livree und erzählt in Schweik’schem Deutsch auch von jenen zwei Frauen, die einst Titos gewaltigem Partisanenfresko im Kinosaal Modell standen und noch heute im Ort leben. Das Nobelhotel, die sozialistische Wandmalerei, Rado, sein lebendes Inventar – alles wie vom Himmel gefallen. Relikte nostalgischer Zeiten, Brückenköpfe ins Jetzt. Kaum minder herabgestiegen wirkt indes die Villa Prešeren, wo flotte Turnschuhträger in mattbraunem Rattangestühl zu Elektroklängen Latte Macchiato trinken. Es ist recht leer für ein schattiges Plätzchen wie dieses in bester Lage; selbst die Großstadtjugend mag an Bled eben eher das leicht Angestaubte, Biedere, den altbackenen Charme. Und so bestellt man auch im modernsten Café der Stadt Kremašnita.

Dieses Bled der Gegenwart ist ein Gegenentwurf zum Jahr 1855, als ein verrückter Schweizer, so sagt man hier ehrfürchtig, namens Rikli die Stadt für Touristen öffnete. Der Gesundheitsapostel quälte seine Kunden so lange mit Schonkost und Schockbädern im eiskalten Gebirgsbach der atemberaubenden Vintgarschlucht nebenan, bis sie entkräftet ins Umland flohen, um sich richtig durchfüttern zu lassen. Noch heute hat fast jeder Bauernhof vor Bled ein paar Fremdenzimmer, Hausmannskost inklusive. Und noch immer pflegen die Gäste am See das Gegenteil von Askese, als wollte man es dem alten Rikli nachträglich zeigen. Denkmäler von ihm gibt es dennoch. Eins aus Bronze. Und eins aus Creme.

Infos: www.bled.si, www.julijske-alpe.com; www.slowenien-tourismus.de

7 Fragen an … GWA-Sprecher Vieregge

gwa-logo“Gleichzeitig schön reden”

Henning von Vieregge, früher Hauptgeschäftsführer vom Verband Kommunikationsagenturen (GWA) heute Publizist zu Thema, über Werbebotschaften für knallige Artikel

freitagsmedien: Herr von Viereggel, bildet Werbung grundsätzlich die Konsumwirklichkeit ab oder kann Sie sie auch lenken oder erzeugen?

Henning von Vieregge: Werbung kann Konsum gegen die Disposition des Konsumenten nicht auslösen. Sie ist eine starke Hilfe im Markenwettbewerb, ein Beispiel ist das Rauchen.

Oder der Umweltschutz, der in den Achtzigern plötzlich zur Werbebotschaft wurde, während es heute vor allem Individualität ist.

Der Umweltgedanke ist jetzt in anderer Form in der professionellen Kommunikation: in der Nachhaltigkeit. Den Individualitätsaspekt sehe ich nicht stärker als in den achtziger Jahren.

Wie sehr spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen und politische Ereignisse in der Werbung wieder?

Werbung unterscheidet sich von Kunst durch ihre Zeitbezogenheit.

Merkt man das schon zur Zeit der Kampagne oder erst im Rückblick?

Im Nachhinein sieht man das deutlicher als in der aktuellen Werbung. Die Zeitbezogenheit kann auch in der Ausblendung bestehen. In so weit ist Werbung politisch korrekter als Journalismus oder Kunst.

Verändern sich Konsumverhalten und Werbung im Gleichschritt?

Werbung kann Konsumverhalten in unnachahmlicher Weise auf den Punkt bringen und gleichzeitig schön reden. Denken Sie nur an die Kampagne „Geiz ist geil“.

Wie erklären Sie, dass nach langer Phase ökologischer Ansprüche an Reinigungsmittel zurzeit eine große Zahl davon mit aggressiv klingenden Namen wie Oxi Action, Bref Power oder Cillit Bang im Umlauf sind und stark beworben werden?

Wissen Sie, wie im Journalismus gibt es auch in der professionellen Marketing-Kommunikation Themen- und sonstige Moden.

Was beeinflusst das Konsumverhalten mehr: Geldbeutel, Qualität, Reiz, Emotion?

Gegen den Geldbeutel ist nicht viel zu machen. Das zeigte zuletzt die Studie „Premiumkäufer“, die wir mit der GfK gemacht haben.

Von Jan Freitag
Das Interview stammt noch aus der Zeit, als Vieregge GWA-Sprecher war.

Amorn Surangkanjanajai, Köln 2010/2013

Ich war halt immer der Gung

Amorn Surangkanjanajai kommt in erdfarbener Kleidung, aber knallrotem Schal ins Studio 1. Vorbei an Mutter Beimers Gelsenkirchener Barock, dem geordneten Küchenchaos der Lindenstraße-WG und der billigen Sperrholzgemütlichkeit von Murat und Lisa führt er seinen Gast unter riesigen Scheinwerfern in Dr. Dresslers Wohnungskulisse. Ringsum: Weiden, Vorstadttristesse und das ausladende WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd. Eher unscheinbar liegen da zwischen einer Dokusoap-Halle und der GEZ die heiligen Hallen der ARD, Fassade und Inhalt von Deutschlands dienstältester Fortsetzungsserie, der zweitältesten nach Coronation Street weltweit. Da Gung in etwa so alt ist wie sein Darsteller, feiert der Bewohner der ersten Stunde nun seinen 60. Geburtstag. Glückwunsch!

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Surangkanjanajai, Ihr Nachname ist für Deutsche schier unaussprechlich. Reicht der Einfachheit halber Gung?

Amorn Surangkanjanajai: Lieber Amorn.

Also, Amorn, Ihre Herkunftsgeschichte als chinesische Weisheiten zitierender Vietnamese aus Thailand der Lindenstraß“ ist ziemlich verwirrend.

Etwas, ja. Ich stamme aus Bangkok und bin Mitte der Siebzigerjahre als Student aus Thailand nach Deutschland gekommen, in der Serie allerdings weder von dort noch aus China, sondern ein Flüchtling aus Vietnam.

Einer, der so genannten Boat-People.

Das passte in die damalige Zeit. Als die Serie geplant wurde, war grad viel vom Komitee Kap Anamur die Rede, das seit Anfang der Achtziger versucht, Bootsflüchtlinge nach Deutschland zu holen. Hans W. Geißendörfer hat von Beginn an die politischen Verhältnisse thematisiert und die Boat-People waren damals sehr bekannt. So kam Gung in die Lindenstraße.

Der, was kaum einer weiß, auch einen richtigen Namen hat.

Er lautet Pham Kien und wurde eigentlich nur erfunden, weil in einer Folge mal jemand laut Drehbuch fragen sollte, ob Gung der Vor- oder Nachname ist. Da hat ein Requisiteur empfohlen, mir einen vollständigen Namen zu verpassen und Pham Kien vorgeschlagen. Das hat der sich so am Set ausgedacht. Ein Vietnamese hat mir später mal erzählt, dass es den sogar gibt in Vietnam (lacht). Das war reiner Zufall.

Wurde er je genannt in der Serie?

Ich glaube nicht. Er stand wohl mal an meinem Türschild in der Straße, aber ich war halt immer der Gung.

Und somit wie die Figur insgesamt reduziert auf das Nötigste.

Ich halte mich betont im Hintergrund, das stimmt.

Wie ist so ein Fernsehleben im zweiten Glied?

Schauspielerei, wie das im ersten. Es mag Kollegen geben, denen das zu wenig wäre, die es nach vorn zieht. Aber meine Rolle war von Anfang an so angelegt, nicht in den Mittelpunkt zu drängen. Den Hintergrund mit Leben zu füllen war und ist eben meine Aufgabe, keine einfache übrigens. Die Kunst der Reduktion besteht ja daran, trotzdem bemerkbar zu bleiben.

Vor einigen Jahren hatte Gung durchaus eigene Handlungsstränge; die derzeitige Reduktion auf den Diener von Dr. Dressler ist ja erst vor relativ kurzer Zeit erfolgt…

Die Rolle war wirklich mal lebendiger und ihre Bedeutung größer. Aber deshalb kann man etwas, das so sehr Teil von einem geworden ist und die Geschichte weiterhin trägt doch nicht einfach wegwerfen. Das ist nicht meine Art. Außerdem ändert sich das vielleicht irgendwann wieder, das ist die kreative Freiheit der Fiktion; sie lässt ja sogar Tote auferstehen (lacht).

Haben Sie darauf Einfluss?

Das hab ich noch nicht ausprobiert. Ich bin Schauspieler, kein Drehbuchautor. Und Drängeln liegt mir nicht. Außerdem ist mein Charakter sehr spürbar eine Kunstfigur, die ihre Bedeutung eben nicht laut herausschreit, sondern unterschwelliger transportiert; das merkt man allein am ständigen Zitieren von Konfuzius.

Wissen Sie, was „Konfuze“ so sagt?

Nein, nie ohne Drehbuch. Ich bin kein Konfuzianer. Trotz meiner Herkunft bin ich im Grunde nicht mal richtiger Buddhist, eher Atheist. Wenn ich in der Lindenstraße also Konfuze zitiere, dient es eher ihrer philosophischen Ausrichtung. Ich bin der Serien-Philosoph! Darum frage ich immer mal nach, wann ich wieder mal Konfuze zitiere, denn das ist unser gemeinsamer Wiedererkennungswert.

In letzter Zeit hat allerdings selbst der abgenommen. Passt die Zurückhaltung der Rolle zum Klischee des Süd-Ost-Asiaten in Deutschland?

Absolut, das Fleißige, Widerspruchslose im Hintergrund gilt ja als typisch, was Geißendörfer und seine Autoren ganz bewusst einsetzen. Damit hält er den Deutschen einen Spiegel ihres Umgangs mit uns vor. Denn so, wie er mich darstellt, wollen uns viele Deutsche ja gern sehen und erwarten ein entsprechendes Verhalten: Bloß nicht auffallen, dann seid ihr geduldet! Das ist auch ein Grund dafür, dass meine Rolle von der Intensität her nie wirklich gleichberechtigt war mit vielen anderen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: ich fühle mich damit sehr wohl, weil ich privat ein ganz anderer bin. Die Interpretation des Südasiaten erfüllt letztlich nur den Zuschauerwunsch an Ausländer wie mich, möglichst langweilig zu sein.

Dabei sind auch vietnamesische Boat-People mittlerweile wie die Türken in dritter Generation hier, mit Enkelkindern…

… die womöglich deutscher sind als manche Deutsche. Ich bin jedenfalls noch erste Generation; da ist es nur realistisch, mich so im Hintergrund zu spielen, wie ich es tue.

Es sei denn, Gung lässt sich in den Bundestag wählen.

Nein: Zum Bundeskanzler! Das war erstaunlich. Als er 1998 auf „Listra 3“ kandidierte, hingen plötzlich auch die Wände außerhalb der Studios voll mit „Wählt Gung“-Plakaten. Es war zwar bloß ein Gag, der ausdrücken sollte, was passiert, wenn Menschen wie ich aus der Unsichtbarkeit nach außen drängen, ins Bewusstsein der Menschen, aber auch ein Statement zur Politikverdrossenheit. Denn die Kampagne kam in einer Zeit, als immer mehr sagten, es sei doch völlig egal, was man wählt; Politiker sind doch eh alles Schweine.

Beim „Sozi“ Geißendörfer, der gern aktuelle Debatten von links über die „Lindenstraße“ ins Fernsehen trägt, könnte dahinter der Bedarf nach einer Integrationsdebatte stecken.

Schon möglich. Aber es war wohl doch vor allem ein Gag. Damals war schließlich nicht abzusehen, dass mit Philipp Rösler ein Vietnamese Bundesgesundheitsminister werden könnte.

Wenn auch kein Flüchtling.

Nein, eine adoptierte Kriegswaise, die von deutschen Eltern soweit ich weiß in sehr bürgerlichen Verhältnissen aufgezogen wurde. Trotzdem ist er für Menschen, die seine Herkunft teilen, eine Integrationsfigur, die beweist, bis wohin man es auch mit dieser Biografie bringen kann. Für mich gilt das eher nicht; ich bin deutscher Staatsbürger mit eigenen Kindern, die hier geboren sind.

Empfinden die sich denn als Thailänder oder Deutsche?

Deutsche, Kölner, alle drei. Mit rheinischem Akzent.

Konnten Sie deutsch, als Sie 1974 nach Deutschland gekommen sind?

Kein Wort und so hab ich mich auch gefühlt: fremd. Jetzt bin ich ein Weltbürger, zuhause in Deutschland, aber damals kam ich mir ganz schön verloren vor. Wie sehr, fiel mir besonders in Bayern auf. Für mein Studium in Kiel brauchte ich einen Sprachkurs, der in einem Internat am Walchensee bei München nur 500 Mark im Monat kosten sollte, inklusive Unterkunft. Um Weihnachten herum habe ich allerdings bemerkt, dass die Deutschen das hinter verschlossenen Türen feiern und im Internat nicht mal ein Hausmeister ist; ich hatte ja keine Ahnung von solchen Festen (lacht). Ein paar Kommilitonen fragten mich also, ob ich nicht mit nach Köln kommen will. Ich wusste zwar nicht, wo das liegt, bin aber mitgekommen, habe da einen Thai in einem Studentenwohnheim kennen gelernt, mich an der Uni eingeschrieben. Und heute bin ich immer noch da.

Studieren aber nicht mehr.

(lacht) Nein, nein. Aber immerhin 13 Semester Sozialwissenschaften und an der Fachhochschule BWL hinter mir.

Mit Abschluss?

Ohne Abschluss (lacht), dieses Risiko bin ich bewusst eingegangen.

Welches?

Das Risiko Fernsehen. Ich hatte damals einen Freund in einem Kölner Szene-Lokal besucht und Wein getrunken – ich trinke ja gern Wein –, als der Geißendörfer mit seiner Gruppe rein kam und zu mir sagte: Ich hab Sie gefunden, ich suche einen Schauspieler für meine Serie. Da sagte ich aus Flachs, weil ich dachte, die sind alle so betrunken: wie praktisch, ich bin Schauspieler. Von Geburt. Da hat er mir seine Karte in die Hosentasche gesteckt, wo sie so lange steckte, bis meine Frau sie fand und meinte, das sei so eine versoffene Kneipenbekanntschaft. Ein paar Tage später aber war ich bei einem Freund zum Frühstück, als ich ihm die Geschichte erzählte und er ganz aufgeregt meinte, Amorn, du gehst jetzt sofort nach Hause und rufst den an! Das ist einer der berühmtesten Regisseure hier. Ich bin also sofort nach Hause, hab ihn angerufen und dann ging es ganz schnell. Die haben auf mich gewartet, das hatte der liebe Gott wohl irgendwie so festgelegt. Statt irgendwann einfach wieder heim nach Thailand zu gehen, war ich plötzlich Teil der ältesten deutschen Fernsehserie.

Bis dahin waren Sie der Gaststudent, von dem man wie beim Gastarbeiter erwartete, dass er hübsch wieder heimkehrt nach dem Gastaufenthalt.

Das stimmt. Und so haben mich viele auch behandelt. Mittlerweile aber fühl ich mich zu wohl hier, um zurückzukehren. Manche Leute versuchen, mir zwar noch immer das Gefühl zu geben, ich sei hier fremd. Aber das ist deren Problem. Ich bin hier zuhause, lebe hier, habe hier meine Familie, ich bin ganz schön deutsch. Wenn man mich nicht behandelt wie ein Fremder, dann bin ich auch keiner.

Haben Sie noch Heimweh?

Eher Fernweh (lacht). In den letzten zwei Jahren war ich nicht mehr in Thailand.

Kennt man Sie dort, als deutscher Fernsehstar?

Das tut man ja nicht mal in Deutschland. Bis auf die Thailänder hier vielleicht; für die habe ich womöglich eine gewisse Bedeutung. Aber weil in Thailand kein Mensch die Lindenstraße kennt, kennt auch keiner den Fernsehschauspieler Amorn Surangkanjanajai, auch wenn ich für thailändische Magazine als Kolumnist schreibe. Dann kennt man mich schon eher als Aktivisten. Ich interessiere mich sehr für Thailands Politik.

Und wenn man sich Ihren Schal so ansieht, sind Sie offenbar ein Roter.

Absolut. Ich bin ein Anhänger der Rothemden und von Thaksin Shinawatra.

Dem früheren Premierminister, der 2006 aus seinem Amt geputscht wurde.

Und sich sehr für die ärmeren Menschen im Norden Thailands einsetzt. Ich moderiere sogar eine Sendung für den Internetauftritt englischer Rothemden aus Thailand, thai.co.uk. Denn ohne das Wissen um die Verhältnisse, ist in Thailand keine echte Revolution möglich; an den Weg der Reform glaub ich nicht mehr, das Alte muss umgewälzt werden. Heute Abend bin ich noch mal online und gebe mein politisches Wissen über Thailand weiter.

Auch in Deutschland?

Natürlich, das muss ich. Viele Deutsche haben keine Ahnung von dem, was bei uns passiert.

Hier gilt Thailand als Urlaubsparadies, das mal Ort einer Flutkatastrophe war.

Leider, ja. Deshalb muss man aufklären, dass in meinem Land die Freiheit oft hinterm Sandstrand endet. Da habe ich viel Aufklärungsarbeit zu leisten, auch in Thailand. Das nimmt derzeit die meiste Freizeit von mir ein. Mir bleibt nicht mal mehr Zeit zum Malen wie früher. Nur Politik und Beruf.

Und wie lautet der genau: Schauspieler oder Lindenstraßen-Darsteller?

Schon beides, ich spiele ja auch andere Rollen. Ein paar größere, ein paar Kleinigkeiten, hier mal ein Tatort in Köln und in München, da mal ein Spielfilm. Aber so viele Angebote sind es nicht mehr; ich werde ja auch älter. Aber immerhin bin ich derzeit der einzige Thailänder im deutschen Fernsehen und Exoten werden immer mal gebraucht. Ich war in Der Kapitän ein thailändischer Schiffskoch oder auf dem Traumschiff ein Beamter in Phuket, auch wenn das leider in Casablanca gedreht wurde (lacht).

Ihre Hauptrolle ist die Lindenstraße.

Und bleibt es.

Was ist das Erfolgsgeheimnis der Serie über fast 30 Jahre?

Neben der Realitätsnähe: Dauerhaftigkeit. Es war die erste Serie, die ihr Niveau so lange halten konnte, ohne sich ständig zu wiederholen oder die Wirklichkeit zu verlassen. Diese unendliche Komplexität mit offenem Ende gab es Mitte der Achtzigerjahre nicht; es herrschten Spielfilme oder Mehrteiler. Und ich war der einzige, der sagte, dass die Serie 25 Jahre laufen wird, ehrlich. Das war vielleicht auch ein Hoffnung, aber auch eine realistische Einschätzung. Wir sind die zweitälteste Serie der Welt nach der britischen Coronation Street, aber das ist eine Seifenoper.

Und Sie sind der älteste Ausländer in fortlaufender Rolle?

Ich glaube ja. Zumindest der erste Asiate.

Bedeutet Ihnen das was?

Ich habe da kein Sendungsbewusstsein. Aber wenn es als Side-Effect einen Integrationseffet hätte, würde es mich freuen.

Wissen Sie, wie viele Ihrer Kollegen im Laufe der Jahre aus der Serie gestorben sind?

Nicht genau, es muss ein Dutzend sein.

Könnten Sie sich vorstellen, irgendwann mal tot aus der Besetzungsliste zu kippen?

Warum nicht. Es ist ja wie im richtigen Leben: Es gibt immer einen Anfang und ein Ende.

Sagt Konfuze…

(lacht) Bestimmt. Irgendwo. Die Serie wird auch für mich irgendwann ein Ende finden, das ist normal. Nur welches ist offen und zum jetzigen Zeitpunkt auch unwichtig. Wenn ich nächstes Jahr plötzlich keine Lust mehr habe, würde ich nicht sofort aussteigen, dafür bin ich nicht der Typ; aber es könnte ein Ende einleiten. Der Hintergrund darf nicht beginnen, mich zu stören.


Blutarmut

fragezeichen_1_Ob Fausthieb, Fußtritt oder Trefferserie – wann immer es in Film und Fernsehen was auf die Nase gibt, blutet sie höchstens einen Tropfen.

Seid Rocky Balboas rechter Klebe und Bud Spencers linkem Pfund dürfte bekannt sein: Fiktional gefilmt klingen Wirkungstreffer gern wie mittlere Bergwerkssprengungen. Umso erstaunlicher, dass sie in der Regel fast folgenlos bleiben. Denn wen auch immer derart zielsichere Dresche am Kopf erwischt, er/sie/es steht bald wieder auf, um sich die nächste Ladung Hiebe abzuholen. Schließlich blutet nach den ersten noch nicht mal anständig die Nase. Ein medizinisches Phänomen.

Wer in seinem Leben schon mal Nasenbluten – ob nun das selbst induzierte vom allzu tiefen Bohren oder das fremd induzierte vom allzu festen Zuschlagen – hatte, der weiß ja, was aus dem Riechorgan für Ströme fließen, wenn sie erst mal entfesselt sind. In Film und Fernsehen dagegen sorgt selbst die satteste Tracht Prügel bestenfalls für eine rasch verkrustende Rottönung über der Oberlippe. Das hat ästhetische Gründe, da echte Blutbäder atmosphärisch den Weg ins Splattergenre weisen; vielleicht sind es aber auch technische. Manche Menschen können schließlich mit den Ohren wackeln, andere ihre Kiefer ausrenken und die nächsten mit Ellenbogengelenken knacken, aber per Nasenflügel die nötige Blutkapsel zu zerdrücken wie beim Bauchschuss, der grundsätzlich Ströme künstlichen Lebenssaftes in Echtzeit aus dem Mundwinkel befördert – wer kann das schon?  Bud Spencer vielleicht. Aber der bringt auch Schädeldecken zum Klatschen.


Riemanns Locken und 40+

Werbung, RFT Color 20, FernseherRücksichtnahme

Die Woche, die war: 18.-24. März

Die Woche, die war, war eine medial sehr erhellende, und das lag nicht allein an Katja Riemann, aber ganz schön. Ihre trotzige Renitenz im struktureller redundanten ARD-Vorabendgeplauder DAS war in seiner Spielregelmissachtung Auftakt einer Debatte, die mehr sagt übers Medienland als jeder Ausbruch aus dessen Ödnis. Zuerst wurde die Schauspielerin aus allen Rohren auf allen Foren mit Shit bestürmt, bis sie alle Kanäle kappte, woraufhin die Qualitätspresse dem Qualitätsfernsehen mal zeigte, was eine gedruckte Harke ist, und den bemitleidenswert schlichten Moderator Hinnerk Baumgarten aufs Korn nahm, dessen Blonde-Locken- Fragen offenbarten, was an derlei Gesprächsverweigerung wirklich skandalös ist: die Verhörzellen des Boulevardfernsehens wie das Rote Sofa bei DAS.

Da hätte es ein reinigender Sturm sein können, den Riemanns, nun ja, wenig souveräne, aber menschliche Smalltalkblockade hätte auslösen können. Doch kaum nahm die Diskussion Fahrt auf, versickerte sie im Tagesgeschäft des Stromlinienfernsehens. Zum Beispiel von Wetten, dass…?, wo ein beherztes „Fuck“ von Stargast Michael Bublé simultanübersetzt zu „dumm gelaufen“ wurde, was abermals beweist, wie dumm sich diese Art ZDF sein Publikum hält. Dem wollte die ARD natürlich nicht nachstehen und erwähnte den Ausschluss der musikalisch belanglosen Blut-und-Boden-Patrioten (sind Idioten) Frei.Wild beim kulturell belanglosen Kommerzpreis Echo mit keiner Silbe. Feigheit vor dem Feind? Dem Freund gar? Einfach Harmoniesucht? Alles! Dieser Banalität des Bösen stellt sich das das Erste zur Primetime ja nur noch im Mittwochsfilm entgegen, der – da Raabs Talkshowkarikatur Absolute Mehrheit gestern auch nicht stupider war als die Originale – das Fähnchen der Relevanz im Ersten hochhält und sich damit so einsam fühlen dürfte wie der Weltspiegel.

Dessen 50. Geburtstag feierte die ARD kurz zuvor mit einem, der das Debüt des Relevanzrefugiums moderiert und somit ein TV besserer Tage geprägt hat: Gerd Ruge, den heute wohl weniger Zuschauer kennen als Britt (Hagedorn). Noch. Denn die bekam auch sie ihre Kündigung, womit am 5. Juni eine Schreckensherrschaft am Nachmittag zu Ende geht: die des Daily Talks. Auch wenn Sat1 das Aus mit Sinkflugquoten begründet: Es gibt also noch Hoffnung. Wenn auch wenig. „Schön war ich nicht“, sagte der TV-Pionier Alfred Biolek in der Süddeutschen über seinen Einstieg beim neuen ZDF 50 Jahre zuvor, „aber das spielte damals im Fernsehen noch nicht so die Rolle“. Schöne Zeit.

Aussichtsplattform

Die Woche, die wird: 24.-31. März

Wobei Zeit als solche auch damals nur bedingt amüsant war. Denn Zeit, sie läuft und läuft und läuft doch oft ins Leere. Kaum Spezialeffekte, Null Schnitte, keine Handlungssprünge, nur ein träger Fluss der Ereignisse, die sich um Kurzweil und Spannung selten scheren. Zeit als solche ist also ziemlich filmuntauglich und eine Echtzeitserie wie 24 so gesehen eher geraffte Wahnwirklichkeit, deren Uhr im Bildschirmeck zwar unaufhörlich tickt, inhaltlich indes die Handlung von Wochen bloß künstlich auf Actionmaß staucht. Ohne Verdichtung keine Echtzeitserie also. Könnte man meinen.

Dann aber tickt im Flatscreeneck von Zeit der Helden die Uhr und es geschieht Sensationelles: Obwohl wie in der Realität fast nichts passiert, bebt das Bild vor Spannung und Kurzweil. Ein Wunder: Acht Folgen passiert in der Echtzeitserie kaum mehr als im gewöhnlichen Leben gewöhnlicher Leute, und trotzdem wird aus diesem scheuen Stück TV-Unterhaltung etwas Großartiges: Es fesselt mit Alltag. Deshalb ist die Geschichte dahinter fix erzählt. Der Elektroinstallateur Arno und seine (Haus-)Frau Mai, nebenan Lichtgestalter Gregor samt Gattin Sandra im gehobenen Management, dazu Christoph, Porschefahrer und Single – sie alle zeigen uns fünf Tage je zweimal 45 Minuten nach der Tagesschau ihr Dasein. Im kammerspielartigen Ambiente lässt Regisseur Kai Wessel seine Protagonisten Arbeitsbelange aushandeln und Mittelstandsprobleme, Freizeitfragen und Vorstadtsorgen, den Urlaub, einen Pooleinbau, flügge Kinder, Ratten im Regenrohr – die mal belanglosen, mal bedeutsamen Dinge des Bürgerlichen in Deutschland.

Geredet wird viel, vor allem aneinander vorbei, und falls mal gebrüllt wird, dann gedämpft – der Nachbarn wegen. Das könnte betulich wirken, wie Soap ohne Ausdauer, Autorenkino in Drittprogrammqualität. Dass all die Tristesse dennoch so glänzt, liegt an einem Drehbuch, das versiert im Nichts nach Etwas sucht und findet. Es lässt Oliver Stokowski als Arnd mit Abendbrot in der Hand Sätze wie „Nee, ich find das klasse, dass du dir da jetzt was überlegst, dir was zu suchen“ sagen, worauf Julia Jägers Mai entgeistert antwortet, „du bewunderst Frauen, die toll sind in Berufen“, bis daraus ein furioses Wortduell wird: „Was für’n Job willste denn?“ – „Job? Willst du dass ich Regale auffülle?“ – „Also gut, was für ne Aufgabe?“ – „Aufgabe? Das klingt nach was, wofür man kein Geld kriegt!“ – „Also ein Neuanfang?“ – „Neuanfang? Als wär vorher alles schlecht gewesen!“

Diese Art Kommunikation brilliert, weil sie exakt auf die Situation zugeschnitten sind, weil alle Beteiligten verinnerlichen, worum es in der Serie geht: die Generation 40+. So heißt auch die Themenwoche, mit der sich Arte und der SWR bis Freitag mit Dokus, Filmen, Comedy und Zeit der Helden einer Altersgruppe widmet, die den Bauch der Alterspyramide bildet, in Film und Fernsehen aber zur Randgruppe wird. Bisher sind die Sechzigerjahrgänge seltsam farblos, unsichtbare Klammern der sozialen Erregungspole Teen- und Best Ager. Dazwischen regiert die Krise, wahlweise als Menopause oder Männlichkeitsverlust. Da kümmert sich 40+ endlich eingehend um die Kohorte rings um den Pillenknick. Denn vielleicht geriet das Leben der Kinder von einst ja als frühe Überlebende eines gerechten Krieges gegen das Naturgesetz Kinderreichtum so melodramatisch. Vielleicht ist es aber auch grad darum selbst im Normalen so reichhaltig, als erste Krisengeneration der BRD. „Weißt du was mir das bedeutet?“, fragt Christoph, als er seine Mietbegleiterin für den Skiurlaub erklärt: „Ich misch’ wieder mit!“ Der Satz zeugt von Hoffen und Angst derer, denen mit Haar und Spannkraft die Chancen versiegen. Fünf Tage lassen sie sich nun bestaunen. Es könnten die besten des Fernsehens 2013 werden.

Besser jedenfalls, als der 300. Fall für zwei, Matulas letzter nach 32 Jahren. Besser sogar als der versierte ARD-Film Das Netz am Mittwoch, in dem die atemberaubende Caroline Peters via Internet ihrer gesamten Existenz beraubt wird. Besser auch als der Vierteiler Lerchenberg, mit dem das ZDF ab Samstag vorab auf seinem Jugendkanal neo die eigene Staubigkeit samt Hauptdarsteller Sascha Hehn auf die Schippe nimmt, der unterm Klarnamen sich selbst spielt. Respekt! Auch für die Entdeckung der Woche: Poetry Slam, donnerstags zur insomnambulen Kernzeit nachts um zwei. Showfernsehen ohne Spirenzchen.

Von Jan Freitag

Der Untergang

Ein Jahr nach Wulff

Gut ein Jahr nach seinem Rücktritt, scheint sich der Fall Christian Wulffs auch juristisch bald erledigt zu haben: Die Staatsanwaltschaft Hannover will das Verfahren gegen den früheren Bundespräsidenten dieser Tage gegen eine Geldauflage von 20.000 Euro einstellen. Vom Vorwurf der Bestechlichkeit waren zum Schluss nur ein paar Hunderter geblieben, deren Nachweis zudem auf wackeligen Beweisen steht. Anlass genug für freitagsmedien, eine Reportage im Medienmagazin journalist zu zeigen, die sich auf dem Höhepunkt der Affäre mit dem Medienhype befasst hat.

Von Jan Freitag

Es ist einfach zu viel. Zu viel Information, Input und öffentlicher Diskurs, zu viel Titel, Thesen, Temperamente, zu viele Foren, Blogs oder einfach Worte. In zwei davon ausgedrückt: Es ist zu viel Christian Wulff. „Ich mag nicht mehr“, entgegnete Jan-Eric Lindners Referent auf die Mail eines Mitarbeiters bei der Welt am Sonntag, weitere Leserbriefe zum Bundespräsidenten zu beantworten. Zur Verstärkung setzte er drei Ausrufezeichen hinters Ersuchen um ein Meinungsembargo im Medienskandal. Stopp! So dachte wohl auch die Mehrheit.

Denn die multioptionale Mediengesellschaft mit ihren Eindrücken pro Sekunde, Aufgaben pro Tag, Zielen pro Leben kostet Kraft. Die Datenautobahn hat kein Tempolimit, und doch stehen wir ständig im Nachrichtenstau, wenn saisonale Kampagnen und Themenstandards die Titelseiten füllen, wenn der Winter einbricht (wie jedes Jahr), Steuererhöhungen diskutiert werden (wie jeden Monat), Lady Gaga was Irres macht (wie in jeder Klatschspalte). Wenn Facts & Features kurzum infiltrieren statt informieren und das Aufnahmevermögen durch Masse blockieren, macht die Wissensflut bloß müde. Das betrifft alle Medien, Genres und Formate. Trotzdem fällt auf, dass man hier ständig die Bild im Sinn hat.

Deutschlands größte Boulevardzeitung ist durch ihr Gebräu aus schierer Marktmacht, bedingungsloser Unterhaltsamkeit, soziokultureller Intriganz und der zugehörigen Chuzpe ja nicht erst unterm Brachialjournalisten Kai Diekmann in der Lage, die der Nachrichten gezielt zu steuern. Und nicht bloß Kanzler Schröder hat sich allein durch die rote Gruppe der Springer-Presse informiert – ganze TV-Redaktionen kennen keine andere Quelle als Bild, denn Bild setzt, Bild macht Themen. Bild macht aber vor allem sich selbst zum Thema, ist also mehr Projekt als Publikation. Das belegt die Akte Wulff vortrefflich.

Mit großem Geschick und gutem Timing ließ das Blatt die Medienwoge um das häuslefinanzierende Staatsoberhaupt zur Monsterwelle anschwellen, bis alle Kanäle der Aufmerksamkeitsindustrie verstopft waren. Als drei Wochen später die Ebbe einsetzte, hatte allein die Hauptabendsendung der Tagesschau elf Spitzenmeldungen daraus erstellt. Beim Konkurrenten heute war das Dutzend gar voll. Noch 29 Tage nach dem Sujetdebüt schob der Spiegel eine praktisch erkenntnisfreie Titelstory auf elf Seiten nach, verfasst von 17 Autoren, um sieben Tage später eben diese Erkenntnisfreiheit im Mediengewitter großflächig zu beklagen. Boulevard, Qualitätsmedien, Internet – auch wenn es nichts zu berichten gab, berichteten alle immer weiter und kaum war Maybrit Illner aus den Winterferien zurück, ließ sie sich aufs Neue von Experten die präsidiale Kreditempfängnis erklären, als gäbe es da noch Nachholbedarf. Es wollte kein Ende nehmen.

„Doch der Reihe nach“ – so ginge es nun üblicherweise weiter. Der Reihe nach müsste auch dieser Artikel die Causa, Affäre, Kampagne, wie immer man das Ganze nennen möchte, erst zeitlich sortieren, dann historisch einordnen, journalistisch ausarbeiten also. Chronistenpflicht nennt man das. Doch der Reihe nach hieße hier, aufzuschreiben, was alle längst aufgeschrieben, gesendet, gefunkt haben. Denn mal abgesehen vom angehimmelt zu Tode denaturierten „Knut“ stand die Wucht der Berichterstattung über ein Ereignis wohl nie zuvor in so eklatantem Missverhältnis zu seiner Relevanz – daran kann auch die thrillererprobte Verwendung sekundengenauer Zeitangaben wenig ändern.

Also sei’s drum: Als Bild dem Präsidenten am 11. Dezember „um 6.49 Uhr“, so sorgsam ging der Spiegel ins Detail, einen Fragenkatalog zum Immobilienkredit sandte, wurde sich die Zeitung des Sprengstoffs in ihren Rechnern erst richtig bewusst. Und der Scoop war perfekt, da Christian Wulff tags drauf („um 18.19 Uhr sprang die Mailbox an“) mit seiner längst legendären Suada an die Adresse Dieckmann reagierte, der den Artikel trotzdem (oder deshalb) um 22.05 Uhr unter der Schlagzeile „Hat Wulff das Parlament getäuscht?“ im Netz und noch vorm Morgengrauen auf der Titelseite verbreitete. Eine „wahrhaft journalistische Leistung“, wie sogar die Zeit den Kampf von Bild (und Spiegel) um Akteneinsicht lobt. Als sich der parallel ermittelnde Stern gezwungen sah, seine eigenen Recherchen per Gongschlag 11.45 Uhr hastig online zu stellen, wehte nicht ohne Grund ein Hauch echter Relevanz durchs Springer-Haus an der Dutschke-Straße.

Das Thema war geboren, die Branche zog es groß, und als Bilds Baby laufen lernte, da lehnte sich die Mutter zurück, gab hier und da Erziehungstipps, zählte ansonsten aber genüsslich die Quellenverweise auf dem Weg zur meistzitierten Zeitung 2012. Denn es begann die Phase der Aufbereitung, Analyse, Reflexion, auch der selbstkritischen – alles keine Kernkompetenzen des Sensationsblattes, das sich im Kriegszustand weit wohler fühlt. Und nichts anderes als Krieg hatte der Präsident seinem Exprotegé angedroht. Gut, die Bild hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten Überparteilichkeit bewiesen, als sie die behagliche Fahrstuhlkabine, mit der Springer-Chef Döpfner auch diesen Prominenten mit nach oben genommen hatte, wieder abwärts schickte. Dies als berufliches Ethos zu feiern, klingt indes, als ehrte man einen Waffenhändler mit Friedenpreisen, weil die Kugeln auch mal ihr Ziel verfehlen.

Bild kürt, Bild stürzt. Und so galt Wulff beim Zentralorgan hausgemachter Popularität mit einemmal als nicht mehr „adrett, erfolgreich, skandalfrei“, wie Hauptstadtbüroleiter Nikolaus Blome jahrelang in die Republik posaunt hatte. Der „beliebteste Politiker“ früherer Propagandaschlachten hatte nach Jahren des Lobes voll Güte („Der bisher tadellose Wulff wird durch diese Trennung sogar ein wenig menschlicher“), Respekt („Regierungschef, Vater, Geliebter und Noch-Ehemann – wie kriegt Christian Wulff das bloß so prima hin?“) und Zuspruch („Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient“) plötzlich doch etwas weniger Glanz als Dreck am Stecken, von dem Kai Diekmann zuvor partout nichts wissen wollte in seinem eisernen Willen, den Landesfürsten größer zu schreiben. Groß genug für höhere Ämter.

Dass er im höchsten nun fallengelassen wurde, da Wulff als überparteiliche Instanz fürs neokonservativ-populistische Projekt anders als KT zu Guttenberg verbrannt war, ist indes gewöhnliche Bild-Praxis und hat mit Journalismus nichts zu tun, wie die Bild-Forscher Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt feststellen. Dass Qualitätsmedien allerdings „nicht kritisieren, sondern mitmachen, wenn Bild sich Personen und Ereignisse für seine Selbstvermarktung zurechtlegt“, schade der Demokratie mehr als das „Geschnorre des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten“.

Denn im Grunde dreht sich die Affäre nur bedingt um Wulffs Hang zu Nepotismus, Vorteilsnahme und Medienschelte. Es ging von Beginn an eher nebenbei um niedrige Zinsen, Lusturlaub für lau oder auch nur die Frage, ob das, was Menschen in bestimmten Momenten tun, zwingend als Beurteilungsbasis jedes anderen Aspektes ihres Daseins dienen muss, darf. Ja, es geht im Grunde nicht mal um ein honoriges Amt für alle Bewohner eines Landes, dessen Inhaber zwar Magnaten, Millionäre, Medienmogule und ähnlich Mächtige zu seinen besten Freunden zählt, aber sicher keinen arbeitslosen Handwerker, prekären Langzeitstudenten, alleinerziehenden Geringverdiener, geduldeten Flüchtling oder sonst wie oberschichtenfernen Lebenskünstler auch nur zum erweiterten Bekanntenkreis. Es geht also gar nicht um Christian Wulff.

Nein, es geht um uns: als Journalisten, Journalismusnutzer, um den medialen Umgang mit Informationen, ihre Lieferanten, deren Arbeit. Denn die Affäre Wulff ist anders als andere eine, die lange fast ohne Politiker auskam. Während Guttenbergs Promotionsbetrug, Sarrazins rechtspopulistische Kanonade, die Beziehung des Kieler CDU-Spitzenkandidaten Christian von Boetticher zu einer 16-Jährigen, selbst der Ehebruch von CSU-Chef Seehofer frühzeitig auf politischer Ebene skandalisiert wurde, hielt sich sogar der SPD-Wadenbeißer Gabriel in Sachen Wulff lange zurück.

Als sich zwei Tage nach der Meldung die erste ARD-Talkshow zentral mit dem Präsidentenkredit befasste, saß das FDP-Fossil Gerhart Baum bei Beckmann vier Journalisten gegenüber. Anders als die publizistische Großwetterlage war die politische folglich bemerkenswert ruhig. Erst im Frühjahr, als Wulffs lautstarke Intervention auf Diekmanns Handy ruchbar wurde und der mediale Druck zunahm, verschärften Trittin, Thomas Oppermann, selbst ein paar Parteifreunde die Tonlage.

Doch da hatte sich eine Affäre in den Medien bereits über eine Affäre um die Medien zu einer Affäre der Medien entwickelt. Denn anfangs war sie ein reines Medienobjekt, „weil das Staatsoberhaupt des größten EU-Mitgliedsstaats möglicherweise wegen Fehlverhaltens zurücktritt“, wie ARD-Nachrichtenchef Kai Gniffke das öffentlich-rechtliche Berichtsvolumen erklärt (für dessen Angemessenheit sein ZDF-Kollege Elmar Theveßen gar den Staatsvertrag bemüht). Sie wurde zum Mediensubjekt, da sich aus Sicht von Dietrich Leder, Professors für Fernsehkultur in Köln, „ausgerechnet die Bild und ihr Chefredakteur als Helden der Meinungsfreiheit aufspielen“ konnten. Sie wurde schließlich zum Mediensynonym, indem die „Integrität des Boulevard-Blatts“, wie der Bielefelder Medienwissenschaftler Bernd Gäbler im Deutschlandradio sagte, „auf einer Maßstabstufe mit der Integrität des Staatsoberhauptes“ stand. Weil sich journalistische und politische Glaubwürdigkeit also plötzlich an einem Revolverblatt und ihrem Ziehsohn messen lassen mussten.

Denn die Allgemeinheit, fuhr Gäbler fort, lastete die schlechten News dem Boten bald mehr an als ihrer Ursache, dem König. Die breite Masse unterstelle Reportern zwar seit jeher eigennützige Motive für „Auflage, Quote, Skandaleffekte, Aufmerksamkeit“; ihnen war aber der Trost geblieben, „dass die Meinung über Politiker noch schlechter ist“. Das Zweckbündnis konservativer, bunter und linksliberaler Blätter aber, der wachsende Graben zwischen öffentlicher und verbreiteter Meinung, habe viele „skeptisch gemacht“. Der Eindruck, sekundiert Kai Gniffke im TagesschauBlog, „dass man in mancher Redaktion als Politiker Berichte bestellen oder abbestellen“ und mit „Deals oder Drohungen“ verändern kann, trug gehörig zur Ansehensreduktion bei. Und das verzweifelte Kleinrecherchieren einer großen Affäre mangels messbarer Konsequenzen schade laut Zeit-Autor Marc Brost dem Berufsstand als Ganzes.

Man muss es nicht gleich mit Was bin ich?-Moderator Robert Lembke halten, der zu seiner Zeit als Nachrichtenkorrespondent „Journalisten, die sie missbrauchen“ zu den „gefährlichsten Feinden der Pressefreiheit“ erklärte. Doch ein Blatt, das seine Kenntnisse dramaturgisch stückelt und für die Portionen Abnehmer sucht (und findet), betreibt seinen Beruf als reines Gewerbe. Und wir reden hier nicht von der Regenbogenjournaille, die sich ihre Wahrheiten aus Mimikanalysen, Groschenromanen und Pennälerphantasien zusammenhalluziniert. Wir reden von einer Zeitung, die Einfluss hat, Existenzen vernichtet, Karrieren bastelt, Politik betreibt, Bündnisse eingeht, Bündnisse bricht. Die Macht hat, Macht spielt.

So war es auch diesmal: Bild dirigiert, der Rest schwingt die Saiten. Doch diese Allianz der Mediokren, einer Zeitung also, die nur in Ausnahmefällen echten Journalismus betreibt, mit einem Politiker, der nur in Ausnahmefällen echte Politik betreibt, geriet zur Mesalliance im Großen Ganzen, als ihr die weniger Mittelmäßigen beitraten. Ein Pakt, den man noch gut vom ideologieübergreifenden Kampf gegen die Rechtschreibreform kennt. Oder aus der bizarren Schlacht um die Freiheit der Presse, Prominente auch nach dem Caroline-Urteil von 2004 bespitzeln zu dürfen. 43 Redakteure unterschrieben damals den offenen Brief, von Playboy über FAZ bis Spiegel. Und Bild, versteht sich, die ihren angeblichen Homestoryboykott, na – mit wem brach? Christian Wulff.

Bild ordnet seine Informationen schließlich im Zweifel seiner Kampagnentauglichkeit unter. Da grenzt es ans Lächerliche, wenn der gewendete Wulff-Lakai Blome nun behauptet, er habe Wulffs Mailboxansage aus journalistischer Zurückhaltung zurückgehalten und erst aufgrund eines Interviews des Bundestagspräsidenten in Wulffs Heimatblatt – schweren Herzens – zur Veröffentlichung freigegeben. In der Neuen Osnabrücker Zeitung hatte Norbert Lammert von den Medien Selbstkritik an „ihrer offensichtlich nicht nur an Aufklärung interessierten Berichterstattung“ gefordert, worauf Bild die „Wutrede mit Kultcharakter“, wie sie Tagesschau-Nutzer Gniffke mittlerweile nennt, allerdings nicht druckte, sondern der Konkurrenz unterjubelte. Jeder Journalist – wieder Robert Lembke – kennt nun mal einen Kollegen, „auf dessen Indiskretion er sich verlassen kann“. Mindestens.

Die Presse muss, um mit dem Politiker Alain Peyrefitte zu sprechen, „die Freiheit haben, alles zu sagen, damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles zu tun“. Aber muss sie gleich wiederkäuen, was ihr ausgerechnet Bild zum Fraß vorwirft? Darf sie förmlich zur Jagd blasen? Denn der Bundespräsident agierte doch zusehends wie ein Beutetier: Er willigt – nach langem Versteckspiel – ins TV-Interview ein; er gestattet – nach langer Weigerung – die Veröffentlichung des Mailprotokolls; er beantwortet – nach langer Verschleppung – 400 Reporterfragen öffentlich; er tritt – nach langem Kampf – zurück. Denn Christian Wulff ließ sich von der Presse vor sich hertreiben, bis sie sogar abseits der Kommentarspalten das Äußerste forderte. Je länger Wulff im Fadenkreuz stand, desto mehr ging es schließlich „um seinen Kopf“, wie die Zeit bald monierte. Ein Rücktritt jedoch, schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen, sei nicht „Bestätigung und Belohnung für die Aufdeckung einer Affäre“ und sein Ausbleiben kein „Angriff auf die Pressefreiheit“. Selbst, wenn der es mit der nicht so genau nimmt.

Aber ist dem überhaupt so? Christian Wulff hat nicht nur den Bild-Bericht mit Teilen seiner Macht zu be-, gar verhindern versucht; er hat im gleichen Fall einem Stern-Reporter rüde zugesetzt; den Autoren einer Wams-Geschichte über seine Halbschwester mit ähnlichen Konsequenzen gedroht; als Ministerpräsident wohl nicht nur Einschüchterungsanrufe Richtung Braunschweiger Zeitung abgefeuert, an die sich der damalige Chefredakteur Paul-Josef Raue im Spiegel erinnert. Er hat sich zudem vom Bild-Kolumnisten Hugo Müller-Vogg bis zum Welt-Gewächs Karl-Hugo Pruys schmeichelhafte Bücher mit Titeln wie „Besser die Wahrheit“ oder „Ich mach’ mein Ding“ schreiben lassen, dem Focus-Korrespondenten Armin Fuhrer sein Heldenepos „Der Marathonmann“ allerdings damit gedankt, dass er einen Monat nach der Hommage an den glücklichen Familienvater eine Scheidung verkündete, die sich angeblich über Jahre angebahnt hatte. Es sind Dinge, die von menschlichem Kleingeist und unprofessioneller Berufsauffassung zeugen, ohne Frage.

Aber dem Präsidenten ein gestörtes Verhältnis zu Artikel 5 des Grundgesetzes daraus zu stricken, dass er Journalisten belügt und in persönlichen Angelegenheiten interveniert? Das erinnert an einstige Gewissensprüfungen, als Kriegsdienstverweigerer ihre Friedfertigkeit am absurden Planspiel belegen sollten, ob sie eine Waffe benutzen würden, wenn dir Rote Armee vor ihren Augen Mutter samt Schwester vergewaltigt. Denn es ist, wie ihm der Spiegel vorwarf, kein „gestörtes Verhältnis zur Verfassung“, wenn Christian Wulff „am arabischen Golf Meinungsfreiheit angemahnt“ hat, im eigenen Land jedoch die Freiheit der Presse attackiert. Oder in orientalischen Autokratien eine ungehinderte Berichterstattung unabhängiger Medien forderte, daheim aber die Berichterstattung behindert. Das ist eher die hilf- und heillos ungeschickte, verzweifelte, fast trampelige Selbstverteidigung eines Mannes, der seinen holprigen Weg an die Spitze durch alles Mögliche, aber nicht radikale Umtriebe wider die bürgerlich demokratische Grundordnung erreicht hat.

Dieser jörgpilawahafte Ottonormalverbraucher am falschen Platz, der seine Leibjournalisten so lange mit Leidensgeschichten seiner Jugend impfte, bis sie ihm die proletarische Herkunft abkauften, der sich auf Cocktailpartys der Reichen und Schönen aber doch am wohlsten fühlte, er steckt inmitten eines Kampfes, für die seine verwaltete Sprachlosigkeit“ (Hans Leyendecker) einfach nicht ausreicht, aus dem ihn der Medienzirkus einfach nicht entlässt. Und er ficht ihn in einem Ring aus, der das schreibfreudige Spiegel-Publikum zu mehr Leserpost animierte als Fukushima, genauso viel wie im Fall Guttenbergs; der das Medienressort der Süddeutschen allen Ernstes klagen ließ, die ARD-Talkshows hätten die Weihnachtspause nicht unterbrochen; der dem Volksplauderer Jauch dann, als das Thema bereits die Titelseiten verließ, tatsächlich Rekordquoten einbrachte; der die Co-Moderatorin des Exklusivinterviews Bettina Schausten dank jener 150 Euro, die sie Freunden für ein Zimmer in Rechnung stellen würde, zum Web-Star machte; der Moritz Bleibtreu als Hauptdarsteller des „tollen Stoffes“, den Dieter Wedel auf Anfrage der FAS verfilmen würde, ins Spiel brachte; der schuhbewehrte Kleinstdemonstration vorm Schloss Bellevue zum Nachrichtenthema macht; der kurzum zeigte, was Skandale aus Sicht des Medienwissenschaftlers Steffen Burkhardt sind: Kommunikationsprozesse. Um sich selbst kreisend. Heiße-Luft-Fabriken.

Denn in der Tat: geredet wurde, wird viel. Die Rede war zwar bald von „Staatskrisentheater“ und „Posse“, „Herdentrieb“, gar „Fiktion“ und viele sprachen auch kritisch über sich selbst. Aber sie sprachen eben weiter. Und weiter. Und weiter. Alle. Nun auch der journalist. Weil er sich des Themas nicht entziehen kann, weil das Branchenmagazin sonst eine Leerstelle in seiner Branche hinterließe, weil es, nun ja, alle machen. So wie nicht nur Bild zu Guttenberg umschwänzelt hat, wie ihm die ARD einen Platz in der Reihe „Deutsche Dynastien“ verschaffte, seine Frau auf RTL II zur Päderastenjägerin wurde und Kerner an den Hindukusch reiste, wo der Minister bellizistischen Reportern empfahl, „einfach mal die Klappe zu halten“.

Man würde sich das bisweilen wünschen. Denn Tag für Tag, meint der Philosoph Peter Sloterdijk, „versuchen Journalisten neue Erreger in die Arena einzuschleusen und beobachten, ob der Skandal, den sie auslösen wollen, zu blühen beginnt.“ In diesem Sinne trug der Winter kurz ein frühlingshaftes Kleid. Es verdeckte manches Unkraut. Christian Wulff wurde übrigens kräftig gerupft, seine Ehe ist zerstört, der Ruf dahin, politische Ämter, selbst wirtschaftliche sind vorerst schwer vermittelbar. Mission Accomplished.


7 Fragen an … Pro7Sat1-Sprecherin Schardt

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Diana Schardt, Sprecherin der Sendergruppe ProSiebenSat1, über die dürre Nachrichtenlage auf ihren Sendern und Stefan Raabs Kanzlerduell

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Worin unterscheiden sich private von öffentlich-rechtlichen Nachrichten?

Diana Schardt: Hier ist keine allgemein gültige Unterscheidung möglich. Unterschiede ergeben sich (wie in der Presselandschaft) durch die unterschiedlichen Zielgruppen. heute hat zum Beispiel sehr viele ältere Zuschauer, ProSieben ist Marktführer im Bereich TV-Nachrichten bei den Unter-30-Jährigen.

Worin unterscheiden sich die Nachrichten der ProSiebenSat.1-Gruppe generell von anderen?

In Moderator und Studio.

Wie viele mit Information befasste Redakteur(inn)e(n) gibt es in der Sendergruppe?

In der Sendergruppe arbeiten ca. 50 Redakteure, Redaktionsleiter und Programm-Manager im Bereich Information/Infotainment. Dazu kommen die Redaktionen der externen Produktionsfirmen, die die Sendungen produzieren, sowie die Regionalprogramme.

Welche Sendungen firmieren dort unterm Begriff „Information“? 

SAT.1 Nachrichten, ProSieben NEWSTIME, kabel eins news, Absolute Mehrheit, Eins gegen Eins, Galileo, Galileo Spezial (u.a. mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet), akte 2013, GesundheitsAKTE,  SAT.1 Event-Dokumentationen (wie zuletzt zur Guttenberg-Story), Sondersendungen zu aktuellen Ereignissen, Focus TV Reportage, Spiegel TV Reportage, Planetopia, ProSieben Spezial/Dokumentationen, K1 Magazin, K1 Reportage, Abenteuer Auto, Abenteuer Leben, SAT.1-Regionalfenster

Was kostet die Produktion der jeweiligen Hauptnachrichten?

Zu Produktionskosten machen wir grundsätzlich keine Angaben.

Haben Sie je einen Nachrichtenbeitrag bereut und was senden Sie aus Chronistenpflicht?

Wir machen nichts aus reiner Chronistenpflicht, sondern haben die Relevanz für unsere Zuschauer im Blick.

Warum soll Peter Limbourg beim Kanzler-Duell durch Stefan Raab ersetzt werden und was hält Ihr Anchor davon?

Der Vorschlag kam vom ProSiebenSat.1-Beitratsvorsitzenden Edmund Stoiber. Alle Beteiligten finden die Idee toll.

 


Freddy Quinn, Hamburg 2006

Ich bin Artist

Freddy Quinn ist Deutscher, gar Hamburger, Seemann und überhaupt durch und durch maritim. So weit die Vorurteile über den Mann, der Manfred Nidl heißt, aus Wien stammt und eigentlich am liebsten Artist ist. Auch mit mehr als 80 Jahren ist er gut im Geschäft und verdient vor allem an seinen alten Hits mächtig. Sein wohl größter feiert diesen Monat 50. Geburtstag: Junge, komm bald wieder. Zum Jubiläum ein Interview, das schon etwas älter ist, aber gut zeigt, wie der Fast-Hamburger-Jung tickt, dem das Herz wie sonst kaum jemandem auf der Zunge liegt, der immer Tacheles redet, dabei aber nie seinen Charme verliert. Ein Meilenstein!

Interview: Jan Freitag

Freddy Quinn, Sie sind gebürtiger Wiener, werden aber immer wieder mit Hamburg…

Freddy Quinn: Moment, ich muss das mal klarstellen. Ich bin in Hamburg gezeugt, meine Mutter war dort Journalistin. Weil sie 1931 nicht legitim verheiratet war, wurde sie – wie sagt man heute: gemobbt und musste flüchten. Meine Großmutter war Tschechin, mein Vater wurde als Sohn eines Iren, der Quinn hieß, in Triest geboren – also ich bin als Kosmopolit aufgewachsen und habe in Hamburg meine Karriere begonnen. Der Stadt verdanke ich, den Beruf ausüben zu können, den ich immer wollte, nämlich die Kombination Sänger, Schauspieler, Tänzer. Nicht die Schubladen: Wie, der singt? Na, da darf er nicht spielen. Der spielt? Und jetzt singt der auch noch. Tanzen kann er auch? Nee, das gibt’s nicht. In Amerika ist das nur eine Schublade: Unterhalter.

An welchem Ort fühlt sich der Unterhalter denn am wohlsten?

Na, in meiner Haut.

Und wo sollte die sein?

An einem Menschen der Manfred Quinn heißt und sich auch im Alter noch gut darin fühlt.

Wer den Namen Freddy Quinn hört, denkt sofort an Hamburg.

Ich bin ja auch aus Hamburg. Ich bin da gezeugt, habe meine Karriere da begonnen, hatte meine große Zeit. Ich liebe Hamburg und habe nur sehr kurz in Wien gelebt, mit vier. Und dann vier Jahre in Amerika. Nach sechs Monaten konnte ich besser Englisch als mein Vater. Der: Well, I am American. Ich sagte ’hey man, what the hell are you talkin about. I’m from West Morgan Town, Virginia’.

Sounds like Albuquerque, New Mexico, Yeah!

Ja. Albuquerque, kenn’ ich auch. Aber ich habe immer und werde immer Hamburg und den Hafen im Herzen haben. Vielleicht spiele ich das deshalb so oft, wie im Film Erbin mit Herz. Da spiele ich einen Nachtwächter.

Lesen aber trotzdem perfekt die Seekarte.

Na ja, wer in Hamburg wohnt und mal mit Seeleuten zu tun hatte, der kann so was halt.

Und gerade Sie müssen das in einer Rolle beherrschen.

Ja sicher. Ich hab mich dazu bekannt. Aber der einzige Grund, dass ich die Rolle gespielt habe, war der gute Zweck zu zeigen, wie schrecklich und frevelhaft es ist, die Umwelt noch weiter durch illegale Verklappung zu zerstören. Sonst hat die Rolle mit Meer eigentlich nichts zu tun. Ich fand die Rolle gut, aber worüber ich nicht erfreut bin, ist dass sie mich überredet haben, am Ende dieses Lied zu singen.

Von der Großen Freiheit.

Mit der falschen Voraussetzung, dass sie es zu 80 Prozent nicht senden wollten. Das war also Scheiße. Verzeihen Sie das Wort, aber dazu steh ich.

Sie können das Lied nicht mehr hören?

Doch, aber nicht in diesem Zusammenhang. Und jetzt kommt der Punkt: Ich habe in der Arztserie In aller Freundschaft eine wunderbare Rolle gespielt, einen alten Zirkusartisten, der natürlich nicht mehr arbeitet, nach 40 Jahren seine Jugendliebe wiederfindet, die er hat sitzen lassen, weil der Zirkus weitergezogen war. Da haben sie mich nicht genötigt, zu singen. So zur Sicherheit: Wenn er nicht ankommt als Schauspieler, vielleicht kann er mit diesem blöden Lied die Sache noch retten.

Liegt das nicht daran, dass man von Freddy einfach ein Seemannslied erwartet?

Nein, das ist Verlade. Aber ich hab’s geschluckt und wurde so genötigt, dass ich nicht noch mehr Krach machen wollte. Widerwillig.

Wenn Sie schon den Film werten: was ist Ihre Lieblingsszene?

Oh Gott. Also, als ich mitten am Tag im Pyjama verschlafen aus der Koje komme und mich keiner erkennt.

Haben Sie selber mal auf einem Schiff gewohnt?

Um Gottes Willen, nein!

Aber ihre Beziehung zum Wasser ist intakt?

Ja, hervorragend, aber nicht als Seemann. Das bin ich nie gewesen. Wenn Sie das glauben, können Sie auch zu Dr. Brinkmann gehen und sich den Blinddarm rausnehmen lassen.

Wie kam es dann zu dieser Symbiose mit dem Meer?

Das ist ein Scheiß von den Medien. Weil ich in Hamburg wohne und das liegt für die meisten Menschen im Süden direkt an der Nordsee. Gut, nun habe ich 600 Mal sehr erfolgreich das Musical Heimweh nach St. Pauli gespielt. Aber meine Lieblingsrolle war der Zirkusdirektor Obolski. Die hat mir weitaus mehr gelegen, weil ich Artist bin. Und er sagt ja auch „von der Pike auf hab ich gedient, habe Schwerter geschluckt und Feuer gefressen. Heute seht mich an: Direktor, eines erstklassigen Unternehmens. Obolski, der Name hat Klang in der Welt.“ Das ist die Rolle, die mir Spaß macht. Ich hab mir von Loge zu Loge im Theater des Westens ein Seil spannen lassen, bin mit der Stange rüber gelaufen, ohne Lounge, ohne Sicherheit, und hab „Oh mein Papa“ gesungen. Dann bin ich der einzige Deutschsprachige, der in London acht Monate ein Stück gespielt hat. In Englisch. Wo zuerst 50 Leute in einem Saal für 2000 waren. Als ich zur ersten Probe auf die Bühne ging, kommt der Regisseur und sagt „Oh dear, could you stop your terrible American accent“. Dann musste ich den ganzen Scheiß Tag und Nacht bis vier Uhr morgens studieren und um zehn war schon die nächste Probe. Als ich wegging, waren 1800 Leute im Saal. Ohne Reklame, ohne Annoncen, ohne nix. Oh, sehen Sie, wenn ich mal anfange zu erzählen. Warum stoppen Sie mich nicht?

Also Stopp! Welches Etikett stört Sie am meisten – Schlagerstar?

Ich bin kein Schlagerstar! Es gibt doch gar keine Berufsbezeichnung Schlager, es gibt die Berufsbezeichnung Sänger. Ich habe zwei Jahre Gesang studiert und zwei Schauspiel. Das Etikett kommt nicht von mir, das kommt auch nicht vom Publikum. Wenn Sie jeden fragen: der ist Sänger, Schauspieler, hat Filme gemacht, Fernsehen gemacht, Zirkusartist, alles. Das weiß das Publikum. Wenn Sie jetzt Schlagersänger schreiben, bin ich schon mit Herpes behaftet. Ein blöder Ausdruck. Wissen Sie, warum ich keine Prüfung gemacht habe? Scheiße, ich hätte die Prüfung leicht gemacht, ich war ja kurz davor.

Worin jetzt?

Na für Gesang und Schauspiel. Da kam etwas Blödes dazwischen: Mein Erfolg.

Als was kennt man Sie eigentlich in Österreich?

Da kennt mich niemand, da bin ich garnix.


Hochleistungsschlafzimmer

fragezeichen_1_Schon mal schlechten Sex gehabt? Im Fernsehen wäre das nicht passiert, da gibt’s nur Beischlaf in Marathonqualität mit Genussgarantie.

Von Jan Freitag

Statistiken sind, wenn man sie schon nicht selber fälschen kann, mit Vorsicht zu genießen, gerade die zum Thema Sex. Verglichen mit Umfragen zum Liebesleben erscheint schließlich jede realsozialistische Volkskammerwahl wie ein demokratisches Präzisionsinstrument. Was alle Erhebungen aus den Schlafzimmern der Welt dennoch glaubhaft zutage fördern, ist der Triumph der Missionarsstellung. Mann oben, Frau unten, zehn Minuten, fertig. Der Homo Eroticus mag’s klassisch.

Umso erstaunlicher, dass Sex im Fernsehen regelmäßig zum Multifunktionssport wird: Ausdauernd wie ein Marathon, variabel wie Zehnkämpfe, hitzig wie Ringkämpfe und schweißtreibend, als täte man alles zugleich am Palmenstrand. Daf fragt sich doch: Wie schaffen es die lieben Liebenden bloß, am Bildschirm stets beiderseitig so befriedigend zu kollidieren? Die Antwort: Biathlon. Oder Formel 1. Natürlich Fußball. Selbst der mit den Frauen. Zuletzt gar Curling. Und Handbasketvolleyjederball. Hauptsache Leibesübung. Das Publikum liebt den sportlichen Wettkampf so, dass er auf allen Kanälen läuft. Ständig. Kein Wunder, dass auch profanes Matratzengerangel via TV äußerste Professionalität erfordert.

Fehlen eigentlich nur noch Notentafeln: 5.1 für den einfachen Orgasmus, 6.0 für Besinnungslosigkeit. Darunter gibt’s keine Noten. Außer zuhause, in der Realität, womit wir beim zweiten Grund wären. Denn Sex am Flatscreen ereignet sich zu gefühlten 99 Prozent unter Frischverliebten, Treulosen, also tendenziell unglücklich oder gleich ganz Unverheirateten. Fürs verbliebene Prozent bleibt der Sex inexistent; schlecht darf er ja nicht sein. Fernsehen als Plädoyer für nonkonforme Lebensentwürfe – das gibt es wirklich nur im Bett.