Ach, die Zeiten sind schon fürchterlich. Obwohl die Pressefreiheit nach dem jüngsten Bericht der Reporter ohne Grenzen weltweit unter Druck steht, gilt die Entwicklung in Europa nochmals als besorgniserregender. Kein Wunder – bewegt sich an dessen Ostrand neben Ungarn und Polen doch gerade die Türkei Richtung Diktatur, in der ein angeblich unabhängiges Gericht 14 Journalisten der regierungskritischen Cumhuriyet wegen konstruierter Terrorvorwürfe zu hohen Haftstrafen verurteilt hat. Aber auch Deutschland hat sich zuletzt um einen Rang verschlechtert, weil die Berichterstattung während des G20-Gipfels in Hamburg, durch Hetze im Netz oder das neue BND-Gesetz beeinträchtigt wurde.
In Zeiten wie diesen sorgt es da gelegentlich für etwas Wohlbefinden, wenn es auch mal was Positives zu vermelden gibt. Voilà: Der, hüstel, „Musikpreis“ Echo ist Geschichte. Leider folgen auf gute Nachrichten oft stehenden Fußes schlechte: Den Echo beerbt nämlich ein weiterer, hüstel, „Musikpreis“ vom, hüstel, „Musikverband“ BVMI, dessen letzter Buchstabe für Industrie steht und daher unter Musik auch weiterhin vornehmlich ein Business versteht, keine Herzensangelegenheit.
Und noch eine positive Meldung gab es vor ein paar Tagen: Die wunderbare Journalistin Dunja Hayali darf zu den Wurzeln ihrer Lehrjahre zurückkehren und ab August Das aktuelle Sportstudio im ZDF moderieren. Eine Ikone meinungsgetriebener Politikunterhaltung in einer Ikone des Leibesübungsfernsehens – ihre künftigen Kollegen dürften womöglich über weniger Sendezeit am Samstagabend klagen; dem Publikum erwächst daraus fraglos etwas ungemein Sehenswertes aus sachlicher Ebene.
Die Frischwoche
30. April – 6. Mai
Darin versucht sich ab heute auch die ARD. Unter der Überschrift Was Deutschland bewegt, lotet sie (im Anschluss vertieft bei Frank Plasberg und ab 22.45 Uhr gefolgt von Manuel Möglichs neuem Hardcore-Reportagemagzin Rabiat) sechs Montage lang zur besten Sendezeit all die kleinen und großen die Grausamkeiten unserer Gesellschaft aus von der sozialen Gewalt materieller Ungleichheit bis zur physischen Gewalt gegen Schwächere. Den Auftakt bildet der Kampf um und gegen den Mindestlohn. Das steht natürlich bereits im Kernschatten des Maifeiertags, an dem Arte ab 20.15 Uhr einen Schwerpunkt zum Thema Menschenhandel zeigt, den ausgerechnet der Spaß-Kanal Pro7 um zwei Filme zum Thema Sklaverei ergänzt: Steve McQueens 12 Years a Slave, gefolgt von Quentin Tarantinos Django Unchained.
Das ZDF hingegen verschiebt sein lang angekündigtes Dokudrama Karl Marx mit Mario Adorf in der Titelrolle seltsamerweise auf den Mittwoch. Obwohl – vielleicht ersparen sie dem Tag der Arbeit dieses herzlich missratene Biopic ja aus Rücksicht auf dessen Würde… Die gewährt ihm 3sat den gesamten Feiertag musikalisch. Von Joan Baez um 6.15 Uhr über Maffay, Minogue, Rammstein zwischendurch bis Mötley Crüe tags drauf um 5 Uhr gibt es 24 Stunden lang Pop around the Clock. Und dem setzt Arte tags drauf um 22.35 Uhr mit Sophie Fiennes‘ fast zweistündigem Porträt von Amazing Grace Jones gewissermaßen die Krone auf. Am Freitag dann startet bei Sky die britische Miniserie Save Me. Lennie James, bekannt aus The Walking Dead, sucht darin sechs Teile lang sein vermisstes Kind – was dadurch erschwert wird, dass ihm eine Beteiligung am Verschwinden unterstellt wird.
Sonnabend lässt die ARD mal wieder im Ausland Verbrecher jagen. Wenn Philipp Hochmair ohne Augenlicht, aber mit Wiener Schmäh Blind ermittelt, wird es allerdings weit skurriler, also ansehnlicher als in den üblichen Urlaubsortkrimis der ARD. Am Sonntag muss man indes schon länger aufbleiben, um den Film des Tages im Regelprogramm zu erleben. Die Dokumentation Eskimo Limon begibt sich auf die Spuren der weltweit erfolgreichen Filmreihe Eis am Stiel. Was Regisseur Eric Friedler dabei an Überraschungen zutage fördert, ist allerdings zu unglaublich, um sie zu verraten. Oder wusste irgendwer, dass der 1. Teil vor 40 Jahren im Wettbewerb der Berlinale lief? Eben!
Und weil danach nichts mehr kommen kann, geht es jetzt flugs zu den Wiederholungen der Woche, dafür von denen ein paar mehr. In schwarzweiß das hypnotische Filmabenteuer Der Schamane und die Schlange von 2015 aus Kolumbien (Montag, 22.15 Uhr, Arte) um Europäer in Bann amazonischer Schamanen. An selber Stelle, 20 Jahre älter, ebenso hypnotisch und doch unvergleichbar: Terry Gilliams irre SciFi-Dystopie 12 Monkeys mit Bruce Willis als Zeitreisender in eine zukünftige Vergangenheit (Samstag, 21.45 Uhr). Nochmals elf Jahre älter ist die Mutter aller Kuscheltierhorrorfilme Gremlins (Dienstag, 20.15 Uhr, Kabel1) von 1984.
Noch gar nicht so alt, aber längst legendär: Lars Jessens Mockumentary um die Wiedervereinigung der fiktiven Band Fraktus (Montag, 1.15 Uhr, Arte). Weil es jetzt einen Heimatschutzminister aus Bayern gibt, stehen die Tatort-Tipps ganz im Zeichen der Dialekt-Festwoche im BR: Dienstag laufen ab 20.15 Uhr zwei Siebzigerjahre-Fälle mit Gustl Bayrhammer als Melchior Veigl. Und um zu zeigen, dass die Reihe eher besser als schlechter wurde, zeigt der HR am gleichen Tag um 21.45 Uhr den Frankfurter Fall Weil sie böse sind von 2009 mit Matthias Schweighöfer in seiner letzten seriösen Rolle als dekadenter Snob.
Der damals brandneue Musikstil New Wave hatte vor rund 40 Jahren ein besonderes Geschenk fürs deutsche Publikum: Humor ohne Umpftattaa. Gab es ihn im Pop bis dato nur als Schlagerklamauk, gebar NDW abseits einiger Zote plötzlich tiefgründigen Nonsens, der zudem oft virtuos instrumentiert war. Als Beweis reichen ein paar Takte Fee, Ideal, DAF. Bis heute profitiert der Pop hierzulande von dieser Pionierleistung. Darunter eine Band, die ihr Popdasein schon dem Namen nach nicht übertrieben ernst nimmt: International Music. Sie besteht mutmaßlich aus Berliner Exil-Rheinländern oder umgekehrt und macht eine Neo New Wave Welle in deutscher Sprache, die zutiefst gaga ist, aber mit sehr viel Stil.
“Frauen müssen geil sein / Männer müssen cool sein / Jobs müssen Geld bringen”, nölen die Sänger Pedro und Peter auf ihrem Debütalbum Die besten Jahre im emblematischen Stück Cool bleiben und puffert beginnende Fremdscham wie folgt ab: “Männer müssen geil sein / Jobs müssen cool sein / Frauen müssen Geld bringen. Jobs müssen geil sein / Frauen müssen cool sein / Männer müssen Geld bringen”. Unterlegt von einem Schreddersound zwischen Element of Crime, Die Türen, Einstürzende Neubauten und Ja, Panik stopft stopft das Trio so die Selbstoptimierungsgesellschaft in ein buntes Spielplatzförmchen und macht daraus trockenen, aber erfrischenden Sandkuchen fürs Kind im Erwachsenen der Großstadtbohème. Manchmal nervt das, meist erfreut es.
International Music – Die besten Jahre (staatsakt)
Fantasma Goria
Es ist ja nicht so, dass Fantasma Goria den Ball zuvor je flach gehalten hätte. Ihr selbstbetiteltes Debütalbum war ein Feuerwerk der Bilderstürme. Erfrischend aufgewiegelt und konsternierend durcheinander hat es dem deutschsprachigen HipHop eine Ladung Chaos verpasst, dass mancher Rap-Purist die Zugehörigkeit zum Genre negiert haben mag. Warum also noch eine Schippe Exzentrik drauflegen, könnte man da fragen? Weil es nun mal geht, ließe sich antworten. Weil weniger eben nicht grundsätzlich mehr sein muss. Weil Fantasma Goria eben Fantasmal Goria ist. Und so hat die Hamburgerin Remixe ihrer eigenen Platte initiiert, die sich genüsslich im Dreck des örtlichen Asphaltdschungels wälzen.
Kein Wunder, dass die leicht selbstverliebte Latex-Lady ihr Resultat Safari nennt. Bassfett unterfüttert vom Mannheimer Electro-Virtuosen Hans Nieswandt, wird aus dem irrlichternden Rap vom Herbst ein Kettenkarussell aus Techno, Funk, Psychotrance und Punk, das sich permanent selbst überholt, bis alle Ketten miteinander verknotet sind. Während das poppig verspielte Magnet dabei sogar den Dancefloor loungiger Clubs kurz betritt und Ha Ha auch Teenager zum Mittanzen einlädt, testet das dronige Lied vom Bonig alternative Musikgeschmäcker aus. Nichts für schwache Mägen, alles für den kleinen Exzess zur Nacht.
Wer ein Album Last Man Standing nennt und sich damit selbst bezeichnet, ist entweder steinalt und entsprechend starrsinnig oder selbstironisch, furchtbar eitel oder realitätsbewusst, verblendet oder einfach alles in einem. Auf Willie Nelson dürfte definitiv letzteres zutreffen. Nach drei Dutzend Platten in vier Jahrzehnten ist das Country-Fossil aus Texas noch immer auf den Beinen, noch immer unterwegs, noch immer im Studio, noch immer so beweglich und wach wie viele seiner Kollegen nicht mal mit der Hälfte seiner 85 Jahre auf dem Buckel. Da darf man sich auf einem Spätwerk schon mal als Aufrechter im Meer der Rückgratlosen bezeichnen. Zumal er es im Titeltrack gleich zu Beginn gar nicht sein will, aber knurrend bereit ist, die Bürde zu tragen.
Spirenzchen macht er dabei keine. Sein Western-Woogie ist wie eh und je ein bisschen funky, aber strukturell wertkonservativ. Nelson, dieses kiffende Relikt eines lang zurückliegenden Culture-Clashs zwischen Erhalt und Aufbruch, Konservatismus und Moderne, ist dank seiner Slide-Guitars und Mundharmonika-Fetzen auch im Rustbelt akzeptabel. Die unversiegbare Ironie im alterslosen Gesang allerdings macht ihn auch an West- und Ostküste hörbar. Ach Willie, falls du irgendwann mal stirbst, was noch ein paar Hundert Jahre dauern dürfte – dann kipp’ bitte tot von der Bühne! Oder wie er er es auf dieser Platte ausdrückt: “A bad breath is better than no breath at all”.
Wenn der große Antonio Banderas ab heute auf National Geographic den noch größeren Pablo Picasso spielt, teilen die beiden Weltstars nicht mehr nur ihre Geburtsstadt Málaga, sondern die absolute Hingabe fürs eigene Schaffen. Freitagsmedien hat den leicht ergrauten Hollywood-Star bei der Premiere in seiner alten Heimat getroffen. Ein Interview über die TV-Serie Genius: Picasso!, dessen Verhältnis zu Frauen und warum Banderas einige davon manchmal im Tagtraum trifft.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Antonio Banderas, Sie sind nach Pablo Picasso der berühmteste Sohn Málagas. Gibt es darüber hinaus noch Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und ihm?
Antonio Banderas: [lacht laut] Nein!
Nicht einen?
Ich atme, ich schlafe, ich esse – das war’s.
Haben Sie denn wenigstens einen Picasso zuhause?
Ja, aber nur eine kleine Malerei, kein Gemälde. Dafür müsste ich wohl noch viel, viel mehr solcher Serien drehen.
Wie haben Sie darin dann die persönliche Verbindung zu Picasso hergestellt, um ihn glaubhaft zu spielen?
Ach, das war gar nicht so schwer. Wenn ich als Kind auf dem Weg zur Schule an seinem Geburtshaus vorbeigegangen bin, sagte meine Mutter [flüstert verschwörerisch]: hier wurde Picasso geboren. Jeden Tag. Hin- und Rückweg. Als Kind kam ich also gar nicht drum herum, mich ständig zu fragen, wer dieser Mann war, von dem Mama so ehrfürchtig spricht. Seinerzeit war er der einzige, der es aus unserer Stadt in die weite Welt geschafft hat. Unter derselben Sonne wie er gelebt zu leben, war fast einschüchternd.
Zu einschüchternd, um ihn auch zu mögen?
Wie für alle Málagenions war er mein Held, dem konnte sich niemand entziehen. Aber um ihn wirklich zu mögen, war für mich noch wichtiger, dass er ein Gegner Francos und der Faschisten war.
Könnten Sie seine Kunst denn auch schätzen, wenn es anders gewesen wäre?
Oh, schwierige Frage [überlegt lang]. Vermutlich schon. Ich bewundere ja auch die Kunst von Salvador Dali, der Franco gegenüber zumindest furchtbar gleichgültig war. Dennoch fällt es mir schwer, den Künstler vom Menschen zu trennen. Auch Picasso hatte ja bekanntlich dunkle Seiten, das Verhältnis zu Frauen etwa. Aber das versuche ich so wenig wie möglich zu bewerten; wer seine Figur beim Spielen ständig verteidigen muss, kriegt sie nicht lebendig. Umso wichtiger war es mir, sie in langen Diskussionen zu verstehen.
Diskussionen mit wem?
Dem Regisseur zum Beispiel oder Picassos Tochter Maya. Sie hat mir zum Beispiel in mehreren Gesprächen versichert, was für ein fantastischer Vater er war oder wie innig er seine Heimatstadt, die er mit zehn verlassen hatte, im Herzen trug. Solche Anker haben mir nicht nur die Komplexität dieser Figur erklärt, sondern erneut gezeigt, dass man alle Seiten eines Charakters beleuchten muss, um ihn zu begreifen. Sonst wird er hohl und kommt niemandem nah.
Wird Genius: Picasso! Durch diese Anker zu einer Serie über seine Kunst, seine Person oder seine Epoche?
Sie kennen die Antwort!
Über alles, sicher. Aber mit welcher Gewichtung?
Mit keiner, wirklich! Er führte zu allem, was ihn umgab, intensive Beziehungen – zur Kunst ebenso wie zu Familie, Freunden, der Politik. Dass Paris während seines Aufenthalts dort von den Nazis besetzt war, hat ihn Tag und Nacht umtrieben, aber nie daran gehindert, weiter zu malen, zu lieben, zu sein. Leben und Kunst waren für ihn identisch, er hat da nicht getrennt.
Gilt das auch für Sie?
Oh Gott, wenn ich ja sage, klingt das, als würde ich mich mit ihm vergleichen. Das käme mir nie in den Sinn! Aber gut: ich trenne wahrscheinlich etwas mehr als er. Wobei ich ihn an einer Stelle des Films sagen lasse, seine Kunst sei ihm wichtiger als die Familie. Das kann ich zwar durchaus verstehen, es gilt aber nicht mal annähernd für mich. Auch ich liebe meine Arbeit, bereue es aber bis heute zutiefst, ihretwegen meiner Tochter so wenig beim Aufwachsen beigewohnt zu haben. Picasso hat am Ende ja auch einen hohen Preis für seine Fokussierung auf die Kunst gezahlt. Der einzige Freund, den er am Ende hatte, war sein Friseur.
Als Picasso 1973 starb, waren Sie selbst Teenager. Welche Erinnerung haben sie daran?
Eine seltsame. Franco war noch am Leben, aber nicht mehr so mächtig. An den Universitäten herrschte Unruhe, der Rest des Landes war jedoch ruhig. Alles schien fein zu sein, auch wenn nichts fein war. was Picasso betrifft: Als gleich nach Francos Tod viele Künstler nach Spanien und auch Málaga zurückgekehrt sind, wurde mir bewusst, wie sehr ich es mir gewünscht hätte, dass auch er aus Frankreich kommt und die Strandpromenade entlang spaziert. Warum ist dieser Fucker Franco bloß zwei Jahre nach Picasso gestorben und nicht zwei davor?!
Immerhin kehrt er jetzt ja im Film zurück.
Ja, wir holen es in Genius: Picasso! gewissermaßen nach. Das sehe ich als eine Art emotionales Geschenk von Ken Biller an mich. Und an Málaga. Manche behaupten ja, Picasso habe die Stadt nicht richtig geliebt. Aber das stimmt nicht. Seine Tochter hat mir dazu eine Geschichte erzählt. Als er schon sehr alt war und nach dem Mittagsschlaf versonnen aufs Mehr vor der französischen Küste sah, fragte sie ihn: Papa, bist du in Málaga? Und er sagte: Ja, in Málaga. Ich musste dabei an meinen Vater denken. Weil er Alzheimer hatte, konnte er sich im Alter kaum an die letzten fünf Minuten erinnern, aber ganz genau an seine Kindheit. Vielleicht hoffe ich nur, dass es Picasso ähnlich ging, aber es ist ein schöner Wunsch. Ich bin Romantiker. Und der liebt diese Serie.
Vor der hatten Sie schon länger geplant, irgendwann Picasso zu verkörpern. Was hat Sie an diesem Projekt überzeugt?
Dass mir glaubhaft versichert wurde, es sein kein übliches Biopic, sondern das Porträt jener 33 Tage, in denen er Guernica gemalt hat, wie es dazu kam und was es aus ihm gemacht hat. Denn das Gemälde kam im Augenblick großer Lebenskrisen, in denen ihm auch infolge emotionaler Zerrüttung das Malen schwer fiel. Dorthin musste mich fühlen, das war sehr intensiv.
Fiel es ihnen da am Ende eines Drehtags schwer, von Pablo Picasso in Antonio Banderas zurückzukehren?
Es wurde jedenfalls von Mal zu Mal schwerer. Als ich ihn am Ende der Serie kurz vorm Tod gespielt habe, um halb drei morgens in der Maske, nach Stunden gebeugter Haltung vom Set ins Hotel, wo ich noch ein wenig an der Rolle arbeiten musste und nach der Dusche ins Bett gehen, nur um nach viel zu wenig Schlaf wieder fünf Stunden in der Maske zu sitzen – da hab ich mich in der Tat wie ein steinalter Mann gefühlt.
Ist ein paar Monate nach Drehschluss etwas von Picasso in Ihnen verblieben?
Nicht nur ein bisschen! Erst vor ein paar Tagen hatte ich imaginären Streit mit Françoise Gilot, der Mutter seiner zwei jüngsten Kinder, in ihrer Budapester Wohnung. Seine Freundin Dora Maar nahm mich erst kürzlich nochmals mit in ihr Fotostudio. Ich tauche immer wieder ab in solche Filmszenen. Nichts in meiner Laufbahn war mir je so nah wie Genius: Picasso! und nichts hat mich je so vollständig eingenommen – vom Makeup bis zur kleinsten Geste.
Aber mussten Sie dafür nicht das Genie vergessen, um den Menschen zu spielen?
Absolut. Als Normalsterblicher kann man sich dem Genie nur übers Menschliche annähern; wer es umgekehrt versucht, ist pausenlos in Gefahr, es zu übertreiben, zu überdramatisieren. Außerdem ist das Geniale an ihm bekannt genug.
Sein selbstsüchtiger Umgang mit Frauen allerdings auch. Was halten Sie angesichts der #MeToo-Debatte von seiner notorischen Untreue?
Daran ist für mich wichtig, dass er offenbar keine Frau je gegen deren Willen zu irgendetwas gezwungen hat. Emotional war er zwar oft grausam, aber nie unaufrichtig. Das ewige Kind in ihm wollte Frauen nicht sammeln, sondern keine davon verlieren. Und man darf nicht vergessen: Picasso war wie ein Planet mit enormer Anziehungskraft, um das alle Welt kreisen wollte – egal ob Frauen oder Männer, Kunstsinnige oder Kunstbanausen.
Was glauben Sie – wäre seine Anziehungskraft heute die gleiche um eine ähnliche Karriere zu starten?
Mit seinem Genie und seiner Fertigkeit hätte er jedenfalls noch ganz andere Ebenen der Kunst erobert, Film zum Beispiel.
Mit Ihnen in der Hauptrolle…
Unter Pablo Picassos Regie zu spielen – was für eine unfassbare Idee!
Weitere Interviews und Texte zu Genius: Picasso! auf DWDL
Seit Sonntag (17.55 Uhr) steckt Sat1 zwei Dutzend Senioren ins Hotel Herzklopfen, um sie innerhalb von drei Doppelfolgen möglichst anrührend zu verkuppeln. Im Boom-Genre Flirtshow klingt das nach einer Extraportion Zynismus. Wären da nicht die überraschend eigensinnigen und selbstbestimmten Teilnehmer…
Von Jan Freitag
Fremdscham ist ein lukratives Fernsehgut – erst recht, wenn sie den Desperados der Zivilgesellschaft gilt. Außenseitern bei der Suche nach Anerkennung etwa, Arbeitslosen bei der Suche nach Jobs oder Alleinstehenden bei der Suche nach Nestwärme. Damit selbst untere Zuschauerschichten ab und an ein Gefühl von Erhabenheit haben, verkuppeln Privatsender beziehungsgestörte Menschen ja gern mit Bäuerinnen, Schwiegertöchtern, Traum-, gar Jungfrauen. Kein Wunder, das nun auch solche ins Rampenlicht der Kuppelindustrie geraten, deren Gegner im Kampf mit der Einsamkeit unbesiegbar scheint: Die Zeit.
Deshalb lädt Sat1 ab Sonntag zwei Dutzend Senioren in ein pittoreskes Gasthaus unter den Gipfeln der Schweiz, um ihnen sechs Folgen lang den Weg in die Zweisamkeit zu ebnen. Oder wie es die Dokusoap genannte Realitätssimulation aufgekratzt vom Flatscreen brüllt: für die „Liebe ihres Lebens“, stürzen sich 24 Singles über 60 ins „größte Abenteuer ihres Lebens“ – darunter macht es das kommerzielle Fernsehen auch nicht, falls die Betroffenen jahrzehntelang lang Zeit für weit umfangreichere Risiken und Wagnisse hatten.
Während der ARD-Film Altersglühen das Thema Ende 2014 noch als improvisiertes Speeddating mit Schauspielerin inszeniert hat, simuliert Sat1 die Wirklichkeit altersbedingter Isolation nun also in einer ulkigen Flirtshow. Dafür durchlaufen vom hemdsärmeligen Metzger Gusti bis zum Hansi-Hinterseer-Double Alf, von der aktiven Hamburgerin Astrid bis zur häuslichen Kölnerin Christine je zwölf Frauen und Männer aller Dialekte und Biografien den Unterhaltungsparcours des Beobachtungsfernsehens: Tretrollerrennen, Kostümdisco, Wettbacken – stets unterm Argusblick diverser Kameras und dreier Moderatoren, die jede Regung süffisant kommentieren.
Das klingt – zumal im Soundbrei aus Kirmestechno und Liebesschnulze – so zynisch wie alles, was im kommerziellen Programm unterm Label Real Life firmiert. Schließlich setzt das Plagiat des belgischen Originals die werberelevante Generation 60+ den Reizkollektoren der Erregungsgesellschaft aus. Und das wird selten schmeichelhaft. Als Gastgeber Lutz van der Horst die Gruppe auf grellpink dekoriertem Trecker grölend ins Hotel Herzklopfen fährt, liegt die Messlatte des Niveaus jedenfalls frühzeitig tief. Und sie rutscht auch nicht höher, wenn seine Ko-Moderatoren Sarah Mangione und Daniel Boschmann all die entzweiten Rest-Ager ständig zu Signalen der Paarungsbereitschaft („nun küss euch mal“) auffordern.
Der Fernsehmenschenzoo, er hat also wieder Stoßzeit. Besser: noch immer. Seit RTL die Zugkraft unvermittelbarer Landwirte 2005 aus Österreich importierte, stand besonders die Sendergruppe aus Köln tief im Dreck ausgestellter Bindungsstörungen. Wurden beim Bachelor noch wohlgeformte Modepüppchen frauenverachtet, die in Formaten wie Adam sucht Eva nicht mal mehr Zeit mit Ausziehen verplempern, stellte die Sendergruppe bald Heiratsmarktverlierer von dick bis doof ins Schaufenster ihrer Menschenverachtung. Mal mehr, eher weniger selbstbestimmte Voyeurismusobjekte auf der Jagd nach Geborgenheit zu verhöhnen, zählt seither zum Markenkern der Scripted Reality.
Während die Kopie vom arglosen Herzblatt auf Sat1Gold floppte, sank die Hemmschwelle – vom Pöbel begafft, vom Feuilleton ignoriert – also zügig ab. Wie tief, zeigt Vera int Veen. Vor zwei Jahren lancierte Jan Böhmermann in ihrer Freakshow Schwiegertochter gesucht einen Darsteller mit gespielter Geistesschwäche, die von RTL genüsslich ausgeweidet wurde. Der Aufschrei war groß, die Wirkung weniger. Im Gegenteil. Weil schlechte Werbung allemal besser ist als keine, wird weiter nach unten getreten. „Bauer sucht Frau“ erzielt damit noch immer fünf Millionen Zuschauer. Und so liegt der Verdacht nah, auch im Hotel Herzklopfen gehe es um Fremdscham. Das tut es, ohne Frage. Aber nicht nur.
Die Bewohner zeigen nämlich etwas Ungewöhnliches im Kuppelgenre: Noch weithin unverbildet von der Selbstdarstellungsdiktatur des Internets, sind viele der 24 Gäste glaubhaft authentisch. Wenn ältere Herren beim Balzen ständig zugreifen, wirkt das im Angesicht von #MeToo zwar erschreckend übergriffig. Weil ältere Damen darauf giggelnd entgegnen, vom „starken Mann“ halt gern „erobert werden“ zu wollen, passt das allerdings zu einer Generation, die noch Prügel als Erziehungsmethode kennt und nicht bei Tinder, sondern der Lokalzeitung Anschluss sucht. „Mehr als manche jungen Kandidaten“, meint Moderator van der Horst, „können die Senioren Verantwortung für sich übernehmen“. Wenn er versucht, sie mit Witzen über Langsamkeit und Torschlusspanik aufzuziehen, stellt er demnach meist sich selber bloß. Ansehnlich ist das zwar nur für die passende Alterskohorte. Aber ein Format ohne Zynismus im Billigmetier Flirtshow – das ist ja schon mal was…
Das Ende diverser Epochen zählt mittlerweile fast zum Alltag der Medien – schließlich steht die alte, auf Papier gedruckte, geldwerte Presse insgesamt zur Disposition. Print? Totgeweiht! Tageszeitung? Totgeweiht! Journalismus? Totgeweiht! Da überrascht es dann gar nicht mehr so sehr, wenn ein Magazin aus der bislang letzten Boomphase des Metiers abschmiert: Die Neon. Nach der Dotcom-Blase als Begleitheft philanthropischer Dotcomblasen-Bläser gegründet, verbuchte es während der Lehman-Pleite Rekordauflagen, die sich seit der Staatenkrise auf mittlerweile 60.000 Hefte geviertelt haben. Nun also wandert der einstige Trendsetter ins Internet ab und hinterlässt die nächste Alterskohorte ohne sinnstiftendes Druckerzeugnis.
Das ist allein deshalb schon bedeutsam, da investigativer Publizismus beharrlich auf zermanschtem Holz zu lesen ist. Davon zeugen nicht zuletzt die Pulitzer-Preise für New York Times oder Washington Post. Ihre Arbeit hat sowohl den Missbrauchsfall von Harvey Weinstein aufgedeckt und damit die #MeToo-Debatte entfacht, als auch die Einmischung Russlands in den Präsidentschaftswahlkampf der USA entlarvt – was den Sieg von Donald Trump bis heute juristisch anfechtbar machen könnte. Kein Wunder, dass er sich mit Glückwünschen für seine Lieblingsgegner bislang zurückhielt. Sind ja bekanntlich alles bloß Fake Media…
Für die hält Österreichs amtierende Regierungspartei FPÖ bekanntlich auch den öffentlich-rechtlichen Sender ORF. Zurzeit kritisiert sie etwa Einseitigkeit in der Berichterstattung über den Wahlsieg des, hüstel, lupenreinen Demokraten Viktor Orbán in Ungarn und fordert wie so oft die ersatzlose Streichung voreingenommener Korrespondenten. Qualitätsoffensive durch Personalkürzung – das widerspricht schon ein wenig jenem „gesunden Menschenverstand“, zu dem der parlamentarische AfD-Rottweiler Beatrix von Storch den einst irgendwie journalistisch tätigen Geistesbruder Matthias Matussek auf ihrem Haus- und Hetzkanal interviewt hat.
Die Frischwoche
16. – 22. April
Ist es nun unsererseits populistisch, vom verbalen Brechdurchfall wenigstens latent antisemitischer Rechtspopulisten auf Artes Themenabend zu Israels 70. Geburtstag am Dienstag überzuleiten? Vielleicht. Aber egal! In Mein gelobtes Land werden fünf Stunden lang alle Seiten des Zionismus beleuchtet – von der Staatsgründung über den Mossad und Tel Aviv bis hin zu Ben Gurions Vermächtnis“ um 0.35 Uhr. Passenderweise zeigt der Kulturkanal tags drauf Der Staat gegen Fritz Bauer um einen Staatsanwalt, der im durchfallbraunen Nachkriegsdeutschland den Skandal unbehelligter SS-Größen aufdeckte und dafür von ganz oben bekämpft wurde.
Dummerweise läuft das beeindruckende Porträt mit Burghart Klaußner als Frankfurter Staatsanwalt parallel zu Bayern Münchnes Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid – eine Gebührengeldvergeudung, die die ARD gottlob zum letzten Mal dazu nötigt, als Mittwochsfilm nur eine Wiederholung zu zeigen (Ein Atem). Niemals verschieben würde das Erste seinerseits die Freitagsschnulze. Nicht mal dann, wenn zugleich der Deutsche Filmpreis 2018 verliehen wird, was dann eben erst um 22 Uhr als Aufzeichnung läuft, weil vorher noch irgendein Mumpitz namens Billy Kuckuck beendet sein muss.
Tags drauf läuft dann vorab ein Biopic auf Arte, mit dem das ZDF Mario Adorf am 2. Mai um 20.15 Uhr einen Herzenswunsch erfüllt. Der 87-Jährige spielt (endlich!) Karl Marx, zumindest den alten. Den betagten Pablo Picasso hingegen spielt kein Geringerer als Antonio Banderas. Nach dem weltweit erfolgreichen Zehnteiler Genius: Einstein! porträtiert National Geographic ab Dienstag zeitgleich in 171 Ländern den wohl berühmtesten Maler in einer opulenten Dramaserie: Genius: Picasso! Mindestens ebenso opulent, aber weitaus fiktiver ist die dritte Staffel des Renaissance-Blockbuster Borgia, den Sky ab Sonntag erstmals in deutscher Sprache zeigt.
Auf irgendwie ganz andere Art und Weise wuchtig ist indes ein Doku-Dreiteiler, den ZDFinfo am Abend zuvor ab 20.15 Uhr am Stück zeigt: Rockerkrieg – die verstörende Milieustudie aus dem Reich der organisierten Kriminalität. Zur Entspannung taugen da am besten die Wiederholungen der Woche. Heute etwa um 20.15 Uhr in Schwarzweiß auf Arte: Ein Platz an der Sonne, das sechsfach oscarprämierte Melodram von 1951 mit Montgomery Clift als Glücksritter, den die Ehe mit der reichen Erbin Angela (Elizabeth Taylor) vorwärts bringen soll. Kurz darauf (23.10 Uhr, MDR; auch am Sonntag, 23.35 Uhr, SWR) dechiffriert Benedict Cumberbatch in The Imitation Game von 2014 die berühmte Dechiffriermaschine der Nazis namens Enigma. Gruselig wird es Dienstag (20.15) auf Tele5, wo sich Nicole Kidman und ihre Kinder im Bann von The Others befinden, die ein altes Landhaus besetzen, gefolgt von Quentin Tarantinos Regiedebüt Reservoir Dogs von 1991. Und der Tatort-Tipp: Die Feigheit des Löwen (Donnerstag, 20.15, WDR) zum Thema Flüchtlinge, sorgsam bearbeitet vom ARD-Empathie-Beauftragen Wotan Wilke Möhring alias Kommissar Falk.
Den Soul im Pop zu bewahren, ohne dabei seifig, saftig, süffig daher zu kommen, ist eine der schwierigsten Disziplinen zeitgenössischer Musik. Der Black-Keys-Sänger Dan Auerbach hat das vor drei Jahren mit einem bewegend swingenden Soloalbum geschafft. Auch Bon Iver ist ein Meister der Technik, Folk mit Hilfe der Stimme allein funky klingen zu lassen und umgekehrt. Nun zeigt eine Band aus – mal wieder – Wien, wie das Falsett einer melancholischen Stimme die wavige Elektronik darunter zu Schwingen bringen kann: Hearts Hearts. Postomodern namensgedoppelt wie einst Guru Guru, später GusGus, zuletzt Guaia Guaia zelebriert das Quartett einen Sound, der zerbrechlich und doch standhaft wirkt.
Verantwortlich dafür ist vor allem David Österle. Sein glockenklarer Gesang flattert scheinbar hilflos unter die analog-digitale Mischung von Daniel Hämmerle (Gitarre), Johannes Mandorfer (Schlagzeug) und Peter Paul Aufreiter (Elektronik) hindurch, gibt ihr jedoch auch auf dem neuen, zweiten Album gleichermaßen Halt und Struktur. In seiner Zerbrechlichkeit beginnen die elf Stücke trotz allem Pathos förmlich zu schimmern, die Video-Auskopplung Phantom / Island gerät dabei geradezu dynamisch. Das Wesen von Goods / Gods bleibt allerdings die feine Klangkaskade, deren Soul versteckt, doch unüberhörbar ist. Seelenpop für Grenzgänger!
Hearts Hearts – Goods / Gods (Tomlab)
Wolfgang Müller
Mit dem Alter, Jugendlichen erscheint das meist rätselhaft, sehnt sich der (deutsche) Mensch nach Obhut, Frieden, etwas Ruhe. „In einem Meer aus Hass / wo sich die Wellen verbeißen“, singt Wolfgang Müller ein paar Jahre jenseits der 40 auf seinem neuen Album, fragt, „sag was ist da / die sicherste Art zu reisen?“ und antwortet flugs selber. Musikalisch gewärmt von einem Heizkissen aus Gitarren, Streichern, gar einer plätschernden Querflöte steckt er sich lieber Blumen ins Haar als Trolle zu füttern und ist „endlich nicht mehr dagegen / ich bin nur noch dafür“. Die Reaktion multimedienmüder Fortysomethings aufs Hamsterrad unserer Zeit klingt seltsam artig, sittsam, fast brav.
Wenn sich der hessische Hamburger mit seiner leicht kratzigen, aber erstaunlich jungen Stimme durch die Lebensbrüche seiner Alterskohorte reimt, die unterm gleichen Titel auch in luftig leichte Romanprosa gegossen hat, könnte es daher schon dank einiger Saxofon-Peitschen rückwärtsgewandt wirken, also leicht welk. Doch atmosphärisch zwischen Moritz Krämer und Tom Liwa schrammt seine Alltagslyrik oft elegant und lebensklug am Kitsch vorbei. Die sicherste Art zu reisen ist daher gewiss nicht die aufregendste, aber kultivierteste des erwachenden Frühlings.
Wolfgang Müller – Die sicherste Art zu reisen (Fressmann)
Malakoff Kowalski
Ach, was ist die Moderne doch laut und hektisch und viel zu voll von allem. Überall Sound, nirgendwo Pausen, dauernd herrscht dieses Grundrauschen als sei der Platz für Stille restlos belegt. Ungefähr so muss sich offenbar auch Malakoff Kowalski gefühlt haben, als er sein viertes Album in Angriff nahm, der eigentlich eher ein Rückzug ist. Reduzierter noch als beim wunderbaren Vorgänger I Love You, auf dem der Hamburger mit Wohnsitz Berlin vor gut drei Jahren Richtung Nostalgie abdrehte, löst sich My First Piano nun förmlich in Luft auf. Besser: einen Windhauch. Weitestgehend allein mit sich und seinem Klavier bläst Aram Pirmoradi, wie ihn seine persischen Eltern 1979 in Boston genannt haben, Partituren in den Himmel, als sei er eine Leinwand und die Erde das Kino.
Struktur zu erkennen, wäre da gewiss die Sache fachkundiger Klassik-Hörer. Für uns Laien mit Popappeal bleibt dagegen das Gefühl, man lausche dem Soundtrack eines Roadmovies in Zeitlupe, dessen Protagonist mal – wie im Titeltrack – melodramatischer Stimmung ist, mal – wie im anschließenden Is It Spring – den Aufbruch wagt, aber stets tief in sich ruht. Ein Album für die Leerstellen des Lebens selbst dort, wo längst schon keine mehr sind. Die Platte zum Runterkommen.
Malakoff Kowalski – My First Piano (MPS/Music Produktion Schwarzwald)
Wenn der deutsche Weltstar Daniel Brühl ab heute auf Netflix The Alienist ist, sucht sein Nervenarzt Lazlo Kreizler (Foto: Netflix) im menschlichen und stofflichen Morast des New York von 1896 nicht nur einen Kindermörder, sondern sich selbst. Das ist zwar gelegentlich Effekthascherei, aber sehr unterhaltsam und spannend.
Von Jan Freitag
Historytainment ist schon lang nichts mehr für schwache Mägen. Wird die Welt vorm Siegeszug der Menschlichkeit Mitte des vorigen Jahrhunderts verfilmt, starrt das Fernsehbild meist vor Dreck, Gewalt, vor Grauen und Tod, der möglichst grausam eingetreten sein sollte. Auch der feminin gekleidete Stricher im neuen Netfix-Produkt The Alienst wurde daher nicht nur umgebracht, sondern ausgeweidet. Und die Kamera zoomt fast genüsslich durchs leere Loch der kindlichen Augenhöhle ins New York des Jahres 1896, eine Arte Vorhölle der Zivilisation – zumindest in der Fernsehunterhaltung.
Die Bestseller-Verfilmung des belgischen Regisseurs Jakob Verbruggen (Black Mirror) entführt uns demnach an einen Schauplatz, der nur noch im Groschenroman oder ZDF-Melodram romantisch sein darf. Hier jedoch leidet das Fin de Siècle und stinkt, es lärmt und blutet aus jedem Morast, der sich Straße schimpft. Statt Recht herrscht Gewalt, statt Ordnung Korruption. Nach dem Leichenfund arbeitet daher nicht die mafiöse Polizei an der Klärung des Mordes, sondern Lazlo Kreizler. Ein Nervenarzt, der wegen seiner Suche nach dem entfremdeten Geist Wahnsinniger auf Englisch einst „Alienist“ genannt wurde. „Heute würde man ihn als Kriminalpsychologen bezeichnen“, beschreibt der deutsche Weltbürger Daniel Brühl seine bislang größte Rolle auf dem globalen Parkett.
Bald 25 Jahre nach seinem ungelernten Karrierestart in der ARD-Telenovela Verbotene Liebe, dem 2001 der preisgekrönte Durchbruch als schizophrener Student in Das weiße Rauschen folgte, ist das der nächste Schritt zum Superstar. Dabei war der 39-Jährige – geboren in Barcelona, aufgewachsen in Köln, großgeworden in Berlin – schon mit 22 international tätig. Drei Jahre vor Good Bye Lenin (2003) drehte er fürs Teenagerdrama Deeply an der Seite von Kirsten Dunst auf Englisch. Es folgten Geschichtsepen (Salvador), Liebeskomödien (2 Tage in Paris), Actionbombast (The Bourne Ultimatum), bevor ihn sein Fliegerheld in Quentin Tarantinos Inglorious Basterds endgültig nach Hollywood katapultierte, wo er mal mehr (Rush), mal weniger tiefgründiges (Captain America) Popkornentertainment macht und zuletzt im Politthriller Colonia Dignidad glänzte.
Im neuen Kino Serie aber ist The Alienist nochmals eine Stufe bergan – auch weil er weit weniger heroisch ist, als es scheint. Brühls Lazlo Kreizler ist ein zutiefst diffuser, spürbar seelenwunder, äußerst eindringlicher Charakter, dem im Kampf gegen das Böse mit oder ohne Uniform nur zwei Verbündete beistehen: Der Presseillustrator John Moore (Luke Evans) und die Polizeisekretärin Sara Howard (Dakota Fanning), deren Boss kein Geringerer als der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt ist und schwer am unaufdringlichen Feminismus der Frau im Männerberuf zu tragen hat. Je tiefer das Trio nun in den bizarren Fall eines Serienkillers eintaucht und je weniger die Staatsmacht dagegen tut, desto mehr wird besonders Brühls Figur vom Beobachter zum Beteiligten.
„Weil er in seinem Leben viel Schmerz erlitten hat“, meint dessen Darsteller, „versteht man besser, warum Kreizler so besessen davon ist, den Killer zu finden“. Diese oft rauschhafte, mitfühlende Verbissenheit spielt Daniel Brühl mit der glaubhaften Arroganz eines Wissenschaftlers, der sich noch vorm Siegeszug von Freuds Psychoanalyse ins Innerste menschlicher Seelen wagt. Was genau ihn antreibt, bleibt zwar wie vielen der Protagonisten knapp unter der Oberfläche; die aber ist von einer Detailverliebtheit, der man gelegentliche Effekthascherei gern nachsieht. Huschende Schatten sind geräuschvoll und Gangsterblicke verschlagen, Tote werden nur nachts exhumiert, wobei es das Tageslicht sowieso nur in die Stadt schafft, wenn es durchs Kellerfenster in die Irrenanstalt dringt, während vor der Tür nicht nur dauermorbide Stimmung, sondern ewig mieses Wetter herrscht.
Gut, das sind nun mal die Regeln des Genres. Und dramaturgisch hat die aufgeblasene Historienästhetik ohnehin Gründe. Im hygienisch-juristisch-sozialen Desaster von „Charité“ über The Knick bis Babylon Berlin darf sich das Publikum anders als bei der vormodernen Wanderhure nämlich seiner eigenen Behaglichkeit versichern; zugleich jedoch erfährt es mit etwas Grusel, wie dünn der zivilisatorische Firnis sein kann, wenn selbst New York nur 122 Jahre zuvor ein solches Höllenloch war. Daniel Brühl bewegt sich darin mit einer Souveränität, die nicht nur am beeindruckenden Englisch des Sprachtalents liegt; es ist seine Aura zwischen wehrhaft und sensibel, nüchtern und zornig, die der „Einkreisung“, wie der Mix aus Jack the Ripper und Gangs of New York hierzulande heißt, ihren Stempel aufdrückt. Ein ziemlich unterhaltsamer. Zumindest für stabile Mägen.
Das Böse war ganz artig, Anfang voriger Woche. Im weißen Hemd zur blauen Krawatte saß Mark Zuckerberg vorm US-Kongress, lächelte meistens scheu und gab sich ganz als Mamis Liebling mit Tischmanieren. Facebook sei eine idealistische, optimistische Firma, um „Menschen miteinander zu verbinden“, beteuerte der Chef des sozialen Netzwerks und gab zu, „dass wir nicht genug dagegen getan haben, um den Missbrauch dieser Werkzeuge zu verhindern“. Das klingt angesichts Milliarden verscherbelter, veruntreuter, versickerter Datensätze seiner Kundschaft, die er zwar willfährig mit rechtsextremem Hass mästet, aber um Gottes Willen bloß nicht mit Brustwarzen oder Schamhaaren, ein bisschen wohlfeil, aber hey – der Aktienkurs schoss sogleich in die Höhe.
Vielleicht ja auch, weil sich die Abgeordneten und Senatoren von einer analogen Unkenntnis zeigten, gegen die Oma Krause aus Oer-Erkenschwick wie ein digital native wirkt. Von daher kann man nur hoffen, dass Mark Zuckerberg wegen diverser Manipulationen im Zusammenhang mit Brexit und Wahlen vors Europaparlament geladen wird, wo erfahrungsgemäß etwas mehr Digitalexpertise vorherrscht als in den USA, wo ein Senator allen Ernstes fragte, wie Facebook denn bitteschön Geld verdiene, wenn die Mitgliedschaft doch kostenlos sei…
Sein Erscheinen wäre auch deshalb interessant, da auf dem alten Kontinent in Sachen Medien gerade ein neuer, mal frischer, oft muffiger Wind weht. Russland zum Beispiel sperrt kurzerhand Telegram, weil der Instant-Messaging-Dienst keine privaten Nutzerdaten zur Terrorabwehr freigibt. In Deutschland erlauben Verfassungsrichter derweil die Ausstrahlung illegal erlangter Beiträge wie jenen, den der MDR aus einer Massentierfabrik gezeigt hat. Und das Landgericht Berlin hat Facebook per einstweilige Verfügung verdonnert, den gelöschten Post eines Nutzers wieder einzustellen, der zwar voller Hass, aber nicht rechtswidrig ist. Dank angeblicher „Fake-News“ linker „Systemmedien“ über „sinkende Arbeitslosenzahlen oder Trump“, stand in dem Kommentar zur Wiederwahl Viktor Orbans, würden die Deutschen nämlich immer mehr verblöden.
Die Frischwoche
16. – 22. April
Das könnte auch Teil jener Dokumentation sein, die das Erste heute Abend um 22.45 Uhr zeigt. Protest und Provokation blickt auf die ersten Monate der AfD im Bundestag zurück, was einer kleinen Horrorshow des politisch Unkorrekten gleicht. Im Zweiten dagegen darf Heino Ferch zur besten Sendezeit die gruselige Vielfalt des einzigen Gesichtsausdrucks (männlich-melodramatisch) als Der Richter präsentieren, der wegen seiner entführten Tochter in einen Gewissenskonflikt gerät.
Ach ZDF…
Obwohl – zwei Stunden später ist ja wirklich was Bemerkenswertes auf dem Traumschiff-Kanal zu sehen: Hard Sun, ein BBC-Dreiteiler, in dem es zwei Londoner Polizisten mit dem drohenden Weltuntergang zu tun kriegen – mehr aber noch mit einem Geheimdienst, der alles dafür tut, Chaos und Anarchie zu vermeiden. Selbst Lügen verbreiten, Zwietracht zu säen, Kollegen zu töten. Verschwörungstheorie mit Suchtfaktor! Den entfaltet ab Donnerstag auch die neue Netflix-Serie Alienist. In dieser atmosphärisch aufwühlenden Jack-the-Ripper-Mischung aus Gangs of New York und The Knick spielt Daniel Brühl darin den Psychiater Lazlo Kreizler, für den es zur bedingungslosen Obsession wird, an der amerikanischen Ostküste des Fin de Siècle bizarre Kindermorde aufzuklären.
Nicht ganz leicht, von derart drastischer Kostümpsychokost in die gegenwärtige Realität zurückzukehren. Machen wir’s also unprätentiös: Am gleichen Abend um 20.15 Uhr zeigt 3sat eine sehenswerte Reportage über den Müll-Meister Deutschland. Tags drauf läuft ab 21.45 Uhr bei Arte der Themenschwerpunkt Black Power Pop, in dem James Brown, Aretha Franklin und Marvin Gaye porträtiert werden. Und am Sonntag um 17.55 Uhr startet auf Sat1 etwas, das eigentlich zu berechnend klingt, um niveauvoll zu sein: Hotel Herzklopfen. Moderiert von Lutz van der Horst, Sarah Mangione und Daniel Boschmann werden darin 24 einsame Senioren bei der geriatrischen Balz kaserniert, was sechsmal zwischen zynisch und liebevoll alles Mögliche sein kann, nur ganz gewiss nicht frei von Fremdscham. Und damit zu den Wiederholungen der Woche.
Morgen Nacht wiederholt Tele 5 – kurz vorm grandiosen Tatort: Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes um 22 Uhr im NDR – einen der eindrücklichsten Horrorfilme überhaupt: Das Omen von 1976, in dem es Gregory Peck um 23 Uhr mit der Wiedergeburt des Teufels im eigenen Sohn zu tun kriegt. Zwei Jahre älter ist Die Akte Odessa (Montag, 20.15 Uhr, Arte), was weniger wegen der fesselnden Story um einen Geheimbund früherer Nazis spannend ist, als wegen des Drehorts Hamburg Mitte der Siebziger. Noch ein wenig weiter zurück mit durchaus vergleichbarer Thematik reicht Margarethe von Trottas Biopic Hannah Arendt (Dienstag, 0.55 Uhr, ARD mit Barbara Sukowa in der Titelrolle dieser großen, aber auch umstrittenen Philosophin samt ihrer Totalitarismus-Theorie.
Klar, einen irgendwie weltmusikalisch flatternden Popsound allein deshalb zu empfehlen, weil er westliche Zivilisation mit östlicher Exotik verbindet oder wie es gern mal heißt: Orient und Okzident, das ist im Kern schon ein bisschen kolonialistisch, Tendenz Eurozentrismus. Aber was soll man machen: Der Sound des türkischen Bandkollektivs Altin Gün klingt für angloamerikanisch geprägte Ohren zutiefst folkloristisch, hat aber diesen psychedelisch krautigen Einschlag, der das Debütalbum so fesselnd macht wie vieles, das sich dem Mainstream auf fremdartig klingende Art entzieht. Der holländische Bassist Jasper Verhulst jedenfalls war vom Turkish Funk der Sechziger bis Siebziger so begeistert, dass er ihn am Ursprungsort wiederbeleben wollte – was ihm echt mitreißend gelungen ist.
Gemeinsam mit ein paar Freunden wie Gino Groeneveld oder Nic Mauskovic suchte er per Facebook einheimische Sängerinnen, fand mit Merve Dasdemir und Erdinc Yildiz Edevit zwei außergewöhnlich stimmstarke, und macht mit mit ihnen nun einen hippiesken Retrosound, der das Fieber des Psychorock vor rund 50 Jahren wunderbar in die Gegenwart treibt. Noch wichtiger aber ist: Die orientalischen Elemente darin sind keine bloßen Accessoires, geschweige denn ethnische Anbiederungen. Auf den meisten der zehn Stücke von On (Türkisch für zehn) verschmilzt das Hier und Dort so organisch, als hätte es schon immer zusammengehört. Hat es ja auch. Nur für europäische Ohren klang das einst seltsam befremdlich. Wenn man es denn befremdlich klingen lassen wollte…
Altin Gün – On (Bongo Joe)
Gris-de-Lin
Kontrollsucht ist nicht grad die sympathischste Eigenschaft, künstlerisch betrachtet aber vielfach ertragreich. Bands von Zappa über Bowie bis Prince können davon wahre Geniestreiche singen. Die Kontrollsucht von Gris-de-Lin allerdings dürften ihre Begleitmusiker schon deshalb nicht beklagen, weil es sie schlichtweg kaum gibt. Auf ihrem Debütalbum Sprung macht die Sängerin aus dem englischen Dorset ja praktisch alles alleine. Sie schreibt melancholisch trotzige Lyrics über ihr Gefühlsleben, unterlegt sie mit ausgefuchsten Postrockstrukturen und spielt auch noch die meisten der Instrumente ein, darunter so verschiedene wie Saxofon, Klavier, Drums, Gitarre und Synthesizer.
In den lauteren Sequenzen erinnern die elf berauschenden Resultate an den rohen Hardcore von Shellac, in den leiseren an Björks bittersüßen Feenfolk, während dazwischen gern mal eine Prise The Notwist verstreut wird. Am ehesten wäre dieser (angeblich im Kindergarten mit Kindergartenequipment aufgenommene) DIY-Alleingang daher wohl mit einer Art New Prog beschrieben. Vom experimentellen Artrock bis zur lieblichen Popballade ist schließlich außer Hip-Hop das meiste dabei. Und auf der Bühne, heißt es, sogar andere Musiker.
Gris-de-Lin – Sprung (BB*Island)
Tom Misch
Und gleich noch so ein Alleskönner/Allesmacher/Alleswoller, der schon als Teenager diverse Klangkosmen auf eigene Faust erkundet hat: Tom Misch. Mit gerade mal 22 Jahren legt der Gitarrist und Geiger, Produzent und DJ, Sänger und Komponist aus London sein fulminantes Debütalbum vor, und obwohl er sich darauf mit funkigem Nu Soul keinem sonderlich ungewöhnlichen Genre widmet, gewinnt er ihm doch sehr besondere Seiten ab. Gleich im Opener Before Paris zittert sich die Violine wie bei einer Orchesterprobe unter ein Kneipengespräch hindurch, wie und warum man Künstler wird, bevor ein paar leger gezupfte Jazz-Riffs den Tonfall von Geography festlegen: traumwandlerisch versiert und überaus lässig.
„You have to love it / you have to breeze it“, heißt es da zum Beispiel im flatternden Stimmgewirr weiter, „it’s your morning coffee / your food“. Und beides wird noch delikater, weil danach zwölf Stücke lang digital aufgebrezelter Future Funk durch die Siebzigerdisco wabert, als würde er Bruno Mars mit Earth, Wind & Fire versöhnen. Wenn sich die Gaststars von De La Soul dann auch noch aus dem Hintergrund ins Rampenlicht des prickelnden It Runs Through Me rappen und später Steve Wonder gecovert wird, ist das Wintereis endgültig gebrochen.
Seit vorigen Freitag serviert Der Grenzgänger auf Sky etwas äußerst Ungewöhnliches: skandinavische Krimithrillerkost ohne Blutwurst und Innereien. Stattdessen taucht der norwegische Achtteiler tief in die Seelen der Protagonisten ein und verstrickt sie miteinander, dass es im dunklen Winterwald nur so knirscht.
Von Jan Freitag
Die Ausgangslage skandinavischer Krimis ist schnell umrissen: Tendenziell eigenbrötlerische Ermittler mit eher mehr als weniger Macken müssen am Tatort zunächst mal das zerstückelte, gefolterte, verätzte, lebendig begrabene oder ähnlich grausam zugerichtete Opfer zusammenpuzzeln, bevor sie bei der Jagd nach dem Täter in Abgründe ritueller Gewalt blicken, die stets noch mehr zerstückelte, gefolterte, verätzte, lebendig begrabene oder sonstwie grausam zugerichtete Leichen zutage fördern. Seit der fiktionale Blutdurst des schwedischen Autorenpaars Sjöwall/Wahlöö vor ziemlich genau 25 Jahren fürs Fernsehen entdeckt wurde, pflegen Regisseure nördlich von Flensburg einen Überbietungswettbewerb krimineller Brutalität, in der ein gewöhnlicher Todschlag praktisch als Streicheleinheit gilt.
Das muss im Hinterkopf haben, wenn der pflichtbewusste Polizist Nikolai Andreassen im neuen Produkt des Scandi Noir genannten Genres ins grüne Umland von Oslo fährt und dort einen Mann vom Baum schneidet. Weil er körperlich ansonsten unversehrt wirkt, hätten Serienkommissar von Thomas Beck über Sarah Lund bis Kurt Wallander jetzt wohl dasselbe gesagt wie jene im norwegischen Wald: Suizid, ab zu den Akten, Feierabend. Doch nicht mit Nikolai Andreassen! Da der Erhängte am Kopf blutet, spricht der Kommissar von Verbrechen – und löst damit eine Kettenreaktion aus, die mit jeder Minute dieses beeindruckenden Achtteilers mehr sein eigenes Leben an den Rand des Abgrunds reißt.
Der Täter erweist sich nämlich nicht nur als Polizist. „Ich bin dein Bruder“, fleht dieser Lars Andreassen nach seinem Geständnis, den Toten im Suff erwürgt zu haben. Und das macht den prinzipientreuen Nikolai, der einige Szenen zuvor noch wider jeden Kodex gegen einen Kollegen unter Mordverdacht ausgesagt hat, zum „Grenzgänger“, wie die Serie hierzulande heißt. Eingepfercht zwischen ähnlich starker Solidarität für das erworbene Berufsethos und die angeborene Blutsverwandtschaft, hilft Nikolai seinem Bruder die Tat zu verschleiern. Dabei unterdrückt er allerdings nicht nur Informationen, sondern fälscht gar Beweise und verrät somit alles, was seinem Rechtsverständnis entspricht.
Diesen Zwiespalt spielt der norwegische Superstar Tobias Santelmann aus dem badischen Freiburg (The Last Kingdom) mit einer reduzierten Präzision, die das kongeniale Gegenstück zum fiebrigen Wankelmut von Benjamin Helstad als Lars bildet. Ihr Metier wäre allerdings ein anderes als Scandi Noir, gäbe es nicht noch weit dickere Bretter zu bohren als moralische Befindlichkeiten. Der Grenzgänger präsentiert zudem stolz: den grobschlächtigen Cop Bengt (Frode Winther), den windigen Lokalpolitiker Josef (Eivind Sander), den haltlosen Kiffer Ove (Ole Christoffer Ertvaag ) und allerlei doppelbödige Haupt- wie Nebenfiguren, die unterm kritischen Blick der unterkühlten Kommissarin Anniken (Ellen Dorrit Petersen) immer tiefer im Morast kollektiver Schuld versinken.
Dass sich dieses undurchdringliche Gestrüpp aus organisierter und beiläufiger Kriminalität, aus Korruption, Geltungssucht und Drogen nicht heillos ineinander verknotet, hat dabei gute Gründe: ein schlüssiges Drehbuch der Showrunnerin Megan Gallagher etwa, das die Regisseure Bård Fjulsrud und Gunnar Vikene kunstvoll, aber frei von Effekthascherei inszenieren. Im diffusen Dämmerlicht des winterkargen Waldes ringsum entfalten die Charaktere vielfach einen Tiefgang, der die inhaltliche Bedeutung durch den dauernden Kampf um einen Sinn im Einerlei des Alltags bereichert. Selbst Nikolais verheimlichte Homosexualität fügt sich hier angenehm unprätentiös in die Zeichnung verschiedenartigster Persönlichkeiten im selben Mikrokosmos ein.
Nachdem Grenseland 2017 das heimische Publikum begeistert hat, lief die Serie zuletzt unterm weit stimmigeren Titel Borderliner auf Netflix USA, Russland und Großbritannien. Seit Freitag nun ist sie in Doppelfolgen bei Sky Atlantic abrufbar. Und nach den ersten drei Episoden zu urteilen, kommt Der Grenzgänger zwar nicht ohne die übliche Entstellung durch überdrehte Synchronstimmen aus, verkneift sich aber jene blutspritzenden Gewaltexzesse, die man sonst aus Norwegen, Dänemark, Schweden kennt. Es geht hier erkennbar nicht um den größtmöglichen Thrill, sondern den Versuch, selbst unter Unmenschen human zu bleiben – und krachend daran zu scheitern. Tiefgang kann so spannend sein.