Heidenreich & Hoffmann: SZ & Lokales
Posted: March 24, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentDas Kleine im Großen im Kleinen
Als Ressortleitung der größten und wichtigsten überregionalen Tageszeitung in Deutschland, prägen Ulrike Heidenreich und René Hofmann (Foto: Sebastian Arlt) das lokale Bild der weltumspannenden Süddeutsche Zeitung. Sind sie damit damit Vorreiter:innen oder Außenseiter:innen? Ein Interview mit Blick über München sucht nach Antworten – die vorab im Medienmagazin Journalist erscheinen sind.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Heidenreich, Herr Hofmann – Sie leiten die Gemeinschaftsredaktion München-Region-Bayern der Süddeutschen Zeitung in einer Epoche voll globaler Krisen von Krieg übers Klima bis Inflation mit unmittelbarer Auswirkung aufs Lokale. Welche hat es auf die Berichterstattung im Weltdorf München und Umgebung?
Ulrike Heidenreich: Wie früher eigentlich: Das Kleine im Großen zu finden. Erst dieses Herunterbrechen vom Globalen, Nationalen aufs Regionale macht Lokaljournalismus interessant.
Und wird durch digitale, überall verfügbare Informationen in Echtzeit noch interessanter?
René Hofmann: Dadurch können fast alle Weltlagen im Lokalen Thema werden. Bestes Beispiel ist das Erdbeben in der Türkei und Syrien. Fliegen auch bayerische Helfer und Helferinnen dorthin? Wie geht die türkische und syrische Community bei uns damit um? Was ist am Münchner Flughafen los? Wie beim Krieg in der Ukraine hat so eine Katastrophe sehr direkte Auswirkungen auf unser Einzugsgebiet.
Heidenreich: Mir fiele jetzt auch keine einzige gesellschaftliche, politische Großwetterlage mehr ohne Einfluss auf uns hier ein.
Hofmann: Bei der man sich zurücklehnen könnte und denken, lass das mal andre verhandeln.
Hat sich also nur die Quantität heruntergebrochener Großwetterlagen verändert oder auch ihre Qualität, also die Art, sie lokal zu thematisieren?
Heidenreich: Inhaltlich hat sich in jedem Fall verändert, dass auch lokale Themen ferner Regionen überregional relevant werden, die man jetzt direkter ansprechen kann. Kürzlich zum Beispiel wurde ja über ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem auf 800 Einwohner 700 Geflüchtete kommen, berichtet. Da habe ich mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Bayern-Reporterin vor gut zehn Jahren aus der Nähe von Deggendorf erinnert, wo das Verhältnis noch deutlicher war. Es waren 900 Einwohner in dem Dorf und über 1000 Geflüchtete.
Und haben es für eine aktuelle Berichterstattung aufgegriffen?
Heidenreich: Die Geflüchteten sind inzwischen alle fortgezogen. Aber schon damals konnte man daran alle Probleme aufzeigen, die sich im politischen und sozialen Miteinander ergeben, von der praktischen Versorgungslage bis zur inneren Haltung. Das hat eine Wucht, mit der man menschlich, aber auch publizistisch viel in Bewegung setzen kann.
Hofmann: Ein anderes Beispiel, Geschichten abseits vom großen Radar weiterzuerzählen, ist unsere Kolumne „Typisch Deutsch“, wo ein Kollege im Herbst 2015 zunächst geflohene Journalisten darum gebeten hat, ihren Blick auf uns in der SZ darzustellen.
Heidenreich: Damals waren es vor allem syrische und nigerianische Kollegen, jetzt ist es auch eine ukrainische Kollegin, die eine ähnliche Kolumne hat.
Hofmann: Und das funktioniert schon deshalb wunderbar, weil es nicht nur Einblicke in deren Lebenswelten gewährt, sondern auch solche zurück auf uns, wie diese ehemaligen Neuankömmlinge Phänomene vom Oktoberfest bis zum Gassigehen also wahrnehmen.
Heidenreich: Wenn der syrische Kollege eine Stilkritik über den Verzehr von Schweinebraten mit Knödeln schreibt, ist das ja nicht nur informativ und unterhaltsam, sondern manchmal auch auf lustige Art entlarvend.
Hofmann: Das hilft besonders in den Landkreisen sehr dabei, zu zeigen, dass diese Menschen nicht nur gekommen, sondern geblieben sind.
Und wie findet das die lokale Kundschaft ländlicher Verbreitungsgebiete, die womöglich in ihrer Welt ein bisschen verkapselter und damit konservativer sind?
Hofmann: Weil SZ-Leserinnen und -Leser generell eine gewisse Offenheit mitbringen, ist die Resonanz grundsätzlich positiv, aber klar gibt es auch – nennen wir es mal: Verwunderung.
Heidenreich: Die meisten unserer lokalen Leserinnen und Leser verstehen das ironische Augenzwinkern solcher Geschichten schon. Sie wissen ja, warum sie die SZ abonniert haben und was sie mit ihr bekommen.
Und verspüren Sie beim Rest eine Art Erziehungsauftrag, ihm die Weite der Welt jenseits von Ober- und Niederbayern zu erklären?
Heidenreich: Erziehungsauftrag, oh je. Wer will als Erwachsener schon erzogen werden…
Hofmann: Damit muss man sehr aufpassen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie fein die Antennen vieler Leserinnen und Leser sind, sobald wir versuchen, sie in irgendeine Richtung zu informieren, die als gewünscht empfunden werden könnte. Das hat unsere Objektivität noch gewissenhafter gemacht.
Heidenreich: Wir bilden nicht, wir bilden ab.
Auch, um es sich mit seiner zahlenden Kundschaft in Zeiten sinkender Abo-Erlöse und Kiosk-Verkäufe nicht zu verscherzen?
Heidenreich: Nicht, was die inhaltliche Berichterstattung betrifft. Wo wir auf sie zugehen, ist allenfalls die Art, wie wir mit unseren Leserinnen und Lesern in Dialog treten. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern das ganze Haus. Ich war vorher in der Politik-Redaktion, René lange Sportreporter – seither sind wir hier wie dort verantwortungsbewusster beim Austausch mit unserem Publikum geworden.
Was sich worin zeigt?
Heidenreich: Dass wir oder die Social-Media-Abteilung Zuschriften oder Kommentare noch gewissenhafter und intensiver beantworten als früher.
Hofmann: Und dabei zu erklären, warum wir diesen oder jenen Zugang so und nicht anders gewählt haben. Da geht es nicht um Inhaltskorrektur, sondern um Transparenz.
Heidenreich: Runter von dieser unerreichbaren Elfenbeinturmspitze, aus der Redaktionen die Welt erklärt haben, ohne Rückfragen zuzulassen. Das gibt es schon lange nicht mehr.
Hofmann: Dieses selbstkritische Herangehen wird geschätzt, aber das wichtigste bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der Sache an sich, also den Berichtsgegenständen. Deshalb ist das Feedback der Leserinnen und Leser auch eher positiv als negativ. Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix.
Aber mit anteilnehmendem, interaktivem Journalismus. Geht der bei Ihnen auch Richtung Twitter-Charts oder Leserinnen-Kolumnen, um die Kundschaft redaktionell einzubinden?
Heidenreich: Wir arbeiten natürlich mit Dashboards, erkennen, wenn Geschichten von sehr großem Interesse sind, und legen dann vielleicht noch ein paar Geschichten und Longreads zu dem Thema nach. Aber am Produktionsprozess beteiligen wir die Leute nicht. Schließlich haben wir die gleichen journalistischen Grundsätze und Qualitätsanforderungen wie das gesamte Haus.
Zugleich wünschen sich die Menschen, was vielfach gepanelt wird, vom Lokaljournalismus Nähe und Geborgenheit. Fällt das einer überregionalen Zeitung wie der Süddeutschen, deren Fokus anders als bei Regionalblättern weit über den Tellerrand der Landkreise hinausgeht, schwerer?
Heidenreich: Wir machen da idealerweise gar keinen Unterschied zwischen SZ im Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen. Alle Standbeine sind absolut gleichwertig und das Lokale und Regionale ist schon allein deshalb nicht weniger bedeutend, weil es vom Personal her das größte Ressort bei der SZ ist. Diese Gleichwertigkeit findet sich auch im Redaktionsstatut, dem Wertepapier des Redaktionsausschusses, dem publizistischen Kompass der Chefredaktion wieder. Die journalistischen Qualitätsansprüche sind – auch im Digitalen – identisch.
Hofmann: Wir wollen im Lokalen das Gleiche beherrschen wie überregional, also alle Stilformen von der Härte des Investigativen übers Packende der Reportage bis hin zum Leichten des Streiflichts beherrschen und nutzen. Gäbe es qualitativ und stilistisch von Ressort zu Ressort Unterschiede, dann würden die Leserinnen und Leser das schon deshalb seltsam finden, weil auf der Homepage alles nebeneinander zu finden ist. Je näher man München kommt, desto eher wird, glaube ich, ein gewisser SZ-Sound erwartet, aber das Gefühl dafür ist in allen Regionen ähnlich.
Erhebt die Süddeutsche, ob ihre Leser:innen sie eher wegen oder trotz der Lokalberichterstattung kaufen?
Heidenreich: Natürlich [blättert in Papieren]. Laut Marktforschungen ist der MRB-Teil, also die Ressorts München/Region/Bayern, die wir leiten, neben dem Politik-Teil der beliebteste der SZ. Als einzige überregionale Zeitung in Deutschland mit relevanter Regionalberichterstattung haben wir da ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Hofmann: Das allerdings auch Herausforderungen mit sich bringt, denn wir haben gleich von drei Seiten Konkurrenz: Auf Bundesebene von FAZ, taz und Welt, aber auch den Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Die Zeit. Auf Landesebene vor allem vom Bayerischen Rundfunk, der als einziges Medium Bayerns ein – wenngleich deutlich – größeres Korrespondentennetz unterhält als wir. Und im Kernverbreitungsgebiet vor allem den Münchner Merkur, der im ländlichen Raum stark ist, und den Boulevardzeitungen Abendzeitung, tz und Bild. In der digitalen Welt ist es umso sportlicher, aber auch spannend, unser Versprechen, mit lokalem Herz in die Welt hinauszublicken, jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden.
Und nach welcher Hierarchie-, womöglich gar Kommandostruktur agieren die verschiedenen Landes-, Lokal- und Regionalredaktionen da?
Heidenreich: Wir haben das gesamte Groß-Ressort in den vergangenen zwei Jahren komplett umstrukturiert, inklusive unserer neun Lokalredaktionen, um es angesichts von Etatkürzungen, Personalabbau und den Herausforderungen beim digitalen Wandel neu aufzustellen. Unsere Redakteurinnen und Redakteure müssen ja inzwischen Aufgaben stemmen, die noch vor wenigen Jahren gar nicht erfunden waren. Die digitale Aufbereitung ist zusätzliche Arbeit. Andererseits müssen sie sich nun weniger an der Konkurrenz wie etwa dem Münchner Merkur messen, der auf Kreisebene einfach breiter aufgestellt ist.
Mit welcher Folge?
Heidenreich: Dass wir nicht mehr auf jeder Gemeinderatssitzung präsent sein und die Sperrung jeder Sackgasse redaktionell begleiten müssen. Unsere Arbeit ist da eher themen- als ereignisorientiert.
Hofmann: Die Struktur ist dreigeteilt: die Bayern-Redaktion hat den Freistaat und die Landespolitik im Blick, die München-Redaktion kümmert sich um die das Geschehen in der Stadt und in der Region um diese herum sind wir in den Landkreisen Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg, Starnberg, Bad Tölz-Wolfratshausen und Freising plus Erding mit Redaktionen präsent. Hab‘ ich jetzt eine vergessen?
Heidenreich: Bloß nicht!
Hofmann: Ja, den Landkreis München, natürlich. Alle Landkreisredaktionen sind trotz verschieden hoher Auflagen eigenständige Einheiten unterm MRB-Dach, also nicht in einen Pool organisiert. Wer draußen ist, hat das eigene Berichtsgebiet besser im Blick als wir. Im digitalen Zeitalter ist es jedoch wichtig, dass Stories, die in Haar im Landkreis München spielen, so gedacht werden, dass sie theoretisch auch in Hamburg Interesse finden. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Baumarkt-Kater aus Starnberg.
Alkohol oder Tier?
Hofmann: Ein Katzenmännchen, das sich jeden Tag im Baumarkt rumtreibt und abends wieder heimgeht. Früher hätte die Geschichte nur Leute in Starnberg erreicht, jetzt hatte sie inzwischen mehr eine Million Zugriffe auf unserer Homepage. Das mag eine kuriose Schmonzette sein, aber ähnlich wie die erste bayerische Gemeinde mit gegenderten Ortsschildern sorgt sie überregional für Interesse. Wir können zwar nicht mehr alles 360 Grad covern, müssen uns aber auf das konzentrieren, was Interesse findet. Und dafür geben wir den Kolleginnen und Kollegen vor Ort alle Freiheit, die sie brauchen.
Also auch die, bei Interesse doch jede Gemeinderatssitzung oder Sackgassensperrung zu besuchen?
Hofmann: Da geben wir keine Richtlinien vor. Dafür sind die Landkreise viel zu unterschiedlich und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erfahren genug, um das selbst abzuwägen. Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit begrenzter Kapazität bei der Entscheidung für ein Thema im Zweifel gegen ein anderes entscheidet.
Heidenreich: Wobei die automatische Präsenzpflicht von früher schon deshalb nicht mehr nötig ist, weil wir die Print-Umfänge bei unserer Strukturreform reduziert haben. Das aus der Printlogik entstandene Konstrukt stand dem digitalen Wandel eher im Weg, als dass es ihn beförderte. Es brachte unsere Leute bei der Arbeitsbelastung an den Anschlag und entsprach nicht ihrem eigenen Anspruch. Durch starre Seiten-Vorgaben war die Redaktion gezwungen, Platz zu füllen, anstatt nach journalistischer Relevanz Inhalte auszuwählen. Durch diesen Zwang, lokalen Platz zu füllen, stand da mitunter nicht immer wirklich relevanter Stoff.
Hofmann: Na ja, nennen wir es mal „nicht so spannender“ (lacht).
Heidenreich: Wir haben vor unserer Reform eine Lesewertstudie gestartet und herausgefunden, dass solche Meldungen manchmal, nunja, äußerst niedrige Einschaltquoten haben. Für diese Resonanz nicht mehr ungeachtet journalistischer Relevanz Platz füllen zu müssen, ist für die Leute vor Ort eine Riesenentlastung.
Und wie viel Personal wurde dafür nun abgebaut?
Heidenreich: Das lässt sich nicht genau beziffern. Der Personalabbau betraf zum Beispiel Assistentinnen, die Tag für Tag Serviceseiten gefüllt haben – also ein Angebot, das sich im digitalen Zeitalter ebenfalls überholt hat. Für alle, die so etwas dennoch gern auf Papier möchten, bieten wir es halt nur noch ein, zweimal die Woche an.
Hofmann: Der personelle Abbau im Lokalen war anteilig zum Gesamthaus.
Heidenreich: Digital haben wir sogar Personal aufgebaut, weil die Nachfrage und Notwendigkeit massiv gewachsen ist.
Hofmann: Wir haben beispielsweise eine Kollegin für den Bereich Social Media. Es gibt auch jemand, der sich gezielt für die Suchmaschinen-Optimierung der Inhalte kümmert, die im Ressort entstehen. All das ist essenziell, um auf dem digitalen Marktplatz bestehen zu können. Diese Aufgaben und Stellen sind hinzugekommen.
Unterliegt Ihr Lokalteil eigentlich geringerem Selbstfinanzierungs-, also Rentabilitätsdruck als Konkurrenzblätter ohne derart lukrativen Mantel im Rücken?
Heidenreich: Die Frage klingt jetzt, als müsse uns der Mantel querfinanzieren… Wir erwirtschaften Erlöse dank unserer hohen Auflage im Kernverbreitungsbereich sogar auch noch durch gedruckte Werbung. Da kommt Einiges rein. Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie.
Hofmann: In einer prosperierenden Region wie München drängen außerdem gerade zur Weihnachtszeit erfreulich viele Unternehmen ins Werbegeschäft. Manchmal wird es dann mühsam, um die alle auf den Printseiten herum zu layouten.
Bringen solche Luxusprobleme auch mit sich, dass Ihre Lokalausgaben nicht den einen großen Werbepartner vieler Landkreise haben, über den sie besser nicht allzu kritisch berichtet, weil sein Verlust Riesenlöcher in den Etat reißen würde?
Hofmann: Natürlich gibt es große und wichtige Anzeigenkunden, aber um die kümmert sich die Anzeigenabteilung. Für unser Standing im Haus ist es sicher gut, dass das, was wir journalistisch bieten, auch einen ökonomischen Wert hat.
Heidenreich: Das ist die eine Seite. Um immer auf Augenhöhe zu sein, haben und fördern wir als Ressortleitung auch den redaktionsübergreifenden Personal-Austausch. Viele aus der Lokalredaktion wechseln in Mantel-Ressorts, umgekehrt geschieht dies auch, zuletzt zum Beispiel aus der Politik in den Bayern-Teil.
Ist das Bestandteil einer strukturellen Fluktuation?
Heidenreich: Natürlich gibt es in den Außenredaktionen Leute, die noch nicht in den großen Mantelressorts gearbeitet haben. Aber wir achten wirklich sehr drauf, dass unsere Leute auch für andere Ressorts schreiben – sei es als lokale Zulieferung von Geschichten in der Politik, sei es auf der Meinungsseite oder auch als eigene Geschichte auf der Seite Drei. Gerade zum Beispiel der Text mit dem hinreißenden Titel „Ein Mann für jeden Kuhfladen“ über Hubert Aiwanger, den bayerischen Wirtschaftsminister. Die Reportage haben unsere Bayern-Reporter Andreas Glas und Johann Osel gemeinsam mit Roman Deininger, dem SZ-Chefreporter, verfasst.
Hofmann: Deshalb hat natürlich die Kollegin Carolin Fries aus der Redaktion Starnberg über den ersten Corona-Fall in Deutschland geschrieben, der dort aufgetreten war. Sie hatte die Kontakte, sie hatte die Informationen – was brauchte sie da noch?!
Offene Türen!
Hofmann: Genau. Dabei hilft zum Beispiel, dass die langjährige Leiterin der Redaktion in Erding jetzt in dem Team ist, das sich um die Titelseite und das Thema des Tages, also die zweite Zeitungsseite, kümmert. Dafür kümmert sich die ehemalige stellvertretende Nachrichtenchefin jetzt um Wirtschaftsthemen im München-Teil, weil sie wieder mehr inhaltlich arbeiten wollte. Ein erfahrener Sportkollege hat die Chance ergriffen, Polizeireporter im München-Teil zu werden, der Kollege, der sich hier schon um Kirchen-, Schul- und Umweltthemen gekümmert hat, ist dagegen jetzt im Wissen-Ressort. Durchlässigkeit in beide Richtungen finde ich schon deshalb gut, weil Erfahrungsaustausch immer hilfreich ist.
Das klingt jetzt, mit Verlaub, fast ein bisschen zu harmonisch für eine Qualitätszeitung, in dem einige Ressorts bundesweit höchstes Ansehen genießen, die – wie zuletzt im Falle Nico Frieds oder Frederick Obermaiers – entsprechend Personal an Konkurrenten verloren haben…
Hofmann und Heidenreich: (beide lachen) Bundesweites Ansehen genießt übrigens auch der MRB-Teil, denn wir bestücken täglich eine Seite auch für die Fernausgabe in Print. Und auf der Homepage stehen unsere Texte sowieso.
Gibt es hier wirklich keine Form von Mantel-Dünkel, die wahrnehmbarere, preiswürdigere, weltbedeutendere Arbeit zu leisten als das tägliche Brot im Lokalen?
Heidenreich: Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssten Sie mal morgens an der Konferenz aller Ressorts teilnehmen; da herrscht gegenseitige Wertschätzung, also auch für die kreative und gut recherchierte Arbeit der Lokalredaktionen.
Hofmann: Und als Sportredakteur, der freiwillig ins Lokale geht, bin ich doch das beste Beispiel, dass dieser Dünkel nicht existiert. Wir beiden haben vorher die Wochenendausgabe im Mantel koordiniert.
Heidenreich: Ich habe zu viele Stationen in verschiedenen Medienhäusern in verschiedenen Städten hinter mir, um Vorbehalte zu haben. Umso mehr achten wir drauf, den Stempel des Seppltums lokaler Geschichten gar nicht erst zuzulassen. Außerdem versuchen wir – da sind wir als Lokalredaktion sogar echte Vorreiter – möglichst viele Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen.
Hofmann: Dennoch darf man diesen Wechsel ins Lokale durchaus als Signal verstehen, dass das Pendel in beide Richtungen und wieder zurückschwingen darf. Aber das kann man nicht verordnen, sondern nur fördern – etwa, indem wir uns eine Kollegin mit der Seite Drei auf einer doppelten Stelle teilen. Die Idee kam übrigens von der Chefredaktion und beugt Stockwerksdenken vor.
Also Großkopferte, die sich für was Besseres halten?
Heidenreich: Die Silberrücken am Konferenztisch sind definitiv seltener geworden in den letzten 15, 20 Jahren, und das ist auch gut so.
Hofmann: Ein Prozess, den das Zusammenwachsen der Print- und Onlineredaktion beschleunigt hat. Das war ein echter – ohne dass es sozialistisch klingen soll – Gleichmacher.
Heidenreich: Wir haben vor einem halben Jahr den Podcast München persönlich gegründet, der mit exakt der gleichen Akkuratesse gepflegt wird wie die politischen Podcasts.
Aber wie ist es denn auf der horizontalen Ebene vor Ort: treten Ihre Lokalredakteur:innen gegenüber Kolleg:innen kleinerer Zeitungen bei den angesprochenen Gemeinderatssitzungen nicht manchmal großkopfert auf, weil man schließlich von der prächtigen SZ kommt?
Heidenreich: Interessante Frage, aber auf dem platten Land ist die SZ manchmal verglichen mit der Lokalzeitung gar nicht so wichtig, denn wir berichten ja nicht mehr über jede kleine Pressemeldung eines dort möglicherweise gewichtigen Amtsinhabers.
Aber aufregend ist schon, wenn die Süddeutsche vorbeikommt, oder?
Heidenreich: Allein durch die Höhe der Auflage genießen wir da ein gewisses Ansehen, das stimmt. Aber wie gesagt: Wir befinden uns nicht im Wettlauf um die größtmögliche Präsenz, sondern pflegen das, was wir als SZ mit digitaler Expertise am besten können. „Leuchtturmprojekte“ hört sich womöglich zwar auch wieder von oben herab an, aber sie stehen für das, was uns auszeichnet. Deshalb haben wir für unsere Kolleginnen und Kollegen ohne Redaktionsschließungen, aber durch beispielsweise Seiten, die von zwei benachbarten Redaktionen gemeinsam erstellt und eingehängt werden, Freiräume geschaffen, die sie nun für digitale Projekte nutzen können.
Dennoch ist das Arbeiten im Lokalen mit einer hohen Taktung wie in der Politik doch ein anderes als, sagen wir: im Feuilleton oder Wissen…
Hofmann: Ich bin 2000 von der Journalistenschule als Sportredakteur zur Süddeutschen Zeitung gekommen, und einmal im Jahr gab es die Redaktionsvollversammlung, wo immer die Klage geführt wurde, dass die Arbeitsbelastung im Lokalen so hoch sei. Das hab‘ ich mir ungefähr zehn Jahre lang angehört und meinte dann, im Sport ist die Arbeitsbelastung fast jeden Tag oft bis tief in den Abend genauso hoch.
Zuzüglich Wochenenden.
Hofmann: Jede Redaktion hat halt ihre Herausforderungen. Denken Sie an die Ministerpräsidenten-Konferenzen der Corona-Krise, wo das Politikressort bis spätnachts am Platz war. Weil wir jedoch gemerkt haben, dass diese Arbeitsbedingungen unsere eifrigsten Leute ausbrennen, haben wir in den letzten zwei Jahren gezielt darauf hingewirkt, sie – etwa durch Teilzeitmodelle und Freizeitausgleich – beherrschbar zu machen.
Mithilfe der ominösen Work-Life-Balance?
Hofmann: Ja, denn im Wettbewerb um die besten Köpfe müssen wir ihre Arbeit konkurrenzfähig organisieren. Dazu gehört allerdings auch, dass unsere Autorinnen und Autoren sich für ihre Geschichten die Zeit nehmen, die sie brauchen; nur dann sorgen sie auch im Digitalen für Zuspruch. Seit der thematische Vollversorgungsanspruch im Lokalen Geschichte ist, garantieren wir lieber, große Geschichten groß, wichtige Geschichten schnell und schöne Geschichten schön zu erzählen. Die Leute erwarten von uns gutes Story-Telling.
Alle Leute oder nur jüngere, während ältere noch etwas mehr am chronistenpflichtigen Lokaljournalismus früherer Jahre hängen?
Heidenreich: Alle, die auch alle von den Lesegewohnheiten der jeweils anderen profitieren.
Hofmann: Wenn wir, was unser Ziel ist, neue Leserschichten erschließen wollen, müssen wir diesen Weg gehen. Mit der Stadt hat sich ja auch ihr Umland radikal gewandelt. Weil Jahr für Jahr Zehntausende Menschen nach München ziehen, nimmt die durchschnittliche Verwurzelung ab. Dass jemand 30, 40, 50 Jahre in Feldkirchen wohnt, kommt inzwischen seltener vor, und dieser Fluktuation müssen wir gerecht werden.
Heidenreich: Weil sich die Lebens- und Arbeitswelten gewandelt haben, bilden wir sie seit langem schon urbaner ab, wozu auch gehört, das, was wir können, digital und analog gleichwertig zu verbreiten. Dafür wollen wir im Regional-Bereich auch eine Investigativ-Abteilung aufbauen, denn damit können wir dank unseres Ansehens ebenso punkten wie zum Beispiel in den Bereichen Gastronomie und Kulturberichterstattung.
Hofmann: Viele der Münchnerinnen und Münchner sind nicht mehr hier geboren, weniger als die Hälfte sind inzwischen in keiner kirchlichen Konfession mehr organisiert. Auf sowas muss man journalistisch eingehen.
Ohne die anderen 50 Prozent zu verschrecken.
Hofmann: Ja, wobei diejenigen, die wir schon haben, wahnsinnig treu sind und uns größtenteils durch alle Neuerungen folgen. Das hätte ich vorher nicht gedacht und das gibt uns viele Freiheiten, weniger verwurzelte Zielgruppen – etwa durchs Digitale oder Podcasts – zu gewinnen, um nicht hinter den Stand anderer Redaktionen zurückzufallen.
Wie sehr sind Sie beide denn in München verwurzelt?
Heidenreich: Ich bin in Bayern geboren, habe 1985 bei der Neuen Passauer Presse volontiert und arbeite seit 1996 bei der SZ, bin zwischendurch aber von Italien über Norddeutschland bis Ost-Berlin gut rumgekommen und spreche nicht mal Dialekt, wie Sie hören. Nach meiner Zeit im Politikressort und als Wochenendkoordinatorin wollte ich daher eigentlich auch gar nicht mehr unbedingt zurück ins Lokale, fühle mich hier jetzt aber sehr wohl.
Hofmann: Als Schüler habe ich bereits im Sublokalen der Würzburger Main-Post gearbeitet und kam 1995 an die Journalistenschule nach München, bin hier klassisch hängengeblieben, dann aber durch Themen wie Formel 1 oder Olympische Spiele ebenfalls viel rumgekommen.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht als Regional-Chefs denn da, dass Ihre Autorinnen und Autoren im eigenen Arbeitsumfeld verwurzelt sind?
Heidenreich: Man sollte die Leute schon kennen und auch ein bisschen mögen; das gilt ja in gewisser Weise auch umgekehrt. In München sind René und ich vermutlich bekannter als die Mantel-Chefredaktion und müssen uns entsprechend öfter mal sehen lassen. Deshalb war ich gestern auf der Gedächtnisveranstaltung mit Frank-Walter Steinmeier für die Weiße Rose und René beim Jahresempfang der Grünen.
Um zu berichten oder zu repräsentieren?
Heidenreich: Teils, teils, aber wenn wir irgendwo auftauchen, dann immer auch als Repräsentanten der SZ.
Könnte ein hervorragender Journalist aus Berlin oder Saarbrücken ohne Vorkenntnisse und Wurzeln über und aus Erding berichten?
Heidenreich: Klar, sofern er die Leute verstehen will und es auch kann. Buchstäblich! Denn obwohl ich selbst aus Bayern komme, war ich schon mal in Außenredaktionen und habe den harten Dialekt der Leute dort kaum verstanden (lacht).
Hofmann: Auch deshalb schickt die SZ all ihre Volontäre zum Lackmus-Test in die Landkreise, da gibt es dann beiderseits wundervolle Erfahrungen zu machen. Am Ende hängt es zwar immer vom Einzelnen ab, aber der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis ist Commitment mit der Region, den Menschen, ihren Themen.
Und wer sind dabei als Lokalteil Ihre Hauptkonkurrenten – kleine Kreiszeitungen, größere Regionalblätter, die Bild?
Heidenreich: Wir beobachten alles. Wenn wir zur Arbeit kommen, hat der MRB-Desk daher schon die erste Auswertung bayerischer Medien erstellt – aber nicht nur, um zu wissen, was die Konkurrenz macht, sondern um nachfolgende Berichterstattungen oder eventuell Kampagnen zu erspüren.
Hofmann: Wobei zur Konkurrenz nicht nur klassische Medien, sondern auch digitale zählen wie muenchen.de oder Instagram-Accounts, die besonders im Servicebereich interessante Sachen machen. Weil die wirtschaftliche Ausrichtung bei der Geschäftsführung liegt, sind wir dabei aber stets inhaltlich getrieben, also aus journalistischer Neugier. Unser Selbstbewusstsein ist groß genug, um zu sagen, dann setzen wir halt eigene Geschichten als andere weiterzuspinnen. Schon weil es nicht viele Quer-Leser gibt, die bei Bedarf eben eine andere Zeitung aus den stummen Verkäufern ziehen.
In denen Sie aber auch gar nicht immer liegen, oder? Am Bahnhof Berg am Laim jedenfalls gab es kein SZ-Fach…
Hofmann: Ausverkauft! (lacht) Wie immer!
Heidenreich: Wir überlegen noch, wie wir damit umgehen, dass die Zeit der so genannten Stummen Verkäufer zuende geht. Auch die Zeit der Abendverkäufer, die abends durch die Bars und Restaurants gingen und Charles Schumann ihn gleich mal fünf Exemplare abgekauft hat, ist vorbei. Denn das hat sich leider alles nicht mehr rentiert.
Hofmann: Die Herausforderung unserer Marke an diesem Ort besteht deshalb darin, sie trotz Digitalisierung sichtbar im Ortsbild zu halten. Früher funktionierte das über Leser mit Zeitung in der Tram oder Studierenden-Abos. Heute werden wir zwar von mehr Menschen als früher gelesen, aber auf dem Smartphone bleibt es halt unauffällig.
Und wie lautet der Ausweg?
Hofmann: Fahrgastfernsehen zum Beispiel in der Trambahn, in Bussen oder der S-Bahn, wo die Süddeutsche Zeitung – wie auch der BR – Nachrichten präsentiert. Oder auch Kulturveranstaltungen, mit denen wir uns im Gespräch halten.
Trauern Sie der Nostalgie sichtbarer Zeitungen und Abendverkäufer nach?
Heidenreich: Ach, wer wie ich mit Print groß geworden ist, hat da doch ständig nostalgische Gefühle.
Hofmann: Aber wenn du abends spät auf einem Termin warst und morgens früh siehst, wie viele Menschen den Text gelesen haben, oder wenn bei Instagram zu deiner Glosse über Wiesen-Plakate die Herzchen nur so aufploppen – das sind neue Freuden, die den Verlust der alten mindestens kompensieren.
Aber auch die Gefahr des Click-Baitings mit sich bringen, also Resonanz um der Resonanz willen…
Heidenreich: Das ist wie überall Teil einer permanenten Diskussion im Haus. Unser Grundsatz lautet da: Wir orientieren uns an Zahlen, machen uns aber nicht zu ihren Sklaven.
Hofmann: Wir alle hier, mich eingeschlossen, freuen uns doch, wenn unsere Inhalte goutiert werden. Aber wir alle haben auch einen inneren Kompass, Qualität von Quantität zu unterscheiden. Wichtig ist, dass das Bedeutsame auf jedem SZ-Kanal ausgespielt wird, wofür wir uns – auch wenn Ihnen das vielleicht wieder zu schön, um wahr zu sein klingt – dann entsprechend gemeinsam verantwortlich fühlen.
Und wofür fühlen sich alle hier in, sagen wir: zehn Jahren gemeinsam verantwortlich – die letzte große regionale Tageszeitung im Konkurrenzkampf mit ein paar Redaktionsgemeinschaften und Social Media?
Heidenreich: Untersuchungen in dieser Richtung führen regelmäßig zum Ergebnis, dass große Häuser wie die Süddeutsche bleiben, kleinere eher nicht. Aber um zu wissen, woran wir sind, wollen wir nun gemeinsam mit der Chefredaktion eine Perspektive für München-Region-Bayern 2030 erarbeiten. Denn am Ende ist alles davon abhängig. Auch, wohin jetzt schon Personal und Etats verschoben werden.
Hofmann: Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter. Aber im Moment steht unsere Zeitung sehr solide auf ihren zwei Standbeinen.
Und bleiben sie mittelfristig beim lokalen Standbein?
Heidenreich: Bislang habe ich im Berufsleben in regelmäßigen Abständen mein Themengebiet und die Ressorts gewechselt und empfehle das auch anderen, weil es einem selbst und dem jeweiligen Medium guttut. Weil mein Job hier als Ressortleiterin aber mit unglaublich viel Personal verbunden ist, etwaeinem Viertel der SZ-Belegschaft, und man alle gut kennen muss, um eine sinnvolle Personalpolitik mit entsprechendem journalistischen Output zu leisten, könnte es für mich hier aber auch ein bisschen länger dauern.
Hofmann: Als ich hier angefangen habe, hatte ich das Lokale kaum auf dem Schirm. Aber in den vier Jahren habe ich darin und davon so viel gelernt, dass ich die ganze Welt tagtäglich im Kleinen spannend genug finde, um damit weiterzumachen. Der Rennfahrer Gerhard Berger meinte mal, in der Formel 1 erlebe man in fünf Jahren so viel wie andere im Leben. Dieses Gefühl habe ich hier manchmal auch.
Ulrike Heidenreich (*64), René Hofmann (*74)
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Interview: Jan Freitag
Frau Heidenreich, Herr Hofmann – Sie leiten die Gemeinschaftsredaktion München-Region-Bayern der Süddeutschen Zeitung in einer Epoche voll globaler Krisen von Krieg übers Klima bis Inflation mit unmittelbarer Auswirkung aufs Lokale. Welche hat es auf die Berichterstattung im Weltdorf München und Umgebung?
Ulrike Heidenreich: Wie früher eigentlich: Das Kleine im Großen zu finden. Erst dieses Herunterbrechen vom Globalen, Nationalen aufs Regionale macht Lokaljournalismus interessant.
Und wird durch digitale, überall verfügbare Informationen in Echtzeit noch interessanter?
René Hofmann: Dadurch können fast alle Weltlagen im Lokalen Thema werden. Bestes Beispiel ist das Erdbeben in der Türkei und Syrien. Fliegen auch bayerische Helfer und Helferinnen dorthin? Wie geht die türkische und syrische Community bei uns damit um? Was ist am Münchner Flughafen los? Wie beim Krieg in der Ukraine hat so eine Katastrophe sehr direkte Auswirkungen auf unser Einzugsgebiet.
Heidenreich: Mir fiele jetzt auch keine einzige gesellschaftliche, politische Großwetterlage mehr ohne Einfluss auf uns hier ein.
Hofmann: Bei der man sich zurücklehnen könnte und denken, lass das mal andre verhandeln.
Hat sich also nur die Quantität heruntergebrochener Großwetterlagen verändert oder auch ihre Qualität, also die Art, sie lokal zu thematisieren?
Heidenreich: Inhaltlich hat sich in jedem Fall verändert, dass auch lokale Themen ferner Regionen überregional relevant werden, die man jetzt direkter ansprechen kann. Kürzlich zum Beispiel wurde ja über ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem auf 800 Einwohner 700 Geflüchtete kommen, berichtet. Da habe ich mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Bayern-Reporterin vor gut zehn Jahren aus der Nähe von Deggendorf erinnert, wo das Verhältnis noch deutlicher war. Es waren 900 Einwohner in dem Dorf und über 1000 Geflüchtete.
Und haben es für eine aktuelle Berichterstattung aufgegriffen?
Heidenreich: Die Geflüchteten sind inzwischen alle fortgezogen. Aber schon damals konnte man daran alle Probleme aufzeigen, die sich im politischen und sozialen Miteinander ergeben, von der praktischen Versorgungslage bis zur inneren Haltung. Das hat eine Wucht, mit der man menschlich, aber auch publizistisch viel in Bewegung setzen kann.
Hofmann: Ein anderes Beispiel, Geschichten abseits vom großen Radar weiterzuerzählen, ist unsere Kolumne „Typisch Deutsch“, wo ein Kollege im Herbst 2015 zunächst geflohene Journalisten darum gebeten hat, ihren Blick auf uns in der SZ darzustellen.
Heidenreich: Damals waren es vor allem syrische und nigerianische Kollegen, jetzt ist es auch eine ukrainische Kollegin, die eine ähnliche Kolumne hat.
Hofmann: Und das funktioniert schon deshalb wunderbar, weil es nicht nur Einblicke in deren Lebenswelten gewährt, sondern auch solche zurück auf uns, wie diese ehemaligen Neuankömmlinge Phänomene vom Oktoberfest bis zum Gassigehen also wahrnehmen.
Heidenreich: Wenn der syrische Kollege eine Stilkritik über den Verzehr von Schweinebraten mit Knödeln schreibt, ist das ja nicht nur informativ und unterhaltsam, sondern manchmal auch auf lustige Art entlarvend.
Hofmann: Das hilft besonders in den Landkreisen sehr dabei, zu zeigen, dass diese Menschen nicht nur gekommen, sondern geblieben sind.
Und wie findet das die lokale Kundschaft ländlicher Verbreitungsgebiete, die womöglich in ihrer Welt ein bisschen verkapselter und damit konservativer sind?
Hofmann: Weil SZ-Leserinnen und -Leser generell eine gewisse Offenheit mitbringen, ist die Resonanz grundsätzlich positiv, aber klar gibt es auch – nennen wir es mal: Verwunderung.
Heidenreich: Die meisten unserer lokalen Leserinnen und Leser verstehen das ironische Augenzwinkern solcher Geschichten schon. Sie wissen ja, warum sie die SZ abonniert haben und was sie mit ihr bekommen.
Und verspüren Sie beim Rest eine Art Erziehungsauftrag, ihm die Weite der Welt jenseits von Ober- und Niederbayern zu erklären?
Heidenreich: Erziehungsauftrag, oh je. Wer will als Erwachsener schon erzogen werden…
Hofmann: Damit muss man sehr aufpassen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie fein die Antennen vieler Leserinnen und Leser sind, sobald wir versuchen, sie in irgendeine Richtung zu informieren, die als gewünscht empfunden werden könnte. Das hat unsere Objektivität noch gewissenhafter gemacht.
Heidenreich: Wir bilden nicht, wir bilden ab.
Auch, um es sich mit seiner zahlenden Kundschaft in Zeiten sinkender Abo-Erlöse und Kiosk-Verkäufe nicht zu verscherzen?
Heidenreich: Nicht, was die inhaltliche Berichterstattung betrifft. Wo wir auf sie zugehen, ist allenfalls die Art, wie wir mit unseren Leserinnen und Lesern in Dialog treten. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern das ganze Haus. Ich war vorher in der Politik-Redaktion, René lange Sportreporter – seither sind wir hier wie dort verantwortungsbewusster beim Austausch mit unserem Publikum geworden.
Was sich worin zeigt?
Heidenreich: Dass wir oder die Social-Media-Abteilung Zuschriften oder Kommentare noch gewissenhafter und intensiver beantworten als früher.
Hofmann: Und dabei zu erklären, warum wir diesen oder jenen Zugang so und nicht anders gewählt haben. Da geht es nicht um Inhaltskorrektur, sondern um Transparenz.
Heidenreich: Runter von dieser unerreichbaren Elfenbeinturmspitze, aus der Redaktionen die Welt erklärt haben, ohne Rückfragen zuzulassen. Das gibt es schon lange nicht mehr.
Hofmann: Dieses selbstkritische Herangehen wird geschätzt, aber das wichtigste bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der Sache an sich, also den Berichtsgegenständen. Deshalb ist das Feedback der Leserinnen und Leser auch eher positiv als negativ. Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix.
Aber mit anteilnehmendem, interaktivem Journalismus. Geht der bei Ihnen auch Richtung Twitter-Charts oder Leserinnen-Kolumnen, um die Kundschaft redaktionell einzubinden?
Heidenreich: Wir arbeiten natürlich mit Dashboards, erkennen, wenn Geschichten von sehr großem Interesse sind, und legen dann vielleicht noch ein paar Geschichten und Longreads zu dem Thema nach. Aber am Produktionsprozess beteiligen wir die Leute nicht. Schließlich haben wir die gleichen journalistischen Grundsätze und Qualitätsanforderungen wie das gesamte Haus.
Zugleich wünschen sich die Menschen, was vielfach gepanelt wird, vom Lokaljournalismus Nähe und Geborgenheit. Fällt das einer überregionalen Zeitung wie der Süddeutschen, deren Fokus anders als bei Regionalblättern weit über den Tellerrand der Landkreise hinausgeht, schwerer?
Heidenreich: Wir machen da idealerweise gar keinen Unterschied zwischen SZ im Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen. Alle Standbeine sind absolut gleichwertig und das Lokale und Regionale ist schon allein deshalb nicht weniger bedeutend, weil es vom Personal her das größte Ressort bei der SZ ist. Diese Gleichwertigkeit findet sich auch im Redaktionsstatut, dem Wertepapier des Redaktionsausschusses, dem publizistischen Kompass der Chefredaktion wieder. Die journalistischen Qualitätsansprüche sind – auch im Digitalen – identisch.
Hofmann: Wir wollen im Lokalen das Gleiche beherrschen wie überregional, also alle Stilformen von der Härte des Investigativen übers Packende der Reportage bis hin zum Leichten des Streiflichts beherrschen und nutzen. Gäbe es qualitativ und stilistisch von Ressort zu Ressort Unterschiede, dann würden die Leserinnen und Leser das schon deshalb seltsam finden, weil auf der Homepage alles nebeneinander zu finden ist. Je näher man München kommt, desto eher wird, glaube ich, ein gewisser SZ-Sound erwartet, aber das Gefühl dafür ist in allen Regionen ähnlich.
Erhebt die Süddeutsche, ob ihre Leser:innen sie eher wegen oder trotz der Lokalberichterstattung kaufen?
Heidenreich: Natürlich [blättert in Papieren]. Laut Marktforschungen ist der MRB-Teil, also die Ressorts München/Region/Bayern, die wir leiten, neben dem Politik-Teil der beliebteste der SZ. Als einzige überregionale Zeitung in Deutschland mit relevanter Regionalberichterstattung haben wir da ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Hofmann: Das allerdings auch Herausforderungen mit sich bringt, denn wir haben gleich von drei Seiten Konkurrenz: Auf Bundesebene von FAZ, taz und Welt, aber auch den Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Die Zeit. Auf Landesebene vor allem vom Bayerischen Rundfunk, der als einziges Medium Bayerns ein – wenngleich deutlich – größeres Korrespondentennetz unterhält als wir. Und im Kernverbreitungsgebiet vor allem den Münchner Merkur, der im ländlichen Raum stark ist, und den Boulevardzeitungen Abendzeitung, tz und Bild. In der digitalen Welt ist es umso sportlicher, aber auch spannend, unser Versprechen, mit lokalem Herz in die Welt hinauszublicken, jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden.
Und nach welcher Hierarchie-, womöglich gar Kommandostruktur agieren die verschiedenen Landes-, Lokal- und Regionalredaktionen da?
Heidenreich: Wir haben das gesamte Groß-Ressort in den vergangenen zwei Jahren komplett umstrukturiert, inklusive unserer neun Lokalredaktionen, um es angesichts von Etatkürzungen, Personalabbau und den Herausforderungen beim digitalen Wandel neu aufzustellen. Unsere Redakteurinnen und Redakteure müssen ja inzwischen Aufgaben stemmen, die noch vor wenigen Jahren gar nicht erfunden waren. Die digitale Aufbereitung ist zusätzliche Arbeit. Andererseits müssen sie sich nun weniger an der Konkurrenz wie etwa dem Münchner Merkur messen, der auf Kreisebene einfach breiter aufgestellt ist.
Mit welcher Folge?
Heidenreich: Dass wir nicht mehr auf jeder Gemeinderatssitzung präsent sein und die Sperrung jeder Sackgasse redaktionell begleiten müssen. Unsere Arbeit ist da eher themen- als ereignisorientiert.
Hofmann: Die Struktur ist dreigeteilt: die Bayern-Redaktion hat den Freistaat und die Landespolitik im Blick, die München-Redaktion kümmert sich um die das Geschehen in der Stadt und in der Region um diese herum sind wir in den Landkreisen Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg, Starnberg, Bad Tölz-Wolfratshausen und Freising plus Erding mit Redaktionen präsent. Hab‘ ich jetzt eine vergessen?
Heidenreich: Bloß nicht!
Hofmann: Ja, den Landkreis München, natürlich. Alle Landkreisredaktionen sind trotz verschieden hoher Auflagen eigenständige Einheiten unterm MRB-Dach, also nicht in einen Pool organisiert. Wer draußen ist, hat das eigene Berichtsgebiet besser im Blick als wir. Im digitalen Zeitalter ist es jedoch wichtig, dass Stories, die in Haar im Landkreis München spielen, so gedacht werden, dass sie theoretisch auch in Hamburg Interesse finden. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Baumarkt-Kater aus Starnberg.
Alkohol oder Tier?
Hofmann: Ein Katzenmännchen, das sich jeden Tag im Baumarkt rumtreibt und abends wieder heimgeht. Früher hätte die Geschichte nur Leute in Starnberg erreicht, jetzt hatte sie inzwischen mehr eine Million Zugriffe auf unserer Homepage. Das mag eine kuriose Schmonzette sein, aber ähnlich wie die erste bayerische Gemeinde mit gegenderten Ortsschildern sorgt sie überregional für Interesse. Wir können zwar nicht mehr alles 360 Grad covern, müssen uns aber auf das konzentrieren, was Interesse findet. Und dafür geben wir den Kolleginnen und Kollegen vor Ort alle Freiheit, die sie brauchen.
Also auch die, bei Interesse doch jede Gemeinderatssitzung oder Sackgassensperrung zu besuchen?
Hofmann: Da geben wir keine Richtlinien vor. Dafür sind die Landkreise viel zu unterschiedlich und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erfahren genug, um das selbst abzuwägen. Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit begrenzter Kapazität bei der Entscheidung für ein Thema im Zweifel gegen ein anderes entscheidet.
Heidenreich: Wobei die automatische Präsenzpflicht von früher schon deshalb nicht mehr nötig ist, weil wir die Print-Umfänge bei unserer Strukturreform reduziert haben. Das aus der Printlogik entstandene Konstrukt stand dem digitalen Wandel eher im Weg, als dass es ihn beförderte. Es brachte unsere Leute bei der Arbeitsbelastung an den Anschlag und entsprach nicht ihrem eigenen Anspruch. Durch starre Seiten-Vorgaben war die Redaktion gezwungen, Platz zu füllen, anstatt nach journalistischer Relevanz Inhalte auszuwählen. Durch diesen Zwang, lokalen Platz zu füllen, stand da mitunter nicht immer wirklich relevanter Stoff.
Hofmann: Na ja, nennen wir es mal „nicht so spannender“ (lacht).
Heidenreich: Wir haben vor unserer Reform eine Lesewertstudie gestartet und herausgefunden, dass solche Meldungen manchmal, nunja, äußerst niedrige Einschaltquoten haben. Für diese Resonanz nicht mehr ungeachtet journalistischer Relevanz Platz füllen zu müssen, ist für die Leute vor Ort eine Riesenentlastung.
Und wie viel Personal wurde dafür nun abgebaut?
Heidenreich: Das lässt sich nicht genau beziffern. Der Personalabbau betraf zum Beispiel Assistentinnen, die Tag für Tag Serviceseiten gefüllt haben – also ein Angebot, das sich im digitalen Zeitalter ebenfalls überholt hat. Für alle, die so etwas dennoch gern auf Papier möchten, bieten wir es halt nur noch ein, zweimal die Woche an.
Hofmann: Der personelle Abbau im Lokalen war anteilig zum Gesamthaus.
Heidenreich: Digital haben wir sogar Personal aufgebaut, weil die Nachfrage und Notwendigkeit massiv gewachsen ist.
Hofmann: Wir haben beispielsweise eine Kollegin für den Bereich Social Media. Es gibt auch jemand, der sich gezielt für die Suchmaschinen-Optimierung der Inhalte kümmert, die im Ressort entstehen. All das ist essenziell, um auf dem digitalen Marktplatz bestehen zu können. Diese Aufgaben und Stellen sind hinzugekommen.
Unterliegt Ihr Lokalteil eigentlich geringerem Selbstfinanzierungs-, also Rentabilitätsdruck als Konkurrenzblätter ohne derart lukrativen Mantel im Rücken?
Heidenreich: Die Frage klingt jetzt, als müsse uns der Mantel querfinanzieren… Wir erwirtschaften Erlöse dank unserer hohen Auflage im Kernverbreitungsbereich sogar auch noch durch gedruckte Werbung. Da kommt Einiges rein. Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie.
Hofmann: In einer prosperierenden Region wie München drängen außerdem gerade zur Weihnachtszeit erfreulich viele Unternehmen ins Werbegeschäft. Manchmal wird es dann mühsam, um die alle auf den Printseiten herum zu layouten.
Bringen solche Luxusprobleme auch mit sich, dass Ihre Lokalausgaben nicht den einen großen Werbepartner vieler Landkreise haben, über den sie besser nicht allzu kritisch berichtet, weil sein Verlust Riesenlöcher in den Etat reißen würde?
Hofmann: Natürlich gibt es große und wichtige Anzeigenkunden, aber um die kümmert sich die Anzeigenabteilung. Für unser Standing im Haus ist es sicher gut, dass das, was wir journalistisch bieten, auch einen ökonomischen Wert hat.
Heidenreich: Das ist die eine Seite. Um immer auf Augenhöhe zu sein, haben und fördern wir als Ressortleitung auch den redaktionsübergreifenden Personal-Austausch. Viele aus der Lokalredaktion wechseln in Mantel-Ressorts, umgekehrt geschieht dies auch, zuletzt zum Beispiel aus der Politik in den Bayern-Teil.
Ist das Bestandteil einer strukturellen Fluktuation?
Heidenreich: Natürlich gibt es in den Außenredaktionen Leute, die noch nicht in den großen Mantelressorts gearbeitet haben. Aber wir achten wirklich sehr drauf, dass unsere Leute auch für andere Ressorts schreiben – sei es als lokale Zulieferung von Geschichten in der Politik, sei es auf der Meinungsseite oder auch als eigene Geschichte auf der Seite Drei. Gerade zum Beispiel der Text mit dem hinreißenden Titel „Ein Mann für jeden Kuhfladen“ über Hubert Aiwanger, den bayerischen Wirtschaftsminister. Die Reportage haben unsere Bayern-Reporter Andreas Glas und Johann Osel gemeinsam mit Roman Deininger, dem SZ-Chefreporter, verfasst.
Hofmann: Deshalb hat natürlich die Kollegin Carolin Fries aus der Redaktion Starnberg über den ersten Corona-Fall in Deutschland geschrieben, der dort aufgetreten war. Sie hatte die Kontakte, sie hatte die Informationen – was brauchte sie da noch?!
Offene Türen!
Hofmann: Genau. Dabei hilft zum Beispiel, dass die langjährige Leiterin der Redaktion in Erding jetzt in dem Team ist, das sich um die Titelseite und das Thema des Tages, also die zweite Zeitungsseite, kümmert. Dafür kümmert sich die ehemalige stellvertretende Nachrichtenchefin jetzt um Wirtschaftsthemen im München-Teil, weil sie wieder mehr inhaltlich arbeiten wollte. Ein erfahrener Sportkollege hat die Chance ergriffen, Polizeireporter im München-Teil zu werden, der Kollege, der sich hier schon um Kirchen-, Schul- und Umweltthemen gekümmert hat, ist dagegen jetzt im Wissen-Ressort. Durchlässigkeit in beide Richtungen finde ich schon deshalb gut, weil Erfahrungsaustausch immer hilfreich ist.
Das klingt jetzt, mit Verlaub, fast ein bisschen zu harmonisch für eine Qualitätszeitung, in dem einige Ressorts bundesweit höchstes Ansehen genießen, die – wie zuletzt im Falle Nico Frieds oder Frederick Obermaiers – entsprechend Personal an Konkurrenten verloren haben…
Hofmann und Heidenreich: (beide lachen) Bundesweites Ansehen genießt übrigens auch der MRB-Teil, denn wir bestücken täglich eine Seite auch für die Fernausgabe in Print. Und auf der Homepage stehen unsere Texte sowieso.
Gibt es hier wirklich keine Form von Mantel-Dünkel, die wahrnehmbarere, preiswürdigere, weltbedeutendere Arbeit zu leisten als das tägliche Brot im Lokalen?
Heidenreich: Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssten Sie mal morgens an der Konferenz aller Ressorts teilnehmen; da herrscht gegenseitige Wertschätzung, also auch für die kreative und gut recherchierte Arbeit der Lokalredaktionen.
Hofmann: Und als Sportredakteur, der freiwillig ins Lokale geht, bin ich doch das beste Beispiel, dass dieser Dünkel nicht existiert. Wir beiden haben vorher die Wochenendausgabe im Mantel koordiniert.
Heidenreich: Ich habe zu viele Stationen in verschiedenen Medienhäusern in verschiedenen Städten hinter mir, um Vorbehalte zu haben. Umso mehr achten wir drauf, den Stempel des Seppltums lokaler Geschichten gar nicht erst zuzulassen. Außerdem versuchen wir – da sind wir als Lokalredaktion sogar echte Vorreiter – möglichst viele Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen.
Hofmann: Dennoch darf man diesen Wechsel ins Lokale durchaus als Signal verstehen, dass das Pendel in beide Richtungen und wieder zurückschwingen darf. Aber das kann man nicht verordnen, sondern nur fördern – etwa, indem wir uns eine Kollegin mit der Seite Drei auf einer doppelten Stelle teilen. Die Idee kam übrigens von der Chefredaktion und beugt Stockwerksdenken vor.
Also Großkopferte, die sich für was Besseres halten?
Heidenreich: Die Silberrücken am Konferenztisch sind definitiv seltener geworden in den letzten 15, 20 Jahren, und das ist auch gut so.
Hofmann: Ein Prozess, den das Zusammenwachsen der Print- und Onlineredaktion beschleunigt hat. Das war ein echter – ohne dass es sozialistisch klingen soll – Gleichmacher.
Heidenreich: Wir haben vor einem halben Jahr den Podcast München persönlich gegründet, der mit exakt der gleichen Akkuratesse gepflegt wird wie die politischen Podcasts.
Aber wie ist es denn auf der horizontalen Ebene vor Ort: treten Ihre Lokalredakteur:innen gegenüber Kolleg:innen kleinerer Zeitungen bei den angesprochenen Gemeinderatssitzungen nicht manchmal großkopfert auf, weil man schließlich von der prächtigen SZ kommt?
Heidenreich: Interessante Frage, aber auf dem platten Land ist die SZ manchmal verglichen mit der Lokalzeitung gar nicht so wichtig, denn wir berichten ja nicht mehr über jede kleine Pressemeldung eines dort möglicherweise gewichtigen Amtsinhabers.
Aber aufregend ist schon, wenn die Süddeutsche vorbeikommt, oder?
Heidenreich: Allein durch die Höhe der Auflage genießen wir da ein gewisses Ansehen, das stimmt. Aber wie gesagt: Wir befinden uns nicht im Wettlauf um die größtmögliche Präsenz, sondern pflegen das, was wir als SZ mit digitaler Expertise am besten können. „Leuchtturmprojekte“ hört sich womöglich zwar auch wieder von oben herab an, aber sie stehen für das, was uns auszeichnet. Deshalb haben wir für unsere Kolleginnen und Kollegen ohne Redaktionsschließungen, aber durch beispielsweise Seiten, die von zwei benachbarten Redaktionen gemeinsam erstellt und eingehängt werden, Freiräume geschaffen, die sie nun für digitale Projekte nutzen können.
Dennoch ist das Arbeiten im Lokalen mit einer hohen Taktung wie in der Politik doch ein anderes als, sagen wir: im Feuilleton oder Wissen…
Hofmann: Ich bin 2000 von der Journalistenschule als Sportredakteur zur Süddeutschen Zeitung gekommen, und einmal im Jahr gab es die Redaktionsvollversammlung, wo immer die Klage geführt wurde, dass die Arbeitsbelastung im Lokalen so hoch sei. Das hab‘ ich mir ungefähr zehn Jahre lang angehört und meinte dann, im Sport ist die Arbeitsbelastung fast jeden Tag oft bis tief in den Abend genauso hoch.
Zuzüglich Wochenenden.
Hofmann: Jede Redaktion hat halt ihre Herausforderungen. Denken Sie an die Ministerpräsidenten-Konferenzen der Corona-Krise, wo das Politikressort bis spätnachts am Platz war. Weil wir jedoch gemerkt haben, dass diese Arbeitsbedingungen unsere eifrigsten Leute ausbrennen, haben wir in den letzten zwei Jahren gezielt darauf hingewirkt, sie – etwa durch Teilzeitmodelle und Freizeitausgleich – beherrschbar zu machen.
Mithilfe der ominösen Work-Life-Balance?
Hofmann: Ja, denn im Wettbewerb um die besten Köpfe müssen wir ihre Arbeit konkurrenzfähig organisieren. Dazu gehört allerdings auch, dass unsere Autorinnen und Autoren sich für ihre Geschichten die Zeit nehmen, die sie brauchen; nur dann sorgen sie auch im Digitalen für Zuspruch. Seit der thematische Vollversorgungsanspruch im Lokalen Geschichte ist, garantieren wir lieber, große Geschichten groß, wichtige Geschichten schnell und schöne Geschichten schön zu erzählen. Die Leute erwarten von uns gutes Story-Telling.
Alle Leute oder nur jüngere, während ältere noch etwas mehr am chronistenpflichtigen Lokaljournalismus früherer Jahre hängen?
Heidenreich: Alle, die auch alle von den Lesegewohnheiten der jeweils anderen profitieren.
Hofmann: Wenn wir, was unser Ziel ist, neue Leserschichten erschließen wollen, müssen wir diesen Weg gehen. Mit der Stadt hat sich ja auch ihr Umland radikal gewandelt. Weil Jahr für Jahr Zehntausende Menschen nach München ziehen, nimmt die durchschnittliche Verwurzelung ab. Dass jemand 30, 40, 50 Jahre in Feldkirchen wohnt, kommt inzwischen seltener vor, und dieser Fluktuation müssen wir gerecht werden.
Heidenreich: Weil sich die Lebens- und Arbeitswelten gewandelt haben, bilden wir sie seit langem schon urbaner ab, wozu auch gehört, das, was wir können, digital und analog gleichwertig zu verbreiten. Dafür wollen wir im Regional-Bereich auch eine Investigativ-Abteilung aufbauen, denn damit können wir dank unseres Ansehens ebenso punkten wie zum Beispiel in den Bereichen Gastronomie und Kulturberichterstattung.
Hofmann: Viele der Münchnerinnen und Münchner sind nicht mehr hier geboren, weniger als die Hälfte sind inzwischen in keiner kirchlichen Konfession mehr organisiert. Auf sowas muss man journalistisch eingehen.
Ohne die anderen 50 Prozent zu verschrecken.
Hofmann: Ja, wobei diejenigen, die wir schon haben, wahnsinnig treu sind und uns größtenteils durch alle Neuerungen folgen. Das hätte ich vorher nicht gedacht und das gibt uns viele Freiheiten, weniger verwurzelte Zielgruppen – etwa durchs Digitale oder Podcasts – zu gewinnen, um nicht hinter den Stand anderer Redaktionen zurückzufallen.
Wie sehr sind Sie beide denn in München verwurzelt?
Heidenreich: Ich bin in Bayern geboren, habe 1985 bei der Neuen Passauer Presse volontiert und arbeite seit 1996 bei der SZ, bin zwischendurch aber von Italien über Norddeutschland bis Ost-Berlin gut rumgekommen und spreche nicht mal Dialekt, wie Sie hören. Nach meiner Zeit im Politikressort und als Wochenendkoordinatorin wollte ich daher eigentlich auch gar nicht mehr unbedingt zurück ins Lokale, fühle mich hier jetzt aber sehr wohl.
Hofmann: Als Schüler habe ich bereits im Sublokalen der Würzburger Main-Post gearbeitet und kam 1995 an die Journalistenschule nach München, bin hier klassisch hängengeblieben, dann aber durch Themen wie Formel 1 oder Olympische Spiele ebenfalls viel rumgekommen.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht als Regional-Chefs denn da, dass Ihre Autorinnen und Autoren im eigenen Arbeitsumfeld verwurzelt sind?
Heidenreich: Man sollte die Leute schon kennen und auch ein bisschen mögen; das gilt ja in gewisser Weise auch umgekehrt. In München sind René und ich vermutlich bekannter als die Mantel-Chefredaktion und müssen uns entsprechend öfter mal sehen lassen. Deshalb war ich gestern auf der Gedächtnisveranstaltung mit Frank-Walter Steinmeier für die Weiße Rose und René beim Jahresempfang der Grünen.
Um zu berichten oder zu repräsentieren?
Heidenreich: Teils, teils, aber wenn wir irgendwo auftauchen, dann immer auch als Repräsentanten der SZ.
Könnte ein hervorragender Journalist aus Berlin oder Saarbrücken ohne Vorkenntnisse und Wurzeln über und aus Erding berichten?
Heidenreich: Klar, sofern er die Leute verstehen will und es auch kann. Buchstäblich! Denn obwohl ich selbst aus Bayern komme, war ich schon mal in Außenredaktionen und habe den harten Dialekt der Leute dort kaum verstanden (lacht).
Hofmann: Auch deshalb schickt die SZ all ihre Volontäre zum Lackmus-Test in die Landkreise, da gibt es dann beiderseits wundervolle Erfahrungen zu machen. Am Ende hängt es zwar immer vom Einzelnen ab, aber der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis ist Commitment mit der Region, den Menschen, ihren Themen.
Und wer sind dabei als Lokalteil Ihre Hauptkonkurrenten – kleine Kreiszeitungen, größere Regionalblätter, die Bild?
Heidenreich: Wir beobachten alles. Wenn wir zur Arbeit kommen, hat der MRB-Desk daher schon die erste Auswertung bayerischer Medien erstellt – aber nicht nur, um zu wissen, was die Konkurrenz macht, sondern um nachfolgende Berichterstattungen oder eventuell Kampagnen zu erspüren.
Hofmann: Wobei zur Konkurrenz nicht nur klassische Medien, sondern auch digitale zählen wie muenchen.de oder Instagram-Accounts, die besonders im Servicebereich interessante Sachen machen. Weil die wirtschaftliche Ausrichtung bei der Geschäftsführung liegt, sind wir dabei aber stets inhaltlich getrieben, also aus journalistischer Neugier. Unser Selbstbewusstsein ist groß genug, um zu sagen, dann setzen wir halt eigene Geschichten als andere weiterzuspinnen. Schon weil es nicht viele Quer-Leser gibt, die bei Bedarf eben eine andere Zeitung aus den stummen Verkäufern ziehen.
In denen Sie aber auch gar nicht immer liegen, oder? Am Bahnhof Berg am Laim jedenfalls gab es kein SZ-Fach…
Hofmann: Ausverkauft! (lacht) Wie immer!
Heidenreich: Wir überlegen noch, wie wir damit umgehen, dass die Zeit der so genannten Stummen Verkäufer zuende geht. Auch die Zeit der Abendverkäufer, die abends durch die Bars und Restaurants gingen und Charles Schumann ihn gleich mal fünf Exemplare abgekauft hat, ist vorbei. Denn das hat sich leider alles nicht mehr rentiert.
Hofmann: Die Herausforderung unserer Marke an diesem Ort besteht deshalb darin, sie trotz Digitalisierung sichtbar im Ortsbild zu halten. Früher funktionierte das über Leser mit Zeitung in der Tram oder Studierenden-Abos. Heute werden wir zwar von mehr Menschen als früher gelesen, aber auf dem Smartphone bleibt es halt unauffällig.
Und wie lautet der Ausweg?
Hofmann: Fahrgastfernsehen zum Beispiel in der Trambahn, in Bussen oder der S-Bahn, wo die Süddeutsche Zeitung – wie auch der BR – Nachrichten präsentiert. Oder auch Kulturveranstaltungen, mit denen wir uns im Gespräch halten.
Trauern Sie der Nostalgie sichtbarer Zeitungen und Abendverkäufer nach?
Heidenreich: Ach, wer wie ich mit Print groß geworden ist, hat da doch ständig nostalgische Gefühle.
Hofmann: Aber wenn du abends spät auf einem Termin warst und morgens früh siehst, wie viele Menschen den Text gelesen haben, oder wenn bei Instagram zu deiner Glosse über Wiesen-Plakate die Herzchen nur so aufploppen – das sind neue Freuden, die den Verlust der alten mindestens kompensieren.
Aber auch die Gefahr des Click-Baitings mit sich bringen, also Resonanz um der Resonanz willen…
Heidenreich: Das ist wie überall Teil einer permanenten Diskussion im Haus. Unser Grundsatz lautet da: Wir orientieren uns an Zahlen, machen uns aber nicht zu ihren Sklaven.
Hofmann: Wir alle hier, mich eingeschlossen, freuen uns doch, wenn unsere Inhalte goutiert werden. Aber wir alle haben auch einen inneren Kompass, Qualität von Quantität zu unterscheiden. Wichtig ist, dass das Bedeutsame auf jedem SZ-Kanal ausgespielt wird, wofür wir uns – auch wenn Ihnen das vielleicht wieder zu schön, um wahr zu sein klingt – dann entsprechend gemeinsam verantwortlich fühlen.
Und wofür fühlen sich alle hier in, sagen wir: zehn Jahren gemeinsam verantwortlich – die letzte große regionale Tageszeitung im Konkurrenzkampf mit ein paar Redaktionsgemeinschaften und Social Media?
Heidenreich: Untersuchungen in dieser Richtung führen regelmäßig zum Ergebnis, dass große Häuser wie die Süddeutsche bleiben, kleinere eher nicht. Aber um zu wissen, woran wir sind, wollen wir nun gemeinsam mit der Chefredaktion eine Perspektive für München-Region-Bayern 2030 erarbeiten. Denn am Ende ist alles davon abhängig. Auch, wohin jetzt schon Personal und Etats verschoben werden.
Hofmann: Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter. Aber im Moment steht unsere Zeitung sehr solide auf ihren zwei Standbeinen.
Und bleiben sie mittelfristig beim lokalen Standbein?
Heidenreich: Bislang habe ich im Berufsleben in regelmäßigen Abständen mein Themengebiet und die Ressorts gewechselt und empfehle das auch anderen, weil es einem selbst und dem jeweiligen Medium guttut. Weil mein Job hier als Ressortleiterin aber mit unglaublich viel Personal verbunden ist, etwaeinem Viertel der SZ-Belegschaft, und man alle gut kennen muss, um eine sinnvolle Personalpolitik mit entsprechendem journalistischen Output zu leisten, könnte es für mich hier aber auch ein bisschen länger dauern.
Hofmann: Als ich hier angefangen habe, hatte ich das Lokale kaum auf dem Schirm. Aber in den vier Jahren habe ich darin und davon so viel gelernt, dass ich die ganze Welt tagtäglich im Kleinen spannend genug finde, um damit weiterzumachen. Der Rennfahrer Gerhard Berger meinte mal, in der Formel 1 erlebe man in fünf Jahren so viel wie andere im Leben. Dieses Gefühl habe ich hier manchmal auch.
Sebastian Fitzek: Literatur & Fernsehen
Posted: March 17, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch bin erkennbar-Speed-Boot-Fan
Sebastian Fitzek (Foto: Martin Kraft, CC BY-SA 3.0) hat 14 Millionen Bücher in 36 Sprachen verkauft und mit der RTL-Adaption seiner Auris-Reihe nun ein paar mehr davon werbewirksam am Bildschirm platziert – auch wenn er nur Co-Autor der eigenen Idee war. Ein Interview über forensische Phonetiker, erfolgreiche Psychothriller, druckreife Sätze und auf welchen Sinn er nicht verzichten könnte.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Fitzek, die Verfilmung vom Auftakt Ihrer Romanreihe Auris nimmt von der ersten Minute an Fahrt auf. Entspricht die gesendete Beschleunigung 1:1 der literarischen oder wird sie am Bildschirm nochmals hochgefahren?
Sebastian Fitzek: Es entspricht jedenfalls meiner Art zu arbeiten, aber auch der von Vincent Kliesch, mit dem ich Teil 1 ja noch sehr eng gemeinsam geplottet und geschrieben habe.
Hat Auris demnach Ihr persönliches oder eher typisches Thriller-Tempo?
Stephen King hat mal gesagt, beim Schreiben eines Thrillers gäbe es nur zwei Transportmittel: Speed-Boot oder Ozean-Dampfer. Ersteres setzt in Höchstgeschwindigkeit ab und fesselt damit pausenlos, letzteres dagegen langsamer, ist dafür bei voller Fahrt aber kaum noch aufzuhalten. Ich bin erkennbar ein Speed-Boot-Fan.
Auch als Konsument?
Auch als Konsument. Obwohl ich mir da eher mal gemächliche Thriller gefallen lasse.
Mittlere Bootsklassen, um im Bild zu bleiben, interessieren Sie als Autor gar nicht?
Doch. Wenn ein Thriller zum Psychothriller wird, darf er selbst über Hunderte Seiten hinweg zum Kammerspiel ohne Action oder Leiche geraten. Bei mir ist es nur so: Ich lese mir alles – ob Roman oder Drehbuch – immer laut vor. Und wenn dabei auffällt, dass ich Stellen schneller als nötig lese, streiche ich sie tendenziell raus. Erst durch Kürzung entsteht oft Spannung. Aber nur, weil ich Fan einer gewissen Ereignisdichte bin, haben Millionen andere Arten natürlich trotzdem ihre Berechtigung.
Das ist also kein Stil- oder Genre-Urteil?
Nein, es ist meine persönliche Präferenz. Weil ich mich selbst nicht langweilen will, lege ich daher schnell den Rotstift an. Ein großer Regisseur meinte mal, gute Filmszenen beginnen so spät wie möglich. So halte ich es beim Schreiben auch und glaube, das tut ganz gut.
Wo Frank Schätzing gerade die Serien-Verfilmung von Der Schwarm kritisiert hat…
Ach, hat er das?
Ziemlich offen und sogar ein bisschen wütend über die Mutlosigkeit des ZDF. Wie zufrieden sind Sie mit der Verfilmung von Auris bei RTL?
Ich finde es gelungen und die beiden Hauptdarsteller machen ihre Sache wirklich gut!
Wobei die Reihe zwar Ihre Idee war, aber das Werk eines anderen.
Na ja, ich wollte Auris zunächst als Hörspiel umsetzen, das ich mit Audible dann auch entwickelt habe. Aber weil mir mehrere Eisen im Feuer die Konzentration rauben, arbeite ich generell nur an einem Projekt zurzeit und hatte Glück, dass mein Kollege Vincent, den ich sehr schätze, angeboten hat, daraus auch noch Romane zu machen, die dann vom Hörbuch abweichen. Anfangs habe ich daran noch als Co-Autor mitgearbeitet.
Und dann?
Wurde ich von Teil zu Teil mehr zum Sparringspartner und bin sehr glücklich mit den Ergebnissen. Und letztlich wurde auch bei der Verfilmung mehr richtig als falsch gemacht: Schauspiel, Production Value, visuelle Ausarbeitung, also Look & Feel finde ich wirklich gut. Geradezu brillant finde ich dagegen, wie das akustische Empfinden der Hauptfigur Hegel in Szene gesetzt wurde.
Wie kommt man eigentlich auf die Idee eines forensischen Phonetikers? Ich wusste nicht mal, dass es so was gibt…
Ich auch nicht. Die Idee kam mir beim Telefonieren auf der Autobahn, als die Verbindung so schlecht war, dass ich nicht wusste, wer mich anruft. Da dachte ich, wie spannend es wäre, anhand von Geräuschen allein Rückschlüsse auf die Person am anderen Ende der Leitung zu ziehen. Über Recherchen habe ich mich dann ans Thema herangetastet und bin auf Fachleute gestoßen, die bei Geiselnahmen Stimm- und Geräuschanalysen vornehmen. Für Verfilmungen, insbesondere bei Thrillern, ist dieses sensorische Werkzeug perfekt.
Auf welchen Ihrer sieben Sinne könnten Sie als Mensch und Autor auf keinen Fall verzichten?
Das Sehen, unbedingt. Sätze, die ich schreibe, muss ich sehen und verändere sie deshalb beim Lesen am Computer. Leider fehlt mir nämlich die Gabe, schon im Kopf druckreife Sätze entstehen zu lassen.
Können Sie am Computer druckreife Sätze entstehen lassen, die sich automatisch zur Verfilmung eignen?
Das nicht, aber ich habe beim Schreiben Bilder im Kopf, die sich daher auch visuell leichter umsetzen lassen. Andererseits ahne ich oft schon beim Schreiben, wenn dies nicht der Fall sein wird, und schreibe es trotzdem hin, weil es für die Geschichte wichtig ist
Nehmen Sie dennoch Einfluss auf Verfilmungen?
Auch hier bestenfalls als Sparringspartner, der seine Meinung nur sagt, wenn er gefragt wird. Schließlich ist alles, was am Set passiert, eine Kunst für sich, die ich zu beherrschen mir niemals anmaßen würde. Ob Drehbuch, Casting, Ausstattung, Regie, Schnitt – niemand aus der zweiten Reihe sollte den Profis sagen, wie es läuft. Nur weil ich schon viele Fußballspiele gesehen habe, könnte ich – auch wenn 80 Millionen Trainer das vor jeder WM glauben – keine Nationalmannschaft aufstellen.
Schön, dass Sie den Gewerken hier mal Ihren Respekt zollen!
Klar, sie liefern auch meinen Romanen das Fundament funktionierender Verfilmungen. Ohne sie bricht alles zusammen! Jeder Film ist ein Kunstwerk, das aus Kunstwerken anderer Künstler und ihren Visionen besteht.
Welche Kunstform macht Ihnen mittlerweile den meisten Spaß – das Recherchieren, das Schreiben, das Verkaufen, das Lesen, das Podcasten, das Verfilmen lassen?
Recherchieren definitiv am wenigsten; es sei denn, mir kommen Aha-Erlebnisse wie beim forensischen Phonetiker. Mein Kollege und Freund Peter Prange sagt, am meisten Spaß mache ihm das Geschrieben-haben. Wenn etwas den Anschein erweckt, es könnte so ineinandergreifen, dass es funktioniert, bereitet mir schon das Schreiben ein gutes Gefühl. Ob es am Ende dann wirklich aufgeht, bleibt am Anfang aber immer nur eine Hoffnung.
„Auris – Der Fall Hegel“ und „Die Frequenz des Todes“, beide in der RTL-Mediathek
Jeanette Hain: Luden & leise Töne
Posted: March 12, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | 1 CommentEs bricht selten richtig aus mir heraus
Jeanette Hain (Foto: Susanne Schramke/Prime Video) ist die Schauspielerin der leisen Töne mit großer Wirkung. Ihre Prosituierte im Amazon-Sechsteiler Luden kann auch mal laut werden. Damit verleiht sie dem schillernd brutalen, explizit frauenfeindlichen St. Pauli der frühen 80er damit enorme Dringlichkeit – und Prime Video damit verblüffend bedeutsame Unterhaltung. Beides gilt auch fürs vorab bei DWDL erschienene Interview.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Hain, Sie sind im Münchner Speckgürtel aufgewachsen, also Lichtjahre vom Hamburger Rotlichtviertel der Achtzigerjahre, das Luden beschreibt.
Jeanette Hain: In Neuried, total dörflich.
Was hatten Sie seinerzeit für ein Bild von St. Pauli?
Oh Gott, als Kind war ich dort viel zu sehr mit Baumhausbauen beschäftigt, um einen Bezug zum Kiez zu entwickeln. Ich bin ihm einfach niemals begegnet. Und falls doch mal ein Funke zu mir aufs Land geflogen ist, war er für mich überhaupt nicht greifbar.
Wenn das Traumschiff vom Hamburger Hafen in See gestochen ist, haben Sie es in ZDF aber schon gesehen?
Auch nicht. Bis ich mit 15, 16 erstmals in Berlin war und mich sofort darin verliebt hatte, waren Stadt und Land für mich getrennte Planetenkonstellationen.
Was war denn dann Ihr Blick auf diese weit entfernte Galaxie, bevor Sie Luden gedreht haben?
Ich habe einmal mit Hermine Huntgeburth neben Martin Brambach dort gedreht und hatte mal zwei, drei Drehtage in der legendären „Ritze“ mit Boxring im Keller, durfte das also live erleben. Dort spürt man zwar noch den Herzschlag vergangener Jahrzehnte, kriegt ihn aber kaum zu fassen. Bei aller Neugier nehme ich mir daher nicht heraus, diesen Kosmos zu bewerten.
Sondern?
Versuche mit Achtung und Respekt langsam einzutauchen. Dieses Erspüren durch Annäherung ist mir durch viele Dokumentationen jener Zeit hoffe ich gelungen, also nicht wie bei Aaron Hilmer der aus Hamburg stammt, aus eigener Erfahrung, sondern reiner Beobachtung.
Ist das grundsätzlich ihre schauspielerische Herangehensweise?
Schon. Aber ich sehe es so, dass wir – ob als Menschen oder als Schauspieler – viele fremde Räume in uns tragen, aber noch nie betreten haben. Bei der Suche nach passenden Schlüsseln helfen dann die Geschichten der Menschen dort, ihre Erzählungen und Bilder. Wenn ich ihn dann gefunden habe, wird in mir oft etwas geweckt, was gar nichts mit Schauspielerei zu tun hat, sondern dem Gefühl, wie viel meiner Rollen ohnehin in mir stecken. Also auch von Jutta.
Was genau verbindet Sie denn mit dieser gealterten Sexarbeiterin mit Drogenproblem?
Ein Alleinsein, das nichts mit Einsamkeit zu tun hat. Ich bin mit Anfang 20 Mutter geworden, mein Sohn ist 31, meine Tochter 16. Trotzdem habe ich als Frau fast immer alleine gelebt und war, wie Jutta, auf der Suche nach Geborgenheit, Miteinander, Gemeinschaft mit Leib und Seele, ohne dass mein Leben schlecht gewesen wäre. Das verbindet uns.
Wobei Jutta unglaublich verzweifelt wirkt.
Absolut, das war ich nie, habe mich aber auch nicht annähernd in einer Situation wie ihrer befunden, mit jahrzehntelanger Heroin-Abhängigkeit und weggegebener Tochter. Zugleich aber teilen wir Grundbedürfnisse, die man auch an so verschiedenen Orten hat wie Jutta und ich.
Obwohl Jutta eine durchsetzungsfähige, selbstbewusste Frau dieser männlich dominierten Zeit war, war sie aber doch immer auch ein Objekt anderer und dadurch stets getrieben.
Dass andere über sie bestimmen, ist mir in der Tat fremder. Aber das Gefühl von Abhängigkeiten oder Unfreiheit kenne ich natürlich trotzdem – wenngleich nicht in solchem Ausmaß. Dem nachzugehen, sich ihm hinzugeben, wächst beim Spielen fast automatisch. Wichtig ist, seine Figuren im Ganzen aller Aspekte zu sehen, ohne sie zu verurteilen.
Dass Jutta trotz allen Elends, in dem sie sich befindet, immer leise bleibt – ist das da die Drehbuchfigur oder deren Darstellerin, von der man ebenfalls kaum laute Töne hört?
Es bricht in der Tat – ob vor oder abseits der Kamera – selten richtig aus mir raus. Jutta hat es sich in ihrer Situation zwar eingerichtet, lässt sich aber trotzdem nicht alles gefallen und begehrt auf, auch wenn das nicht zu grundliegenden Veränderungen führt. Die übernimmt dann ihre Tochter, obwohl der Kiez auch von ihr Besitz ergreift und versucht sie leiser zu machen.
Was an Ihrer Rolle auffällt, ist wie sehr Sie sich dafür seelisch, aber auch körperlich entblößen. Waren Sie je zuvor in einer Rolle nackter als bei dieser?
Seelisch versuche ich immer nackt zu spielen. Körperlich erinnere ich an Arbeiten mit Dominik Graf zum Beispiel oder zuletzt Faking Hitler – nur nicht in dieser Intensivität.
Was macht das mit einer Schauspielerin, sich physisch wie psychisch so auszuziehen?
Ich finde, wenig. Am Anfang hat die Regisseurin uns geraten, alles fallenzulassen wie in den freizügigen Achtzigern. Was mir dabei hilft, ist dass ich beim Drehen gar keinen Plan, kein Bild von mir habe, sondern nur die Rolle bin. Ob die angezogen ist oder splitternackt, verändert demnach kaum etwas für mich, solange Nacktheit etwas erzählt. Dann beschreibt sie Zustände, die von Bedeutung sind. Wir Menschen setzen uns aus so vielen Puzzleteilen zusammen – da gehört Nacktheit einfach dazu.
Es sei denn, sie wird selbstreferenziell, also voyeuristisch?
Genau, aber das spürt man ja schon beim Lesen des Drehbuchs, so wie man jedem Dialog anmerkt, ob er inhaltlich bedeutsam ist oder nicht. Aber obwohl mir Nacktheit normal erscheint, muss ich mich dann auch nicht ausziehen…
Oder nach dem Sex nur mit Bettdecke überm Dekolletee aufstehen, wie im prüden Hollywood…
Stimmt, wobei auch das eine Bedeutung haben kann, sofern es etwas über die Beziehung aussagt, in der es ja trotz Sexualität verklemmt zugehen kann. Bei Luden jedenfalls ging es nie darum, etwas über die Zurschaustellung ihrer Zeit hinaus zu entblößen. Das macht die Serie so gut.
Was machen Sie denn nach so einer intensiven Rolle voller Gewalt jeder Art – müssen Sie da erstmal mit einer Romantic Comedy detoxen oder sind im Gegenteil gestählt für die wirklich harten Stoffe?
Detoxen nein, harte Stoffe ja. Denn je länger ich über die Serie nachdenke, desto klarer wird mir, dass solche Serien nötig sind, um Tabus zu brechen. Deshalb erzählen wir die Geschichte in all ihren Facetten. Nur so kann man sich mit den Figuren identifizieren, und uns aus unseren Mustern lösen. Die Serie lässt schon wegen ihres Humors viel Raum für konstruktive Gedanken. Auch bei mir.
Steve Youngwood: Nickelodeon & Sesamstraße
Posted: February 23, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch fand immer Samson am Besten
Seit 2015 leitet Steve Youngwood (Foto: Sesame Workshop) eine weltweit wichtige, weithin unbekannte Firma: Sesame Workshop. Unterm Dach dieser Non Profit Organisation entsteht seit genau 50 Jahren auch die Sesamstraße. Zum Geburtstag kam der New Yorker nach Hamburg.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Mr. Youngwood, Sie haben Ihr halbes Leben für Kinderprogramme wie Nickelodeon gearbeitet, den Sie hierzulande sogar mit aufgebaut haben. Was hat es Ihnen da bedeutet, 2015 beim Sesam Workshop anzufangen?
Steve Youngwood: Das war natürlich ein Traum, aber auch autobiografisch passend. Schließlich wurde ich im selben Jahr geboren wie die Sesame Street in den USA, bin also buchstäblich mit ihr gewachsen. Auch andere Kindersender, für die ich später gearbeitet habe, wären ohne Sesame Street nicht denkbar.
Weil sich alle anderen an ihr orientiert haben?
Weil Kinder durch Medien zu erziehen 1969 eine kühne Idee war. Auch wenn es als amerikanische Show begonnen hat, waren die Ideale und Prinzipien, Kinder als Medienkonsumenten ernst zu nehmen und ihnen Wissen mit Spaß zu vermitteln, dabei stets global. Es ging uns nie darum, ob Kinder lernen, sondern was. Die Idee zur Sesame Street entstand, weil Kinder seinerzeit vor dem Fernseher Texte von Bier-Reklame lernten.
Und dem hat die Sesamstraße das neue Konzept des Edutainments entgegengesetzt?
Genau. Wir unterhalten, um zu bilden. Das kann konkret um Lesen und Schreiben gehen, aber auch die Herausbildung einer positiven Identität und selbstwirksamen Persönlichkeit. Denn der Grundsatz If you can’t reach, you can’t teach ist kein Marketing-Aspekt, sondern unser Daseinsgrund. Nur wenn Lehrer die Herzen der Kinder erreichen, erreichen sie deren Köpfe.
Was unterscheidet Edutainment 1969 da von heute?
Vor allem durch die Kanäle. Damals hatte Sesame Street im Fernsehen 70 Prozent der Kinder erreicht. In unserer fragmentierten Medienwelt besteht die Herausforderung demnach darin, sie überhaupt noch zu erreichen. Andererseits kann man dies viel zielgerichteter tun.
Und inhaltlich?
Muss man heute ein bisschen schneller zum Punkt kommen, um Kinder bei der Stange zu halten, aber das Prinzip respektvoller Wissensvermittlung durch Unterhaltung ist geblieben. Was sich noch geändert hat: früher konnten wir langfristiger planen, heute reagieren wir eher mal auf aktuelle Entwicklungen.
Auf Covid zum Beispiel?
In der Pandemie haben wir die Puppen daher ins Home-Office geschickt und vermittelt, dass Masken und Impfstoffe richtig sind. Während einer der größten humanitären Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte haben wir zudem ein Programm für syrische Kinder in Flüchtlingslagern geschaffen und dafür 100 Millionen Dollar Spenden erhalten. Wer die Bildung der Kinder am Übergang zur Schule vernachlässigt, braucht ein Leben lang, um die Lücken zu schließen. Flüchtlingskinder in Bangladesch oder der Ukraine zu erreichen, wäre vor 20 Jahren mit der Sesamstraße allein gar nicht möglich gewesen.
Wie viel Politik vertragen Vorschulkinder denn?
Wir verstehen Politik als gesellschaftliches Handeln und vermitteln sozial-emotionale Skills, damit Kinder die Umstände, in denen sie sich befinden, so verstehen, dass keine Traumata entstehen oder vorhandene aufgearbeitet werden können. Das Konzept ist global, die Umsetzung lokal; deshalb gibt es in Südafrika eine Puppe, die HIV-positiv ist, um das Thema Aids nicht zu verstecken und Erkrankte zu destigmatisieren.
Was ist da am deutschen Markt einzigartig?
Auf dem ersten mit eigener Sendung nach Brasilien oder Mexiko und dem NDR als langjährigster Partner weltweit, geht es abseits schulischer Kompetenzen um Identität und Zugehörigkeit. Witzigerweise höre ich von Deutschen oft, sie wüssten gar nicht, dass es die Sesamstraße auch in den USA gebe…
Welche ist denn Ihre deutsche Lieblingsfigur?
Als Fan von Big Bird fand ich immer Samson am besten. Aber es sagt definitiv etwas über die Persönlichkeit aus, ob man Krümelmonster mag, Ernie & Bert oder Elmo. Aber davon unabhängig ging es immer um die Darstellung gesellschaftlicher Diversität.
Was in Bayern zunächst mal gar nicht gern gesehen wurde.
Ach, war die Sesamstraße trotzdem zu sehen?
Zu Beginn nicht.
Wie in Mississippi zum Beispiel. Aber jetzt weiß ich nichts mehr von Kontroversen. In unserer fragmentierten Medienlandschaft hat niemand mehr dasselbe Mindset wie in den Siebzigern mit vier Fernsehprogrammen.
Heute sind es Dutzende plus Streamingdienste.
Und da müssen wir uns immer wieder neu aufstellen, um Kinder zu erreichen.
Auch Ihre eigenen?
Die sind inzwischen 19, 16, 11 Jahre alt natürlich mit der Sesamstraße aufgewachsen. In den USA haben wir noch immer Aufmerksamkeitsraten von 98 Prozent und genießen hohes Vertrauen. Besonders in Zeiten der Krise suchen die Menschen Sicherheit und wenden sich dem zu, was sie kennen und schätzen.
Und warum bleibt Ihre schon so lange erfolgreich?
Ein Geheimnis unserer Marke ist, dass sie von Beginn an generationenübergreifend war, was wir anfangs, als in jedem Haushalt ein Fernseher für alle stand, durch viel Musik und Prominente gefördert haben. Deshalb wird es die Sesamstraße auf allen Kanälen noch jahrzehntelang geben. Die Welt braucht uns und in 50 Jahren feiern wir hier den 100. Geburtstag der Sesamstraße.
Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan
Posted: February 9, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | 1 CommentSo wäre ich auch als Mann
Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer, zweiter Teil.
Von Jan Freitag
Pflegen – auch wenn die Frage allein schon wieder sexismusanfällig ist – Frauen an der Spitze eine andere Streit-, Debatten- und Führungskultur?
Ich glaube schon, dass es in Hinblick auf flache Hierarchien und Teamfähigkeit etwas gibt, das man als weibliche Führungskultur bezeichnen könnte Aber selbst, wenn es geschlechtsspezifische Herangehensweisen gibt – das heißt ja nicht, dass nicht auch Männer eine solche Führungskultur verfolgen, oder einige Frauen „männlich“ führen. Letztlich ist es eine Frage der Machtdefinition und -ausübung, weibliche Führung ist oft dialogorientierter.
Beschreiben Sie damit auch ein wenig die eigene Führungspersönlichkeit?
Ich bin jetzt schon weit über zehn Jahre Teil der Welt und damit auch Teil des Teams, das hat sich durch die neue Position gar nicht so großartig geändert und funktioniert so besser als hierarchisch. Ich habe aber auch kein Problem damit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So wäre ich vermutlich auch als Mann.
Selbst, wenn Sie sie nicht als solche empfinden: Verändert so eine Machtposition den Menschen dahinter?
Das habe ich mich schon gefragt. Und auch da bin ich dankbar, all die Schritte nach oben hintereinander gemacht zu haben – erst als Reporterin, dann Redakteurin und Ressortleiterin, schließlich als Chefredakteurin. Weil ich in jeder Position von Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen gelernt habe, konnte ich mir treu bleiben und, habe ein Bewusstsein für andere Positionen behalten, und die Souveränität gewinnen können, das Amt auszuüben, ohne dass es mich als Menschen stark verändert.
Erschrickt man dennoch manchmal vor der Macht- oder zumindest Einflussfülle, die Chefredakteurinnen plötzlich haben?
Komischerweise nicht, und mir war nach zwei Wochen klar, genau an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Vermutlich auch, weil wir ein Kollektiv an Chefredakteuren sind, das im Zweifel als Korrektiv wirkt. Diese Einbindung im Team erlebe ich als überaus angenehm, ich arbeite im Alltagsgeschäft eng mit dem Digitalchef Oliver Michalsky. Und ich kooperiere viel und immer mehr mit Jan Philipp Burgard vom Fernsehen… Insofern bin ich eigentlich nie in die Gefahr geraten, lonely at the top zu sein.
Mal vorausgesetzt, das gilt auch für Dagmar Rosenfeld an der WamS-Spitze: Hat sich die paritätische Aufteilung der vier Chefredaktionen zufällig ergeben oder war sie Plan der Geschäftsführung?
Das müssen Sie im Zweifel die Geschäftsführung fragen, ich glaube allerdings, es war schlicht dem Umstand geschuldet, dass die entsprechenden Leute, also geeignete Frauen, bereits hier waren. Der Axel Springer Konzern hat das Thema Frauenförderung schon sehr früh zur Priorität gemacht.
Die Springer SE dagegen wird weiterhin von drei Männern geführt, ergänzt immerhin von Niddal Salah-Eldin…
… die auch von uns aus der Welt kommt!
Und als weiblicher PoC die Abteilung Talent & Culture leitet. Ist diese Personalie bereits Ausdruck oder erst der Anfang einer entsprechenden Firmenkultur?
Beides. Ich empfinde es so, einen Verlag hinter mir zu haben, für den Frauen in Führungspositionen bereits selbstverständlich waren, als andere erst darüber nachgedacht hatten. Wir haben eine Führungsquote von fast 40 Prozent Frauen. Natürlich war es, als ich Journalistin wurde, überall noch anders als heute. Wir haben hier in der WELT zum Beispiel schon lange viele Ressortleiterinnen. Und gerade, weil das – anders als früher, wo wir darüber ständig intensiv diskutiert haben – jetzt gar nicht mehr groß thematisiert wird, halte ich diese Entwicklung für organischer als in anderen Redaktionen.
Wissen Sie das aus Ihrer persönlichen Arbeitserfahrung in diesen anderen Redaktionen?
Da ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in anderen Redaktionen tätig war, weiß ich das eher aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen oder über die Frauennetzwerke, zu denen ich branchenübergreifend Kontakt habe.
Tut mir leid, dass ich das Thema Gleichberechtigung durch meine Fragen womöglich daran hindere, organisch zu werden…
Mit dieser Frage müssen und wollen wir uns trotz aller Fortschritte weiter auseinandersetzen. Frauen, die fünf Jahre jünger sind als ich, haben schließlich einen anderen Zugang dazu als ich, die wiederum einen anderen hat als Frauen, die fünf Jahre älter sind als ich. Schon aus meiner Erfahrung heraus, als Journalistin anfangs immer mal alleine unter Männern gewesen zu sein und später dann zunächst eine der wenigen Ressortleiterinnen. Das hat sich total verändert, aber die weiblichen Stimmen sind – in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – abgesehen von ein paar lauteren Ausnahmen schon noch ein wenig leiser als die männlichen.
Quantitativ, weil sie zu wenige sind, oder qualitativ, weil sie übertönt werden?
Beides, wobei ich gar nicht weiß, ob wir quantitativ insgesamt noch immer in der Minderheit sind in der Redaktion, aber nach oben hin wird es halt kontinuierlich dünner, besonders in vielen Unternehmen. Es gibt gewiss Frauen, die es ablehnen, andauernd über Frauenthemen zu sprechen, ich finde das nachvollziehbar, und auch ich fühle mich nicht allein durch mein Geschlecht dafür zuständig.
Aber betroffen?
Ja. . Dass Frauen in unserer Branche so häufig über Dinge wie Familie und Kinder berichten, hat am Ende ja auch damit zu tun, dass sie sich privat noch immer mehr damit beschäftigen als ihre Männer. Und ja, ich finde, es müssen mehr weibliche Stimmen in die WELT und darum kümmere ich mich.
Heißt das, Sie haben da ein aktives Sendungsbewusstsein?
Sendungsbewusstsein weiß ich nicht, empfinde aber eine Stimmenvielfalt in jeder Beziehung als wichtig. Dazu gehören junge und alte, arme und reiche, mächtige und ohnmächtige, aber eben auch weibliche und männliche. Wenn Sie Zeitungen – und damit meine ich nicht nur unsere, sondern alle von SZ bis FAZ – aufschlagen, sehen sie auf den ersten vier, fünf Seiten vor allem männliche Köpfe. Diese Dominanz müssen wir ändern, weshalb wir bei Gastbeiträgen darauf achten, insbesondere auch Autorinnen zu fragen und Frauen im eigenen Haus ermutigen, ihre Stimmen zu erheben.
Tun Sie das auch ganz persönlich?
Klar. Ein Beispiel – vor dem internationalen Frauentag haben wir überlegt, ob wir daraus kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges eine Sondernummer machen oder ob wir es ignorieren. Wir haben uns dann für einen Schwerpunkt entschieden und Frauen eingeladen, über Freiheit zu sprechen. Aber nicht zwingend bezogen auf Geschlechterrollen, die Autorinnen sollten schreiben, was sie wollten. Und obwohl alle total unterschiedliche Ansätze verfolgt haben, stellte sich heraus: Freiheit ist auch ein sehr weibliches Thema. Denn wenn Frauen unfrei sind, ist es meist auch die restliche Gesellschaft.
Weil ihr Freiheitskampf im Grunde schon bei der Geburt beginnt und bei Männern erst mit der Volljährigkeit?
Das beste Beispiel erleben wir momentan doch gerade im Iran. Natürlich haben wir Frauen manchmal andere Perspektiven auf Dinge als Männer. Ich möchte aber viele Perspektiven sehen. Und grundsätzlich will ich niemanden nötigen, über irgendwas zu schreiben, weil er oder sie dafür prädestiniert erscheint. Das wäre ja auch wieder zwanghaft.
Wir beschränken das Thema Diversität hier gerade stark auf Geschlechterfragen. Wie sehr versuchen Sie, auch auf anderen Feldern inklusiv zu sein – Hautfarbe, Herkunft, Behinderungen zum Beispiel?
Wünschenswert ist all dies auf jeden Fall und daher auch ständig ein Thema bei uns. Aber der Journalismus hinkt da gerade im Vergleich mit anderen Branchen schon noch ein Stück hinterher. Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel, so schwierig ich den Begriff finde, wenn die Personen in dritter, vierter Generation hier leben, sind definitiv zu wenig vertreten in den klassischen Medien. Wenn man betrachtet, wie sich die Bevölkerung unter 30 jetzt zusammensetzt, ist es demnach keine altruistisches, sondern ein egoistisches Motiv, sie mehr in den Blick zu nehmen.
Kann mehr Diversität auf der Angebotsseite, also im Journalismus, eigentlich für weniger Wut und Hass in den Echoräumen der Nachfrageseite, also beim Publikum, sorgen?
Das wäre glaube ich zu einfach gedacht, denn das Wutpotenzial der Gesellschaft wird von vielen Themen gespeist. Diversität zum Beispiel steigert es in einigen Schichten sogar noch. Aber so wichtig Journalismus in einer und für eine pluralistischen Demokratie auch ist: Wir sind keine Volkserzieher!
Bei all den Veränderungen, die das Blatt – in den vergangenen Jahren auch zusehends von weiblicher Seite mitgestaltet – seit Jahrzehnten durchmacht, geht der positive Wandel, was die Verkaufszahlen betrifft, jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung.
Sowohl die tägliche als auch die wöchentliche Zeitung haben natürlich das Problem aller Printerzeugnisse, nicht mehr zu wachsen. Das wird man weder in Deutschland noch anderswo je umdrehen. Aber unsere Zahlen sind doch generell gut!
Na ja, Abos und Kioskverkäufe sind 2020 unter 50.000 gerutscht, kaum ein Fünftel der Werte 20 Jahre zuvor – das ist auch im Vergleich aller Printmedien ein dramatischer Rückgang.
Wir denken schon seit langem vom Digitalen her, weit länger als andere Medienmarken, nämlich seit fast 20 Jahren, und unsere Website ist überaus erfolgreich.
Woran bemisst sich das?
Wir haben täglich zwischen 4 bis 5 Millionen Visits und stehen damit sehr weit vorne unter den überregionalen Medien, wir haben vor einer Weile die 210.000 Grenze mit digitalen Abos geknackt.
Und für die gedruckte Zeitung gilt, wie gesagt, dass ich es für einen Erfolg halte, das Niveau zumindest zu halten und nach der coronabedingten Delle wieder zugelegt zu haben.
Eine Delle, die auch von der enormen Zahl an Bordexemplaren herrührt, die 2020 nahezu komplett ausgefallen sind.
Ja. Aber wie gesagt, im Rahmen dessen, was heute zu erwarten ist, sind wir – trotz und wegen struktureller Veränderungen wie der neuen Wochenendausgabe kurz vor meiner Zeit – auf gutem Wege. Darauf kann man durchaus stolz sein.
Sie hängen also nicht am Papier?
Ich bin mit Zeitungen aufgewachsen, ich liebe Zeitungen, und bin immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn ich sie morgens aus dem Briefkasten hole. Aber die Zeiten ändern sich. Wir versuchen auch auf Papier jeden Tag die bestmögliche Zeitung machen und dafür neue Abonnentinnen und Abonnenten zu gewinnen, können aber auch keine Wunder vollbringen.
Dafür aber eine Digitalstrategie erstellen, die das absehbare Ende der gedruckten Welt kompensiert. Wie sieht die aus?
aus meiner Sicht kann man heutzutage – egal ob Papier oder online – nicht mehr von der einen Strategie sprechen. Dafür verändert sich zu viel. Wir können hier gern spekulieren, wie Journalismus in zehn Jahren aussieht, aber das sind eben ein Stück weit Spekulationen. Der Axel Springer Verlag war mit Strategien wie digital first und online to print immer Vorreiter, wir beobachten permanent neue Entwicklungen und wie man sich neu aufstellen kann. Strategien sind langfristig, man muss sie aber auch kurzfristig anpassen können.
Sie steuern die Welt also auf Sicht Richtung nähere Zukunft?
Wir haben dabei alle stets die erweiterte Zukunft im Blick. Ich bin ja persönlich noch nicht kurz vor der Rentengrenze und möchte auch in 20 Jahren noch Journalismus machen. Das Wichtigste ist doch der Inhalt, nicht seine Form. Wo er zu lesen ist und wie, verändert zwar auch ein bisschen, was dort zu lesen ist, aber nicht die Grundsätze, nicht die Definition von gutem Journalismus.
Aber wie optimistisch sind sie denn beim Blick aufs Überübermorgen, dass Ihre Welt die große Flurbereinigung überregionaler, aber auch lokaler Zeitungen überlebt?
Sehr optimistisch! Ich bin sogar überzeugt, dass die Welt nahezu alles überlebt. Aber wenn man sich überlegt, wie die Branche vor 15 Jahren aussah, wäre es doch absurd zu glauben, in 15 Jahren wäre irgendetwas noch so wie heute. Wenn Sie allein schon betrachten, welche Zusammenarbeit es in den letzten paar Monaten bei uns von TV, Print, Audio und Digitalem gab, da sind wir echt Pioniere. Und wenn von den Neuerungen mal irgendwas nicht funktioniert, macht man halt neuere Neuerungen.
Fail, stand up, fail better…
Es ist wichtig, den bedauernden Tonfall der Lethargie zu vermeiden, was früher alles besser war. Umso mehr muss man um seine journalistischen Grundlagen und Werte kämpfen, an beidem besteht hierzulande ja immer noch großer Bedarf und Nachfrage. Anders als in den USA zum Beispiel.
Wo mittlerweile nicht nur die publizistische Vielfalt, sondern die Ein-Zeitungs-Countys aussterben.
Ja, mit Gegenden, in denen sich deutlich mehr als die Hälfte der Menschen ausschließlich per Facebook oder Youtube informieren und Posts auf soziale Medien für echte Nachrichten halten. Aber gerade da ist es doch auch unsere Aufgabe, das nicht nur zu kritisieren, sondern bessere Nachrichten und intelligente Debatten anzubieten, also gute Gründe, guten Journalismus zu nutzen.
Informieren Sie selber sich denn gelegentlich bei Social Media oder sind das reine Konsumplattformen?
Natürlich versuche ich mir jeden Tag einen Überblick zu verschaffen, was auch dort stattfindet, berücksichtige dabei aber natürlich die Bedingungen, unter denen die Inhalte dort zustande kommen. Debatten, die auf Facebook, Instagram, Twitter und auch auf TikTok, wo wir bewusst nicht vertreten sind, stattfinden, würde ich niemals eins zu eins bei uns abbilden, verfolge sie aber aufmerksam.
Was poppt als erstes auf Ihrem Smartphone auf morgens?
Tatsächlich Emails und diverse Newsletter, die meisten Zeitungen lese ich dann als E-Paper. Aber Eilmeldungen erreichen mich natürlich immer. Und die Webseite ist ständig offen.
Und was poppt als Letztes auf, vorm Schlafengehen?
Ehrlicherweise hab‘ ich früher stets aufgepasst, dass das Letzte abends ein Roman oder Sachbuch ist; es gelingt mir nur leider nicht mehr ganz so oft. Das hat aber auch mit der Nachrichtenlage zu tun, gerade in diesem Jahr. Wenn die wie zuletzt oft derart dramatisch ist, sitze ich doch mit Handy und Fernseher vorm Weltgeschehen.
Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan
Posted: February 2, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentDieter Nuhr würde nicht auf uns zugehen
Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer. Der zweite Teil kommt nächste Woche.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Wilton, empfinden Sie es eigentlich als Statement des Springer-Konzerns, dass die gute alte Welt der Wirtschaftswunderjahre im futuristischen Neubau residiert, während freshe, junge, digitale Start-ups wie der Business Insider im leicht angegilbten Stammhaus gegenübersitzen?
Jennifer Wilton: Ich würde „angegilbt“ sofort widersprechen. Und die Welt gehört in ihrem 77. Jahr zu den innovativsten Medienmarken. Es war von Anfang an so geplant, dass wir in den Neubau ziehen, sobald er fertig ist. Auch aus dem einfachen Grund, endlich im gleichen Gebäude mit unserem Fernsehsender arbeiten zu können, die Welt-Redaktionen Print, Digital und TV also auch räumlich miteinander zu verzahnen.
Journalistisch und organisatorisch war das schon vorher der Fall?
Ja, aber nicht in der gleichen Intensität. Nur ein Beispiel aus jüngster Zeit: Das erste Scholz-Interview nach dem G20-Gipfel lief bei Welt TV und wurde parallel bereits digital für die Online-Redaktion aufbereitet und für die Zeitung verschriftlicht. Unsere Reporter und Redakteure sind inzwischen täglich zu Gast im Studio. Da hat sich sehr viel getan.
Ihr Standort hat also nichts mit der konservativen Mischung aus Laptop & Lederhose zu tun, die Edmund Stoiber mal spezifisch bayerisch, also erfolgreich nannte?
Eher nicht (lacht). Als die Planungen begannen, gehörte zum Beispiel der Business Insider noch nicht mal zum Verlag. Mit konservativ oder nicht hat das also nichts zu tun.
Was genau ist im postideologischen, aber ziemlich populistischen Jahr 2022 eigentlich genau noch mal konservativ?
Auf die Welt bezogen würde ich den Begriff „konservativ“ um „liberal“ erweitern. Wir haben ein großes Spektrum an Meinungen im Blatt und auf der Seite. Wir verstehen uns als Portal, auf dem unsere Redakteure und Gastautoren Spielraum haben und ihn sich nehmen. Mit Konservatismus ist vor allem Wertekonservatismus gemeint.
Der heutzutage welche Werte vertritt?
Das ist angesichts aktueller Debatten gar nicht immer einfach zu benennen. In den vergangenen zwei Jahren zum Beispiel stand wegen der vielen Freiheitsbeschränkungen durch Corona das Liberale bei uns oft stark im Vordergrund. Darüber hinaus stehen wir aber immer auch für das, was man „bürgerliche Werte“ nennen könnte, Familie zum Beispiel, verteidigen aber zugleich die Freiheiten des Einzelnen, haben also keine grundsätzlichen Kontrapositionen etwa zur Homoehe.
Aber persönliche?
Es gibt innerhalb unserer Redaktion wie gesagt unterschiedliche Positionen, das macht uns aus. Ich persönlich etwa verteidige gesellschaftliche Kompromisse wie die Streichung des Paragrafen 219a in diesem Jahr, bei anderen wäre die Grenze da überschritten.
Und wo findet innerhalb solcher und ähnlicher Debatten die Abgrenzung nach rechts statt?
Überall und jeden Tag. Rechts und links an den Rändern ist nicht unsere Welt. Wobei ich mich frage, ob Sie die Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung auch fragen würden, wie sich ihre Zeitung von ganz links abgrenzen.
Genau das würden wir Judith Wittwer ungefähr zur selben Zeit des Interviews fragen, wie Sie, keine Sorge.
Ich würde mich auf die Position des liberalen Verfassungspatriotismus begeben und sagen: wir grenzen uns immer da von rechts ab, wo die Gültigkeit des Grundgesetzes in Frage gestellt, die freie Entfaltung des Einzelnen beschnitten oder es extrem wird. Darüber hinaus aber versuche ich auch, mich von Begrifflichkeiten wie links und rechts zu lösen, weil sie gerade für jüngere Generationen nicht mehr so entscheidend sind, wie sie es für ältere waren – zumal die Abgrenzung voneinander zusehends unklarer wird. Wir positionieren uns vor allem in der Mitte. Aber: Journalismus muss auch unberechenbar sein.
Wurde die Welt verglichen mit den Vorwendejahrzehnten, als sie politisch oft stramm rechte Kampagnen etwa gegen Palästinenser gefahren hat, da sozusagen von innen heraus entideologisiert?
Da nennen Sie ein eher unglückliches Beispiel, darüber könnten wir jetzt lang diskutieren. Bekanntlich orientierten sich damals wie heute alle Redaktionen von Axel Springer an Grundwerten, unseren Essentials. Die Zeit, die Sie da ansprechen, hat sich lange vor meiner als Journalistin abgespielt und man kann sie nur schwer mit heute vergleichen.
Nicht nur die Welt war damals eine andere, sondern auch Die Welt, meinen Sie?
Genau. Seitdem gab es immer gesellschaftspolitische Wellenbewegungen, auch im Blatt. Ein sehr maßgeblicher Schritt der Liberalisierung war da zum Beispiel, als der heutige Vorstandsvorsitzende…
Matthias Döpfner.
… die Welt Mitte der Neunziger als Chefredakteur übernommen und gleich mal dahingehend geöffnet hatte, mehrere taz-Redakteure zu uns zu holen.
Ihren Vize Robin Alexander zum Beispiel.
Der gehörte nicht zu dieser ersten Gruppe, sondern kam später. . Aber auch andere Chefredakteure haben die Welt von heute mitgeprägt. Und Jan Eric Peters war da natürlich eine ganz andere Führungsfigur als etwa Roger Köppel. .
Hat sich diesbezüglich auch noch mal was geändert, seit sie den Führungsposten von Dagmar Rosenfeld übernommen haben?
Da sind die Unterschiede jetzt nicht so wahnsinnig groß, wir arbeiten ja eng zusammen. Und wichtiger als Ähnlichkeiten oder Differenzen bleibt auch, dass die Welt ein Debatten-Medium mit Führungspersonen unterschiedlich ausgeprägter Meinungen ist. Es gibt die erwähnten Grenzen, aber wir bewegen uns immer in einem definierten Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens versuchen wir, Haltungen verschiedenster Art möglichst breiten Raum zu geben. Ich selber kommentiere gern, wenn mir etwas am Herzen liegt, aber wenn ein Kollege die gut durchargumentierte Gegenposition dazu vertreten möchte – nur zu.
Aber wie eng, wie breit sind die Meinungskorridore der Welt – hat wirklich jede Haltung im Rahmen der Gesetze und Verlagsprinzipien Platz oder müssen sie politisch schon ein bisschen auf Linie von Chefredaktion und Stammpublikum liegen?
Natürlich arbeiten wir für unsere Leser und Zuschauer, und die schätzen Welt als Debattenmedium. Und wir haben in der Redaktion sehr, sehr lebendige Diskussionen, da kann es schon hoch her gehen, und das ist auch richtig so. Aber dabei war es bislang nur selten der Fall, dass mal jemand meinte, so geht’s auf keinen Fall. In der Regel betraf das aber Gastbeiträge.
Welche zum Beispiel?
Etwa, als mehrere Wissenschaftler im Juni unterm Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ die öffentlich-rechtliche Berichterstattung zu sexueller Identität und Zweigeschlechtlichkeit kritisiert haben. Meine Positionen sind andere, ich hatte mit dem Stück damals inhaltlich persönlich Schwierigkeiten.
Haben aber nicht ihre Richtlinienkompetenz als Chefredakteurin wahrgenommen und sie im Vorweg unterbunden?
Das Stück war angemessen als Gastbeitragt gekennzeichnet, und in Gastbeiträgen muss und darf mehr möglich sein darf als in einem Leitartikel. Danach erschien unter anderem ein Kommentar unseres CEOs, der eine ganz andere Position vertrat, und ein weiterer kritischer unseres Chefredakteurs Ulf Poschardt. Zur Rolle einer Chefredakteurin gehört, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen und andere sprechen zu lassen.
Und welche Kontrollinstanzen gibt es abseits vom Grenzschutz der Chefredaktion, damit solche Debatten nicht aus der Mitte des demokratischen Diskurses über deren Rand ins Extreme ausfransen?
Natürlich ist es die Aufgabe von Chefredaktion und Ressortleitungen, genau draufzuschauen, ob solche Debatten im Rahmen unserer Haltungen und Grundwerte bleiben. Aber zugleich ist die Redaktion auch ein Kollektiv, das Themen auch ohne Grenzschutz kontrovers diskutiert. Inhaltlich nehme ich eine Richtlinienkompetenz daher seltener wahr als formell.
Inwiefern formell?
Ich bin zum Beispiel höchst empfindlich, wenn es um die Trennung von Bericht und Meinung geht. Wo beides ineinander übergeht, greife ich schon mal ein. Diese Aufgabe wird allerdings nicht nur bei der Welt wichtiger; ich sehe bei diversen Websites und Zeitungen, dass die klare Trennung immer mehr aufweicht.
Wobei gerade die alte Medienbranche vollredaktionell betreuter, vorwiegend gedruckter Zeitungen doch seit Jahren betont, wie wichtig klare Haltungen gemeinsam mit regionaler Berichterstattung fürs Überleben sind?
Beides ist wichtig, aber gerade klare Haltung muss bleiben, wo sie hingehören – auf die Meinungsseite. Auch digital müssen Kommentare als solche gekennzeichnet werden. Das ist ein wesentlicher Punkt der dritten Überlebensstrategie: unbedingte Glaubwürdigkeit. Dass wir Debatten in den Vordergrund stellen, ändert daran nichts, solange Debatten als Debatten erkennbar bleiben und nicht wie Nachrichten aussehen.
Ist das nur ihre persönliche Haltung zum Qualitätsjournalismus oder objektivierbar, also dahingehend gepanelt, dass es auch Ihr Publikum von der Welt erwartet?
Unabhängig vom Anspruch der Leserinnen und Leser, der definitiv so besteht, unabhängig auch von der Welt als Medium, ist es vor allem eine journalistische Haltung, die nach 1945 ja nicht ohne Grund aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gebracht wurde.
Damals gab es allerdings auch nicht im heutigen Ausmaß Filterblasen und das, was abwertend Cancel Culture genannt wird. Wie geht ein altes Medium wie die Welt 77 Jahre später mit beidem um?
Filterblase finde ich eher gesamtjournalistisch problematisch, als dass wir als Welt eine wären oder hätten. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass nicht nur wir als Redaktion, sondern ich als Person es extrem problematisch finden, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr offen aussprechen darf. Ich empfinde den Begriff der „Cancel Culture“ allerdings oft als zu hart; nur weil man gewissen Sichtweisen oder Autoren kein Forum bieten möchte, wird noch nichts gecancelt.
Würden Sie denn extrem rechten Publizisten wie Götz Kubitschek oder extrem frauenfeindlichen Comedians wie Dieter Nuhr Foren bieten?
Für Kubitschek und seine Phantasien sind wir sicher nicht die richtige Plattform. Dieter Nuhr würde wohl eher nicht auf uns zugehen. Aber ich kann mich jedenfalls an keinen, an Fakten orientierten Text der letzten Monate erinnern, der es wegen persönlicher Vorbehalte gegenüber dem Autor oder der Autorin nicht ins Blatt geschafft hätte. Selbst Sahra Wagenknecht kam bei uns zu Wort, obwohl der Text persönlich an meine Schmerzgrenze ging.
Wie wichtig ist bei Ihrer Themensetzung und Personalpolitik die Provokation, also nicht abzuwarten, wie sich Debatten entwickeln, sondern sie bewusst entfachen, was Welt-Chef Ulf Poschardt ganz offen als quotenförderlich bezeichnet?
Wir sind da sicher unterschiedliche Charaktere. Aber es ist nicht falsch, zu provozieren, um Antworten zu forcieren. Zu einer lebendigen Debatte gehören immer auch pointiertere Standpunkte. Wir berichten über alles zunächst mal neutral, aber wenn wir dann mit einem zugespitzten Statement andere herausfordern, darauf zu reagieren, sehe ich darin nichts Verwerfliches. Im Gegenteil.
Ist es aus Ihrer Sicht denn sogar legitim, eine Debatte anzufachen, bevor sie überhaupt als solche wahrgenommen wird?
Nennen Sie mal ein Beispiel?
Die Hamburger Morgenpost hat mal von der Party einer Schülerin erfahren, zu der sie seinerzeit bei Facebook öffentlich, statt privat eingeladen hatte, und so viele Titelstorys dazu gemacht, bis es tatsächlich mit 2000 Gästen eskalierte. Geht das zu weit?
Ja, das finde ich. Aber da ging es ja nicht um eine Debatte. Es ist gut, gelegentlich Debatten anzuregen, statt ihnen hinterher zu laufen.
Wären Sie persönlich denn streitlustig genug, wie Ihre Vorgängerin Dagmar Rosenfeld mit jemanden wie Markus Feldenkirchen vom Spiegel ins konservativ-liberale Gefecht zu gehen und damit in die Fußstapfen der legendären Streithähne Augstein/Blome oder Kienzle/Hauser zu treten?
Ja, ich fand das super.
Und steht es zur Debatte?
Im Moment nicht, aber vor dieser Form der Auseinandersetzung, sich immer wieder mit Vertretern gegensätzlicher Standpunkte zu batteln, habe ich größten Respekt, das würde mir Spaß machen.
Befinden Sie sich als frische, junge Kraft an der Spitze denn auch innerredaktionell da in diesen Battles?
Ich sehe meine Aufgabe häufiger im Moderieren. Aber es gibt natürlich Themen, bei denen ich andere Positionen einnehme als andere Mitarbeiter – wobei es da keine Rolle spielt, ob es Reporter sind, Redakteure oder Führungskräfte. Für alle ist da Raum zur Meinungsentfaltung
Kida Ramadan: Orangenbäume & Asbest
Posted: January 27, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentFreunde muss man persönlich einladen
Kida Khodr Ramadans (Foto: Pantaleon/ARD) Serienregiedebüt Asbest ist ein Knastdrama aus dem Clan-Milieu für die ARD-Mediathek, es hat aber auch viel mit seiner Jugend als Kreuzberger Libanese zu tun. Ein Gespräch über Schauspiel-Rookies, befreundete Superstars und warum er auch anders kann als Kiezmilieustudien.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Kida Ramadan, die Hauptrolle Ihres Seriendebüts Asbest spielt der blutige Schauspielanfänger Xidir. Wie ist es, mit einem Rapper zu drehen – permanente Impulskontrolle oder einfach laufen lassen?
Kida Khodr Ramadan: Ach, das war überhaupt kein Thema. Ich kam ja früher auch mal von ganz unten und hatte keinen Mentor, sondern habe mir alles selbst erarbeitet. Aber ich bin halt zum richtigen Zeitpunkt entdeckt worden.
Wie Koder Alien aka Xidir?
Wie Xidir. Und so ein Newcomer hat etwas sehr Positives, weil er noch voller Feuer und voller Energie ist. Er hat eine Radikalität in sich und einen Impuls, den du brauchst, um dich gegen alle anderen alteingesessenen Schauspieler und Schauspielerinnen zu behaupten. Ich habe Xidir ins kalte Wasser geworfen und er war super unvoreingenommen und hatte null Angst vor Leuten wie Frederick Lau oder Wotan Wilke Möhring oder David Kross.
Alles mittlerweile Superstars der Film- und Fernsehlandschaft.
Die viel erfahrener sind als er. Das möchte ich bei meinen nächsten Projekten ähnlich halten: Junge Talente entdecken und fördern und ihnen in der Hauptrolle dann erfahrene Kollegen zur Seite stellen.
In dieser Produktion verkörpert der Schauspiel-Rookie Xidir das zu Unrecht verurteilte Clan-Mitglied Momo, der mithilfe einer Knastfußballmannschaft neuen Halt gewinnt. Spielt er damit ein bisschen sich selbst oder bloß eine Rolle?
Natürlich spielt er bloß eine Rolle und nicht sich selbst. Der Junge ist null Gangster, sondern ein großartiger Künstler, der seine Texte selbst schreibt, was ja im Rap-Business mittlerweile zur großen Seltenheit geworden ist. Er kann also von Haus aus mit Texten umgehen. Ich habe ihn dann gut vorbereitet für das Abenteuer.
Ein Abenteuer auch für die ARD. Wie fand man Ihre Idee dort?
Weil er zuvor noch nie geschauspielert hatte, musste ich schon meine Hand für ihn ins Feuer legen. Vor allem in einigen Führungsetagen war man ja skeptisch. Aber er macht das großartig, und es würde mich wundern, wenn er nicht den einen oder anderen Preis gewinnt.
Was allerdings auch an Ihrem Gespür für sein Berliner Umfeld läge, in dem Sie selbst ja groß geworden sind. Könnten Sie auch Serien ohne Neuköllner Bezug machen oder geht das nur im eigenen Kiez?
Das ginge absolut auch woanders! Alle denken immer, ich könnte nur einen auf Gangster machen, aber das stimmt nicht! Ich habe gerade ein Drehbuch auf dem Tisch liegen, das wirklich einem komplett anderen Genre entstammt.
Nämlich?
Es ist weder ein historischer noch ein Horrorfilm, sondern ganz im Gegenteil: ein weibliches Thema. Das Drehbuch wurde mir zugeschickt, und ich war sehr angetan – gerade, weil es etwas völlig anderes ist, als man von mir gewohnt ist. Ich glaube, ich kann gut mit Menschen und da ich selber vor allem Schauspieler bin, kann ich andere auch ganz gut führen und somit dahin bringen, die Realität durch ein Spiel zu beweisen. Genau das liebe ich am Regieführen.
Wie in aller Welt kriegen Sie dafür immer diese Riesenriege prominenter Schauspieler und Schauspielerinnen zusammen – reicht ein Anruf und alle sagen sofort zu oder klopfen sogar welche von sich aus an, sobald sie von einem Ramadan-Projekt hören?
Ich hole mir jedenfalls nicht so gerne Absagen und besetze deshalb meistens Leute, die ich persönlich gut kenne, weil ich weiß, dass es gute Schauspieler sind. Hier habe ich daher zu 99 Prozent jeden selbst angerufen und gefragt, ob er oder sie Bock hat auf diese Serie, und ihnen danach ganz klassisch die Drehbücher geschickt. Die ganze Bürokratie lief dann natürlich über die Agentur, aber es sind fast alles Freunde von mir. Und Freunde muss man persönlich einladen.
Wer hat denn wen zu dieser Serie eingeladen – ist Katja Eidinger damit an Sie herangetreten oder umgekehrt?
Katja Eichinger hatte mir schon vor längerer Zeit erzählt, dass sie an dieser Geschichte dran ist. Dann hat mich der Produzent Frank Kusche von PANTALEON Films auf das Projekt angesprochen. Es lag zu dem Zeitpunkt schon eine Weile und keiner hatte die Idee richtig ausformuliert. Ich war sehr interessiert und habe den Kontakt zu Carolin Haasis von der ARD-Mediathek hergestellt.
Mit der Sie bereits für Ihren Debütfilm In Berlin wächst kein Orangenbaum zusammengearbeitet hatten.
Genau. Ich habe dann noch meinen Autoren Juri Sternburg mit dazu geholt, weil ich mir sicher war, dass er und Katja gut zusammenpassen. Daraus wurde jetzt – wie ich finde – eine sehr starke Serie, über die man sprechen wird.
Vermutlich auch im Knast. Wo steht eigentlich der, in dem die Serie gedreht wurde?
Das war ein leerstehendes Frauengefängnis in Köpenick. Da hatten wir schon Teile des Orangenbaums gedreht.
Und waren Sie schon mal in der Hamburger JVA Santa Fu, wo Gerd Mewes, dessen Buch der Serie zugrunde liegt, seine Knastmannschaft trainiert?
Ich war nur vor Ort, aber nicht drinnen.
Ich selber hab darin mehrfach mit meiner Herrenmannschaft des FC St. Pauli gespielt. Das war kein Zuckerschlecken – Lebenslängliche foult man besser nur einmal…
Ja, das ist so wahr und ein großartiges Schlusswort!
Tobias Moretti: Der Gejagte & seine Tochter
Posted: January 19, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentTeufel riechen nur im Märchen nach Schwefel
Tobias Moretti (Foto: Barbara Gindl) hat zahllose Rollen gespielt, aber mit Tochter Antonia Im Netz der Camorra – das war 2021 neu für ihn. Ein mit dem österreichischen Charakterdarsteller über die Fortsetzung des ZDF-Films bei Magenta TV und wie viel Familie in Der Gejagte steckt.
Von Jan Freitag
Herr Moretti, wie ist das, wenn die eigene Tochter – und sei es nur am Set – eine Waffe auf Sie richtet?
Tobias Moretti: Gute erste Frage! Da kommen einem im ersten Moment in der Tat in einem Zeitraffer einige Bilder in den Sinn, Charakterblitze zwischen Kleinkind, Pubertät und Heute und Morgen. Wenn dann die Kamera läuft, ist man ganz in der Situation und in den Figuren, da ist die private Verbindung eigentlich ausgeblendet. Die Szene ist ja ein Schlüsselmoment für den Tiefststand, den die Beziehung zwischen Laura und Matteo zu Beginn des Films erreicht hat.
Dachten Sie in dem Moment, „die macht mir Angst“ oder „die macht das toll“?
Mit den Jahren kennt man Szenen und Szenarien, in denen eine Waffe auf dich gerichtet wird oder umgekehrt, das wird im deutschen Fernsehen oft verniedlicht. Man merkt, wie weit manche Kolleginnen und Kollegen von solchen Lebenssituationen entfernt sind. Für Antonia war so ein Szenario auch neu, und die Souveränität und Klarheit, mit der sie das gespielt hat, hat mich beeindruckt. Also: toll!
Wie ist es denn generell, mit ihr zu spielen?
Sehr professionell, klar, sie stellt die richtigen Fragen, ist unprätentiös und hat so was wie einen dramatischen Instinkt. So war mein Eindruck.
Ist das eine stärkere, womöglich aber auch geringere Intensität, weil man sich ja in und auswendig kennt?
Dieser private Eindruck ist vielleicht der erste, aber die Privatismen verflüchtigen sich eigentlich gleich. Es ist die Situation beider Figuren, die sehr intensiv und hoch emotional ist. Beide trauern um Stefania – Laura um die Mutter, Matteo um seine Frau. Aber sie trauern eben nicht gemeinsam, sondern zerfleischen sich dabei selbst in diesem monatelangen Eingesperrt-Sein.
Wer von beiden ist der jeweiligen Rollenfigur charakterlich ferner?
Was Laura angeht, kann Antonia das nur selbst beantworten. Wenn es um Matteo geht: Sein bedingungsloser Kampf ums Überleben und dass Lauras Existenz wieder ein erfülltes Leben haben könnte mit einer Perspektive, ist ja mehr als nachvollziehbar. Ebenso, dass der Schmerz um den Tod seiner Frau ihn zerreißt und fast zerstört. Er selbst ist der Grund, warum dies alles passiert. Schwerer ist es zu ermessen, was es heißt, mit einer solchen Vergangenheit zu leben: mit der Schuld, mit der Angst, die einen durch die Jahrzehnte begleitet und die man verdrängt – und auch mit dieser Angst, dass der innere Schalter mit einem Klick ihn wieder in sein altes kaltes Ich verwandeln kann.
Suchen Sie bei Ihren Rollen eher nach Nähe oder nach Distanz?
Sie meinen den eigenen Anker? Die analytische Beschäftigung mit Figuren ist eine Sache; daneben geht es natürlich darum, einem Rollencharakter oder Schicksal etwas zu geben, wo man etwas von sich selbst einhakt – ob Biografie oder Wesenszug.
Es gibt eine Szene im 2. Teil, da stehen sich deCanin und Erlacher mit gezogener Waffe gegenüber wie im Western. Ist diese Referenz bewusst gewählt?
Die Szene symbolisiert die grausam-ausweglose Pattsituation. Beide könnten ja unterschiedlicher nicht sein und wollen in dem Moment doch dasselbe. Für Erlacher ist es wahrscheinlich fast noch schlimmer als für Matteo: Ihm ist dieser DeCanin völlig fremd, aber er hat Empathie für dessen Schicksal. Und er verdankt ihm sein Leben, das schafft eine Bindung, obwohl man einen wie Matteo so weit wie möglich von sich weghalten will. Dass die Szene wie ein Western wirkt, hat also mehr mit der Bildauflösung zu tun, als dass man diese Metapher bewusst gewählt hätte. Aber es war ein guter Einstieg zum Spielen, weil man sofort auf einer dramatischen Höhe war. Es war im Übrigen die erste Szene am ersten Drehtag.
Bei Magenta TV übrigens, wo die Fortsetzung des ZDF-Dramas entstanden ist. Hat man die Streaming-Plattform beim Drehen gespürt?
Nein. Wohin Produzenten in Kooperation mit TV-Sendern ihre Produktionen vertreiben oder verkaufen, interessiert uns während des Drehs eigentlich weniger. Unsere Aufgabe ist es, ein gutes Produkt, eine besondere Arbeit zu machen, so dass sich das Ergebnis eben auch gut verkaufen lässt.
Nach Teil 1 und Euer Ehren waren Sie seit 2021 dreimal Teil der Mafia, wenn man die des Fußballs in Das Netz oder der Finanzwelt in Bad Banks dazu nimmt, mindestens fünfmal in fünf Jahren. Ist das Zufall?
Diese drei Geschichten haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Es ist das Genre, das den Plot vorgibt. Das einzig Verwirrende in diesem Fall war die zufällige Namensähnlichkeit in den Untertiteln Im Netz der Camorra und Das Netz – Prometheus. Das Mafia-Milieu ist prototypisch für die Brutalität der Welt: einerseits rohe Gewalt, andererseits undurchschaubare Unterwanderung und Infiltration vieler Lebensbereiche, die lange unbemerkt bleiben. Das macht dieses Milieu seit Bestehen des Films geeignet für dieses Medium.
Ist es dabei eine Frage von Physiognomie und Spiel, dass Sie sich gut für die kriminelle Seite eignen?
Glaube ich nicht. Das hieße ja, dass man den Mafiosi das Mafiöse im Gesicht ablesen könnte. Da wäre dann die Welt wirklich viel einfacher. Der Teufel hat nur im Märchen einen Klumpfuß und riecht nach Schwefel.
Sind Sie als Mensch ein Typ, der Gelübde bricht wie deCanin die Omertà?
Die Entscheidung für die Familie, für Stefania und Laura, die DeCanin getroffen hat, ist auch ein Gelübde, eben das Versprechen von Liebe und bedingungsloser Zugehörigkeit, und das wiegt für Matteo einfach höher als diese vermeintliche Verpflichtung gegenüber dem Clan, in die er hineingeboren wurde. In der Wahrnehmung der Mafiawelt spielt die Behauptung von familiären „Ehren“-Codices oft eine große Rolle; aber in Wirklichkeit geht es meistens um Geld, um Macht und brutale illegale Geschäfte, an denen verdient wird.
Ist „Der Gejagte“ trotz Mafia-Patin und Ihrer Tochter ein Stoff von Männern mit Männern für Männer?
Manche Frauen behaupten, in einer Welt der Frauen gäbe es weniger Gewalt. In der komplexen Struktur von rationalen Entscheidungen, wie sie unsere merkantile Welt vorgibt, mit aller Brutalität, glaube ich das nicht mehr.
Welches Männlichkeitsbild wird darin transportiert? Oberflächlich scheint es ein traditionelles, fast atavistisches zu sein.
Für Matteo oder Erlacher kann ich das nicht sehen. Am ehesten könnte man von Sorrentino sagen, dass er nach anachronistischen Rollenmustern funktioniert, aber damit scheitert er ja letztlich. Schon in den 90er Jahren erschien ein Buch über die unterschätzte Rolle der Frauen in der Mafia. Die stellen den Clan-Chefs nicht nur die Pasta auf den Tisch.
Was ist Ihr Selbstbild, welche Art Mann wollen Sie sein?
Als Schauspieler beschäftigt man sich mit „Rollen“ in jeder Hinsicht, das heißt, man hat auch zu Geschlechter-Rollen analytische Distanz. In der Pubertät war es für mich nicht leicht, dass ich ein eher sensibler Bursche war, der sich für klassische und Kirchenmusik interessiert hat. Später hat das Leben viele Rollen für mich bereitgehalten, in die ich dann hineingewachsen bin, und das betrifft auch meinen Beruf. Welche Art Mann ich da sein will? Dazu habe ich eigentlich nur die Assoziation, dass man Reich-Ranicki mal die Frage gestellt hat: „Wer oder was hätten Sie sein mögen?“ Seine Antwort war: „Schlank.“
Wie weit würde dieser Mann gehen, um seine Familie vorm Bösen zu beschützen?
Die Meinen sind das Zentrum meines Daseins, die ich um alles in der Welt schützen würde. Wie weit man dafür gehen würde, habe ich bis jetzt in meinem Leben, Gott sei Dank, nicht in letzter Konsequenz ausloten müssen. Aber wozu ein Mensch fähig ist, wissen wir auch.
Natalie Scharf: Frühling & Depeche Mode
Posted: January 12, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentNennen sie mich Filmemacherin!
Mit dem ZDF-Sechsteiler Gestern waren wir noch Kinder hat die schreibende Produzentin Natalie Scharf nicht nur ein fesselndes Familiendrama kreiert, sondern die Rolle der Frau im Thriller neu definiert. Ein Interview mit der Frühling-Autorin über Regisseurinnen, Soundtracks, Psychologie und was Drehbücher mit Mathe zu tun haben.
Von Jan Freitag
Frau Scharf, bezeichnen Sie sich eigentlich als Showrunnerin?
Natalie Scharf: Eher als schreibende Produzentin. Ein befreundeter Neurochirurg sagte mal zu mir, bei Operationen sei es das Beste, alles zu können. Das möchte ich auch, weshalb ich bei dieser Serie zum Beispiel komplett im Schnitt war und nachher in die Mischung der dritten Folge muss. Aber wenn Showrunnerin bedeutet, dass die Produzentin mit der Autorin direkt über bestimmte Einstellungen und deren Preis verhandeln kann, bin ich wohl doch eine. Am liebsten wäre mir aber, Sie nennen mich Filmemacherin.
Gehen beide da förmlich in den äußeren Dialog?
Das nicht, aber ein innerer Monolog ist es manchmal schon. Reden tue ich lieber mit anderen.
Falls Sie auch gern mit anderen feiern gehen: Wissen Sie schon, was Nina Wolfrum am 7. oder 9. Juli 2023 mit Ihnen machen könnte?
Huiuiui (lacht). Nein, wissen Sie es?
Das spielen Depeche Mode in Berlin. Wenn man sich „Gestern waren wir noch Kinder“ ansieht, besser: anhört, klingt die Serie nach deren Greatest Hits.
Wir sind tatsächlich beide Fans. Nina wollte Dave Gahan, zu dem wir wegen der Songrechte Kontakt aufnehmen wollten, sogar mal heiraten (lacht). Wenn ich an einem der beiden Tage in Berlin wäre, würde ich also vielleicht sogar hingehen. Aber dass viel Depeche Mode läuft, hat am Ende doch mehr mit dem Zeitgeist der Serie als uns zu tun. Bei der Hauptfigur verkörpert die Musik zum Beispiel den Freiheitsdrang, sich aus seiner reichen Bubble zu lösen und Schlagzeuger zu werden.
Music safed his life!
Nicht nur seins, das der meisten! Wer eine Serie macht, die Gestern waren wir noch Kinder heißt, erzählt ja automatisch von verwehter Jugend, die von Musik begleitet wird. Diese Emotionen soll der Soundtrack vermitteln.
Und war demnach schon im Drehbuch enthalten?
Ja! Sogar der Sound eines schwarzen Lochs, den wir für Folge 7 von der NASA angefragt haben, ist enthalten. Ich schreibe generell sehr detailliert, selbst Kameraeinstellungen sind schon enthalten.
Weil Sie so ein Kontrollfreak sind?
Weil es mein Anliegen ist, möglichst präzise aus komplexen Figuren heraus zu erzählen, also skandinavisch, hochwertig psychologisierend, ein bisschen – auch, wenn es vermessen klingt – wie Big Little Lies zu inszenieren.
Eine Serie um fünf weibliche Hauptfiguren, die allerdings von Männern stammt. Wie wichtig war es Ihnen, mit Nina Wolfrum eine Regisseurin an ihrer Seite zu haben?
Bis mich eine ihrer Kolleginnen darauf hingewiesen hat, war es mir gar nicht so bewusst; zumal ich bislang selten mit Regisseurinnen zu tun hatte, von denen es lange gar nicht so viele gab. Aber beim fertigen Format fiel mir auf, dass es mit Männern vermutlich ein anderes geworden wäre; was ich an Ninas Arbeit toll finde, ist zum Beispiel die Art, wie sie kleinste Details bis hin zur Weinflasche, die irgendwo rumliegt, mit ihrem Erfahrungsschatz abgleicht und entsprechend inszeniert. Ich arbeite wirklich unfassbar gern mit Männern zusammen.
Aber?
Dank Nina haben wir eine sehr weibliche Serie gemacht, und im Grunde will ich genau da hin, weil meine Vorbilder nun mal Reese Witherspoons Morningshow ist oder eben Big Little Lies.
Deren 2. Staffel dann auch eine Frau inszenierte.
Und vielleicht deshalb auch vor der Kamera praktisch männerfrei war, was ich auch wieder bisschen schwierig fand.
Bei „Gestern waren wir noch Kinder“ fällt dagegen auf, dass zwar in nahezu jeder Situation Frauen zentrale Figuren sind, aber fast immer Objekte männlicher Subjekte und damit irgendwie eher getrieben als eigenständig.
Sehr kluge Beobachtung, die psychologisch genauso geplant war. Obwohl sich Frauen von dieser Objektrolle stark emanzipieren, stellt sie noch immer eine gesellschaftliche Realität dar, die allerdings nun unterschwelliger ablaufen muss.
Weil der alleinverdienende Beschützer ausgedient hat?
Genau. So sehr der Plot aus Figuren heraus, von denen mir einige auch im wirklichen Leben begegnet sind, erzählt wird, vollzieht er sich eben entlang eines haudünnen Thrillerfadens, in dem der Mörder ein Mann ist.
Wie hoch ist denn der Anteil persönlicher Bezüge?
Hoch. 85 Prozent?
Was die Figuren betrifft oder auch die Handlung?
Beide, aber die Menschen sind mir vertrauter und den meisten Spaß bereitet mir die Kombination. Auch Hemmingway saß ja gerne in Kneipen herum und hat sich das Verhalten der Leute notiert. Oh Gott, erst Big Little Lies, jetzt Hemmingway – was für Vergleiche…
Entstammen Sie selbst eigentlich dem gehobenen Bürgertum ihrer Seriencharaktere?
Zum Teil. Meine Mutter war Malerin, mein Vater Neurologe mit eigener Psychiatrie und sein Vater wiederum Physik- und Mathematikprofessor. Wobei mein Vater als Sudetendeutscher Jahrgang 1928 auch eine Flüchtlingsgeschichte hat und noch vom Aberglauben seiner alten Heimat geprägt war.
Kunst, Psychologie, Logik, Mystizismus: Topvoraussetzungen für eine Thriller-Autorin!
(lacht) Drehbücher haben mehr mit Mathe zu tun, als man denkt. Hinzu kommt: mein Vater hatte ein extremes Arbeitsethos. Schon, weil man in München auch damals kaum genug Geld verdienen konnte, um sich den Wohnraum dort zu leisten. Das fließt alles zu 100 Prozent in meine Arbeit ein.
Aber so sachlich sie Ihre Arbeitsgrundlage im Allgemeinen ist und „Gestern waren wir noch Kinder“ im Besonderen: Am Ende ist die Serie larger then live – so viel passiert in so kurzer Zeit den wenigsten!
Ich glaube gar nicht, dass die Geschichte so viel größer als das Leben ist. Unter den 100 Drehbüchern, die ich geschrieben habe, kann ich mich mit diesem hier am meisten identifizieren. Schon, weil ich damit mehr Zeit denn je verbracht habe.
Wie nah ist Ihnen verglichen damit denn Ihre Frühling-Reihe mit Simone Thomalla als Dorfhelferin in einer vergleichsweise harmlosen ZDF-Welt?
Dazu muss ich vorweg eins sagen: Ich wollte Frühling nie machen, bis Nico Hofmann vor zwölf Jahren zu mir meinte, du musst! Deshalb war ich am Anfang eher reserviert, liebe die Reihe mittlerweile aber wirklich.
Weil?
Weil sie gar nicht so leicht ist, wie es in der traumhaftschönen Alpenkulisse scheint. Und weil „Frühling“ wie Stricken ist, um mich von noch schwereren Stoffen immer wieder runterzuholen. Der Auftrag, sich jährlich sechs Folgen von Frühling mit denselben 13, 14 Figuren auszudenken und damit sechs Millionen Zuschauer zu halten, ist überaus anspruchsvoll und hält mich in Übung.
Eine Hauptdarstellerin beider Formate ist Julia Beautx, eigentlich eher Influencerin als Schauspielerin. Ist das eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, um jüngere Zielgruppen anzusprechen?
Julia ist besser als manch ausgebildete Darstellerin und sowieso unfassbar; das fanden auch viele bei der Mipcom Cannes, wo Gestern waren wir noch Kinder gezeigt wurde. Als ich Julia vor sechs Jahren kennengelernt habe, hatte sie übrigens eine Million Follower, jetzt sind es dreieinhalb; hat sich also für alle gelohnt. Ich würde lügen, dass mir ihre vielen Fans egal sind, aber unabhängig davon hat sie sich in einem riesigen Casting gegen alle anderen durchgesetzt – auch Nina Wolfrum übrigens, die von der Idee am Anfang gar nicht überzeugt war.
Vorsicht vor Vorurteilen.
Hinzu kommt, dass Julia zwar Videos macht, seit sie 13 ist. Aber ich kenne niemanden, der bodenständiger und disziplinierter ist.
Apropos bodenständig: eine Szene in Gestern waren wir noch Kinder scheint in Brooklyn zu spielen.
Nicht scheint, die spielt dort.
Wie haben Sie diesen Etatposten denn bitte beim ZDF durchgekriegt?
Indem ich die Serie so liebe, dass es mir unerlässlich erschien, die Szene dort zu drehen. Aber weil man so was beim ZDF nicht durchkriegt, bin ich mit Milena Tscharnke dorthin geflogen, habe mir eine kleine Crew aufgebaut und alles für diese zwei Minuten privat bezahlt.
Ernsthaft?
Ernsthaft!
Dani Levy: Alles auf Zucker & Der Scheich
Posted: December 26, 2022 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch bin ein bipolarer Dienstleister
Dani Levy (Foto: Sebastian Gabsch/IMAGO/Future Image) hat seit jeher ein Faible für Betrüger. Im Zehnteiler Der Scheich porträtiert hat er einen für Paramount+, der real existiert und doch unglaublich ist. Ein DWDL-Gespräch über Schein, Sein, menschliche Gier und die Achillesferse des Kapitalismus.
Von Jan Freitag
Herr Levy, wenn man sich Ihre Filme wie Alles auf Zucker oder Die Känguru-Chroniken und jetzt Der Scheich anschaut – haben Sie ein Faible für Dampfplauderer mit der Tendenz zum Blender?
Dani Levy: Meine Liebe für solche Figuren hat aber weniger mit ihren Taten als mit den Persönlichkeiten dahinter zu tun. Viele Blender täuschen aus inneren oder äußeren Zwängen heraus, nicht aus Freude am Betrug. Für die Getäuschten wiederum wird die Lüge zu einer gewünschten Wahrheit. Das faszinierende an dem Thema ist das Spiel mit Schein und Sein.
Eine der Kernfragen des Filmemachens.
Film als solches ist auch eher Schein als Sein. Im Kinofilm Das Leben ist zu lang habe ich mit der Idee experimentiert, dass er sich selbst demontiert. Nachdem die Hauptfigur erkennt, dass sie nur meine Hauptfigur ist, fängt er an, den eigenen Film zu sabotieren. Film will immer geglaubt werden, aber da war die Message an den Zuschauer: du solltest gar nichts glauben. Die Scheinhaftigkeit des Daseins mit seiner Fülle an Möglichkeiten uns unsere eigene Existenz zu erfinden, interessiert mich aber noch aus einem anderen Grund.
Nämlich?
Ob Sie jetzt soziale Medien, Werbung, oder die Politik betrachten: es gibt ja nicht nur die, die täuschen, es gibt vor allem auch die, die getäuscht werden wollen.
Wie in Matrix, wo den Leuten ein schöner Traum lieber ist als die hässliche Realität?
Wer von uns ist davon frei? Der Hochstapler ist lediglich ein begnadeter Wunscherfüller, ein Menschenkenner, der die Opfer mit der richtigen Lüge glücklich machen kann. Die Filmgeschichte ist ja voll legendärer Figuren, die sich verstellen und lügen mussten, um zu überleben. Schon im Stummfilm. Nehmen Sie Buster Keaton oder Charly Chaplin, die haben viele Figuren gespielt, die irgendwo hineingeraten und auf geradem Weg nicht mehr herausgekommen sind. Solche Dilemmata haben mich schon immer fasziniert.
Empfinden Sie sich da als Dienstleister am Publikum, dieses Bedürfnis nach Täuschung gefahrlos zu befriedigen?
Interessanter Gedanke. Wahrscheinlich bin ich ein bipolarer Dienstleister, der die Zuschauerinnen und Zuschauer mit großem Spaß täuscht, ihnen aber umgekehrt klar machen will, wie konkret die Gefahr der Täuschung ist. Ringo, unser Scheich, ist der gutherzigste, ehrlichste, mitfühlendste Betrüger und Lügner, den man sich vorstellen kann. Sozusagen der radikalste Gegenentwurf zu Hochstaplern, die gerade durch Serien geistern. Er will sich nicht mal bereichern, sondern kann niemanden enttäuschen. Als ihn eine Sozialarbeiterin fragt, ob das nicht alles nur in seiner Fantasie geschehe, antwortet er…
Fantasie ist Realität!
Ja. Filmschaffenden erfinden Geschichten und lassen sie die Zuschauer glauben. Das ist unser Beruf. Der Schnitt baut Momente zusammen, die so nicht stattgefunden haben. Drehorte, die Tausende Kilometer auseinander liegen, werden als ein Ort verkauft. Film bedient sich ständig der Lüge, aus Liebe zur Geschichte, die wir erzählen. Das ist das Paradoxe und gleichzeitig das Faszinierende. Aber Film hat eben auch die Kraft, sich selber zu sprengen, sich ständig neu zu erfinden. Das mag die Zuschauer*innen kurz irritieren, macht aber auch großen Spaß.
Ist ihr unterprivilegierter Analphabet Ringo, der sich als Scheich in die Kreise der Superreichen lügt, demnach ein Zerstörer des hyperkapitalistischen Systems, das ihn hofiert, obwohl er nicht dazugehört, oder hält er es mit seinem Betrug sogar am Leben?
Wir haben uns auch gefragt, was ihn eigentlich motiviert, wenn nicht materieller Gewinn. Der Film basiert zwar auf einer wahren Geschichte, aber die Motivation der Originalfigur bleibt bei allem, was wir über sie wissen, unklar. Er hat nicht nur Kontoauszüge mit Milliardentransfers gefälscht, sondern rechtschaffende Menschen aus bürgerlichen Stellen abgeworben, für unglaubliche Gehälter in seine Scheinfirma übernommen und skrupellos an den Abgrund gezogen. Das hat pathologische Züge, die wir Ringo nicht geben wollten. Für mich ist er ein anarchischer Clown, der einen Milliardenbetrug in Gang setzt, aber er hat einen starken moralischen Kompass.
Um ihn als Zuschauer lieben zu können?
Um mit ihm zu leiden und über ihn zu lachen. Er ist ein tragisch-komischer Held in einer tragisch-komischen Serie. Mein Humor entsteht aus der Liebe zu den Figuren. Zudem kenne ich das Problem, nicht nein sagen zu können.
Sie wären betrugsanfällig, wenn Ihnen ein Scheich Millionen dafür böte, sein Palast-Regisseur zu werden?
Ich befürchte, ja. Ich bin ein pathologischer Euphoriker, den man extrem schnell für etwas entzünden kann.
Sind Sie auch ein Zocker, der sich von einer risikolosen Profitaussicht blenden ließe?
Auch da: leider ja.
Rührt Ihre Filmliebe zu Blendern und Dampfplauderern auch daher?
Ich würde Menschen, die sich in einer Zeit, in der wir uns alle gern optimieren oder das Image frisieren, neu erfinden, wie gesagt nicht so nennen. Wenn wir von X Filme Paramount+ eine Serie verkaufen, nehme ich auch die Rolle des Traumerfüllers ein. Sie haben sich eine starke deutsche Serie gewünscht, um ihre Plattform zu eröffnen, und ich habe sie ihnen versprochen. In Momenten von Selbstzweifeln, die ich danach natürlich auch manchmal hatte, komme ich mir dann auch wie ein Hochstapler vor. Aber die Geschichte hat mich schon Jahre begleitet, auch wegen ihrer politischen Sprengkraft, und ich wollte sie einfach erzählen.
Welche politische Sprengkraft?
Der Scheich agiert zutiefst subversiv, weil er die Gier des Kapitalismus vorführt, die pure Behauptung von viel Geld öffnet alle Schleusen. Auch in ihrem Schwarzwald-Dorf sind Ringo und seine Frau Carla Outlaws, die sich gegen die patriarchale Macht ihrer Familie gestellt haben und deshalb vertrieben werden sollen.
Könnte man Ihre Haltung mit der Serie antikapitalistisch nennen?
Gegen den Kapitalismus können wir nichts mehr tun, der Zug ist seit langem abgefahren, aber er hat seine Achillesfersen, und eine davon ist die Gier, sein religiöser Fanatismus. Ringo und Carla kämpfen mit Fantasie und allen Tricks gegen ihre Versklavung; dafür haben sie meine volle Liebe und Solidarität. Im besten Fall ist eine Serie wie Der Scheich ein Störfeuer im System.
Hätte dieses Störfeuer auch ein Film werden können oder war es stets als Serie geplant?
Ich wollte ursprünglich daraus einen Kinofilm machen, das stimmt, aber es hat sich schnell rauskristallisiert, dass der Stoff besser als Serie taugt. Zudem liebe ich Serien seit Jahrzehnten und es war nur eine Frage der Zeit, selber eine zu machen.
Und wie war’s?
Viel Arbeit, aber auch großer Reichtum an Möglichkeiten. Ich mag ja, wenn’s schwierig wird, ich mag auch, wenn’s chaotisch ist, vor allem aber mag ich’s komplex. Denn während man im Film oft Entscheidungen für Einzelaspekte treffen muss, kann man in Serien mehr reinpacken, muss also weniger weglassen. Meinem Gefühl nach ist in Serien mehr erlaubt. Als Kind von Arthouse-Filmen versuche ich diese zerfledderte Fahne zwar weiter hochzuhalten, aber die Befreiung vom kommerziellen Druck gelingt in Serien, insbesondere auf Streamingportalen, gerade besser.
Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedankens?
Nein, aus meiner Sicht wird in Serien zurzeit so viel experimentiert wie einst im Arthaus. Und zwar mit Rückkopplungseffekten auf Filme, die stilistisch, inhaltlich, philosophisch lang stagniert hatten und sich im Sog der Serien nun fortentwickeln. Die Psychologisierung einer Mafiafamilie wie bei den Sopranos bis tief ins Komödiantische: von dieser Experimentierfreude profitiert auch das Kino, das ist eine Wechselwirkung, die man zuletzt bei Fargo als Serie bewundern konnte.
Haben Sie demnach Serienblut geleckt oder sagen jetzt erst recht: Kino!
Momentan möchte ich schon deshalb wieder was fürs Kino machen, weil es der schönste Ort ist, einen Film zu sehen, und weil ich helfen will, es am Leben zu erhalten. Trotzdem habe ich Serienblut geleckt. Für mich ist Der Scheich ein exzessiver sechsstündiger Film.