Wachkomapatienten & Einheitstagshelden

Werbung, RFT Color 20, FernseherDie Gebrauchtwoche

23. – 29. September

Der öffentlich-rechtliche Witz ist ein Wachkoma-Patient. Trotz seltener Perlen von Ditsche bis zur heute-show führt er ein Schattendasein im trüben Licht des humoristisch tonangebenden Kaugummikanals Pro7, an Heiterkeit gar überholt vom Romanzensender Sat1 und der unfreiwilligen Komik bei RTL. Kein Wunder, dass sich Markus Lanz nun Hilfe holt, um sich wenigstens nicht durch die Schmunzelkrimis der ARD am Zwerchfell überholen zu lassen: Wetten, dass…?, kündigte dessen Redaktionsleiter vorige Woche in einem Interview an, werde künftig durch die Hilfe professioneller Gag-Schreiber erheitert. Und auch, wenn das Zweite rasch dementierte, steht somit fest: ARZDF mögen selten echt lustig sein; die Erkenntnis, dass sich Frohsinn nicht in kollektivem Schunkeln erschöpft, zeugt von einer gewissen Realitätszugewandtheit.

Der auch die Mainzer Konkurrenz Rechnung trägt, indem sie Neues aus der Anstalt ab 2014 nicht mehr von den leicht abgehangenen Urban Priol und Markus Barwasser, sondern den weit frischeren Claus von Wagner und Max Uthoff präsentieren lässt. Ob das politisch ähnlich amüsant wird wie, sagen wir: Scheibenwischer oder doch eher Hallervordens Dicke-Brillen-Ulk früherer Tage, den die derzeitigen Anstaltsleiter mit Starkstromfrisur und Sepplhut zumindest habituell verkörpern, bleibt abzuwarten. Schon jetzt allerdings wird klar, dass ein privater Mitbewerber um die missvergnüglichste Realität künftig einen gespielten Witz ersetzen muss. Er heißt Senior Vice President Nachrichten und politische Information und müht sich seit Jahren redlich, was die Pro Sieben Sat1 Media AG seit dem Verkauf der News-Sparte so als Information ausgibt, einigermaßen seriös wirken zu lassen.

Jetzt wechselt Peter Limbourg als Intendant zur Deutschen Welle und müsste der Mechanik dieser Vollprogrammkarikatur gemäß eigentlich von Henning Baum ersetzt werden. Oder vielleicht Sonya Kraus. Echte Kandidaten mit nachrichtlicher Kompetenz dürfte es schließlich nicht geben, beim Ex-Kanzlersender ohne Kanzlerduell. Da reicht als Bewerbungskriterium vermutlich schon eine leidlich nüchterne Optik. Graue Haare etwa, was Dominik Raacke qualifizieren könnte. Der scheidende Tatort-Kommissar hat ja nun wieder Zeit, nachdem er dem gerade verkündeten Ende seines Einsatzes in Berlin zuvor kam und die obligatorische Abschiedsepisode verweigerte. Was immerhin wie bei der Anstaltssause für neues Blut in der uralten Reihe sorgen wird.

Eine Frischzellenkur, die dem Emmy 2013 merkwürdigerweise fehlt. Der weltweit wichtigste TV-Preis ging diesmal an tradierte Formate von Breaking Bad bis Big Bang Theory und Darsteller wie Michael Douglas (Liberace) oder Claire Danes (Homeland), statt wirklich ungewohnte Charaktere, etwa die wunderbare Lena Dunham für Girls zu prämieren, geschweige denn das Internetprodukt House of Cards. Irgendwie ist selbst in den USA alles eben doch wie gehabt.

TV-neuDie Neuwoche

30. September – 6. Oktober

Foto: Slickers

Was man vom deutschen Fernsehen ausnahmsweise mal nicht behaupten kann. Selbstredend wimmelt es hier auch ab heute von Stangenware. Die TV-Köche Kotaska, Baudrexel und Zacherl etwa, denen Vox morgen wieder beim Retten irgendwelcher Restaurants beiwohnt. Oder der Wrestling-Greis Mr. T, den Kabel1 Donnerstag allen Ernstes für irgendeine Pannenshow aus der Kiste zerrt. Und da war dann noch nicht vom Irrsinn die Rede, dem Deutschen Fernsehpreis 2013 (Freitag, 22.15 Uhr, Sat1) am Mittwoch durch die moderierende Doppelfrechheit Oliver Pocher und Cindy aus Marzahn weitere Relevanz zu nehmen. Das Erste allerdings beweist Samstagnachmittag, dass man Begriffe von Heimat vermitteln kann, ohne dabei debil zu tümeln. In 16x Deutschland zeigen haupt- wie nebenamtliche Filmemacher von Andreas Dresen über Charly Hübner und Nico Hofmann bis hin zu Rocko Schamoni ihre Sicht auf ihre Bundesländer.

Das ist nicht immer brillant, aber durchweg abseits vom Strom, unkonventionell gar und überraschend, also das exakte Gegenteil von dem, was uns das ZDF als „Event des Jahres“ verkaufen will: Die zweite Staffel von Borgia (Montag, 20.15 Uhr). Gut – die neuen 600 Minuten übers mächtige Adelsgeschlecht an der Schwelle zur Renaissance sind wie die der ersten Staffel vor zwei Jahren ungeheuer aufwändig produziert und opulent bebildert; jede einzelne davon hat allerdings sehr viel Schauwert, aber eher wenig Substanz.

Was wiederum verteufelt an eine filmische Frechheit namens Helden – Wenn dein Land dich braucht erinnert, in der RTL die Bundesrepublik ausgerechnet am Einheitstag von einem schwarzen Loch auffuttern lässt und dabei jedes, wirklich jedes einzelne Klischee des Katastrophenfilmgenres auslutscht. Wer krank das Bett hütet, zum Lesen zu schlapp ist und keinen Festplattenrecorder hat, dem könnte man angesichts so viel Stumpfsinns glatt die zeitgleiche Neuauflage von Dalli Dalli mit dem anbiedernden Titel Das ist Spitze! empfehlen. Aber es gibt ja noch Arte, wo parallel um 21 Uhr die dritte Staffel der dänischen Politserie Borgen startet. Ebenfalls Arte, ebenfalls sehenswert: Der französische Rache-Road-Krimi Auge um Auge am Freitagabend, dicht gefolgt vom Christian Schwochows Psychodrama Die Unsichtbare über eine verklemmte Schauspielschülerin, die von einem manipulativen Regisseur als Femme Fatale (fehl)besetzt wird.

So geht gehaltvolles Fernsehen ohne Bombast – das morgen auch der WDR zeigt, wenngleich als Wiederholungsfall: Ich liebe dich Philipp Morris ist eine lockere Homo-Knast-Story nach realen Motiven mit Ewan McGregor und Jim Carrey. Durchaus interessant verspricht auch eine Dokumentation auf, Achtung: n-tv zu werden. Ab heute läuft auf dem Baggerkanal der Zehnteiler Die Geschichte Amerikas, in der Oliver Stone die Hegemonie der USA kritisch seziert (dabei indes zuweilen fast stalinistisch argumentiert). Der Tipp der Woche kehrt dann wieder in heimische Gefilde zurück und somit auf Anfang: Weil es das letzte Mal sein wird, sollte man Urban Priol und Markus Barwasser bei ihrem letzten Anstaltseinsatz am Dienstag vielleicht doch nochmals die Ehre erweisen. Witziger wird’s öffentlich-rechtlich wohl auch nicht.

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Report: Comic-Festival Hamburg 2013

Neue Deutsche Novelle

Seit 2006 gibt es das Comic Festival Hamburg. Die 8. Ausgabe zeigt aufs Neue, wie die Szene wächst. Und welche Bedeutung die Hansestadt dafür hat

Von Jan Freitag

Die Zeit gezeichneter Kurzgeschichtchen ist vorbei, selbst im popkulturell gern spät zündenden Deutschland. Es lebe die große Erzählung! Dafür reichen schon zwei Schritte abwärts in eine Herzkammer der zugehörigen Szene auf dem Hamburger Kiez. Zu Hunderten, wohl Tausenden stehen sie hier dicht gedrängt in Regalen, liegen fein säuberlich auf Tischen, zieren schicke Aufsteller zwischendrin: Comics. Aber nicht bloß Klassiker von Hergé über Disney bis Uderzo (die natürlich auch); nein – neue Comics, frische Comics, lange Comics, oft epische Comics.

Der gemütliche Laden im Souterrain mag „Strips & Stories“ heißen, doch ersteres findet man hier kaum, dafür umso mehr von letzterem. Nur dass sie nun etwas anders heißen. Graphic Novels nämlich, Romane in Bildform statt Bildgeschichten mit Rahmenhandlung. Fast vier Jahrzehnte nach dem Aufkommen des Begriffs und knappe drei nach Art Spiegelmans epochaler Holocaust-Fabel „Maus“ gelten die betexteten Illustrationen als Heilsbringer einer Subkultur auf dem Weg Richtung Mainstream. Die amerikanische Klammer verhelfe seiner Branche schließlich durchaus zu Popularität, sagt auch Sascha Hommer inmitten der pittoresken Bilderwelt nahe der Reeperbahn. Doch sein gequältes Lächeln deutet ein großes „Aber“ an. Graphic Novel sei ja zunächst mal ein PR-Begriff, der selbst unter den Künstlern dahinter alles andere als unumstritten sei und zudem „über den Stil rein gar nichts“ aussagt.

Was es im Riesenreich der Bandes Dessinées, wie Comics im frankophonen Kerngebiet heißen, darüber hinaus noch zu entdecken gibt, in welchem Ausmaß auch hiesige Werke gegenüber der französischen bis belgischen Elite langsam aufholen, wohin die gezeichnete Reise derzeit geht – all dies will der versierte Comiczeichner deshalb ab diesem Wochenende abermals unters Publikum bringen. Vor sieben Jahren hat der Schwarzwälder in seiner Wahlheimat mit dem Kunstkollegen Heiner Fischer das „Comic Festival Hamburg“ gegründet, eine Plattform von Künstlern für Künstler und ihr stetig wachsendes Abnehmerfeld, wie der 34-Jährige mit der modernen Groß(stadt)brille betont. „Bei uns stehen nicht die Verlage im Zentrum wie auf den Großveranstaltungen von Erlangen oder München“, sagt er, sondern unser eigener Geschmack, unsere Leidenschaft“. Und natürlich die Leser.

Denen wird ab kommendem Donnerstag im Großraum St. Pauli der ganze Kosmos globalen Comicschaffens präsentiert. Es gibt Workshops und Ausstellungen, Symposien und Gespräche, Filme, die obligatorische Abschiedsparty und selbstredend viel zu kaufen. Comics sind schließlich auch ein Geschäft. Vor allem aber, beteuert der Verleger, Verfasser und Fan in Personalunion, ist es eine kreative Ausdrucksform, die längst mehr ist, als die Summer ihrer „Panel“ genannten Einzelbilder. Um das zu zeigen, hat sich Sascha Hommers Festival zudem Zeichner von grenzübergreifendem Ruf eingeladen, genauer: Zeichnerinnen. Dass mit Rutu Modan aus Israel, der Französin Peggy Adam und ihrer kanadischen Kollegin Geneviève Castrée drei international angesehene Autorinnen ihre neuesten Werke in Hamburg vorstellen, belegt dabei zweierlei: Die Szene hat sich von den Wurzeln männlicher Zeichner für männliche Nerds gelöst. Und Hamburg kann trotz des anhaltenden Braindrains arrivierter Künstler nach Berlin seinen Ruf als heimliche Hauptstadt des Comics bewahren. Und as liegt auch an Anke Feuchtenberger.

Die Design-Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften gilt seit den 90er Jahren als zentrale Figur der örtlichen Gemeinde. Mit ihrem artifiziellen, zuweilen als spezifisch deutsch bezeichneten Zeichenstil jenseits klarer Figürlichkeit hat die 50-Jährige Ost-Berlinerin vom Berliner Tor aus eine ganze Generation junger Künstler beeinflusst, darunter Sascha Hommer selbst – der allerdings noch einen anderen Grund nennt, warum Hamburg nach wie vor bedeutsam ist für die deutsche Comiclandschaft: Ein „fast calvinistisches Arbeitsethos“ sorge dafür, dass viele seiner Kollegen „wie im Hamsterrad produzieren“, also aufopferungsvoll zeichnen, bis die Finger bluten. „Das kommt dieser aufwändigen Kunstform sehr entgegen.“ Kein Wunder, dass sich auch Hommer selbst und seine zehn Mitstreitenden im Hamsterrad ihres aktuellen Projekts aufopfern. Ehrenamtlich haben sie dem einstigen No-Budget-Festival einen Etat verschafft und verglichen mit den Vorjahren auch deutlich mehr Programm. In Vorbereitung auf die vier Haupttage am kommenden Wochenende gibt es breit gestreute Zusatzveranstaltungen, „Satelliten“ genannt, Anlaufpunkte für Interessierte aller Art, um Comic-Kultur 2013 in all ihren Facetten zu erleben.

Im Mittelpunkt aber stehen dennoch die drei, nun ja: Stars des literarischen Independent, der es zwar längst auf die Kulturseiten von Süddeutsche und Zeit schafft, aber selbst als zugkräftige Graphic Novel noch immer eine Randexistenz im Schatten des geschriebenen Romans führt. Peggy Adam etwa spricht über ihr schwarzweißes Drama Luchadoras, in dem es zu grob verfremdeten Bildern um ganz reale Männergewalt gegen mexikanische Frauen geht. Ruto Modan erklärt ihre schattenlos kolorierte Holocaustaufarbeitung Das Erbe, was ihr etwas leichter fallen dürfte als Geneviève Castrée, deren autobiografische Familienstory mit abstraktem Strich mehr Fragen offen lässt als beantwortet. Es sind Stoffe zwischen harter Historie, soziokulturellem Irrsinn und bildgewaltigem Tagtraum. Eine Mischung, die auch das Festival, ja die Comicszene insgesamt kennzeichnet. Geschichtchen waren gestern.

Programm und Infos: www.comicfestivalhamburg.de


Schwule im Fernsehen: langsam Mainstream

Queer as TV

Trotz hartnäckiger Klischees und Bully Herbig kommen Schwule langsam an im Stromliniefernsehen. Davon zeugte vor zwei Jahren nicht zuletzt der Tatort: Mord in der ersten Liga (Dienstag, 22 Uhr, NDR). Trotzdem zeigt nicht nur die Ausblendung lesbischer Lebensentwürfe, dass es bis zur queeren Gleichberechtigung am Bildschirm noch ein Stück hin sein dürfte.

Von Jan Freitag

Etwas Nettes übers Fernsehen zu sagen, ist nicht sonderlich en vogue. Ihm gar Lernfähigkeit, Randgruppenaffinität oder Weitsicht zu unterstellen, sorgt für feuilletonistisches Kopfschütteln. Schwer angesagt ist TV-Bashing, Knüppel aus dem Sack, rauf aufs Leitmedium. Schließlich gilt es (nicht ganz zu unrecht) als massenhaft, quotenfixiert, stromlinienförmig, dazu ziemlich gestrig und bisweilen sehr, sehr dumm. Da sollte man mal ein freundliches Wort übers digitale Lagerfeuer verlieren. Denn das Fernsehen, es emanzipiert sich – langsam natürlich, eher unterschwellig, aber deutlich fühlbar – zumindest von einer Altlast: seiner Homophobie.

Genau 40 Jahre, nachdem sich der Bayerische Rundfunk Rosa von Praunheims Milieustudie Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt oaus dem Gemeinschaftsprogramm der ARD geschaltet hat und weitere vier Jahre – schockgefrostet über Jürgen Prochnows Männerkuss – auch aus Wolfgang Petersens Film Die Konsequenz, findet auch im CSU-Land längst das ganze Spektrum homosexueller Lebensformen am Bildschirm statt. Und zwar so sehr, dass die Subkultur in Film, Serie und Werbung zunehmend als Teil der Hochkultur erscheint. Mehr noch – am Flatscreen dürfen sie sogar ziemlich gewöhnliche Leute sein, mit normalen Bedürfnissen, Gewohnheiten, Macken. Und normal heißt hier nicht wie soziokulturell bisher üblich, besser als andersartig, sondern der Normierung durch lang anhaltende Praxis entsprechend. Die durchaus bemerkenswerte Sat.1-Komödie All you need is love mit dem sagenhaft dämlichen Untertitel Meine Schwiegermutter ist ein Mann etwa handelt von gleichgeschlechtlichem Heiraten in der heteronormativen Provinz und Homosexualität, das zeigt sich dort zwischen ein paar unvermeidlichen Klischees, dient nicht mehr nur zur Konterkarierung heterosexueller Normalität, sondern eher umgekehrt der Offenlegung bürgerlicher Intoleranz.

Und das war vor gar nicht allzu langer Zeit noch fast undenkbar auf einem Kommerzkanal wie diesem. Fast ein Vierteljahrhundert nach dem berühmten Zungenkuss zweier Männer in der Lindenstraße des linksliberalen Fernsehweltverbesserers Hans W. Geissendörfer aus dem stockkonservativen Augsburg nämlich, war das Bild der anderen sexuellen Identität, die nur allzu gern als sexuelle Orientierung diffamiert wird, eine zutiefst verklemmte. Noch vor vier Jahren belegte der immense Erfolg von „Bully“ Herbigs Schwulenwitzen in Spielfilmlänge, dass sich zum Lachen der Typus Tunte offenbar am besten eignet. Und debile Sitcoms à la Bewegte Männer sorgten ebenso wie der ProSieben-Ulk Andersrum mit Heinz Hönig und Rolf Zacher als überdrehtes Tuckenpaar besonders für dreierlei: Fremdscham, Spott und Hohngelächter. Ob vom Band im Studio oder aus chauvinistischen Mackerkehlen daheim. Schwule taugten eben vor allem fürs Amüsement heterosexueller Abwehrreflexe. Den Betroffenen dürfte das Lachen noch heute im Halse stecken.

Doch die erbärmlichsten Zeiten scheinen langsam passé. In Telenovelas, Seifenopern, Alltagsromanzen und Filmen mit Anspruch kommen Homosexuelle längst besser weg als früher. Falls überhaupt, denn in immer mehr Formaten wird ihr Liebesleben nur am Rande thematisiert, während der explizite Outing-Streifen, die Travestie-Show, das Szene-Porträt dem (leider gescheiterten) Klientelkanal TIMM vorbehalten bleibt oder Hochglanzserien wie The L-Word und Queer as Folk. Wie mainstreamtauglich schwul im Fernsehen mittlerweile ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass im Tatort: Mord in der ersten Liga vor zwei Jahren sogar ein Profifußballer aus Hannover queer sein durfte (dafür allerdings sterben musste). Im Breiten-TV nähern sich Männer, die Männer lieben, also dem höchsten aller emanzipatorischen Ziele: Unsichtbarkeit, ohne sich verstecken zu müssen.

Davon ist die artverwandte, doppelt diskriminierte weibliche Seite noch ein Stück entfernt. Lesben kommen im Fernsehen kaum vor. Im Gegenteil: eine offensiv geoutete Darstellerin wie Ulrike Folkerts wartet auch nach fast 25 Jahren Tatort auf so etwas wie ein aktives Liebesleben und wenn sie andernorts doch mal eins haben darf, wird sie schwanger wie einst in der pappflachen Sat.1-Komödie Liebe in anderen Umständen. Und so bleibt die wundervolle Rosalie aus der ARD-Serie Berlin, Berlin doch eine Ausnahme: Gebildet, freundlich, attraktiv, ökonomisch prekär, emotional suchend, eine Mittzwanzigerin eben wie aus der Kreuzbergfibel. Keine betont männliche „Butch“ der Marke Walter aus dem RTL-Frauenknast, wie sie bis dato – wenn überhaupt – in Film und Fernsehen zu sehen war; keine betont weibliche „Femme“, wie sie die Medien – wenn überhaupt – pflegen. Weder hässlich und schroff noch bildschön und erfolgreich also. Für soviel Emanzipation ist das Fernsehen offenbar doch noch nicht reif.


Jörg Hartmann, Fernsehschauspielspätstarter

Ich mag den

Jörg Hartmann ist einer der herausragenden Schauspieler im Land. Umso erstaunlicher, dass der Westfale erst im biblischen Alter von fast 40 fürs Fernsehen entdeckt wurde. Dort hat er es allerdings in kürzester Zeit zum Tatort-Kommissar gebracht – nicht zuletzt wegen seiner grandiosen Rolle als emotional zerrütteter Stasi-Offizier Falk Kupfer in der ARD-Serie Weissensee (dienstags, 20.15 Uhr, ARD).

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Hartmann, kann es sein, dass die Besetzungsliste von Weissensee nicht ganz korrekt ist?

Jörg Hartmann: Huch, inwiefern?

Sie stehen an sechster Stelle, sind aber eigentlich der Hauptdarsteller.

Ach du Scheiße, ich stehe hinter den zwei Liebespaaren? Da muss jetzt erstmal mein Ego mit klarkommen… (lacht). Nee ernsthaft, es gibt nicht die eine Hauptfigur, aber als ständig treibende statt bloß getriebene Kraft ist Falk Kupfer schon eine Triebfeder der Geschichte. Andererseits docken Zuschauer emotional gern positiv an einer bestimmten Figur an; bei meiner dürften das eher wenige tun.

Dafür sorgt sie für den Thrill der Tyrannei.

Und ist somit natürlich alles andere als ein Sympathieträger. Zumal er trotz aller Konflikte und Ängste stets das System verkörpert. Der wird sich nie wirklich ändern.

Aber wünscht man sich als Schauspieler nicht genau das – eine Figur, die sich wandelt?

Wie bei Ulrich Mühe, der im Leben der anderen vom Saulus zum Paulus reift? Grundsätzlich schon, aber es geht hier ja nicht um meine Wünsche, sondern eine Geschichte, deren Figuren im Rahmen des Drehbuchs realistisch ausgefüllt werden müssen. In dem Rahmen kann ich zum Beispiel die Sehnsucht nach Anerkennung des Vaters stärker gewichten als pure Systemtreue. Aber Falk sieht sich trotz seiner bürgerlichen Privilegien ja als Gralshüter der sozialistischen Lehre. Er ist ein absoluter Idealist.

Nicht eher ein Opportunist?

Nein, ein Überzeugungstäter auf einem harten, steinigen Weg, der viele andere um ihn herum langsam aufweichen lässt. Er fordert jedoch von allen viel ein, doch von niemandem mehr als von sich selbst.

Müssen Sie dieses Verständnis für negative Charaktere aufbringen, um sie glaubhaft spielen zu können?

Unbedingt. Ein reines Arschloch zu spielen macht weit weniger Spaß. Und Falk ist für mich gar keins, weil ich ihn Stück für Stück begriffen habe. Ich mag den. Ohne ihn zu entschuldigen – das ist doch ne arme Sau, so verklemmt, verkrampft und kalt wie er ist.

Wie haben Sie sich auf ihn vorbereitet – im Gespräch mit alten Stasi-Offizieren?

Ach, an die kommt man doch gar nicht ran. Dafür hab ich Doktorarbeiten über Verhörtaktiken von denen gelesen, aber auch Opferbücher wie Vernehmungsprotokolle von Jürgen Fuchs. Außerdem habe ich viel in der Birthler-Behörde recherchiert, Videoaufnahmen studiert und natürlich Filme gesehen, vor allem Dokus.

Klingt nach einem fast wissenschaftlichen Ansatz?

Bei der historischen Verantwortung dieser Rolle ist das auch nötig. Dennoch bleibt es eine Fiktion, auch wenn es von vielen womöglich für bare Münze genommen wird. Gerade, wenn es – was ich schwer hoffe – mal in Schulen gezeigt wird. Ich bin aber auch sonst ein eifriger Bastler meiner Rollen.

Heißt Bastler Perfektionist?

Hier schon. Schließlich ist es ein großes Geschenk, als Ruhrpottler so in die DDR eintauchen zu dürfen. Als Orts- und Zeitfremder habe ich eine richtige Gier nach Wissen entwickelt.

Zumal andere Filme über diese Epoche wie Christian Schwochows Tellkamp-Verfilmung Der Turm vor allem mit Eingeborenen arbeiten.

Das stimmt, sollte man aber auch nicht überbewerten. Ich habe in Friedemann Fromms „Die Wölfe“ schon mal einen Stasi-Offizier gespielt, daran hat er sich offenbar erinnert. Was ich allerdings mehr überwinden musste als den fehlenden Ost-Faktor war der fehlende Promi-Faktor. Damals kannte mich ja eigentlich kaum jemand.

Das hat sich nun grundlegend geändert.

Nach Weissensee ging’s in der Tat los. Auch wenn ich zuvor schon der Dienststellenleiter bei Bella Block war, war das mein Sprungbrett.

Ein ziemlich spätes, mit über 40.

Stimmt. Aber ich wollte auch in meiner Zeit am Theater immer drehen, da war Weissensee ein Türöffner – und ein Glücksfall. Ich hatte mein Engagement an der Berliner Schaubühne gerade gekündigt, als dieses Angebot reinkam und meinen Sprung ins kalte Wasser abgefedert hat. Der hätte auch ganz anders ausgehen können. Aber gleich danach kamen tolle Filme wie Das Ende einer Nacht, wo ich den Angeklagten gespielt habe.

Noch so eine sperrige Rolle oder?

Jetzt, wo Sie’s sagen. Da müssen demnächst mal andere Farben rein, das ist mein nächster Schritt, denn in unserer Branche wird einem das, was mal funktioniert hat, gern ständig angeboten. Da muss man höllisch aufpassen.

Und besser keinen Tatort-Kommissar spielen…

(lacht) Ja, besser nicht. Aber ich habe ja auch schon Komödie gemacht.

Mutter muss weg mit Bastian Pastewka.

Das war ein großer Traum von mir. Denn eigentlich entspricht das Komödiantische viel mehr meinem Naturell als diese tristen Falk Kupfers und Peter Fabers, ob Sie’s glauben oder nicht.

Weil Sie schon in der Schule ein Klassenclown waren?

Nicht nur da. In mir ruht ein echter Kasper. Andererseits ist es doch ein Segen, dass ich schon früh in meiner Filmkarriere so viele Figuren spielen darf, die das Publikum nicht sanft umarmen; das sind am Ende ja die spannenderen. Trotzdem wäre langsam mal ein Typ dran, der völlig normal ist.

Das ist die Königsdisziplin.

Königsdisziplin ist Stand-up, das hab ich mal mit Kurt Krömer in Berlin gemacht, reine Anarchie und ein Riesenspaß, einfach mal vom Leder ziehen, was man sonst ja nicht darf. Mir ist wichtig, alles spielen zu können und alles spielen zu dürfen.

Dafür müssen Sie bloß irgendwann mal mit Weissensee aufhören. Ist die 3. Staffel schon in Arbeit?

Nee, aber es wird bereits an ihr geschrieben. Jetzt warten wir mal die 2. Staffel ab, aber wenn die 3. in der Wendezeit spielt, könnte ich mir sogar noch eine 4. vorstellen, die 1992 oder so spielt. Ich bin da offen für alles.


Politikerantwortverzögerungsadverb

fragezeichen_1_Wann immer Politiker nach Wahlen zu eben denen gefragt werden, beginnen sie ihre Antwort mit einem bestimmten Verb, statt irgendwelcher Aussagen. Merkwürdig

Würde Politik den Mechanismen von Logik, Verstand und Effizienz folgen, klänge es nach verlorenen Wahlen am Bildschirm wie folgt: Medien stellen Fragen, Fragen erzwingen Antworten, Antworten schaffen Aufklärung, und das alles am besten mit klaren Worten. Ein einziges davon allein allerdings genügt bereits, jeder Verstandeslogik im Nachwahlpolitikinterview die Effizienz zu vermasseln. Es ist ein temporales Adverb und heißt: zunächst. Zunächst, so entgegnet noch jeder Wahlverlierer nämlich auf die naheliegende Frage nach den Gründen der Niederlage, „danke ich unseren Wählern/Helfern/Parteifreunden“ für „ihre Stimmen/Mühen/Mitgliedschaft“. Seltsam.

Denn davon wollten die Interviewenden zunächst ja herzlich wenig wissen. Sie trachten nach Erklärung, Gründen, gar Mea Culpas. Weil all dies aber schmerzlich ist für Loser, weil Schuldeingeständnis, ja nur das einer Niederlage in der Mediengesellschaft als Zeichen der Schwäche gilt, weil Inhalte generell nicht sonderlich beliebt sind im Politsprech, wird alles hinter einer Geste des Gewinners versteckt. Denn Dank zeugt ja von etwas Dankenswertem, also Positivem. Das zunächst mal munter vor die Substanz gestreut, sorgt gleich für ein subjektives Gefühl des Siegers. Würden die nicht ihrerseits selber so gerne die Frage nach den Siegesgründen gleich mal mit, richtig: „zunächst“ beginnen. Womit bewiesen wäre: Geschwafel ist die Währung des Wahlkampfs. Abschließend.


Wohlstandszöglinge und 12 Geschworene

Werbung, RFT Color 20, FernseherDie Gebrauchtwoche

15.-22. September

Manchmal muss man auch dann kurz mal inne halten, Demut zeigen, Anteil nehmen, wenn jemand von uns gegangen ist, dessen politische Gesinnung im Kern eine andere war, als die empathiebegabter Menschen links der Rechten: Marcel Reich-Ranicki ist tot. Mit 93 rein biologisch nicht wirklich zu früh, nach einem schmerzensreichen, lebenssatten Dasein, das für drei Existenzen gereicht hätte. Dennoch nicht spät genug, weil dieser bis zur Selbstgerechtigkeit intellektuelle Scharfrichter des geschriebenen Wortes der Leitkultur zwanghafter Differenz ebenso viel Feuer unterm Hintern gemacht hat wie seinerzeit ein paar wenige Wesenverwandte, denen er als gläubiger Mensch nun womöglich in irgendeiner Art Jenseits begegnen wird: Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß, oft nervige, aber stets aufrüttelnde Sperrwesen des Stromliniendiskurses.

Da kann man vor Trauer glatt mal die zwei anderen Top-Nachrichten der vergangenen Woche vergessen: David Hasselhoff ist angeblich wegen zu hoher Gagenforderung (tatsächlich wohl eher nach vorheriger Absprache wie beim Hollywood-Promi auf dem Wetten, dass…?-Sofa) aus dem Luxus-Container von Promi Big Brother ausgezogen. Und was war noch die zweite… Moment… Ah ja: Die Grünen haben die Bundestagswahl gewonnen. Hip Hip Hurra! Mit 26,9 Prozent der Stimmen, gut zehn mehr als die SPD, gar dreimal so viel wie die Union und dem Vierfachen dieser angeblichen „Partei“ mit dem Zweitstimmenbettelkurs. Für Naturfreunde bleibt allerdings zu ergänzen, dass dies leider nur das Ergebnis gewesen wäre, wenn ausschließlich Politikjournalisten hätten wählen dürfen. Zum demokratischen Glück durften aber auch Bild-Leser und andere regierungsfreundlich Infiltrierte hiesiger Meinungsmedien wählen, die sich lieber von just in time lancieren Pädophiliedebatten und Gefälligkeitsinterviews mit Konservativen als Inhalten überzeugen ließen.

So wurde das Ergebnis am Ende doch noch an den Urnen erzielt, statt in Redaktionen, die sich für deren Ersatzbehälter halten. Da das Ergebnis trotz des erfrischend abrupten Endes besagter FDP als Partei von Belang am Ende aber doch weniger spannend war als die langen Gesichter neoliberaler Wohlstandszöglinge auf der freiheitlich liberalen Wahlparty, die alle relevanten Kanäle (minus Sat1) unablässig zeigten, kommen wir also zur dritten, im Grunde gar einzig wahren Spitzen-News der vorigen Woche: Im Berliner Tatort ermitteln ab 2015 zwei neue Kommissare. „Unsere Hauptdarsteller Boris Aljinovic und Dominic Raacke sollen nicht als Berliner Polizeibeamte in Rente gehen“, ließ der RBB verlauten und schob eilends hinterher, das habe man „nach dem jüngsten Dreh mit ihnen besprochen und verabredet“. Wie gerne man das doch glauben würde, statt nach dem Kommunikationsdebakel des Personalwechsels im Saarland doch wieder nur Streit um Geld, Quote und Kleingeist zu unterstellen.

Drei Superstichworte übrigens für das, was Donnerstagabend geschah: Da brachten ARD und ZDF zum Warm-up eines Wahlkampfes, den die Medien lange selbst als langweilig beschrieen hatten, eine gemeinsame Runde mit dem politischen Führungspersonal der Republik zusammen, was sogar ziemlich spannend und erkenntnisreich war, und was geschieht: Irgendeine Krimiimportsause auf Sat1 hat fast so viel Publikum wie beide zusammen.

Die Neuwoche

23.-29. September

Es war übrigens eine Wiederholung, mit der dieser ehemals bedeutsame Fernsehsender in der Publikumsgunst vorne lag. Weshalb wir da mal im Trend bleiben und zum Wochenstart genau dazu raten, wenngleich einer derjenigen mit absolut erstklassiger Erstausstrahlung vorab, auch wenn sie gut fünf Jahrzehnte zurückliegt. Heute nämlich zeigt Arte Die zwölf Geschworenen mit Henry Fonda, definitiv einer der besten Filme aller Zeiten. Und weil im Repititven oft eine geheimnisvolle Kraft wohnt, seien hier noch zwei weitere Altfälle zur Neubesichtigung empfohlen: Dobermann (Dienstag, 0.10 Uhr, Tele 5) mit Vincent Cassel, ein französisches Gangstermovie, das Ende der Neunziger in einer Reihe extrem gediegener Gewaltorgien von Natural Born Killers bis Pulp Fiction stand und beiden in wenig nachsteht. Und am gleichen Abend zur besseren Sendezeit Ghost Dog, ein echter Meilenstein des Coming-of-Age-Kinos mit der blutjungen Scarlett Johannsson und dem 2001 auch noch etwas frischeren Steve Buscimi von 2001 (ZDFkultur, 20.15 Uhr).

Zeitgemäßer, ungesendeter, kaum vergleichbar, aber für den Sendeplatz auf Sat1 durchaus ansehnlich ist dagegen parallel Nichts mehr wie vorher, ein Melodram mit dem famosen Nachwuchstalent Jonas Ney (Homevideo), der dem potenziellen Lynchjustizopfer eines realen Falls falscher Anschuldigungen im Emdener Mordfall Lena ein fiktionales Gesicht gibt, das sich nun wirklich nicht gewaschen hat, sondern überaus natürlich wirkt. Ein Effekt, den er mit einigen der singenden Visagen beim Bundesvision Song Contest am Donnerstag auf Pro7 hat, der zumindest dem Anschein nach echte Musik zur Auswahl stellt, auch wenn der Bundesländerwettbewerb dahinter noch konstruierter ist als die zu erwartende Bombastkulisse.

Oder wahlweise das Finale von Promi Big Brother, wo Freitag auf Sat1 neben The Hoff auch sonst alles fehlt, was das Medium vor der Lächerlichkeit mit Zugkraft bewahrt. Gut, dass es da noch Sender wie Arte gibt, die am Mittwoch mit This Ain’t California Terrain betreten, dass sich längst kein vollprogramatischer Konkurrent mehr (zu)traut: Die Skateboard-Szene der – Achtung! – DDR zu beleuchten, von deren Existenz allein zu wissen ja schon eine grandiose Rechercheleistung ist. Was für ein Fest kreativen Fernsehens!

So wie zu gleicher Zeit um kurz nach zehn auf Pro7, wo die 2. Staffel der American Horror Story startet, dessen Szenario in einer Nervenklinik der 60er an allem reißt, was dort gemeinhin behandelt wird. So wie am Freitag im WDR, das ein bisschen spät, um daraus noch Wahlentscheidungen zu generieren, Annette Zinkants Dokumentation Das waren die Grünen läuft, wenngleich erst um 23.15 Uhr. Weil man auch mal was zur angenehmeren Sendezeit empfehlen muss, die allerdings von ansehnlichem Programm bisweilen recht leergefegt ist, lautet der Tipp des Tages ausnahmsweise mal: DFB-Pokal, Mittwoch live im Ersten, sonst in Echtzeit bei Sky. Da gewinnen im Gegensatz zur Bundestagswahl auch mal die Kleinen.


Reise: Art Nouveau Bienale, Brüssel

Im Meer der Moderne

Jugendstil Brüssel Olivier Berkman vor seinem Haus

Olivier Berman vor seinem Jugendstilhaus. Foto: freitagsmedien

In Brüssel steht der schönste Jugendstil Wand an Wand mit den hässlichsten Bausünden. Dieser Kontrast hat zwar seinen Reiz, am schönsten ist die Stadt aber doch, wo die Zeit vor 100 Jahren stehen geblieben scheint. Zum Beispiel bei Olivier Berman

Von Jan Freitag

Eigentlich liegt Brüssel ziemlich weit abseits aller Küsten, doch Olivier Berman spürt trotzdem Seeluft in der Nase. „Das da drüben ist ja mein Meer“, sagt er auf seiner bezaubernden Dachterrasse und lacht, denn positiv betrachtet sei die betongraue Scheußlichkeit gegenüber kein Plattenbau, „es ist mein Atlantik“. Und sein eigenes Haus demnach kein gewöhnliches Domizil, sondern ein gediegenes Eiland im Meer architektonischer Einfalt. Wieder dieses Lachen: „So ist eben das Inselleben.“

Geht’s um ihre Metropole, werden viele Brüsseler so kritisch anspruchsvoll wie genügsam, und nichts brächte das besser zum Ausdruck als Monsieur Bermans traumhaftes Jugendstilhaus. Seit er in dem besonders schönen dieser an schönen Gebäuden so reichen Stadt wohnt, umgeben von den hässlichsten dieser an hässlichen Gebäuden kaum ärmeren Stadt, ist der distinguierte Kunsthistoriker Mitte 50 zum eleganten Zyniker mit Realitätssinn geworden. Wer hier lebt, lernt mit Widersprüchen umzugehen. Ach, er genießt sie förmlich, jene Schönheit des Durcheinanders, die Außenstehende alle zwei Jahre unmittelbar erleben dürfen.

Dann nämlich öffnen rund 100 der privaten Prachtstücke konventionslosen Bauens ihre Pforten zu Art Nouveau Bienale und keiner öffnet sie häufiger als Olivier Berman. Seit 1998 zwängen sich Wildfremde durch sein schmales Haus, um hautnah zu spüren, wie viel mehr als EU in seiner Stadt steckt. Brüssel gilt als Kapitale einer Ära, die bis vor 100 Jahren Spuren von aberwitziger Anmut setzte, sie ist aber auch das Zentrum des anarchistischen Scheißegals, in dem jeder baut, wie es ihm gerade passt, schon allein, weil es für deutsche Bürokratiemonstren  wie Flächennutzungsplan keine belgische Entsprechung gibt. Deshalb zwängt sich manch unfassliche Villa des genialen Jugendstilerfinders Victor Horta zwischen öden Nachkriegsklinker, nüchterne Art Deco und futuristische Glasstahlorgien. Das Stadtbild ist zerklüftet wie ein Felsenriff.

Von daher mag Olivier Bermans Meeresvergleich böse klingen; weit hergeholt ist er nicht. „Die Architektur hier erinnert an unsere Küste“, der sanft ergraute Mann setzt sich neben ein Grammophon und lächelt versonnen: „Wo der Jugendstil entstanden ist, sind nun die schlimmsten 60 Kilometer der Nordsee.“ Ob ihm, der die Perle des Horta-Schülers Gustave Strauven von 1919 aus „Mitleid um dessen Zustand“ einst gekauft und saniert hat, da nicht das Herz blute? Bermans Achseln zucken: „Städte sind nie statisch, sie leben.“ Es nütze also wenig, die Ignoranz zu beklagen, mit der Brüssel sein steinernes Gedächtnis betoniert. Lieber solle man sich auf die Suche begeben. Keine Sorge, sanft streichelt der elegante Berkman die Applikationen seiner eisernen Balkongitter: „Sie werden fündig.“

Gut 10.000 Gebäude sind jugendstilgeprägt. In der Rue Vanderschrick, dem kompaktesten Ensemble, stehen gleich 25 Tür an Tür. Ausgerechnet – denn während Viertel wie dieses hierzulande längst nachhaltig gentrifiziert wären, lassen die multikulturellen Namen an den kupfergrünen Klingeln erahnen, dass Saint Gilles zu Belgiens ärmsten Quartieren zählt, vergleichbar vielleicht Duisburg Marxolohe. Genau das aber ist für die Substanz ein Segen: als die Stadt in den 60ern der Modernisierungswahn befiel, fehlte den zugewanderten Bewohnern der Jugendstilquartiere schlicht das Geld zum Abriss; nun leben sie in Bauten, deren touristischen Wert die Stadt erst langsam entdeckt, wie zur Bienale.

Zu Tausenden werden auch diesen Herbst wieder Fans aus aller Welt jene lichtdurchfluteten, rundungsverliebten, blumenumrankten Lebensorte bestaunen, die oft in schlechtem Zustand sind, aber von betörendem Liebreiz. Und da ist noch nicht mal von den Königlichen Gewächshäusern die Rede, mit denen sich Leopold II. 1873 ein Jugendstildenkmal bauen ließ. Einmal im Leben, so heißt es, muss jeder Belgier die Kathedrale kolonialer Protzerei, deren Pforten jeden April ganze vier Wochen für den Pöbel öffnen, besuchen. Und jeder Mensch, für den Häuser Organismen statt bloß Gebäude sind, sollte einmal nach Brüssel fahren. Auf der Suche nach Inseln im Meer der Moderne.

Bienale Art Nouveau Art Déco: 5.-27. Oktober 2013

Infos: www.belgien-tourismus.de; http://visitbrussels.be


Marco Schreyl, RTL-Alleswegmoderierer

Hübsche Nacktschnecke

Das TV-Gewächs Marco Schreyl ist der Prototyp harmlosen, aber erfolgreichen Kommerzfernsehens schlechthin. Lausbubencharmant und kantenfrei moderiert der 39-Jährige alles grinsend weg, was ihm RTL vor die hübsche Nase setzt. Und weil das so generationenübergreifend ankommt, darf er jetzt sogar öffentlich-rechtlich einen Preis verleihen: die grenzenlos irrelevante Goldene Henne von Superillu und MDR (25. September, auch im RBB).

Von Jan Freitag

Das deutsche Fernsehen ist von einer tiefen Bitternis erfüllt. Allerorten geht sie um, die Frage, wie bitter es denn sei. Wie bitter, die Meisterschaft in drei Minuten vergeigt zu haben oder wegen eines Eigentors abzusteigen. Wie bitter genau, Zero Points aus France zu kriegen, aber zwölf Punkte aus Flensburg. Das Interview als Handwerksstück reduziert sich am Bildschirm zusehends auf diesen Fragetypus; man könnte ihn zu verifizierende Attributivannahme nennen, eine Art Skalierungsgesuch im Single-Choice-Dialog. Sein Großmeister heißt Marco Schreyl.

Als Moderator von Deutschland sucht den Superstar hat er die Wie-Frage perfektioniert. „Wie wichtig ist dir das“, drang er in den späteren Gewinner Mark, nachdem der gerade Pathossatt beteuert hatte, für seinen Voten Vater zu singen. „Wie sehr lieben Sie Ihre Tochter“, presste er aus Lisas Vater heraus, als die ihre Elternliebe beschwor. „Wie schön war dieses Lied für dich“, begann sein Verhör mit Martins Schwester nach dessen Beteuerung, sie sei ihm das Wichtigste. In Schreyls Welt spielen Antworten keine Rolle. Er gibt sie allesamt vor.

Und warum sollte es auch mehr sein. Marco Schreyl ist jene Fassade, die das Fernsehen, zumal privat verantwortet, sucht. Deshalb hat ihn RTL vor zwei Jahren dem ZDF abgekauft und zum Sendergesicht ausgebaut. Vom Altenheim ins Irrenhaus, kommentierte Harald Schmidt den Wechsel. Fünf Jahre lang hatte das „Moderatorentalent“, wie ihn der Tagesspiegel mal nannte, zuvor das Nachmittagsmagazin hallo deutschland präsentiert, recht gehaltvollen Boulevard also. Marco Schreyl sagt lieber: „Journalistischen Boulevard. Er meint es verteidigend.

Schreyl hat also seine Selbstachtung nicht in Mainz vergessen, jenes Berufsethos, das sich der Erfurter 1997, gerade mal 23, in der MDR-Nachrichtenredaktion erarbeiten musste. Es machte ihn zu einem Hoffnungsträger und war für sein Portfolio im Zweiten mitverantwortlich: Boulevard, Boxen, Der Große Preis, Königshochzeit – wenig, das man dem ausgebildeten Sportkommentator nicht zutraute. Man nennt so was Allzweckwaffe, eine attraktive zudem, die das Publikum 2002 zum „Schönsten Moderator Deutschlands“ kürte.

Vielleicht war das ein Titel zu viel. RTL jedenfalls griff zu und machte aus Schreyl die hübsche Rampensau von heute, eine telegene Frontfigur ohne den Ballast kritischer Wissbegier, kreuzbraver Ausdruck leichter Abendunterhaltung. Ihr Credo heißt Nettigkeit. „Ich halte vom ständigen Runtergemache herzlich wenig“, erklärt er und klingt dabei so arglos wie einer, der lieber Tabu spielt als Monopoly. Seine Aufgabe sei es, „nett, verbindlich und als Gastgeber vor allem charmant zu sein“. Kein Wunder, dass er sich bei Alfredissimo zu deutscher Hausmannskost bekannte. Kein Wunder auch, dass er gern für PR-Events von BMW bis Gerolsteiner gebucht wird.

Denn Schreyl lächelt immer, redet flüssig und sagt nie was Zweckfremdes. „Vielleicht haben sie jetzt eine Vorstellung davon“, leitete der Nachfolger des Skisprungexperten Jauch beim früheren Skisprungsender RTL von einem Gespräch über Skisprungbrillen zur Finanzierung teurer Skisprungübertragungen über, „und vielleicht haben Sie ja eine Vorstellung davon, wie viele von diesen Maskottchen in unserem Nissan versteckt sind“. Kommerz verdängt Kompetenz. Welches Weblog, welches Forum man auch liest, kaum jemand lässt ein gutes Haar an Schreyl. „RTL-Foltermeister“ heißt es da, öde, unvorbereitet, langweilig. Nur selten wird er als einer der Besten seiner Zunft geadelt. Außer von Mukoviszidose e.V. Da ist Schreyl Botschafter. Ob er beim Studium der Sprechwissenschaften gelernt habe, „wie man viel und lange sinnloses Zeug redet“, fragt dagegen das Medienportal loovt.de.

Die Antwort lautet: Nein, so funktioniert Fernsehen in der Primetime. Die Show der Merkwürdigkeiten etwa sahen mal 21 Prozent der 14- bis 49-Jährigen. Sie geben sich samt der Anspruchslosen anderer Semester offenbar zufrieden mit den Stichwortgebern unterfordernden Massenentertainments. Wie Marco Schreyl. Ob Superstar-, Verbraucher- oder Sportshow – der 39-Jährige erinnert in seiner Harmlosigkeit an die gemeine Nacktschnecke: ein reines Futtertier unkomplizierter Konsumenten, im Auftreten leicht schleimig, aber unschädlich. Und dreht man sich nur kurz mal um, ist auch schon alles voll von ihnen.

Schließlich hält sich jeder Privatsender seine Aushängeschilder: Daniela Katzenberger ist Vox und Vox ist Daniela Katzenberger. Sat1 hat Oliver Pocher assimiliert, Sky Harald Schmidt und Pro7 gleich ein ganzes Team (Raab, Kraus, Joko und Klaas) während sich Schreyl diesen Rang bei RTL mit Oliver Geissen und Günther Jauch teilt. Sie alle stehen für Spaß ohne Risiko und Nebenwirkungen. Marco Schreyl nennt es „journalistische Unterhaltung“ und beziffert deren Verbreitung auf „fast die Hälfte im deutschen Fernsehen“. Was bitter wäre. Wie bitter, müsste man ihn fragen lassen. Also wie bitter genau. In Bittermaßen bitte, ein Bit vielleicht. Marco Schreyl will es genau so. Er könnte es besser.


Avi Primor, Israels Ex-Botschafter in Bonn

Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist vorbei

502px-Avi-primor-2010-ffm-033Avi Primor auf einer Pressekonferenz 2010. Foto: Dontworry

Vor 20 Jahren wurde Avi Primor Israels Botschafter in Bonn und bis 1999 nicht nur zum großen Diplomaten auf schwierigem Terrain, sondern zum Experten des Nahostkonfliktes – was ihn selbst mit 78 zum begehrten Ansprechpartner macht, wenn es um die Chancen des Friedens in seiner Region geht. Die bewertet er indes auch nach dem Beginn neuer Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern skeptisch.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Primor, nach drei Jahren Funkstille sitzen Israelis und Palästinenser wieder am Verhandlungstisch. Wie sehen Sie die Friedenschancen diesmal?

Avi Primor: Nicht mit dem größten Optimismus, weil beide Kontrahenten ja nur widerwillig und unter heftigem amerikanischen Druck dorthin gehen. Aber immerhin sieht es so aus, als würden die USA – das einzige Land, das unsere Sicherheit wirklich erzwingen kann – diesmal auf ernsthafte und sachliche Verhandlungen beharren.

Das war zuvor anders?

Ja. Spätestens bei Präsident Obamas Besuch in Israel hätte ich mir im März eine öffentliche Zusicherung gewünscht, den Konflikt zur Not mit der Stationierung von Friedenstruppen zu beenden. Die Mehrheit der Israelis hätte fortan die radikale Minderheit unter Druck gesetzt, einzulenken.

Heißt das, die Siedlungspolitik zu stoppen?

Absolut. Denn ohne Druck von außen fehlt dazu leider der politische Wille im Innern. Wenn die USA, von denen sowohl wir als auch die Palästinenser total abhängig sind, nun aber beide Kontrahenten dazu drängen, zunächst mal über den Verlauf einer Grenze zwischen Israel und dem künftigen Palästinenserstaat zu entscheiden, könnte auch die Siedlungsfrage gelöst werden. Wie im Gazastreifen fiele es dann nämlich keinem Israeli mehr ein, Siedlungen jenseits der Grenze zu bauen. Dafür muss Präsident Obama allerdings das tun, was er im Frühjahr versprochen hat.

Und das wäre?

Die Sicherheit der Israelis nach dem Abzug aus dem Westjordanland zu gewährleisten. Denn in einem Staat wie Israel ist Frieden untrennbar mit Sicherheit verbunden. Die gewähren zu können trauen den Palästinensern allerdings nur wenige jener 70 Prozent der Israelis zu, die der Zweistaatlichkeit positiv gegenüberstehen. Die Regierung in Ramallah kann schließlich kaum garantieren, dass nach dem Rückzug aus dem Westjordanland nicht Extremisten die Politik definieren. Als abschreckendes Beispiel dient da der Gaza-Streifen, den Israel 2005 einseitig geräumt hat.

Ohne allerdings auf Repressalien jeder Art zu verzichten.

Mag sein, doch obwohl es weder Besatzungssoldaten noch Siedlungen gibt, steht das angrenzende Kernland unter permanentem Raketenbeschuss. Für die israelischen Anwohner ist das furchtbar, aber wenn diese Angriffe vom zentralen Westjordanland aus erfolgen, läge Israels gesamte Infrastruktur in Schussweite der primitivsten Hamas-Waffen. Das würde die Stabilität des ganzen Landes gefährden, dessen Mehrheit zudem von einer Minderheit regiert wird.

Inwiefern?

Dem trennungswilligen, aber zögerlichen Teil der Israelis, steht ein kleiner, ideologischer gegenüber, der sich gegen jede Zweitstaatlichkeit mobilisieren lässt. Die versöhnlichen Stimmen dagegen sind nicht nur uneins, sondern schlimmer noch: desinteressiert. Als lebten wir in der Schweiz, haben die erfolgreichen Oppositionsparteien im vorigen Wahlkamp Fragen von Siedlungspolitik, Krieg, Sicherheit einfach gar nicht thematisiert.

Weil ihnen die sozialen Probleme des Landes drängender erschienen?

Eher, weil trotz günstiger Voraussetzungen niemand mehr an Frieden glaubt. Dieser Fatalismus entspringt dem Bedürfnis, keine Energie auf etwas zu verwenden, was unlösbar erscheint.

War es da nicht ein reinigender Prozess, dass die Bürger 2011 israelische Belange endlich nicht mehr rein sicherheitspolitisch bewertet haben?

Schon, sofern sie die sozialen Probleme an deren sicherheitspolitischer Wurzel gepackt hätten. Dass der Lebensstandard trotz allen Wirtschaftswachstums sinkt, hat seine Gründe ja vor allem in einer öffentlichen Hand, die ihre Mittel zuerst in drei Bereiche steckt: Siedlungen, ihren Schutz und deren ultraorthodoxe Bewohner, die weder dienen noch arbeiten. Diese Lage scheint vielen Israelis so ausweglos, dass sie lieber wegsehen.

Es sei denn, die USA griffen ein.

Genau. Würde Obama für Sicherheit garantieren, könnte er von mindestens zwei Dritteln der israelischen Bevölkerung erwarten, dass sie für weitergehende Zugeständnisse Druck auf die eigene Regierung ausüben. Auch wenn diese Garantie noch nicht in ausreichendem Maße erbringt, hat sich der US-Präsident in unerwarteter Weise für Friedensbemühungen einschließlich einer energischen amerikanischen Begleitung und Unterstützung für solch ein Procedere ausgesprochen – mit dem Ergebnis, dass es jetzt zu Friedensverhandlungen kommt. Barack Obama hat also auf seinen ursprünglichen Ehrgeiz, Frieden in Nahosten herbeizuführen, keineswegs verzichtet. Das ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.

Aber ist es auch bereits ein sicherheitspolitische Erfolg?

Ja. Auch wenn er sich nicht offen für Sicherheitsgarantien nach dem Abzug aus dem Westjordanland ausspricht, hat er uns in Sicherheitsfragen ja umfassend den Rücken gestärkt. Die Tatsache, dass sich die Israelis nun zuversichtlicher fühlen, entkrampft sie und ebnet den Weg zu neuen Friedensverhandlungen.

Welchen konkreten Beitrag erwarten Sie dafür von den Palästinensern?

Die sind Obama insofern entgegengekommen, als sie bei der UNO vorübergehend auf einseitige Bemühungen verzichtet haben. Wenn sie jetzt noch seinem Wunsch entsprechen, den Stopp des Siedlungsbaus nicht mehr offiziell zu fordern, beenden ihn die Israelis womöglich inoffiziell. Ihre Rückkehr an den Verhandlungstisch ist jedenfalls ein gutes Zeichen.

Und welcher arabische Nachbar könnte dort der nächste sein?

Wenn der Bürgerkrieg beendet ist, hoffe ich auf Frieden mit Syrien, womit sich der Libanon fast automatisch anschließen würde. Damit hätten wir ihn nach Ägypten und Jordanien mit allen unmittelbaren Nachbarn geschlossen. Noch wichtiger ist jedoch, dass Saudi-Arabien und die Golfstaaten den Palästinensern so weit den Rücken stärken, dass die sich in Verhandlungen mit echten Zugeständnissen trauen. Es muss auf beide Seiten Druck ausgeübt werden.

Was steht dem in dieser Region am meisten im Weg: Nationalismus, Machtpolitik, Religion oder alles zusammen?

Vordringlich ist es ein Nationalismus, der bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im alten Europa herrschte. Es ging dabei um Machtwillen, Territorium, Stolz – Kategorien also, die im neuen Europa weitgehend überholt sind, im Nahen Osten aber weiter wirken. Denn seit Israel 1948 in einem Krieg hinein geboren wurde, der im Grunde immer noch anhält, galt es unter den Nachbarn ja nur als vertagte Selbstverständlichkeit, dass Israel von Landkarte verschwinden würde. Frieden war ohne Chance.

Woran Israel keinesfalls unschuldig war.

Stimmt. Bis 1967 hatte es zwar auf die Hälfte Palästinas verzichtet, nach dem Sechs-Tage-Krieg jedoch auch den historischen Teil ihrer Nation erobert.

Das biblische Judäa und Samaria.

Woraufhin große Teile der Bevölkerung ihre realpolitische Verzichtshaltung zugunsten faktischer Inbesitznahme geändert haben. Die Palästinenser wollten ihren Staat, Israel kein Territorium hergeben – worum hätte man verhandeln sollen? Aber seit die meisten Araber widerwillig zum Schluss gekommen sind, dazu verdammt zu sein, mit Israel zu leben, ist eine friedliche Lösung denkbar. Zumal seit dem Oslo-Abkommen von 1994 eine Mehrheit in Israel die Trennung vom Westjordanland befürwortet. Und weil daran sogar jene Islamisten nicht rütteln, die seit Mubaraks Sturz in Kairo an der Macht sind, scheint Frieden möglich.

Werden Sie den noch erleben – mit fast 80 Jahren ?

1977, als Präsident Sadat uns in Jerusalem wie ein Wunder wider die Natur die Hand gereicht hat, hatte ich diese Hoffnung. Wenn Barack Obama uns nun seine Hand ausstreckt, ist Frieden von einen auf den anderen Tag möglich. Man muss nur die Verantwortung dafür übernehmen. Frieden braucht kühne Männer wie Rabin, wie Sadat, Männer, die dafür ermordet wurden, aber die Geschichte geht weiter.

Also doch optimistisch?

Es könnte klappen, ja. Man muss es nur durchsetzen wollen. Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist vorbei.


Kochendheißduscher

fragezeichen_1_Wer in Film und Fernsehen unter die Dusche steigt, füllt das Badezimmer in kürzester Zeit mit Dampf, als läge die Wassertemperatur am Siedepunkt. Merkwürdig

Bei Doktor Mabuse fing alles an. Tief in der schwarzweißen Filmfiktionsära konnte er sich mal unsichtbar machen und wurde erst enttarnt, als sein Widersacher im Badezimmer das Wasser so heiß aufdrehte, dass sich die Konturen des Bösewichtes in den dampfenden Rauchschwaden abzeichneten. Da fragt sich natürlich, ob handelsübliche Hähne seinerzeit zugleich Tauchsieder waren. Denn selbst, wenn wir die Dusche auf Höchsttemperatur drehen, verdampft das Nass nur dann wirklich sichtbar, wenn sie am Polarkreis im Freien stünde.

Merkwürdig.

Und nicht allein mit dem handelsüblichen Visualisierungsbedarf eigentlich unsichtbarer Elemente erklärbar. Selbstredend soll ein heißes Bad auch über Schmerzensschreie hinaus am Bildschirm erlebbar werden. Ebenso wichtig am dichten Zimmernebel ist allerdings der Aspekt des Verruchten. Denn das Diesige im Raum steht in Kombination mit darin befindlichen Körpern für einen gewissen Erotikfaktor. Stichwort: Haut. Stichwort: Schwitzen. Stichwort: Ausdünsten. Stichwort: rrrrrhhhh. Weil man in den wenigsten Duschszenen wirklich alles an den Duschenden sehen können darf, springt der Rauch als Schlüpfrigkeitsverstärker ein. Kochendes Wasser also statt kochender Leidenschaft. Immerhin.