Palina hier, Rojinski dort – die rothaarige Moderatorin russischer Herkunft mausert sich zur Allzweckwaffe gehobenen Trash-Entertainments. Und jetzt reanimiert der frühere Sidekick von Joko & Klaas auch noch eine Legende: Yo! MTV Raps. Ein Interview mit der Moderatorin übers Musikfernsehen von früher bis heute und was das HipHop-Magazin für ihr eigenes Leben bedeutet.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Palina Rojinski, als 1995 nach sieben Jahren die letzte Ausgabe Yo! MTV Raps lief, waren Sie gerade mal ein Jahr älter als die Sendung und erst kurz zuvor aus Russland nach Deutschland gezogen.
Palin Rojinski: Drei Jahre, um genau zu sein.
Was verbinden Sie da mit einer Musiksendung, die bereits Geschichte war, bevor Sie sie sehen konnten?
Oh, einiges. Schon weil ich sehr jung begonnen habe, dieselbe Musik zu hören. Meine Jugend war HipHop, meine Gegenwart ist HipHop, mit HipHop verbinde ich demnach ein Lebensgefühl, das sich schon damals in der Sendung wiederfand und hoffentlich jetzt wiederfinden wird.
Sind Sie denn eher der Oldschool-Typ oder offen für neue Entwicklungen?
Ich bin vor allem alive, deshalb mag ich Oldschool, aber auch Neuausrichtungen wie Trap oder Cloud-Rap. Außerdem finde ich es toll, dass darin mittlerweile so viele Frauen mitmischen und sich das Genre langsam in eine ausbalanciertere Richtung entwickelt.
Ist das Ihre Kernqualifikation für die Neuauflage dieser Legende – ein weiblicher Fan zu sein, der Leidenschaft mitbringt und die weibliche Seite des HipHop repräsentiert?
Beides, aber nicht ausschließlich. Es ist ja nicht so, dass ich mir jeden Morgen mein Update auf nerdigen Rap-Seiten hole, um auf dem neuesten Stand zu sein. Und dass ich die Show mit MC Bogy in einer gemischten Doppelspitze moderiere, ist angemessen zeitgemäß.
Soll das nur zeitgemäß oder auch emanzipiert sein?
Ich nenne es nicht Emanzipation, sondern Balance. Ohne Frauen gibt’s keine Kinder, ohne Männer aber auch nicht.
Sie gehörten einst selbst zur MTV-Familie, in der Sie mit Joko & Klaas MTV Home moderiert haben. Fühlt es sich zehn Jahre später da wie eine Heimkehr an?
Weil sich beim Sender, aber auch im Fernsehen insgesamt so viel verändert hat, fühlt es sich eher nicht so an. Aber obwohl ich nicht nach Hause komme, freut es mich total, dass ich mit Anfang dreißig wieder in meinem Jugendzimmer herumspringen kann. Auch wenn HipHop genauso erwachsen geworden ist wie ich. Wenn man sich die Szene ansieht, sind viele Künstler, die auch schon über 40 sind und trotzdem Nummer-1-Alben produzieren.
Die stammen wie Yo! MTV Raps aus einer Zeit als – wie Oli Schulz zurückblickt – Musik noch richtig groß war, während das Musikfernsehen längst richtig klein ist. Welche Relevant hat die Neuauflage auf einem Kanal, von dessen Existenz die meisten vermutlich gar nichts mehr wissen, da für die Popkultur?
Eine große. Denn Yo! MTV Raps bietet der Musik mal wieder eine prominente Plattform, auf der jene Rapper, die man sonst nur von Spotify oder Deezer kennt, live spielen. Pro Sendung gibt es zwei solcher Auftritte. Außerdem sollen bei uns Musikvideos laufen, die einem nicht nur von Youtube empfohlen werden. Ansonsten kennen Fernsehen und Internet entweder Videos oder Konzerte oder Interviews. Bei uns ist alles kompakt beisammen, in einer ausgewogen schönen Mischung. Wie eine Instagram-Story, bloß als Fernsehendung.
Das heißt, Yo! MTV Raps orientiert sich am Ursprung Ende der Achtziger, nicht dem Ende Mitte der Neunziger, als die Show bloß Clips kompiliert hat?
Ja eher. Es ist eine neue eigene Show mit altem Namen, die sich an der Musik orientiert und an sonst nichts.
Könnte sie das einst wirklich weltbewegende Musikfernsehen damit reanimieren und in Konkurrenz zu Spotify oder Deezer für die Jugendkultur wieder bedeutsam werden?
In Konkurrenz zu irgendwas definitiv nicht, nein. Eher ergänzend. Man darf nicht vergessen, dass nahezu alle Rekorde, die im Bereich der Videozugriffe grad gesprengt werden, irgendwie mit HipHop zu tun haben – und obwohl weder von den Machern noch den Nutzern womöglich allzu viele MTV gesehen haben, wollen wir auch für jene da sein, die damit aufgewachsen sind. Ich sehe uns als eine Art Jugendzentrum, dessen Angebot gleichermaßen für die Jugendlichen und die Sozialarbeiter gemacht ist.
Erweitern Sie mit dieser Sendung auch ein wenig Ihr Portfolio?
Inwiefern?
Voriges Jahr haben Sie eine Reportage-Reihe zur Fußball-WM in Russland gemacht, jetzt ein eigenes Musik-Magazin, dazu einen Podcast…
Schön, dass Sie den erwähnen. Er heißt Podkinski und ist eine Spielwiese mit Prominenten, die so gut zu mir passen, dass ich eine Stunde auf Spotify mit denen quatschen, aber auch spielen kann.
Spielen heißt?
Eine Art Seelenstrippoker. Ich glaube, es war Platon, der gesagt hat, man lerne den Menschen durch eine Stunde Spielen besser kennen als in einem Jahr Gespräche. Das nehme ich als Inspiration und meine Gäste sehr intim und spielerisch unter die Lupe. Das sind dann Leute wie Fahri Yardim, Guido Maria Kretschmer, Stefanie Giesinger, Nura oder Oli Schulz. Sehr bunte Mischung. So wie ich.
Eine Mischung, die abgesehen von Guido Maria Kretschmer nach Freundeskreis klingt.
Lustigerweise ist das mein ältester Bekannter.
Zurück zur Portfolio-Erweiterung. Gibt es so was wie eine Kernkompetenz, die sich bei Ihren Tätigkeiten herausschält oder sind Sie für alles zu haben?
Sagen wir so: Ich bin für alles zu haben, was auch mich unterhält; nur dann steckt genügend Neugier und Interesse dahinter, um die Zuschauer mit auf diese kleine Reise nehmen zu können. Meine Kernkompetenz ist demnach, dass man an meiner Seite die Welt entdecken kann.
Bislang hatten Sie das allerdings häufig als Sidekick anderer getan.
Ich bin ein Teamplayer, muss also nicht zwingend alleine im Rampenlicht stehen. Ich würde mich aber auch nicht als ständigen Sidekick bezeichnen; das war ich vor vielen Jahren bei MTV Home. Oder worauf zielt die Frage ab?
Die Branche sucht händeringend nach jungen, aber erfahrenen Showmastern, die die ganz große Fernsehbühne bespielen können. Kämen Sie dafür infrage?
Auf jeden Fall. Aber ehrlich gesagt sind in dem Moment in dem ich das mache mein eigener Podcast oder Yo! MTV Raps für mich richtig schöne große Bühnen und ich gebe alles von mir. Da fühle ich mich wohl und weiß auch keine andere Show, die ich jetzt unbedingt machen wollen würde. Die Branche hat sich gefühlt auch verändert, ein Podcast der früher vielleicht unter ferner liefen irgendwo versauert ist, hat jetzt mehr Zuhörer als je zuvor und wird super aufwändig und qualitativ hochwertig produziert. Die Kanäle sind mehr geworden es gibt nicht mehr nur die eine Samstag-Abendshow. Es macht nur Sinn sich da breiter aufzustellen und ich liebe diese Diversität sehr.
Die Größe einer Bühne bemisst sich bei Ihnen also nicht in Quadratmetern oder Quote, sondern?
Dass ich darauf bereit bin, alles, was von mir dazu gehört und innovativ ist, hineinzugeben.
Seit mehr als 40 Jahren ist Heinrich Breloer (Foto: Overmann/WDR) einer der einflussreichsten Filmemacher im Land. Mit seinem Dokudrama Brecht schließt sich heute ein Kreis: Schon 1978 porträtierte er den großen Dramatiker, im Ersten erweckt der 77-Jährige sein früheres Vorbild heute mit Tom Schilling und Burghart Klaußner zum Leben. Ein Interview mit dem Regisseur über neun Jahre Vorbereitung auf Brecht, was uns der Dichter heute noch zu sagen hat und warum auch Geschichte Gefühle braucht.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Breloer, vielleicht ist da was an uns vorbeigegangen, aber Bertolt Brecht feiert im März weder Geburts- noch Todestag oder sonst ein Jubiläum. Warum dann jetzt dieses ausschweifende Biopic?
Heinrich Breloer: Weil der Film Ergebnis einer intensiven Beschäftigung ist, die bereits vor neun Jahren begonnen hat. Ein Problem dabei war, vertraglich alles zu regeln, falls wir irgendein Copyright berühren. Außerdem musste ein Stück entwickelt werden, das die beteiligten Sender im Rahmen der Sparmaßnahmen auch finanzieren können.
Was genau war denn so teuer?
Unter anderem, dass Brecht nach dem Reichstagsbrand ins Exil ging. Um Brechts Zeit in der Schweiz, Paris, Dänemark, Schweden, Finnland, Moskau und den USA nicht darstellen zu müssen, machen wir einen recht großen Sprung in die Nachkriegszeit, wo Burghart Klaußner vorm Ausschuss für unamerikanische Umtriebe versichert, „I was never a member of the communist party“. Dieser Satz führt uns dann zurück nach Deutschland, also in den Film.
Weil ein fließender Übergang von Tom Schilling als junger auf Burghart Klaußner als alter Brecht unglaubwürdig gewesen wäre?
In jedem Fall schwierig. Außerdem gibt es über Brechts Zeit in Amerika kaum bewegte Bilder. Ich habe zwar welche gefunden, auf denen dieser kleine Mann ein sehr dickes Auto besteigt oder am Schreibtisch von seiner Freundin gefilmt wird; ansonsten fehlt sie im Zweiteiler. Das ist aber nicht gravierend; wir erzählen das Leben halt weiter, wenn er nach der Rückkehr mit dem Berliner Ensemble ein Stück befreites Land zwischen Ost und West erschafft.
Darüber erzählt die Dokumentation im Anschluss?
Nochmals interessante 52 Minuten lang.
Und das, nachdem der Zweiteiler am Stück vorweg läuft!
Es wird eine lange Nacht! Aber das wird dieser Figur ja auch gerecht.
Was hat sie der Gegenwart übers nostalgische Element zeitgeschichtlicher Unterhaltung hinaus noch zu geben, dass ihr ein ganzer Abend gewidmet wird?
Zum einen unglaublich schöne, kluge, lehrreiche Gedichte. Und dann die Dramen, in denen ja wichtige Fragen gestellt werden, die uns heute umtreiben. Mutter Courage, wie verhältst du dich zu Krieg, Pazifismus, zur Rüstungsindustrie? Oder im Galilei nach Verantwortung der Wissenschaft für ihre Erfindungen; damals die Atombombe, jetzt künstliche Intelligenz.
Und Ihnen persönlich?
Brecht hat mich fast mein Leben lang fasziniert. Ich habe seine erste große Liebe schon 1976 für meinen Film Bi und Bidi in Augsburg getroffen.
Im Grunde arbeiten Sie also seit damals am Zweiteiler?
Schon. Damals habe ich erstmals erlebt, welch starken Eindruck der junge Brecht auf Freunde und seine Geliebten gemacht hat. Schon als Schüler stellte er sich für ein Foto vor dem Theater in eine Nische unter Schiller und sagte „Ich komme gleich nach Goethe. Ich bin das letzte Genie der deutschen Sprache.“ Und sie haben es ihm geglaubt. Als junger Filmemacher stand ich bewundernd vor dieser Selbstinszenierung; gut dreißig Jahre später konnte ich nun zeigen, was hinter dieser Chuzpe stand, wie viel alter Brecht im jungen steckt und umgekehrt.
Und dafür ist ein Dokudrama nach wie vor am geeignetsten?
Ja, denn das Dokumentarische liegt wie eine zweite Spur über den Spielszenen und sorgt dafür, dass diese unlenkbare, eigensinnige, zutiefst dialektische, ständig kämpfende Figur nicht nur nostalgisch historisiert, sondern in den Kontext seiner, aber auch unserer Zeit eingeordnet wird. Brechts appellierender Glaube an die Kraft der Vernunft, das Recht auf Zweifel, den Mut zum Widerstand und Willen zur Wahrheit – all dies ist auch heute von höchster Aktualität.
Sein Medium war jedoch das Theater, von dem damals gesellschaftspolitisch größtmögliche Wucht ausging, während es nun ein hochkulturelles Nischenprodukt ist. Lässt sich die Bühne als Medium aufs Fernsehzeitalter übertragen?
Wenn man sich vor Augen hält, dass ich in den Sechzigerjahren viel von ihm gelernt und auf mein Wirken fürs Fernsehen übertragen konnte, ja. Durch ihn sind wir zum kritischen Denken gekommen, was sich auch in dieser Arbeit wiederfindet.
Aber verglichen mit dem Internet ist das das Fernsehen seinerseits ein schrumpfendes Medium.
Es ist aber noch immer ganz gut im Geschäft. Und das Dokudrama als Darstellungsform, um Fiktion und Realität dialektisch gegenüberzustellen, ohne es moralisch zu bewerten, ist dem Brecht’schen Theater durchaus nachempfunden.
War die Form des Dokudramas, das Sie hierzulande quasi erfunden haben…
Na ja, sagen wir, mit weiterentwickelt.
War es demnach die beste oder einzige Form, sich Brechts Widersprüchen zu nähern?
Es war die griffigste und hat sich gewissermaßen natürlich entwickelt. Ein Denkmal lebendig zu machen, ohne es einzureißen, kommt für mich weder ohne Dokumentation noch Inszenierung aus. Zumal kein Filmmaterial seiner aufgewühlten Jugend existiert.
Ihr letztes großes Projekt Buddenbrooks war ein reiner Spielfilm. Den haben Sie hier nicht in Erwägung gezogen?
Doch. Aber wenn Spielszenen auf die Sekunde genau klug kalkuliert auf Dokumente prallen, kann im Kopf des Zuschauers etwas Neues Drittes entstehen, das so allein im Dokument und im Spiel nicht vorhanden ist. Und das wirkt intensiver und länger als pure Erzählung. Ganz ähnlich hat Brecht ja auch selber gearbeitet. Die berühmte Verfremdung.
Klug kalkuliert, heißt in diesem Fall auch: sehr emotional. Warum führen Sie den jungen Brecht als verliebten Teenager ein?
So beginnt der Spaziergang mit Paula am sommerlichen Lech. Aber das andere, die Angst vor dem Verlust, der unromantische Kampf um die Macht über dieses Mädchen – auch das ist in dieser ersten Liebesszene angelegt.
Dennoch scheint sein Liebesleben auch Zucker fürs breite Publikum zu sein…
Na, wenn das mein Hauptziel gewesen wäre, hätte ich davon doch viel mehr berichtet. Dass er in seiner Entwicklung, die Jahr für Jahr aufwärts geht, von einer Frau zur nächsten wechselt, bis er teilweise drei gleichzeitig hat, muss halt erzählt werden, um Brecht zu verstehen. Aber da habe ich mich sogar zurückgehalten; sein Liebesleben hat Zumutungen bis hin zu Selbstmordversuchen erzeugt. Das kommt bei uns gar nicht vor.
Sein Zeitgenosse Theo Lingen, erwähnt im Film: Brecht wolle besitzen, und zwar auch Menschen.
Genauso war’s.
Wird diese Lichtgestalt des deutschen Theaters damit auch ein wenig entzaubert?
Nein. Aber wir sind erstmals dabei, wie sie als Person handelt, denkt, fühlt und dabei ängstlicher, schüchterner, verletzlicher, manchmal auch opportunistischer und kleiner ist, als viele denken. Brecht wird bei uns vom Dichter und Denker auch zum leidenschaftlichen Menschen.
Ist dieser Mensch ein anderer als der, den Sie für Ihre Doku Bi und Bidi in Augsburg 1976 kennengelernt haben?
Aber sicher.
Und hat sich damit ein Kreis für Sie geschlossen, der Ihr gesamtes Schaffen umschließt?
Das könnte man so sagen, aber endgültig kennengelernt habe ich ihn trotzdem nicht. Als ich die Schauspielerin Regine Lutz im Film frage, ob Sie Brecht kenne, überlegt sie sehr lang – was in Dokumentationen höchst eindrücklich ist, wenn man die richtigen Fragen stellt – und sagt dann: Er kannte mich, und zwar sehr gut. Ihn konnte man nicht kennen.
Als Debattenbeitrag getarnte Ignoranz ist ein Megatrend der modernen Mediengesellschaft. Im Internet wird er durch Kampfbegriffe wie Upload-Filter befeuert, mit denen die PR-Strategen der Tech-Giganten von Facebook bis Google User in Wallung lügen. Im Fernsehen sind es seit neuestem, nun ja, „Komiker“. Acht Tage, nachdem Mario Barth zum Thema Feinstaub und Fahrverbote bewiesen hat, wie AfD-gespeist seine Dummdreistigkeit ist, zog Dieter Nuhr nach. Donnerstag riet er den Zuschauern von Nuhr im Ersten, mehr T-Shirts aus Sweat Shops zu kaufen statt Verzicht fürs Klima zu üben. Dessen Wandel, gegen den freitags weltweit Schüler die Schule schwänzen, ist aus Sicht der elitären Ulknudel nur mit noch mehr Konsum zu retten.
Was beim RTL-Populisten Barth schon bedenklich, weil rasend schnell digital verbreitet war, wurde durch den angeblichen „Satiriker“ Nuhr nun vollends irre. Wenn selbst Entertainer, die formell zu Empathie und Logik fähig sind, ihr besseres Wissen verraten, dann ist das einst so honorige Fernsehkabarett wohl endgültig auf dem Weg zur gesendeten Bild. Anfang der Woche war es allerdings doch noch einmal das Original, dem die eigene Macht so wichtig war, dass es als einziges Medium von Belang die unsäglichen Bilder des rechtsextremen Terroranschlags von Christchurch geteilt hat.
Während es selbst brachiale Boulevard-Blätter wie die Hamburger Morgenpost vorzogen, schwarze Titelseiten zu drucken, sorgte das Springer-Sturmgeschütz dafür, dass der Attentäter sein Ziel maximaler Aufmerksamkeit auch wirklich erreicht. Aber gut – Chefredakteur Julian Reichelt würde gewiss auch Fotos seiner toten Mutter posten, wenn’s nur Clicks brächte. Oder auch Live-Streams aus Thomas Gottschalks Dickdarm. Warum der hier als Beispiel dient? Weil er nach DWDL-Recherchen 2020 ein Revival von Wetten, dass…? moderieren wird, was ein paar Tage, nachdem er im Interview mit Deutschlandradio Kultur beteuert hatte, unsterblich zu sein.
Die Frischwoche
25. – 31. März
Damit dürfte dann auch klar sein, wer nächstes Jahr um diese Zeit das kriegt, wofür das ZDF am Samstag wieder mal zweieinhalb Stunden kostbarer Primetime vergeudet: Die Goldene Kamera. Dabei hat ausgerechnet das Zweite in dieser Woche zwei sehr bemerkenswerte Ausstrahlungen im Angebot. Am Montag läuft dort der bemerkenswerte Justizthriller Gegen die Angst, in dem Nadja Uhl sehr glaubhaft gegen Berliner Clan-Gangster ermittelt. Und am Sonntag wird das heute-journal von 15 auf 30 Minuten verlängert. Klingt marginal, ist in Zeiten grassierender Dummheit, die auch der künftige Faktencheck bei Facebook durch dpa-Journalisten nicht lindern dürfte, ein weithin hörbares Zeichen öffentlich-rechtlicher Verantwortung.
Von der ist dann tags drauf aber schon wieder wenig zu spüren, wenn uns das Erste die 18. Staffel Um Himmels Willen beschert. Dann doch lieber tags drauf Runde 15 von Grey’s Anatomy auf ProSieben oder parallel dazu die ARD-Ausstrahlung von Heinrich Breloers episch schönem Biopic Brecht, das zuvor allerdings schon auf Arte gelaufen ist. Dort also, wo zeitgleich das wunderbare Filmporträt Paula läuft, mit der wunderbaren Carla Juri als stilbildende Malerin Modersohn-Becker. Der BR würdigt tags zuvor eine Kunstfigur der anderen Art: Um 22.30 Uhr wird dort das One-Bestseller-Wonder Patrick Süskind mit der Hommage Duft & Distanz gewürdigt.
Bevor wir hier nochmals eindringlich davor warnen, am Mittwoch Mario Barth deckt (Steuerbetrug) auf zu sehen oder besser: Menschen mit Moral dazu ermutigen, Barths Helfershelfer wie den Schauspieler Hendrik Duryn, den Moderator Florian König und den Fiskus-Kontrolleur Reiner Holznagel zur Rede zu stellen, wie sie sich mit dem populistischen Intelligenzverächter derart gemein machen können, freuen wir uns aber aufrichtig über ein paar Wiederholungen der Woche.
Zuallererst und immer wieder sehenswert: The Blues Brothers (Sonntag, 20.15 Uhr, 3sat) von 1980 mit der vielleicht legendärsten Autoverfolgung aller Zeiten. Gefolgt von der legendären Literatur-Verfilmung Der dritte Mann, in dem der noch legendärere Hauptdarsteller (Orson Welles) zur endlegendären Filmmusik (Anton Karas) durchs Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit jagt. Nur unwesentlich niedriger auf der Legendenskala steht Volker Schlöndorffs Roman-Adaption Die Blechtrommel von 1979 (Samstag, 22.50 Uhr, RBB). Auch aus Deutschland, wieder schwarzweiß, aber 40 Jahre jünger: Michael Hanekes Meisterwerk Das Weiße Band (Donnerstag, 22.25 Uhr) über die Spießbürgerhybris am Vorabend des 1. Weltkriegs. Und auch der alte Tatort verhandelt ethische Fragen seiner Zeit: In Salzleiche (Montag, 22 Uhr, RBB) ermittelte Charlotte Lindholm 2008 einen Leichenfund im Atomklo Gorleben.
Wer mythisch irgendwie aufgewühlt ist und seine Erregung zu Kunst verarbeitet, neigt gemeinhin dazu, die eigene Überwältigung auf andere zu übertragen. Von den Religionsschinken des Mittelalters bis zum Gospel der Gegenwart erwächst aus Spiritualität verlässlich großes Melodrama. Auch die amerikanische Musikerin Lafawndah ist von irgendeinem Geist beseelt und bläst es mit dem emotionalen Klangmobiliar ihrer persisch-ägyptischen Ursprünge auch noch vollmundig raus.
Zum Glück jedoch macht ihr wunderbares Debütalbum Ancestor Boy dabei nicht den Fehler irgendwen zu irgendwas bekehren zu wollen. Die folkloristisch angehauchte, großstädtisch durchproduzierte Ethno-Electronica ihrer 13 abwechslungsreichen Stücke nimmt uns lieber ohne viel Überzeugungsfuror mit in ihre Welt großspuriger Pop-Arrangements, die sie mit kraftvoll-verstörendem Gesang im M.I.A.-Stil unterwandert. So hinreißend also kann Kirchenmusik sein, wenn ihr Altar die Disco ist.
Lafawndah – Ancestor Boy (Concordia)
Jayda G
In der Disco hat sich zweifelsohne auch der weibliche DJ Jayda G einen Schrein errichtet. Sie ist davon allerdings nicht spirituell erbaut oder sonst wie entrückt, sondern ärgert sich darüber, dass auf dem Dancefloor ringsum die Männer so intensiv manspreaden, bis alle Frauen an den Rand einer Tanzfläche verschwunden sind, die zudem kaum noch den freiheitlichen Geist früherer Epochen atmet, sondern nur noch der Selbstdarstellung dient. Nach dreijährigem Aufenthalt in Berlin hat die Kanadierin aus ihrem Ärger nun ein Manifest in Plattenform gemacht, das manchmal leicht gemächlich, bei genauerem Hinhören aber energisch um Aufmerksamkeit bittet.
Passenderweise heißt ihr Debütalbum denn auch Significant Changes. Es ist eine Sammlung sorgsam reduzierter, beizeiten minimaler, aber meistens recht tiefgründig groovender House-Tracks, die von Jaydas Stimme mal feengleich unterwandert, mal neunzigerfunky überlagert werden. Und weil das Ganze bei Ninja Tune erscheint, darf man sich sicher sein, dass all die eingerührten Beats und Samples dem Mainstream mindestens so fern sind wie viele der Texte. Schon cheezy manchmal, aber sehr, sehr schön.
Vor 30 Jahren zählte Bauer zu den Meinungsführern der deutschen Zeitschriftenlandschaft. Heute ist die Verlagsgruppe aus Hamburg zwar wirtschaftlich führend, aber eher dank Lifestyle und Klatsch. Ein Gespräch mit Chefredakteurin Sabine Ingwersen und Verlagsleiter Ingo Klinge (Foto: Christian Bruch) über Business leichter Kost, Schlagworte wie Fake-News oder Print-Krise, deren Auswirkung aufs Portfolio und warum die Geschäftsführung so männlich ist.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Ingwersen, Herr Klinge – das neue Jahr ist zwar noch jung, aber das alte schon wieder eine Ewigkeit her – welche Erwartung haben Sie nach all den Printkrisen und Fake-News-Debatten 2018 an 2019?
Sabine Ingwersen: Oh.
Ingo Klinge: (überlegt lange) Tja.
Versuchen wir es mit einer geschlossenen Einstiegsfrage: Wird es ein gutes Jahr für Bauer-Media, Herr Klinge, und Ihre Magazine, Frau Ingwersen?
Klinge: Weil wir den Medien- und Zeitschriftenmarkt selbst beeinflussen können, blicken wir als Unternehmen positiv aufs Jahr 2019. Auch in der Vergangenheit haben wir Journalistinnen und Journalisten oder Verlagskaufleute die Erfahrung gemacht, dass sich Qualität oder Auflage, im besten Fall beides, durchsetzen. Deshalb haben wir ein Problem mit Schlagworten wie Printkrise oder Fake-News. Da sich die Branche zu sehr auf die negativen Aspekte fokussiert, empfehle ich einen Blick auf Sabine Ingwersens tina, wo sich Erfolg und Anspruch optimistisch bündeln.
Ingwersen: Begleitet von einem externen Fachmann haben wir unsere Arbeit in tiefenpsychologischen Qualitätsworkshops beurteilt, was zum Teil auch schmerzhaft war. Nach dem Relaunch sind wir dann mit einer deutlichen Preiserhöhung zurück auf den Markt gegangen und haben am Ende des Jahres gesehen, dass der Vertriebsrückgang gestoppt wurde.
Mit welchen Mitteln genau?
Ingwersen: Indem wir gelernt haben, wie der digitale den gedruckten Journalismus beeinflusst. Und dass die Bindung ans Magazin mit einer noch empathischeren, tieferen Ansprache verstärkt wird.
Ihr Angebot orientiert sich thematisch und dramaturgisch vor allem an der Nachfrage?
Ingwersen: Manchmal schon. Mit der Digitalisierung hat sich unsere Zielgruppe stark verändert. Obwohl sie seltener online lesen als digital natives, wissen über 40-Jährige, wie viel das Internet in hoher Geschwindigkeit bietet. Wir haben uns also gefragt, was die Leserin erwartet, damit sie uns kauft. Es sind allein die Emotionen, die sie dazu bewegt.
Klingt nach dem Pfeifen im Walde des schlingernden Printjournalismus…
Ingwersen: Das stimmt nicht, wir vergleichen ihn einfach nicht mit Digitaljournalismus. Bei beiden Formen geht es um den besten Content. Print-Leser verharren in Spielfilmlänge am Produkt, Online-Leser in Kurzfilmlänge. Abseits der Qualität geht es in Print um Chancen zur Mehrfachnutzung. Das Digitale ist sehr auf den Augenblick konzentriert, während Produkte auf Papier darüber hinaus Bestand haben. Beide Formen haben ihre Berechtigung.
Klinge: Es ist Teil unserer Grundüberzeugung, dass da draußen weiter viele Millionen Menschen gleich welchen Geschlechts, welchen Alters, welcher Sozialisierung sind, die Liebe und Leidenschaft fürs journalistische Produkt haben. Das wollen wir bedienen.
Ingwersen: Schließlich liest jede zweite Frau in Deutschland mindestens ein Bauer-Produkt. Das allein ist für uns Ansporn genug weiterzumachen und neue Märkte zu besetzen.
Geht das so weit, wie die Pro7Sat1 Media Gruppe in branchenferne Geschäftsfelder zu expandieren und beispielsweise im Online-Handel aktiv zu werden?
Klinge: Unser Fokus ist klar der Journalismus auf allen Kanälen. Und dieses Bekenntnis zum Publishing ist aus meiner Sicht schon deshalb wichtig, damit wir uns – wie man im Norden sagt – nicht vertüddeln. Diese Überzeugung herrscht von den Kreativen über die unterstützenden Bereiche bis hoch in die Verlagsführung.
Ingwersen: Wir müssen uns immer wieder fragen, was neue, aber auch bestehende Käuferschichten begeistern kann. Kein 40-, kein 60-Jähriger ist wie der andere. Gute Journalisten erkennen die Bedürfnisse jeder Zielgruppe. Wir brauchen also gute Journalisten mit großem Zielgruppenverständnis.
Klinge: Deshalb kümmert sich Frau Ingwersen auch noch um unsere Journalistenschule. Mit deren Gründung waren wir zwar spät dran; positiv gewendet haben wir aber in einer Zeit, wo die Konkurrenz eher branchenfremd investiert, das Kern-Geschäft gestärkt. Wie wichtig uns die Publizistik ist, zieht sich demnach durchs ganze Unternehmen.
Bei aller Liebe der Verantwortlichen und des Publikums zum Print-Produkt steht aber doch auch Bauer angesichts sinkender Anzeigenerlöse schwer unter Kostendruck.
Klinge: Natürlich spielt der Kostenfaktor eine Rolle. Dass mit den Auflagen auch die Anzeigenerlöse sinken, hat unsere Rahmenbedingungen massiv verändert. Um weiter wirtschaftlich zu arbeiten, müssen wir also reagieren. Denn nur wer Geld verdient, kann Zeitschriften verlegen. Das gilt für uns als KG genauso wie für jede AG oder GmbH. Umso mehr sind wir darum bemüht, die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und journalistischer Qualität zu halten.
Hat die Bündelung mehrerer Magazine unter Ihrer Leitung, Frau Ingwersen, demnach eher ökonomische als publizistische Gründe?
Ingwersen: Als ich 2011 von Bild der Frau zu Bauer kam und neben der tina die bella übernommen habe, war ich mir unsicher, diese Doppelherausforderung meistern zu können. Nach sieben Jahren kann ich jedoch sagen, dass die Bündelung auf fünf Marken im ähnlichen Segment, aber für verschiedene Altersstufen ungemein hilfreich war, um unser Publikum besser zu verstehen. Meine Magazine sind wie eine Familie mit Mutter und Töchtern; weil die Autorinnen und Autoren alle davon bedienen und deren Lifestyle-Bedürfnisse erfassen, entsteht gegenseitiges Verständnis, das durch Einzelleitungen womöglich schwerer zu erzielen wäre.
Klinge: Und für die Verknüpfung sorgt seit vier Jahren ja ein Content-Manager.
Ingwersen: Der Inhalte seziert und verfügbar macht. Für ähnliche Geschichten in vier Heften schicken wir seither nicht mehr vier Autoren plus Fotografen raus, sondern durchleuchten das Potenzial auf verschiedene Verwertungsmöglichkeiten, sodass ein Heft das Interview kriegt, ein anderes die Reportage, das nächste ein Service-Stück. Wir schöpfen das Thema dadurch optimal und effizient ab. Das sind zwar auch quantitative Synergie-Effekte, aber definitiv qualitativen Ursprungs.
Klinge: Für mich als Kaufmann wäre es am einfachsten, sich allein um Kosten, Umsatz, Gewinn kümmern zu müssen. Aber so schwarzweiß ist die Welt nun mal nicht, weshalb journalistische Qualitäten und wirtschaftliche Notwendigkeiten stets gemeinsam gedacht werden.
Ingwersen: Die äußerliche und innerliche Optimierung unserer Produkte zum bestmöglichen Preis ist ein kontinuierlicher Prozess bei größtmöglicher Transparenz.
Klinge: Konkret erkennt man das schon daran, dass Redaktion und Geschäftsführung ständig gemeinsam am Tisch sitzen, um die Grauzone zu diskutieren.
Immer einvernehmlich?
Klinge: Ich glaube, das gibt es bei keinem Verlag. Wenn die Tür zu ist, geht’s dahinter natürlich oft hoch her. Der Vorteil von Bauer ist, dass ökonomische und kreative Seiten dabei seit jeher viel Verständnis füreinander aufbringen.
Ingwersen: Deshalb kann und darf jeder großes Knowhow von der jeweils anderen Seite erwarten. Da wächst man an seinen Aufgaben. Das gilt besonders für mich.
Klinge: Auch deshalb sind wir das wirtschaftlichste Unternehmen der Branche mit den besten Kostenstrukturen. Ohne dieses Miteinander lassen sich zumal in Zeiten wie diesen keine Zeitschriften verkaufen. Und da wären wir wieder bei der Eingangsfrage nach den Aussichten fürs neue Jahr: Wollen wir den Kopf in den Sand stecken oder weiterhin ein tolles Umfeld für tolle Produkte von hoher Qualität bieten? Da entscheide ich mich für letzteres.
Uwe Bokelmann, der bei Bauer noch mehr Magazine unterschiedlicher Art leitet als Frau Ingwersen, hat dazu gesagt, Print leide nicht unterm Internet, sondern sinkender Qualität. Worin bemisst sich die überhaupt in einem Segment wie dem Ihren?
Ingwersen: Seiner Zielgruppe ganz nah zu sein.
Birgt das nicht die Gefahr, ihr nach dem Munde zu schreiben?
Ingwersen: Mein Ziel ist es, mit meinen Zeitschriften in einer Mischung aus Entertainment und Ratgeber spannend, bewegend und gut recherchiert zu unterhalten und immer wieder zu überraschen.
Klinge: Statt unseren Leserinnen und Lesern nach dem Munde zu schreiben, stellen wir ihre Bedürfnisse und Vorlieben bewusst in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Deutschlands Medienlandschaft hat zum Glück von harter Politik bis leichter Unterhaltung eine sehr große Bandbreite.
Ingwersen: Nehmen Sie Kochrezepte: Weil wir die mit Ökotrophologen entwickeln und von Profis fotografieren lassen, ist das deutscher Handmade-Journalismus von einzigartiger Güte.
Klinge: In dem – Kritiker vergessen das gelegentlich – vorwiegend sehr professionelle Journalisten tätig sind. Bei potenziell fast 80 Millionen Leserinnen und Lesern im Land kann und will nicht jeder Cicero oder Spiegel lesen. Abseits davon existiert großer Bedarf nach unpolitischer Publizistik bis hin zur Yellow Press. Hier Angebote zu machen ist zugegebenermaßen nicht einfach. Da halte ich es mit meinem Vater: Wer sind wir denn, den Leuten vorzuschreiben, was sie lesen?! Es ist doch Ausdruck der publizistischen Vielfalt in diesem Land, dass es von bis alles gibt. Und wir sind da halt ein wenig mehr bis als von.
Rechtfertigt das Regulativ der Zielgruppenbedürfnisse demnach auch Märchenmagazine im Regenbogen-Regal, die ihr Publikum von der harten Realität mit Mimik-Analysen aus der Gerüchteküche ablenken, aber mit der Wahrheit oft nichts zu tun haben?
Ingwersen: Es gibt doch mannigfaltige Zielgruppen in der bürgerlichen Mitte, die wir bedienen. Jedes Heft hier [zeigt auf das Bauer-Portfolio auf dem Konferenztisch] unterhält andere Frauen anderer Altersgruppen und Ansprüche. Manche wollen sich nur wohlfühlen, manche ihre Familie managen, anderen geht es um Wahrhaftigkeit und Sinn, aber selbst unter denen variiert das Anspruchsdenken an eine Zeitschrift wie tina, bella oder Meins enorm.
Sie sparen jetzt – bewusst oder nicht – jene Bauer-Titel aus, deren Inhalte mit Märchen noch zurückhaltend umschrieben sind. In Heften wie Neue Post ist die Grenze zur Lüge doch so fließend, dass es kaum Schlagzeilen ohne Fragezeichen gibt und oft zur juristischen Auseinandersetzung kommt.
Klinge: Auch dabei handelt es sich unser aller Überzeugung nach um Journalismus, und zwar mit der Vorsilbe „Qualitäts“. Ich lehne es ohnehin ab, Journalisten ständig nach Yellow, Boulevard, Nachrichten oder was auch immer in Kasten einzuteilen. Weil alle Journalisten Journalismus betreiben, sind unterschiedliche Maßstäbe demnach völlig unangemessen.
Aber die 150. Mutmaßung über Michael Schumachers Gesundheitszustand hat doch mit der Wirklichkeit nichts zu tun, sondern ist – Entschuldigung – vielfach schlicht erlogen!
Klinge: An Journalismus mit der Methode des Lügens heranzugehen, ist völlig unvorstellbar. Die Frage, wie recherchiere ich was, wen lasse ich wo zu Wort kommen – da sind die Maßstäbe von Neue Post schließlich keine anderen als bei der tina oder sonstwo.
Gut, ersetzen wir „Lüge“ durch eine Art Übereinkunft mit der Zielgruppe, die gar keine Wahrheit will, sondern Dichtung. Liefern Sie die dann eben unabhängig von faktischer Belastbarkeit?
Klinge: Das Thema Klatsch & Tratsch ist vermutlich so alt wie die Menschheit, mindestens aber so alt wie Palastmauern, vor denen sich die Leute darüber unterhalten haben, was dahinter wohl vorgeht. Seit sich unsere Spezies zivilisiert hat, zerreißt sie sich das Maul darüber, was dort vorgeht, wo der Blick nicht hinreicht. Und da das Interesse an Informationen aus dem Inneren abgeschiedener Zirkel so gewaltig war, wurden sie aus geringer in größere Entfernung weitergereicht – vom Diener der königlichen Latrinen über die Torwächter ins Dorf. Daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert.
Ingwersen: Das kann ich nicht zuletzt durch meine Arbeit für Promi-Magazine beim Springer-Bereich Bild-Unterhaltung oder der Frau im Spiegel nur bestätigen. Neugierde ist ein Grundbedürfnis, das alle Menschen eint.
Klinge: Und wir firmieren da als Vermittler, die zwar auch nicht immer im Innern der Burg sind, aber schon mal ein Stück weit drüber blicken können, um das, was früher Fürsten oder Könige waren und jetzt zusätzlich Schauspieler oder Fußballer, unter die Lupe zu nehmen. Bei der Frage, wie genau man die Neugierde daran bedient, geht es dann natürlich auch um journalistische Standards, um Regeln und Ethos. Trotzdem wird bei uns nicht gelogen, sondern allenfalls emotionalisiert und überzeichnet.
Und wo zieht man die Grenzen von der vermuteten Wirklichkeit zur reinen Fantasie?
Klinge: Auch darüber wird hier im Haus viel diskutiert. Natürlich passt es den Objekten unserer Berichterstattung nicht immer, was wir schreiben. Oft gibt es grundsätzlich andere Auffassungen davon, was illegitim, womöglich gar illegal ist. Aber Artikel 5 des Grundgesetzes…
Die Meinungs- und Pressefreiheit.
Klinge: …wird hierzulande zum Glück immer noch extrem hochgehalten. Aber wenn es persönlichkeitsrechtlich relevant wurde, gab es bislang kaum Beispiele, wo wir in Auseinandersetzungen mit Prominenten vor Gericht unterlegen sind. Wir haben uns wenig vorzuwerfen.
Hier vom Hamburger Chile-Haus aus haben Sie beste Sicht auf ein bedeutendes Nachrichtenmagazin, dessen Redaktion da gerade etwas selbstkritischer ist.
Klinge: Herr Relotius, ich wusste, dass das noch kommt…
Sorgt sein Fall auch bei der Bauer Media Group für weitergehende Sensibilisierung?
Ingwersen: Wissen Sie, wenn ein Kollege fabuliert, wenn er Sätze schreibt, die nicht gefallen sind, und Lieder hört, die es nicht gibt, ist das immer befremdlich. Aber was an diesem Fall so bestürzend war, ist die Tatsache, dass er sich in einem Leitmedium wie dem Spiegel ereignet hat, das ganz besonders von seiner Glaubwürdigkeit lebt. Wobei besonders überraschend ist, wie lange Claas Relotius unentdeckt geblieben ist.
Klinge: Unser Regulativ sind die Leserinnen und Leser. Wenn bei einem Rezept im Frauen-Magazin zum Beispiel die Zutaten nicht stimmen, können Sie davon ausgehen…
Ingwersen: …dass das Telefon Sturm klingelt.
Klinge: Und im Wiederholungsfall die Zeitung nicht mehr gekauft wird. Unsere Kunst besteht demnach darin, solche Kritik unserer Kundschaft ins tägliche Arbeiten mit einzubeziehen, um sie künftig zu vermeiden, also vom Elfenbeinturm hinabzuklettern und lernende Systeme zu entwickeln. Das ist allerdings schon die Ultima Ratio; unser Anspruch ist es, von vornherein Klagen – seien es juristische, seien es persönliche – zu vermeiden.
Sie bauen die interne Dokumentation angreifbarer Berichterstattungen also nicht aus?
Klinge: Nein.
Ingwersen: Auch eine noch so gute Dokumentation kann Falschinformationen nie vollständig ausschließen. Aber in meinem Bereich, der Unterhaltung, ist ihre Gefahr ohnehin geringer als im politischen. Seit ich bei Bauer bin, gab es daher nur einen Fall, der annähernd kritisch war: als ein Puddingkuchen nicht so funktioniert hat, wie es das Rezept vorsah. Konsequenz: Mehr als 300 Anrufe, die aufs Versagen unserer Sorgfaltspflicht zurückgingen.
Beneidenswerte Fallhöhe…
Ingwersen: Aus Ihrer Sicht vielleicht. Aus Sicht einer Leserin, die sich Sonntagnachmittag Gäste einlädt und alle mit dem misslungenen Kuchen enttäuscht, ein echtes Thema.
Klinge: Dank digitaler Datenbanken befinden wir uns in der luxuriösen Situation, dass alles ohnehin gut dokumentiert und abrufbar ist. Unsere Autoren und Autorinnen finden darin von der Vita des Protagonisten über die Historie aller vergleichbaren Berichte bis hin zum juristischen Sperrvermerk auf Knopfdruck alles, was über die Geschichte von Belang ist. Sie kriegen daher jeden Artikel, der in diesem Hause seit Erfindung des Scanners über Queen Elizabeth II. veröffentlicht wurde, und zwar in Echtzeit.
Das ist allerdings eher Recherche- als Kontrollelement.
Klinge: Bei entsprechender Sorgfalt beides – ganz ohne Dokumentation.
Ingwersen: Außerdem kann keine Dokumentation der Welt Ungereimtheiten einer sehr persönlichen Reportage aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet wie bei Claas Relotius aufdecken. Keine. Das hat dann nichts mehr mit Qualität, sondern Verlässlichkeit von Medien zu tun.
Die noch mit einem anderen, bedeutenden Faktor zu tun hat: Der Personaldecke. Bleibt die bei der Bauer Media Group hoch genug, um hochwertige Berichterstattung zu garantieren?
Ingwersen: Ich würde schon deshalb ja sagen, weil die größere Personaldecke der tina einst nicht annähernd unsere Recherchemöglichkeiten hatte. Weil der Aufwand jeder Geschichte früher ungleich höher war, bin ich da wirklich gut ausgestattet.
Klinge: Auch wir müssen mit der Situation am Markt zurechtkommen. Insgesamt ist die Zahl der Mitarbeiterleicht rückläufig. Wann immer die Anzeigensituation jedoch Titel verschwinden lässt, versuchen wir freigewordene Kollegen bei Projekten unterzubringen, die neu entstehen. Bauer reagiert seit jeher verantwortungsvoll auf Bewegungen der Branche.
Ingwersen: Sonst würden wir ja nicht mit so hohem Aufwand ausbilden.
Klinge: Wir sind sowohl für Journalisten also auch für Kaufleute ein guter, vor allem sicherer Arbeitgeber, der in der komfortablen Position ist, innovativ nach vorn zu blicken, statt ständig den Rückwärtsgang einzulegen. Da schließt sich abermals der Kreis zur Eingangsfrage nach den Erfolgsaussichten.
Erfolgsaussichten, die – um mal ein Lob aussprechen – überdurchschnittlich viele Frauen in redaktionellen Führungspositionen hat. Kennen Sie den Anteil der Chefredakteurinnen bei Bauer?
Klinge: Nicht aus dem Kopf, aber nach der gängigen Definition von Führungskraft liegen wir inklusive unserer Inhaberin bei fifty-fifty und sind naturgemäß auch redaktionell sehr weiblich aufgestellt. Wobei es angesichts unserer thematischen Ausrichtung im Jahr 2019 schwer vermittelbar wäre, würden all die Frauen-Titel von Männern geleitet.
Ingwersen: Na ja, vor 15 Jahren war das in der Branche noch die Regel.
Klinge: Aber es war auch vor 15 Jahren schon falsch.
Umso mehr überrascht es, dass ein Foto des neuen Publishing-Boards vom Herbst mit fünf Männern gesetzten Alters in identischen Anzügen schwer an das vom Innenministerium Horst Seehofer erinnert, das voriges Jahr für Spott gesorgt hatte…
Ingwersen: (lacht) Erwischt!
Klinge: Das war ein Unfall, denn meine Eltern wollten eigentlich ein Mädchen. Aber Ironie beiseite: Dass so ein Gremium mal aus der Zeit fällt, ist nicht gewollt, kann aber passieren.
Ingwersen: Aber seit so vielen Jahren, Ingo?
Klinge: Mag sein, aber es ändert nichts daran, dass wir auf gutem Wege sind. Ich würde mir aufrichtig auch im Publishing-Board mehr Frauen wünschen. Und das wird sicherlich auch geschehen!
Wird es auch geschehen, dass Bauer abgesehen vom publizistischen Erfolg wieder Teil der Meinungsführerschaft jener Tage wird, als es Magazine wie Quick gab?
Klinge: Quantitativ sind wir mit großem Abstand Deutschlands größter Zeitschriftenverlag, dessen relative Größe zu anderen Verlagen in den Achtzigern, als es die Quick noch gab, weit geringer war als heute. Aber was die Qualität betrifft: fragen sie mal unsere Zielgruppen, wer in unseren Segmenten die Meinungsführerschaft innehat.
Ingwersen: Wir schließen nichts aus und arbeiten akribisch an Neuentwicklungen.
Klinge: Menschen suchen unterschiedliche Antworten auf unterschiedliche Fragen. Wir sind nicht der Spiegel, wir sind nicht die Zeit. Das wollen wir auch gar nicht, sind aber Teil der Medienvielfalt in diesem Land. Und auf die kann es zu Recht stolz sein.
Die Tagesschau, daran hat sich im Vergleich zur öffentlich-rechtlichen Monopolphase wenig geändert, ist das Hochamt informationeller Grundversorgung. Als Beleg dient abgesehen vom Nachrichtennutzwert der vorige Freitag, als Medien landauf landab über Jan Hofers Schwächeanfall vor laufenden Kameras berichtet haben – was nebenbei die Selbstauskunft der Redaktion nach sich zog, für die Moderation ihrer Hauptnachrichten genau 259,89 Euro zu zahlen. Noch stärker ins Auge sticht es allerdings, wenn sie ihr Niveau so drastisch unterläuft wie zwei Tage zuvor.
Da nämlich berichtete die ARD zur Primetime, dass der Angeklagte eines Mordprozesses geständig war. Mehr nicht. Warum in einer ereignisüberreichen Welt schwebende Verfahren, in denen trotz Geständnis bis zum Urteil die Unschuldsvermutung gilt, zur Topmeldung taugen, ist weit bedrohlicher als die Tat an sich, also der Tagesschau unwürdig. Denn dass der mutmaßliche Mörder eines Mädchens aus dem Irak stammt, macht die Berichterstattung zum Kniefall vor Rechtspopulisten, die jede Nichtberichterstattung zum Volksverrat aufblasen würde.
Rechtspopulisten wie all jene, die ungewohnt schweigsam waren, nachdem einer der ihren in Neuseeland zwei Massaker an Muslimen begangen und live bei Facebook gestreamt hatte. Rechtspopulisten wie eine Frau, die am Mittwoch das ZDF-Morgenmagazin gestürmt und Dunja Hayali mit „Lügenpresse“ beschimpft hat, worauf sie der Wutbürgerin zwar anbot, zu reden, was die – hoppela – gar nicht wollte, sondern nur pöbeln. Einen Tag später holte die shitstormerfahrene Moderatorin dann übrigens Deutschlands Chefpopulistin ins Frühstücksfernsehen und ließ Alice Weidel darin selbstsichere Übellaunigkeit verbreiten.
Nicht minder rechtspopulistisch verhielt sich das türkische Regime, als es die Presseakkreditierung des ZDF-Korrespondenten Jörg Brase Anfang der Woche so grundlos erteilte, wie sie ihm zuvor verweigert worden war. Noch nicht populistisch, aber schon irgendwie undemokratisch verhielt sich der DFB-Präsident. Weil ihm Florian Bauers Fragen zur Fifa nicht passten, brach Reinhard Grindel ein Interview mit der Deutschen Welle ab. Kritische Fragen! Von einem Journalisten!! Sowas aber auch!!!
Die Frischwoche
18. – 24. März
Da kann Arte ja noch mal von Glück sagen, dass der Filmemacher Michael Wech für seine Doku über Die globale Antibiotika-Krise Gesprächspartner gefunden hat. So wurde Resistance Fighters zum Wissenschaftsthriller, der Dienstag um 20.15 Uhr zwar lehrreich ist, vor allem aber Angst macht, wie die Tierindustrie zum finalen Genozid ansetzt, dem künftig nach WHO-Schätzungen zehn Millionen Menschen pro Jahr zum Opfer fallen werden. Bis unser Konsumverhalten endgültig klar Schiff gemacht hat auf der Erde, lenken wir uns aber noch kurz bei Wilde Dynastien davon ab. Wie so oft in BBC-Dokus erzählt von Sebastian Koch, zeigen sie ab heute fünf Montag zur besten ARD-Sendezeit Tiere, von deren Sozialverhalten wir uns ein Scheibchen abschneiden sollten, um das Klima vielleicht doch nicht gegen die Wand zu fahren.
Ein paar Verbrauchertipps dagegen hat ab morgen an gleicher Stelle um 16.10 Uhr jemand parat, den man an dieser Stelle womöglich nicht erwartet hätte: Oliver Petszokat. Als Seifensänger Oli.P hatte er eine recht lukrative Popkarriere; jetzt moderiert der der frühere GZSZ-Star das Trödel-Format Hallo Schatz, in dem vermeintlich unnütze Gebrauchtgegenstände upgecycelt, also aufgewertet werden. Klingt dann doch ein bisschen nachhaltiger als sein beruflicher Werdegang… Nach Aufwertung leicht abgenutzter Gebrauchtwaren klingt auch das vogelwilde, halbfiktionale Band-Porträt The Dirt , mit der Netflix den Hair-Metallern Mötley Crüe Freitag huldigt. Und das Gleiche gilt irgendwie auch für die Rückkehrs eines anderen Fossils des haarigen Zeitalters.
In Gottschalk liest liest Gottschalk ab Dienstag um 22 Uhr nämlich im Bayrischen Rundfunk Bücher und gibt damit den Hans-Joachim Kulenkampff, der seine Karriere auch einst als Märchenonkel zur Nacht ausklingen ließ. Beim erstaunlichen Nischensender TNT bereitet sich die Nachfolgegeneration am gleichen Tag auf eigenen Nachwuchs vor. Die Mockumentary Andere Eltern erzählt von Helikopter-Hipstern in Köln, die sich ihre eigene Kita errichten. Das ist zwar oft klischeehaft, aber öfter wahrhaftig. Ähnliches gilt für die Langzeitbeobachtung Wir sind Jane, in der der US-Kabelkanal A&E ab Samstag die neun Persönlichkeiten einer schizophrenen Mutter schildert.
Zumindest zwei Leben hatte dagegen Deutschlands Dichter-Gott der Zwischenkriegszeit. Mit Tom Schilling als jungem und Burghart Klaußner als altem Brecht, porträtiert der Dokudramen-Gott Heinrich Breloer den Dramatiker in seiner hybriden Vielschichtigkeit. Arte zeigt den Zweiteiler Freitag am Stück und schiebt noch einen Film über Brechts Wirken am Berliner Ensemble nach. Viel Hochkultur zum Wochenende. Das ein bisschen Popkultur als Gegengewicht verträgt. Die Wiederholungen werden daher Mittwoch um 20.15 Uhr auf Nitro von George Lazenby eingeleitet, der 1969 seinen einzigen Einsatz als 007 hatte. Montag läuft Corinne Marchand in Erwartung einer Krebsdiagnose als Cléo durchs schwarzweiße Paris 1962 (Arte, 21.55 Uhr. Und Neo zeigt ab Freitag um 13.45 Uhr die Ursprünge des multiphobischen Ermittlers Monk von 2002.
Wenn man als Musiker so richtig wütend ist und dies unbedingt rausbrüllen muss, gibt es von Death Metal über HipHop bis Screamo und Punk eine Unzahl an Genres, es zu tun. Weil Marius Lucas-Antonio Listhrop offenbar so richtig wütend ist, aber zugleich etwas entscheidungsschwach, um sich für eines der angesprochenen Genres zu entscheiden, hat er einfach den Mittelweg gewählt und alles ineinandergekippt, bis daraus Scarlxrd geworden ist – ein ungeheuer vielschichtiges, sensationell grimmiges Solo-Projekt des Mittzwanzigers aus dem englischen Wolverhampton, der nicht ohne Grund nebenbei noch Frontman der Nu-Metal-Band Myth City ist.
An Haut, Haar und Kleidung so dunkel, wie seine Seele zu sein scheint, brüllt er auf dem zweiten Album seinen Hass aufs Dasein bürgerlicher, biederer, beliebiger, anteilnahmsloser Existenzen auf Platte, dass man beim Hören unvermeidbar aufgekratzt wird. Umwabert von düsterem Trap und Elementen aus Metal, Hardcore, TripHop gibt es zwölf Stücke lang nicht den leisesten Versuch, der Harmonielehre zu gehorchen. Alles an Infinity ist Furor, alles daran ist aber auch ein sensibles Gespür für Struktur im Chaos. Keine Album zum Entspannen, im Gegenteil. Aber wer will das schon, in Zeiten wie dieser…
Scarlxrd – Infinity (Universal)
Gig der Woche
Night Laser
Heavy Metal, sagen Außenstehende übers geschrammelte Pathos in Nietenleder, Heavy Metal is more fun doing than listening. Selbst für Außenstehende stellt sich jedoch gehöriger Spaß ein, wenn Heavy Metal auch optisch so richtig die Sau rauslässt. Und genau das haben die Lokalmatadoren Night Laser am Mittwoch mit drei artverwandten Bands im Hamburger Logo gemacht. Mit Cowboystiefeln und Röhrenjeans, Augenkajal und Tropfensonnenbrillen, Wind in den Matten und Groupies am Bühnenrand trieb das Quartett den heiligen Unernst des thrashigen Glamrock auf die Spitze, ohne ihn lächerlich zu machen. Textzeilen von “trouble in the neigbourhood” bis “boys are running wild” legen zwischen all den Gitarrensoli um Benno Hankers’ Opernfalsett zwar das Gegenteil nah. Aber dafür sind Max Behrs Drums viel zu virtuos, Hannes Vollraths Riffs zu unprätentiös. Und der Rest? Eine gigantische Show. Nicht nur für Metalfans. Aber für die besonders.
In der ProSieben-Show Das Ding des Jahres wird fraglos auch viel Sinnvolles erfunden. Allerdings meistens von Männern. Frauen kommen auch im Finale am kommenden Dienstag meist nur mit textilem Lifestyle daher (Foto: Pro7/Willi Weber) und giggeln dazu servil. Eine Emanzipationskritik mit Nachhaltigkeitsschlenker.
Von Jan Freitag
Die Welt da draußen ist voller Probleme. Manipulierte Diesel verpesten unsere Luft, populistische Hetzer den Umgangston, Plastikmassen das Meer und Treibhausgase die Welt im Ganzen. Aber das alles ist noch gar nichts dagegen, was Jennifer, Ulrike und Larissa so umtreibt. Ihnen nämlich lässt die dringlichste aller Sorgen partout keine Ruhe. „Man hat einfach nicht für jedes Outfit die passende Handtasche.“ Bis jetzt. Denn die drei Designerinnen haben eine mit austauschbarer Deckklappe in „vielen tollen Farben und Mustern“ entwickelt und nebenbei eine Plattform gefunden, sie kostenlos zu bewerben: Das Ding des Jahres.
Um diesen Titel und 100.000 Euro Preisgeld kämpfen auf ProSieben grad fünf Dienstage lang Erfinderinnen wie Jennifer, Ulrike und Larissa. Wobei es analog zur Premiere 2018 vor allem Erfinder sind. Und falls sich doch mal weibliche Tüftler unter die männliche Übermacht mischen, haben sie so sicher wie Schleichwerbung bei der Wok-WM irgendetwas mit Kochen, Mode, Styling kreiert. Im zweiten Duell der dritten Folge bekam es das Taschentrio daher mit Katrin Liebers austauschbaren Pumps-Hacken zu tun. Die Herren der Alltagsschöpfung befassen sich dagegen mit Computergadgets, Transportsystemen und sonstiger Hardware. Schöne alte Geschlechterwelt.
Weil die Herren der Warenschöpfung auch Babymilch-Portionierer oder Silikonbackformen erdacht haben, weist ProSieben-Sprecher Christoph Körfer den Sexismus-Vorwurf zwar von sich. „Wenn Sie wollen“, kommentiert er weibliche Erfindungen männlicher Protagonisten auf DWDL-Anfrage „können Sie da gerne ein klischeehaftes Rollenbild hineininterpretieren“. Um männliche Entfaltungsmöglichkeiten geht es allerdings gar nicht, es geht um die Beschränkung der weiblichen. Etwa wenn der schmächtige Mittsiebziger Ernstfried den Mehrwert einer leichten Hundebox damit erklärt, wie eine Frau das schwere Standardmodell denn bitte ins Auto heben solle und Moderatorin Janin Ullmann dazu im schrittkurzen Minirock giggelt, als säßen wir uns noch im Fernsehzeitalter dekorativer Assistentinnen honoriger Conférenciers.
Als solche fungiert auch die Frau des Glasers Rolf. Gaby muss zwar vor seinem Spiegel mit digitaler Rückansicht posieren, aber schön die Klappe halten. Dass Heidi Klum in der Pause für ihre Modelzuchtshow wirbt, passt ins Bild einer Sendung, die das Rad der Emanzipation trotz paritätischer Jury um zwei, drei soziale Bewegungen zurückdreht. Nur zwei Wochen also, nachdem Maria Furtwänglers MaLisa-Stiftung belegen konnte, wie stereotyp Rollenbilder nicht nur in Film & Fernsehen, sondern auf Plattformen wie YouTube oder Instagram sind, erhob ProSieben das Klischee erneut zum Markenkern.
Schon 2018 stammten von 32 Erfindungen ja ganze sieben von Frauen, die bis auf ein Schuhgrößenmessgerät nichts als Textilien verarbeitet haben. Wenn ihr Anteil heute Abend in Folge 4 zurück auf Vorjahrsniveau fällt, werden die Damen – sofern sie nicht Teil gemischter Erfinderteams ist – ausnahmslos Lifestyle ersinnen. Ein mobiles Nagelstudio etwa oder kein Scherz: Sohlen-Tattoos für Stöckelschuhe. Mehr noch als beim Sendungsdebüt, das seinerzeit als „Trullala-Version“ der Höhle des Löwen kritisiert wurde, trifft klassische Geschlechterkonstruktionen also auf einen Konsumfetischismus, dem ernste Problemlagen im Zweifel halb so wichtig sind wie die passende Handtasche für jedes Outfit. Und diese Besinnungslosigkeit findet nirgendwo besser seinen Ausdruck als im „Smart Mirror“ von Max und René, der den akuten Kommunikationsoverkill nun auch ins Badezimmer trägt.
Dass Männer beim Rasieren ihre Business-Termine am digitalen Spiegel sortieren und Frauen beim Schminken Makeup-Tutorials betrachten, könnte der Jury um den heiteren Skeptiker Joko nun ein paar Fragen zu Ressourcenverbrauch und medialer Erschöpfung entlocken. Doch in dieser Art Dauerwerbesendung geht es ihm wie dem Supermodel Lena Gehrcke oder der Erotik-Versandhändlerin Lea-Sophie Cramer einzig um Verkäuflichkeit. Eine ProSieben-Pressemitteilung feierte gestern entsprechend stolz „Verkaufsrekorden“ mehrere Webseiten teilnehmender Start-ups. Da hat Rewe-Verkaufsleiter Hans-Jürgen Moog im Jury-Sessel keine weiteren Fragen, als im Bildschirmeck der dritten Folge „unterstützt durch Produktplatzierungen“ aufpoppt.
Kurz vorm echten Reklame-Break gibt es dann noch einen SUV mit 178 PS zu gewinnen, den die Generation sorglos als „urbanen Crossover“ verharmlos. Und dass ein Tragegurt für Plastikflaschengebinde nicht nur den Wegwerfkonsum im Land der weltbesten Trinkwasserqualität erhöht, sondern „von Hausfrauen gemacht“ wird, wie der Erfinder arglos die Produktionsbedingungen schildert – hey: We love to entertain you! Obwohl das Ding des Jahres nachhaltig sein könnte wie ein revolutionärer Fahrradschlauch oder Einweggeschirr aus Laub, ähnelt der sexistisch grundierte Fortschrittsoptimismus in Stefan Raabs Format dem von Galileo, wo Fun stets schwerer wiegt als Verantwortung.
Um ProSieben nicht Unrecht zu tun: Sein Personal ist jünger, weiblicher, migrationshintergründiger als bei der Konkurrenz. Ähnliches gilt für viele Serien oder Shows. Zugleich aber (ent-)kleiden sich selbst Meteorologinnen wie Frischfleisch vorm Bachelor, von Moderatorinnen der Gossip-Magazine ganz zu schweigen. Wie heißt es in der MaLisa-Studie: „Sie sind dünn, langhaarig und beschäftigen sich hauptsächlich mit den Themen Mode, Ernährung und Beauty.“ Gemeint sind damit die Influencer digitaler Plattformen. Bei ProSieben gilt das auch für Erfinderinnen.
Dass die Kirche selbst im Dorf immer leerer wird, liegt zwar nicht an CDU und CSU, hat aber gravierende Folgen für Parteien, die das Christliche im Label führen. Der Schwund des religiösen Antriebs, sie zu wählen, hat für beide aber auch positive Seiten. CDU und CSU müssen sich nicht mehr um Ärgernisse wie Nächstenliebe bemühen, weshalb sie Hilfsbedürftige jeder Art unterbuttern, abschieben oder zumindest lächerlich machen dürfen. Trotzdem sollte man die Kirche angesichts von Annegret Kramp-Karrenbauers karnevaleskem Tritt in den Schritt des dritten Geschlechts mal im Dorf lassen.
Was die Öffentlichkeit da nämlich kurz vorm Brennpunkt zum Sieden brachte, war weder ausgesprochen bösartig noch kreativ, sondern bloß die Schleimspur, auf der bürgerlicher Anstand gerade dem populistischen Herdentrieb entgegen schlittert. Ein Herdentrieb, der auch dafür sorgt, dass alle Medien vom Mordfall der armen Rebecca berichten, als bestünde der größere Skandal unserer Tage nicht darin, wie unser Konsumverhalten Kindern wie ihr bei vollem Verstand den Planeten verwüstet. Und zwar so unverdrossen, dass sie womöglich Umweltflüchtlinge von morgen sind, die dann andernorts untergebuttert, abgeschoben, lächerlich gemacht werden.
In diesem Sinne könnte man den Samstagabend empfehlen, an dem das Erste ab 20.15 Uhr fünf Stunden lang Roland Kaiser huldigt. In seinem Metier ist der Schlagerstar schließlich fast der einzige, der sich offen gegen rechte Hetze positioniert und damit Einnahmen gefährdet. Aber so weit, einen geselligen Abend mit Florian Silbereisen zu bewerben, wollen wir hier dann doch nicht gehen. Wovon bei aller Güte allerdings sogar strikt abzuraten ist, ist die Dauerwerbesendung Das Ding des Jahres auf Pro7. Frauen erfinden da Accessoires und Lifestyle, Männer Maschinen und Technik, gewählt wird, was dämlich ist wie selbstkühlende Biergläser, und die Jury stellt nie, nie, nie Fragen zu Nachhaltigkeit, Sexismus oder tieferem Sinn, sondern ausschließlich nach Preis, Markt,Rendite.
Die Frischwoche
11. – 17. März
Ab Dienstag gibt‘s um 20.15 Uhr also wieder Fernsehen für die Generation sorglos, der vorigen Montag einer der populärsten Darsteller verloren ging: Luke Perry, in den Neunzigern Superstar der hartnäckig unpolitischen Teeny-Serie Beverly Hills, 90210, ist an einem Schlaganfall verstorben.Aus derselben Epoche stammt etwas, das ein Kanal, der mit „Music Television“ übersetzt wurde, bevor er nur noch Seifenopern zeigte, nach fast 25 Jahren Pause aus der eigenen Versenkung zerrt: Yo! MTV Raps. Ende der 80er für die Popkultur, was man heute Influencer nennen würde, erweckt Palina Rojinski das HipHop-Magazin ab Samstag auf einem Sender zum Leben, dessen Fortbestand fast noch mehr überrascht als die Moderatorin.
Ob die Show zwischen Hyperkommerz des Sprechgesangs und Abspielstationen wie Spotify bestehen kann, wird sich zeigen, aber es wäre ihr echt zu wünschen.Aus der MTV-Phase zwischen Kommerzialisierung und Bedeutungslosigkeit stammt auch eine Band, die Neflix am Freitag in der Doku The Dirt porträtiert: Mötley Crüe. Nicht nur für Metal-Fans sehenswert.Zumindest für Testosteron-Fans lohnend ist ab heute die zweite Staffel der Superhelden-Serie American Gods auf Prime-Video. Ebenfalls computeranimiert, doch dabei auf menschliche Art anzüglich: die 18-teilige Netflix-Anthologie Love, Death & Robots um eine Schar künstlicher Kreaturen, deren wildes Treiben am Freitag eine Altersfreigabe ab 18 nach sich gezogen hat.
Davon kann beim Achtteiler Turn up Charlie auf gleichem Kanal zur selben Zeit nie die Rede sein. Die Coming-of-Age-Story eines amerikanischen Nesthockers ist absolut harmlos und dabei recht lustig. Gar nicht lustig ist, was die ARD in ihrer Montagsdokumentation Die Akte BND 90 Minuten ab 22.45 Uhr aufdeckt: In welcher Kaltschnäuzigkeit der deutsche Geheimdienst weltweit in unmoralische Waffendeals verstrickt ist. Dass diese Art der Enthüllung politische Folgen hat, darf bezweifelt werden. Sie zeigt aber, wie wichtig öffentlich-rechtliche Recherchen sind. Dazu gehört allerdings auch fiktionale Unterhaltung – auch wenn die sich gut mit Relevanz anreichern lässt.
Arte etwa porträtiert heute im Rahmen seiner Reihe über starke Frauen Danielle Darrieuxund zeigt vorweg – als schwarzweiße Wiederholungen der Woche – zwei Klassiker der französischen Kino-Legende: Madame de… (1953) sowie Diebe und Liebe (1940). Am Mittwoch widmet sich Kabel1 einem Mann, der anfangs Testosteron versprühte, dann aber geläutert schien: Clint Eastwood. Schon alt und bedeutsam ist er um 20.15 Uhr in Ein wahres Verbrechen (1999) zu sehen, noch jung und unterhaltsam in Dirty Harry (1971), bereits reif, aber bedeutungslos in Dirty Harry V (1988). Aber vielleicht lehnen wir uns parallel im MDR auch einfach zurück und erfreuen uns um 22.10 Uhr an Nora Tschirners und Christian Ulmens zweitem Tatort: Der Irre Iwan von 2014.
Sasami Ashworth ist gar nicht da. Rein physisch mag die Songwriterin aus Los Angeles zwar anwesend gewesen sein, als ihr fabelhaftes Debütalbum nahezu im Alleingang entstanden ist. Psychisch jedoch, also geistig und mental, hat sie beim Einspielen der zehn Stücke offenbar kurz mal ihren Körper verlassen, ist hoch in Kaliforniens strahlend blauen Himmel entschwebt und sich dort im Palmenhain ihrer angenehm aufgewühlten, aber watteweichen Arrangements verflüchtigt. Umschwurbelt von fuzzigen Gitarrenriffs, leicht bekifften Keyboards und einer Portion Aberwitz in Drums und Samples, schildert sie ihr Seelenleben, als sei es das einer anderen.
Dieses Seelenleben ist zum Glück zwar ein bisschen liebeswund, aber niemals larmoyant. Das Tollste aber: SASAMI, so heißt dieses bezaubernde Wunderwerk des Alternative-Pop, kommt nie entrückt, geschweige denn esoterisch daher. Stattdessen lädt es uns ein, knappe 45 Minuten lang mit ihr auf derselben Wolke zu sitzen und herunterzuschauen auf eine Welt, in der es längst so irre zugeht, dass man seinen Fluchtimpulsen ruhig mal ein Weilchen folgen darf. Diese Zeit da oben mit dieser Multiinstrumentalistin mit Flügelhorn ist wie in der Lieblingsbar beim Lieblingsdrink mit Lieblingsbarflies zu sitzen und nichts zu tun außer – sein.
Sasami – Sasami (Domino)
Alice Phoebe Lou
Die Grenze zur Esoterik ist, seien wir ehrlich, bei Alice Phoebe Lou hingegen schon ein wenig näher gerückt als bei der äußerst weltlichen Sasami Ashworth vom anderen Kontinent. Schon wie die Wahlberlinerin aus Südafrika aussieht – ein bisschen wie aus dem Elbenwald von Mittelerde oder einem isländischen Vulkan entsprungen, leicht anämisch, seltsam entrückt, nicht ganz von dieser Welt jedenfalls. Und so klingt dann auch ihr zweites Album mit dem sprechenden Titel Paper Castles. Zu Anfang jedenfalls. Stück für Stück jedoch entfacht es einen versteckten Schwung, der klingt wie eine Big Band in einem Pool voller Wackelpudding.
Die meisten der zehn Lieder scheinen sich ihrer hintergründigen Kraft fast ein wenig zu schämen, so verträumt haucht Alice Phoebe Lou ihren Inhalt in die Welt. Leicht windschief, aber ausdrucksstark und schön zittert sie sich durch karibische Klangfragmente im jazzigen Swing-Gewand, kiekst dazu wie in Galaxie schon mal wie auf einer Überdosis Absinth und singt überhaupt so hinreißend schräg, ohne schräg klingen zu wollen, dass man spontan in den Wackelpuddingpool dazu springen möchte. Kreativ, verschroben, verträumt und virtuos – der perfekte Sound zum Weltfrauentag.