One-Two-Three-Four-Rotz and Go – es ist nicht unbedingt so, dass im Bereich des vermeintlichen Alternativerocks, der seine Distanz zu Majorlabels oft ja bloß in der Gattungsbezeichnung trägt, irgendwie Nachwuchsmangel herrschte. Seit die Libertines den Britpop zum Britrock gemacht haben und die Arctic Monkeys daraus wiederum Britsmosh, hagelt es fast wöchentlich neue Bands ins Segement harter Gitarren mit weicher Stimme. Und nun also Otherkin. Vier Männer, vier Akkorde, Vierviertel und ab die Post. Nichts Neues. Nichts Neues? Ein bisschen doch.
Die Stimme von Luke Reilly ist ein bisschen rauer als der Rest des Genres, das Schlagzeug von Rob Summons ein wenig wilder, der Bass von David Anthony etwas verwaschener und Conor Wynnes Gitarre sägt dazu Riffs in Fetzen, die stets eine Spur verwegener herumfliegen als andernorts üblich. Referenzen an Rancid oder Pennywise verfestigen dabei die Glaubhaftigkeit der Attitüde, es ernst zu meinen mit einer Distanz zum Mainstream, die jeder im Independent für sich reklamiert. Otherkin erfinden den Britrock nicht neu, bieten ihm aber ein neues Speedquartett, das noch manches Stadion zum Kochen bringen dürfte. Freuen wir uns drauf.
Otherkin – OK (Rubyworks)
Primus
Die Begegnung mit Primus, so viel persönliches Erleben ist an dieser Stelle durchaus mal angebracht, kann Leben verändern. Wer Les Claypool Anfang der Neunziger live beobachten durfte, wie er den Bass zugleich funky slappt, rockig pickt und metallisch drischt, während Tim Alexander Dinge am Schlagzeug vollführt, die selbst bei noch so viel eigener Übung unnachahmlich sind. Wenn Larry LaLondes Gitarre dazu tritonale Kryptik verbreitet und Claypool bizarrste Sachen über erschossene Hundebabys singt. Dann war das in seiner Komplexität so überwältigend, dass Musik danach nie wieder dieselbe sein konnte. Lange her.
Und doch sehr präsent, sobald man die neue, neunte Platte hört. In Originalbesetzung zeigt das Trio aus San Franzsico, was es schon 1990 beim legendären Debüt Frizzle Fry zelebriert hat: jazzigen Mathcore mit der Kraft elaborierten Unsinns. Und diese psychedelic polka, wie sie es selbst nennen, hat nichts von ihrer Sokraft verlorgen. Die Stücke mit konzeptionellen Titeln von The Valley bis The Ends? baden im gediegenen Aberwitz, tun es aber wie gewohnt mit einer an Genialität grenzenden Virtuosität, die man immer noch nicht so recht begreift. Kein Album für den entspannten Fünf-Uhr-Tee, eher eine Eigentherapie eleganter Überforderung.
Primus – The Desaturating Seven (ATO Records)
Tricky
Stockdunkel ist das neue Album von Tricky, stockdunkel ist auch dessen Cover, vom Künstler am Rand ganz zu schweigen. Stockdunkel ist schließlich alles am Pseudonym von Adrian Nicholas Matthews Thaws, der dem freudlosen Trip-Hop einst eine Extraportion Trübsinn verpasst hat. Jetzt aber scheint Tricky Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Eher ein zartes Schimmern als gleißenden Sonnenschein, aber keine Frage: das 12. Album ist von allen am luzidesten. Noch immer besingt das Waisenkind aus Bristol zwar alles, was es 45 seiner fast 50 Jahre nach dem Suizid der Mutter das Leben verhagelt hat. Doch mithilfe einer Riege russischer Produzenten und Rapper, die bei der Herstellung in Moskau am Werk waren, wirkt Ununiform geradezu gelöst.
Blood on my Blood zum Beispiel oder Dark Days mögen wie so viele seiner Songs eher rhythmisiertes Hintergrundrauschen sein als Melodien für Millionen; stets herrscht darin minimalistisches Nichts in Moll, ständig flehen vereinsamte Tonfetzen um Gesellschaft. Doch all die Worte über Familiendramen und den Tod darin wirken, als blicke er diesmal nach vorn und ließe seine Dämonen zurück. Tricky macht seinen Frieden mit sich. Und wir können dabei zuhören, ohne in uns zusammenzufallen. Endlich.
Tricky – Ununiform (False Idos)
Phoebe Bridgers
Hell ist das erste Album von Phoebe Bridgers, hell ist auch dessen Cover, selbst das handgemalte Geisterkostüm am Rand glänzt im Sonnenlicht. Hell ist schließlich fast alles an der platinblonden Sängerin mit der glockenklaren Stimme. Den Alternativefolk ihres Debüts als unbedingt lebensbejahend zu bezeichnen, wäre dann aber doch zu oberflächlich. Phoebe Bridges war noch ein Teenager, als Ryan Adams vor zwei Jahren auf die erste Single Killer aufmerksam wurde und begann, Stranger in the Alps mit ihr aufzunehmen. Und Melodramatik ist ja kein allzu fernes Gefühl von Menschen dieses Alters.
Melodramatik ist es daher auch, die ihre Lyrik hauchzart durchwirkt, mit Worten voller Sehnsucht, Selbstzweifel und Schwermut. Alles gern garniert mit tröpfelndem Hintergrundpiano oder einer Geige, die im Opener Smoke Signals den dünnen Gitarrenvorhang gleich mal wie ein laues Lüftchen aufwirbelt. Trotzdem klingt die Platte nie getragen, geschweige denn pathetisch, dafür selbstbewusst, aber nie abgebrüht. Damit hat sie es immerhin zum Support von Conor Oberst gebracht und in mehrere Soundtracks bekannter Fernsehformate. Da wächst was heran im Sommersonnenschein.
Phoebe Bridgers – Stranger in the Alps (Dead Oceans)
Eva Löbau ist nicht schön, sie hat auch keinen Glamour, sie spielt ihre Rollen einfach mit so geradliniger Wahrhaftigkeit, dass es die Schwäbin mittlerweile zu einer festen Größe des deutschen Films gebracht hat. Dafür spricht zum Beispiel, dass sie ab Sonntag die neue Ermittlerin des Schwarzwald-Tatorts ist. Und dabei gemeinsam mit ihrem Kollegen Hans-Jochen Wagner (Foto: Alexander Kluge/SWR) entscheidend zur grandiosen Atmosphäre des Auftaktfalles Goldbach beiträgt.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Löbau, gleich Ihr erster Tatort macht kriminologisch mit Kindsmord und Waffenhandel ein großes Fass auf. Ging’s zum Auftakt nicht ein bisschen kleiner?
Eva Löbau: Ach, es gab mal eine Phase, wo der Waffenhandel noch weiter im Vordergrund des Drehbuchs stand. Daraus ist erst im Verlaufe der Entstehungsgeschichte ein Worst-Case-Szenario dreier Familien geworden. Mir ist es allerdings sehr recht, dass unser Tatort so schwer, ernst und melancholisch einsteigt.
Warum?
Für mich als Ermittlerin gerät die Einführung dadurch sogar sanfter, weil wir unsere Arbeit in einem Umfeld erledigen, dem mehr Raum gegeben wird als uns. Also, ist mir natürlich bewusst, dass Krimis in Deutschland die Realität verdichten. So ein Fall kommt im Schwarzwald sicher nicht häufig vor.
Wirken Ihre beiden Kommissare deshalb so wenig abgebrüht oder legt es die Messlatte gleich mal auf ein Niveau ganz gewöhnlicher Ermittler?
Schon, aber es hat auch mit unseren Gesprächen mit der Freiburger Polizei zu tun, wie Kommissare in so einer Situation normalerweise reagieren. Daran schließt sich ja die Frage an, wie viel Routine im Polizeialltag realistisch ist, wie viel man psychisch aushält. Es war mein Wunsch, dass die Polizeiarbeit mehr im Vordergrund steht als meine Figur; die sollte nicht so exaltiert sein.
Das entspricht durchaus dem Rollentypus, den Sie öfter mal spielen oder?
Inwiefern?
Da sind schon öfter eher graue Mäuse wie damals in Lerchenberg und jetzt hier beim Tatort auch.
Echt? Oh, das war hier nicht meine Absicht. Graue Maus ist generell nicht mein Interesse. Mir geht‘s immer um die jeweilige Funktion einer Figur im ganzen System. Und hier in der Reihe vielleicht um einen gewissen Pragmatismus. Ich gebe da doch auch Anweisungen, und die werden sogar befolgt Hahaha. Auch in Lerchenberg steigt die graue Maus, wenn Sie das so nennen wollen, letztlich aus Sascha Hehns Schatten und lässt sich Haifischzähne wachsen.
Wird der Tatort auch für Sie selbst was ändern, einen Schwung aus der zweiten Reihe ins Rampenlicht?
Das weiß ich jetzt natürlich noch nicht, aber davon abgesehen, dass ich auch Hauptrollen spiele, meinte eine befreundete Regisseurin zu mir, der deutsche Film interessiert sich jetzt nicht sooo sehr für dich, da gibt dir der Tatort vielleicht mal einen Aufmerksamkeitsschub. Ich komme ja eher aus dem Autorenkino und nenne mich manchmal scherzhaft einen Weltstar des internationalen Studentenfilms. In Theaterstücken spiele ich oft Leute, die dominieren und sagen wo‘s lang geht. Andererseits stimmt es schon – im Film kommt das bislang eher seltener vor.
Sie sind in Waiblingen aufgewachsen oder?
Geboren. Aufgewachsen bin ich in Plochingen. Beides ist in der Nähe von Stuttgart.
Kennen Sie die Gegend, in der der Tatort spielt?
Ich wohne zum Teil in Karlsruhe und bin dann oft im Schwarzwald wandern. Ich kenne die Gegend also ganz gut.
Ist sie wirklich so düster wie der Film es suggeriert?
Er hat natürlich auch eine liebliche Seite. Aber durch die tiefen Taleinschnitte unter den hohen Plateaus mit ihren Mooren ist er vielfach schon auch schroff und abweisend.
Welche Reaktionen erwarten Sie von Schwarzwäldern auf den ersten Fall? Richtig gut kommen ja weder Wald noch Mensch, die als ziemliche Waffennarren dargestellt werden, weg.
Ach, das ist halt der Blickwinkel dieses Falles. Manche Leute werden gewiss auf korrekte Dialekte achten, und enttäuscht sein. Aber die Waffenszene wird ja als sehr vielfältig dargestellt: vom Schützenverein bis zum Freak. Und den Global Player der Waffenindustrie gibt’s dort wirklich. Ich finde die Gegend sehr nachvollziehbar.
Sind Sie selbst ein urbaner Typ?
(lacht) Ja. Aber einer mit großer Sehnsucht nach dem Land. Ich habe gemeinsam mit meinen Geschwistern kürzlich die Hütte meines Großvaters an einem See bei Salzburg zurückgekauft. Aus nostalgischen Gründen. Ansonsten wohne ich meistens in Berlin.
Werden Sie dort auf der Straße erkannt?
Kaum. Ich kann mich unbehelligt bewegen. Als ich neulich vorm Geldautomat stand, meinte aber mal ein anderer Kunde zu mir, ah, Sie sind doch die Schauspielerin? Aber das war ein positives Erlebnis, weil er Filme mit mir gesehen hatte, die er mochte.
Sind Sie denn Zuhause bei Stuttgart bekannt?
Das wüsste ich, wenn es dieses Zuhause dort noch gäbe. Meine Eltern wohnen nicht mehr da, wo ich aufgewachsen bin, sondern teilweise auf Sardinien, teilweise bei Salzburg. Ich komme daher nicht in mein „Dorf“ zurück und jeder sagt, ach guck mal, die Eva! Mit meiner Verwandtschaft hatte teilweise in den letzten Jahren nicht so viel Kontakt; aber jetzt, wo der Tatort kommt, führt uns das wieder ein bisschen zusammen. Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen. Erst kürzlich haben sich meine Eltern einen gekauft. Nur um mich im Fernsehen zu sehen. Sagen sie zumindest. Also, Tatort sorgt bei mir zu Familienzusammenführung.
Setzen Sie sich ein Limit, wie lange Sie ihn machen wollen, ohne darin festzuhängen?
Ich hab mir im Voraus natürlich Gedanken gemacht, inwieweit er eine berufliche Weiterentwicklung ist oder inwieweit mich das schädigen könnte. Dadurch, dass es schon so viele Tatort- Kommissarinnen gibt, empfinde ich mich jetzt auch nicht nur darauf festgelegt. Ich freu ich mich auch, dass ich mich längere Zeit mit dieser Figur in diesem Umfeld auseinander setzen kann. Aber ich werd schon weiter auch anderen Arbeiten und Interessen nachgehen.
Denken Sie bezogen auf Ihre Arbeit strategisch?
Gar nicht. Im Gegenteil. Ich bin sehr unstrategisch und habe schon Entscheidungen getroffen, die eher nicht karriereförderlich waren.
Zum Beispiel?
Etwas Größeres abzusagen, weil ich noch mit etwas Kleinerem beschäftigt war, das mir allerdings am Herzen lag.
Wie viel Zeit und Arbeit nehmen zwei Tatorte pro Jahr in Anspruch?
Je einen Monat drehen plus Vor- und Nachbereitung. Ist schon eine Weile. Mitte Oktober drehen wir ja auch schon den nächsten. Da geht es speziell um Heimatverbundenheit.
Und kriegt Franziska Tobler ein bisschen mehr Privatleben als bislang?
So, die Wahl ist gelaufen, und obwohl nun Neonazis im Bundestag sitzen, ist die Erde noch immer keine Scheibe, das Leben weiterhin lebenswert, und der Pro7-Moderator Thore Schölermann hat mit seiner vorab gesendeten Empfehlung gegen die AfD aus journalistischer, menschlicher, rationaler Sicht zwar alles richtig gemacht, musste aber dennoch Abbitte leisten für eine Art Subjektivität, die bei Licht und Abwägung aller Fakten betrachtet objektiv kaum gewissenhafter sein kann. Aber gut – Schluss mit Politik an dieser Stelle. Kommen wir zum Glamour der Fiktion. Auch wenn sie zuletzt wieder politisch war wie lange nicht.
Die Emmys wurden verliehen.
Da war es im aufgewühlten Amerika natürlich kein Wunder, dass sie voll und ganz im Zeichen ihres vogelwilden Präsi…, besser: Pfaus Donald Trump standen. Doch obwohl etwa Saturday Night Life auch wegen der heiteren Kritik am Berserker im Weißen Haus Preise wie die der besten Sketch Serie abgeräumt hat, ging es natürlich vor allem ums Fernsehen als Unterhaltungsmedium. Und darin zeigt sich, dass Netflix zwar die meisten Nominierungen verzeichnet hatte, aber keineswegs zu den großen Siegern des Abends im Microsoft Theater zu L.A. zählte. Von denen war einer die Internetplattform Hulu mit der Ungleichberechtigungsdystopie The Handmaid’s Tale, zum drittenmal die HBO-Komödie Veep und an gleicher Stelle (also hierzulande Sky) das fabelhafte Gesellschaftsdrama Big Little Lies. Auch die Feier des Netflix-Erfolgs Stranger Things änderte also wenig daran, dass der Streamingdienst sein Bärenfell besser noch nicht verteilen sollte.
Denn auch das alte Fernsehen ist noch immer nicht so richtig totzukriegen. Das zeigt hierzulande zum Beispiel die ARD-Serie Babylon Berlin, die kurz vorm Vorabstart im Oktober auf Sky bereits für Furore sorgt. Andererseits ist es am Ende doch zusehends der Sport, mit dem im Regelprogramm Quote gemacht werden kann; sofern es darin überhaupt um Sport geht. RTL Nitro hingegen verdient für sein weitestgehend fußballloses Dauergelaber 100% Bundesliga am Montag schon deshalb Missachtung, weil es den schwer erträglichen Tritt ins Gesicht eines Stuttgarters vom vorangegangenen Wochenende siebenmal gezeigt hat. Sie! Ben! Mal! Teils in Zeitlupe und voll Geifer für die geilen Bilder.
Abschalten, bitte!
Die Frischwoche
25. September – 1. Oktober
Zuschalten kann man dann spätestens wieder kommenden Sonntag. Gar nicht unbedingt (aber durchaus auch), weil Hans-Jochen Wagner und Eva Löbau das 1763. Tatort-Team bilden, das allen Ernstes im Schwarzwald zwischen Waffenhändlern und Kindermördern ermittelt. Nein, empfehlenswert ist endlich mal ein Stück Historytainment aus vordemokratischer Zeit. Im Dreiteiler Maximilian beleuchtet Regisseur Andreas Prochaska ab Sonntag drei Abende in Folge um 22 Uhr den Aufstieg des frühen Habsburgers im späten Mittelalter zur Keimzelle dieser mächtigen Dynastie. Und das tut Jannis Niewöhner als Nachwuchskaiser in sehr eindrücklichen Bildern. Gewiss, wie der junge Autodidakt um Christa Théret als Maria von Burgund kämpft, ist trotz historisch verbürgter Sachlage heutigen Sehgewohnheiten angepasst. Trotz aller Anpassungen bleibt Maximilian aber ziemlich glaubhaft.
Wenngleich nicht annähernd so wie Nicole Weegmanns fantastische Fiktionalisierung vom Unglück auf der Duisburger Love Parade vor sieben Jahren. Besonders Jella Haase zeigt in Das Leben danach als schwer traumatisiertes Opfer, dass sie weit mehr kann als die Ulknudel bei Fack yu Göhte. Vom grandiosen Carlo Ljubek als Taxifahrer, der mit Antonia ein Bündnis unter Leidensgenossen eingeht, ganz zu schweigen. Ein typischer ARD-Mittwochsfilm und doch etwas Unvergleichliches. Schade, dass er sich parallel mit der Champions League im ZDF messen muss… Im dritten Teil von Schuld dann beweist am Freitag (21.15 Uhr, ZDF) auch Josefine Preuß im besten der vier Filme, dass sie nicht nur Mittelalterfeministinnen kann.
Ob Maria Furtwängler so wahnsinnig viel mehr kann als Charlotte Lindholm ist angesichts ihrer seltenen Auftritte außerhalb vom niedersächsischen Tatort hingegen schwer zu sagen. Aber dass sie zumindest dort gut aufgehoben ist, bewies die erschütternde Doppelfolge Wegwerfmädchen 2012, die der NDR uns am Samstag ab 20.15 Uhr nochmals zumutet. Die schwarzweiße Wiederholung der Woche spielt im Jahre 1932, als Ryan O’Neal mit Töchterchen Tatum durchs Weltwirtschaftskrisenland USA reist und dort das Glück sucht. Besonders die Intensität des Kinderstars in spe machte Peter Bogdanovichs Paper Moon 40 Jahre später zu einem Evergreen des Kinos (Montag, 20.15 Uhr, Arte). Ebenfalls farblos ist Ulrich Plenzdorfs lange Zeit verbotenes DEFA-Drama von 1965 um die systemkritische Lehrerin Karla am gleichen Tag (23.05 Uhr) im MDR. In Farbe, aber ganze acht Jahre älter: Das wilde Schaf (Mittwoch, 1.55 Uhr, ARD) mit Romy Schneider, die den schüchternen Nicolas (Jean-Louis Trintignant) das Feuer der Leidenschaft entlockt, wie es nur Romy Schneider konnte, die dafür oft nicht mehr tun musste, als vor der Kamera zu sein. Ein Meisterwerk.
Wer in der breiten Masse Spuren von Eigensinn entdecken will, muss manchmal sehr, sehr genau lauschen. Wenn zum Beispiel Moses Sumney singt, ist er nur mit ein wenig Mühe gut zu hören. Wie durch Watte scheint sich der schimmernde Falsettgesang aus dem dürren Körper des Kaliforniers heraus zu quälen und verweht dann auch noch in geheimnisumwitterten Synthesizerflächen, die von einem Tinnitus mit viel basslastigem Hall manchmal kaum zu unterscheiden sind. Schon mit der selbst veröffentlichten EP Mid City Island hat er damit 2014 in aller Stille die Musikwelt aufgewühlt, was deren Nachfolger Lamentations voriges Jahr noch verstärkt hat, bevor sein fantastisches Debütalbum Aromanticism nun den Rest erledigt.
Denn selten zuvor wurde mit so wenig Effekthascherei so viel Wirkung erzielt. Tracks wie Lonely World oder Plastic, vor allem aber das fabelhafte Doomed wühlen unter der anämischen Oberfläche einen Minimalismus auf, der dem überhängenden Folk eine verspielte Popnote verleiht und dennoch zutiefst anmutig wirkt. Permanent sucht man darin nach Halt und findet doch nur die Hilferufe des gefeierten Indiestars mit ghanaischen Wurzeln, den der Erfolg eher noch in sich gekehrter erscheinen lässt. Da ist es ein kleines Wunder, dass sein Durchbruch mit solcher Wucht wirkt.
Moses Sumney – Aromanticism (Jagjaguwar)
Marc Almond
Es gibt genau zwei Wege, Klischees über Homosexuelle einigermaßen erfolgreich zu begegnen: Man negiert sie, gern mit etwas Lässigkeit. Oder man überhöht sie, auch das am besten nicht allzu verbissen. Als Marc Almond 1979 mit seiner Band Soft Cell die Bühne des Wavepop betrat und zwei Jahre darauf mit dem Cover des Motown-Klassikers Tainted Love den vielleicht unverwüstlichsten Superhit der Achtziger entwarf, wählte er den Mittelweg und feierte sich als offensiv schwul, aber ohne jedes Augenzwinkern. Mehr als drei Jahrzehnte später ist Marc Almond immer noch da. Nur ein bisschen leichter scheint ihm jetzt zumute, wenn er sich im Klischee schwuler Musik suhlt. Und das ist wirklich schön.
Auf Shadows and Reflections interpretiert der Sechzigjährige den glamourösen Pop der Sechzigerjahre. Da flattern die Trombone, da jubeln die Geigen, da zappeln die Keyboards, da liegt über allem Marc Almonds unverkennbarer Gesang, der es so hinreißend versteht, sehnsüchtig und zugleich selbstbewusst zu klingen. Und dann erweist er den Vorbildern von den Yardbirds bis Julie Driscoll, von The Herd bis The Action auch noch kühn die Referenz zweier Eigenkompositionen namens Overture und Interlude, die dem melodramatischen Glamour in nichts nachstehen. Ein Album voller Zuversicht, dass alles, alles gut wird, selbst und besonders dann, wenn man immer zu dem steht, was man ist.
Marc Almond – Shadows and Reflections (BMG)
Cold Specks
Als Ladan Hussein unterm Namen Cold Specks ihr Debütalbum veröffentlicht hat, grenzte es an ein medizinisches Phänomen, dass die Kritik so geschlossen euphorisiert war vom Sound der Kanadierin. Normalerweise hätte das hauchzarte Gespinst aus TripHop und Wavepop im Lärm seiner Zeit verhallen müssen wie die Synthieflächen unterm Klagegesang. Tat es aber nicht – und sorgte für einen der wärmsten Schauder des Frühlings 2012. Fünf Jahre später bringt Al Spx, wie sie sich auch nennt, ihr drittes Album raus. Auch Fool’s Paradise verliert sich bisweilen in schwelgerischer Entrücktheit, als flüchte Cold Specks vorm eigenen Mut, ins Rampenlicht zu treten.
Kraftvolle Songs wie das leichtfüßige Wild Card oder der sonore Soul von New Moon stehen aber für neue Energie im Schaffen von Ladan Hussein. Grund dafür, so ist zu hören, sei die Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte im Bürgerkriegsland Somalia, wo ihr Vater dem Elend ringsum mit selbstbewusster, aufsässiger Musik getrotzt hat. Für Cold Specks war diese Begegnung offenbar Erinnerung und Auftrag zugleich – um ein Album zu machen, dass vom Suchen und Finden der eigenen Identität zeugt. Ladin Hussein ist fündig geworden. Sie scheint darüber nicht ganz unglücklich zu sein.
Cold Specks – Fool’s Paradise (Arts & Crafts)
Ein Teil der freitagsmusik ist zuvor auf ZEIT-Online erschienen
Kindermusik – das waren jahrzehntelang simple Beats mit argloser Poesie. Langsam jedoch traut man dem Nachwuchs selbst im Vorschulalter mehr zu als Heididei im Dur-Sound. Bestes Beispiel ist das HipHop-Trio Deine Freunde, auf deren Label ein weiteres Projekt mit Anspruch erscheint: Eule findet den Beat. Angestoßen vom Hamburg-Berliner Trio Charlotte Simon, Christina Raack und Nina Grätz erklären sie Musikstile von Pop über Klassik, Rock, Jazz bis hin zu Folklore spielerisch, aber versiert und grafisch illustriert, was zu einem Theater-Stück mit echten Schauspielern ausgeweitet wurde. Am Sonntag, 24. September, läuft es um 16 Uhr in der Hamburger Fabrik – und es gibt noch .
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Eule findet den Beat ist eine Art frühkindlicher Musikerziehung mit Spaßfaktor. Was war zuerst da – die Theorie oder die Praxis?
Nina: Ach, das kam fast gleichzeitig. Wir wollten ein Hörspiel machen, was den Kindern qualitativ anspruchsvoll einen ersten oder auch zweiten Zugang zur Musik verschafft. Da kam die Idee auf, das über verschiedene Genres zu machen, damit Kinder bewusst einen Geschmack entwickeln können, der nicht nur von den Erwachsenen vorgegeben wird.
Bringen die Kinder da heutzutage größere Kompetenz mit als früher, wo Musik für diese Zielgruppe wenig fordernd war?
Nina: Das hängt natürlich stark von den jeweiligen Eltern ab, die den Musikzugang glaube ich mehr beeinflussen als in meiner Kindheit, und das, was im Kinderzimmer läuft, grad zu Beginn stark mitgestalten. Aber es ist in der Tat so, dass heute schon mit wenigen Jahren Präferenzen für Stile entstehen, die es früher eher seltener gab.
Christina: Was vielleicht auch ein wenig damit zu tun hat, dass weniger Mainstream übers Radio gehört wird, während über iPod oder Streamingdienste mehr Eigeninitiative entsteht, die schon frühzeitig für eigene Geschmacksnuancen sorgen.
Nina: Und über klassische Kinderlieder früherer Zeiten hinaus gibt es nun verstärkt Tendenzen, bestimmte Musikstile gezielt auf deren Anspruch zuzuschneiden. Das reicht von Kinderschlager über Singer/Songwriter bis hin zum HipHop von Deine Freunde.
Christina: Und genau das ist ja unser Anspruch: einen Pool zu eröffnen, der den Anfängern im Publikum die Möglichkeit gibt, selbstständig Vorlieben zu entwickeln, die ihnen niemand vorgibt, schon gar nicht wertend.
Charlotte: Oder schlimmer noch, abwertend.
Und wie ist die Resonanz der Kernzielgruppe – gehen die erleuchtet aus euren Konzerten raus?
Christina: Weniger nach Konzerten, wo die Kinder oft leicht verstrahlt sind. Aber auf unsere CDs kriegen wir ziemlich süßes Feedback, das zwar noch eher von den Eltern aufgeschrieben wird, weil die Kinder ja noch nicht so flink am Computer sind, aber da steht dann schon mal, dass ihr Sohn sauer war und dreimal hintereinander den Punk-Song der ersten Platte hören musste, um wieder ein bisschen runterzukommen. Oder eine Tochter, die im Beach-Club ein Lied hörte und dank unserer CD wusste, dass es Reggae ist.
Charlotte: Die Kinder erkennen Beats, die sie zuvor nicht zuordnen konnten, leichter wieder. Zu Anfang war das gar nicht unsere Intention; die sollten erstmal Spaß haben und dabei was Neues entdecken. Aber jetzt merken sie eben, dass das nicht nur etwas ist, das ihnen irgendwie gefällt, sondern HipHop, Elektro oder auf der neuen Platte eben Irish-Folk oder Salsa.
Nina: Und sie finden auch nicht nur die Beats an sich, sondern den popkulturellen Kontext dazu, der neben dem Lied ja auch Einstellungen oder Kleidungsstile wiedergibt. Punk steht da für Aufsässigkeit und Pop für Spaß. Auch das vermittelt Eule.
Musstet ihr selbst euch all die Stile erst theoretisch erschließen, um sie Kindern näher bringen zu können?
Nina: Teilweise schon.
Charlotte: Absolut.
Christina: Ich bin halt überhaupt keine Musikexpertin im pädagogischen Sinne, musste mir also vieles zusammengoogeln und wichtiger noch: so verinnerlichen, dass es nicht trocken klingt, wenn ich es für andere greifbar mache, ohne es zu pädagogisch klingen zu lassen.
Ihr seid also gar keine Pädagoginnen?!
Charlotte: Nein, Null!
Christina: Überhaupt nicht, ich hab Germanistik studiert und eher journalistisch gearbeitet, Drehbücher lektoriert, alles rund um Schrift.
Nina: Charlotte und ich sind schon seit dem Kindergarten befreundet, hatten allerdings bis zu Eule nie miteinander gearbeitet. Vor ein paar Jahren haben wir uns dann überlegt, gemeinsam was für Kinder zu machen. Charlotte kommt als Grafikerin aus der visuellen Richtung, ich komme aus der Musikindustrie – da dachten wir, mit einem Kindermusikhörspiel würden wir uns in der Mitte treffen und zugleich etwas besetzen, was noch ausbaufähig ist. Christina hat das Ganze dann textlich mit Leben gefüllt.
Vermittelt von Rolf Zuckowski, so eine Art Keimzelle deutschsprachiger Kindermusik mit zeitgemäßem Anspruch.
Nina: Das war ein verrückter Zufall. Als ich gerade meine Bachelor-Arbeit geschrieben habe, hab ich ihn bei Universal im Fahrstuhl getroffen und in den paar Sekunden Zeit mein Konzept geschildert. Er fand es gleich so toll, dass wir in Kontakt geblieben sind.
Christina: Kreativ war das Konzept zu dem Zeitpunkt allerdings schon fast fertig, er hat es dann aber sehr unterstützt.
Nina: Er hatte gerade bei Universal ein Unter-Label namens Noch Mal! gegründet.
Charlotte: Damals übrigens extra für Deine Freunde.
Nina: Um Musik speziell für Kinder zu fördern. Da passten wir natürlich prima rein.
Habt Ihr das Gefühl, Kinder sind musikalisch belastbarer als früher, als man ihnen selten mehr als einfache Dur-Abfolgen mit Heididei-Texten zugemutet hat?
Charlotte: Ich glaube, nicht die Kinder haben sich geändert, sondern die Eltern. Kinder waren schon immer belastbar, wurden aber musikalisch sonderbar unterschätzt. Dabei sind sie im Grunde viel offener selbst für abseitige Stilrichtungen, weil sie neugieriger sind und weniger voreingenommen.
Nina: Man sieht das auch gut am Theaterstück. Während Erwachsene im Publikum auf Stile wie Techno oder Rock schnell mal verhalten reagieren, oft gar skeptisch, gehen ihre Kinder voll ab. Da hättest du mal bei der Vorstellung heute Morgen dabei sein sollen.
Christina: Eltern fühlen sich da manchmal mehr an ihre Jugend erinnert als wirklich aufrichtig mitzugehen.
Nina: Andererseits achten wir schon darauf, Musik anzubieten, die auch für Eltern was ist; die müssen das schließlich den ganzen Tag ertragen.
War die Erweiterung eures sehr visuellen Live-Konzeptes grafisch animierter Tiercharaktere ins Theater eigentlich eine logische Konsequenz?
Christina: Es war jedenfalls früh unser Wunsch, der allerdings erst Wirklichkeit werden konnte, als wir die Fördermöglichkeiten entdeckt haben, vor allem von der Kulturbehörde. Kunst kostet Geld.
Charlotte: Das Kunst alleine dummerweise selten einspielt.
Zur ersten Platte von Pop über Jazz bis Punk und Oper, die ja alle auch im Theaterstück vorkommen, gibt es auch eine Reise durch volkstümliche Melodien Europas. Welche Abzweige sind da noch denkbar?
Nina: Oh, da ist in der Welt noch vieles zu entdecken.
Deathmetal zum Beispiel…
Christina: Ist bereits angedacht. Eule war ja gerade in Finnland, wo Metal zum Mainstream gehört. Der Metal-Elch ist zwar zwischendurch wieder rausgeflogen…
Wie aus dem Nichts ist der frühere Kirmes-Musiker Heinz Strunk vor zehn Jahren zum wortgewaltigen Provinzchronisten geworden. Auch sein neuer Roman Jürgen (Foto: Georges Pauly/WDR) skizziert skurrile Figuren, die sich dort behaupten. Und das so wahrhaftig, dass ihn die ARD sofort verfilmt hat. Mit Strunk neben Charly Huber in der Hauptrolle.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Strunk – oder soll ich Sie Halfpape nennen?
Mathias Halfpape alias Heinz Strunk: Ganz, wie Sie wollen.
Also Strunk, das kennt man eher. Kann es sein, dass ihr frisch verfilmter Romanheld Jürgen Dose vor 23 Jahren der erste einer langen Reihe Figuren aus eher wenig privilegierter Unterschicht war?
Das stimmt.
Haben Sie damals ihr Faible für diesen Typus entwickelt?
Schon, weil ich selber ja dem entstamme, was man wohl untere Mittelschicht nennt. Aus meinem eigenen Elternhaus kenne ich jetzt nicht gerade echte Armut, aber durchaus ein Form von Elend der Verhältnisse. Umso wichtiger ist es mir, die unterprivilegierten Figuren meiner Geschichten nicht bloß zu stellen oder vorzuführen, sondern schlicht darzustellen, wie sie sind.
Welche Tricks wendet man denn an, nicht über ihn, sondern eher mit ihm zu lachen?
Wichtig ist immer, die Figuren auch und besonders dann ernst zu nehmen, wenn sie ein bisschen unterprivilegiert sind. Von meinem Telefonstreichen beim Studio Braun hab ich gelernt, besonders im Umgang mit solchen Leuten vorsichtig zu sein. Da gab es öfters mal die Situation, sich über jemanden lustig zu machen, der in seinem Leben ohnehin eher einsteckt als austeilt. Das war eine gute Schule fürs Schreiben. Richtige Tricks gibt es aber eigentlich nicht, im Grunde nicht mal eine besondere Technik. Nur Beobachtungsgabe und Empathie. Das fiel mir 1994, als ich die Figur entwickelt habe, sogar noch leichter, weil ich ihr damals noch deutlich näher stand als heute.
Und was privilegiert solche Figuren für den Humor?
Zunächst mal finde ich die Schicht der Reichen und Mächtigen aus humoristischer Sicht weit weniger spannend als die untere. Mitgefühl lautet die frohe Botschaft der Literatur. Eigentlich mache ich mir meine Zitate ja selber, aber das hier von Rainald Goetz. Ich bin leidenschaftlicher Zitate-Sammler. Auch Jürgen und Bernd werfen sich ja immer eher Redewendungen zu als Pointen zu reiße oder selbst der Gegenstand von welchen zu sein.
Zu welchem Typus Mann zählen denn der gefühlvolle Pförtner Jürgen und sein körperbehinderter Freund Bernd?
Seit Donald Trump mithilfe solcher Typen zum Präsidenten gewählt wurde, sind sie als White Trash bekannt. Bei uns könnte man sie vielleicht schweigende Mehrheit weißer Männer nennen, die sozial inkompetent, beruflich unzufrieden, leicht reizbar, voller Vorurteile, oftmals wütend und alles andere als stilvoll oder gar moderbewusst sind.
Wie ist es denn, sich so eine tendenziell unzufriedene Figur wie Jürgen selbst auf den Leib zu schreiben – mutet man dem eigenen Ego da womöglich mehr an Abgründen und Hässlichkeit zu als einen anderen Schauspieler?
Absolut. Es wäre für mich unvorstellbar gewesen, mir zum Beispiel einen Jürgen Vogel darin vorzustellen oder überhaupt irgendeinen Profi. Ich kann mir da selbst deutlich mehr zumuten als anderen.
So wie ein Schwarzer Nigger sagen darf, was man sich als Weißer besser verkneift?
Ganz genau.
Ist Jürgen trotz aller Nähe zu Ihrer eigenen Biografie dennoch eine Kunstfigur?
Nein. Es ist natürlich eine Verdichtung, aber keine Kunstfigur? Um das verstehen, empfehle ich jedem, mal in irgendeine beliebige Fußgängerzone ganz egal in welcher Provinz oder auch nur großstädtischen Peripherie zu gehen und sich die Leute darin genau anzusehen. Da wimmelt es nur so vor diesen Menschen.
Sind Sie selber eher Ihre Kunstfigur Heinz Strunk oder doch der reale Mathias Halfpape?
Heinz Strunk ist ja weniger Kunstfigur als Künstlername, den ich mir vor mehr als 20 Jahren zugelegt habe, weil das damals besser zu meinem Humor gepasst hat als Mathias Halfpape. Die gehen seither fließend ineinander über.
Wobei manch ein Rapper für den Namen Halfpape einen Finger geben würde.
Stimmt, heute klingt Halfpape cooler, obwohl es auch damals den Begriff Halfpipe schon gab. Ich denke heute auch manchmal, wie bescheuert und provinziell Heinz Strunk klingt. Aber als Autorenname passt er ganz gut zu Jürgen.
Geht es mit dem denn noch weiter?
Das wird die Einschaltquote zeigen. Wenn sie stimmt, könnte ich mir das gut vorstellen, so mit Charly Hübner und mir in fortlaufender Rolle mit ein paar Antagonisten. Lars Jessen hat sich das ja schon vor zehn Jahren als Serie vorgestellt.
Damals ging es grad steil bergauf oder?
Gar nicht unbedingt. Bevor ich 2004 „Fleisch ist mein Gemüse“ geschrieben habe, war ich eigentlich richtig im Arsch. Danach dachte ich dann, jetzt geht’s die ganze Zeit nur noch aufwärts, aber es kam völlig anders. Bis zum Goldenen Handschuh ging die Kurve eigentlich nur noch so leicht flach bergab – obwohl ich selbst Junge rettet Freund aus Teich drei Jahre vorher viel besser fand, das hab ich richtig gut geschrieben.
Bezeichnen Sie sich selbst eigentlich als Schriftsteller?
Schriftsteller, ich weiß nicht. Eher als variantenreich Kulturschaffender.
Und als Politiker?
Überhaupt nicht. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, in Die Partei aktiv zu sein, das muss ich unbedingt mal aus Wikipedia löschen.
Schon ein wenig durchschaubar, wie Martin Schulz da mit scheinbarer Vehemenz ein zweites Fernseh-Duell mit Angela Merkel fordert, das die so kurz vor der praktisch gewonnen Bundestagswahl natürlich ganz lässig ablehnt, worauf ihr der vermeintlich diskussionsfreudige Konkurrent genüsslich Feigheit vor dem Feind vorwerfen kann. Noch durchschaubarer ist es da nur, dass ARD, ZDF und RTL angesichts der zu erwartenden Top-Quote die aussichtslose Forderung unterstützen. Warum sich Sat1 allerdings nochmals der Lächerlichkeit preisgeben will, wenn auf dem früher durchaus politischen Kanzler*innen*sender wieder nur ein paar Prozent des Zuspruchs entfallen, bleibt ebenso schwer zu beantworten wie die wichtigste Frage dieser sturmumtosten Tage.
Warum stellen sich Journalisten in den Orkanen, Hurricans Taifunen zwischen Nordsee, Karibik und Asien eigentlich nicht mal irgendwo unter, anstatt im Starkregen das eigene Wort nicht zu verstehen. Denn es entbehrte ja nicht einer gewissen Komik, wenn die Außenreporter aller Kanäle klitschnass im Wind standen, um davon zu berichten, dass man im Wind ganz schön nass werde und überhaupt dieses extreme Wetter ganz schön extrem sei. Krasse Bilder als Sinn und Zweck der News – schon ein bisschen windig.
Windig wie die Strategie sozialer Netzwerke, allen voran Facebook, im Umgang mit Rechtsextremen allenfalls die Strategie zu verfolgen, keine zu haben. Hoffentlich… Schlimmer nämlich wäre es, wenn dies Teil eines konkreten Plans wäre, dass in Mark Zuckerbergs angeblich seriöser Feed-Kategorie „Nachrichten und Politik“ hierzulande praktisch nur recht(spopulistisch)e Inhalte und Gruppen empfohlen werden. Das pumpt die Desinformationsblase des Internets nur weiter auf und ist Wasser auf die Mühlen von Protagonisten einer MDR-Doku, die am Donnerstagabend um 22.35 Uhr läuft.
Die Frischwoche
18. – 24. September
Sie heißt Wir kriegen dich! und zeigt einen Pfarrer im Visier echter und Gelegenheits-Nazis, die dem Geistlichen eines Dorfes wegen seiner Hilfe für Flüchtlinge ans Leder wollen. Nun ist es gewiss nicht so, dass der Einfluss des Hasses so flächendeckend wird, um die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte neu aufzuschlagen. Aber einen Film wie A mi, mit dem die Autorin Caterina Klusemann am Montag um 23.55 Uhr auf Arte das Schweigen ihrer Mutter und Oma über den Holocaust erforscht, dem beide einst entkommen sind, sieht man im Angesicht des fruchtbaren Schoßes schon mit anderen Augen.
Zur Ablenkung empfiehlt sich da ein bisschen Humor, der die Abgründe des Daseins nicht vollends außer Acht lässt. Und nein, damit ist explizit nicht Detelf Soost gemeint, der ein paar Tausend Jahre, nachdem die Schlüpferblicke von Arabella Kiesbauer, Bärbel Schäfer oder Vera Int-Veen selbst dem dusseligsten Zuschauer zu blöd geworden sind, ab heute täglich um 16 Uhr auf RTLII seine Zielgruppe verächtlich macht. Im ARD-Mittwochsfilm Jürgen – Heute wird gelebt hingegen zeigt Lars Jessen nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, wie ernst man unterprivilegierte Protagonisten nehmen kann.
Sicher, es geht manchmal ganz schön derb zu, wenn der Rollstuhlfahrer Bernd (Charly Hübner) mit dem Pförtner Jürgen – gespielt von Strunk selber – auf Frauensuche nach Polen reist. Den Respekt vor diesen Verlierern der Leistungsgesellschaft verliert der Film aber dennoch zu keiner Zeit und ist dabei oft beißend lustig. Eher unfreiwillig komisch dagegen ist der RTL-Versuch, David Rott als Bad Cop ab Donnerstag (21.15 Uhr) zehn Teile lang gegen sein Schwiegersohn-Image anzubesetzen. Und sonst? Kann man sich den Ernst des Lebens früherer Tage ab morgen drei Abende lang ins Haus holen, wenn Arte je drei Stunden am Stück den Vietnam-Krieg aufarbeitet, wie es noch niemand in dieser Dichte getan hat.
Am Freitag um 21.15 Uhr dann geht die sehenswerte Schirach-Verfilmung „Schuld“ mit dem ziemlich unbekannten Weltstar Tom Wlaschiha (Game of Thrones) in die zweite Runde, während Sky tags drauf die grandiose Mystery-Serie Room 104 auch auf Deutsch zeigt. Ganz unmysteriös ist die schwarzweiße Wiederholung der Woche: Im Spätwestern Der Wildeste unter Tausend (Montag, 20,15 Uhr, Arte) spielte Paul Newman 1962 einen Cowboy, der die Zeit des Herdentriebs zugunsten der florierenden Ölindustrie hinter sich lassen will und dafür das Lebenswerk seines Vaters ruiniert. Dafür gab es drei Oscars.
In Farbe gibt es zwei Tipps: Pepe Danquarts grandiose Freikletterer-Doku Am Limit von 2007 über die Huber-Buam, als sie noch nicht Werbung für Schokoriegel gemacht haben, sondern die weltberühmte Nose bezwingen wollten (Mittwoch, 22.45 Uhr, BR). Am Freitag wiederholt 3sat um 22.25 Uhr Duncan Bowies brillantes Regiedebüt Moon von 2009 über einen Minenarbeiter auf dem Mond, der dort seinen eigenen Klon trifft. Und der Tatort reist heute um 22.15 Uhr beim RBB zurück ins Jahr 1992, als Kommissar Markowitz (Günter Lamprecht) im chaotischen Berlin der Nachwendezeit mit einer Leiche zu tun hat, die ihm sonderbar ähnlich sieht.
Es war einmal, vor gefühlt 100 Jahren, da fuhr die Familie sommers ans Meer, wo Eltern ihre Kinder morgens in den Sand setzten und abends herausholten – fertig war das perfekte Ferien-Entertainment, im Winter gegebenenfalls ergänzt um zwei Wochen Berge mit Pistenspaß von früh bis spät. Wer heute mit Nachwuchs reist, erwartet mehr vom Urlaubsort als gutes Wetter – besonders, in der Nebensaison, wenn das Wetter wackelt. Und die Urlaubsorte liefern. Ein Streifzug in fünf Stichworten durch die all-inclusive-Welt der Badeparadiese, Streichelzoos und Spielplatzvillen von fünf ausgewählten Kinderhotels.
Von Jan Freitag
Feldberger Hof
Angebot: Im Herbst eröffnet, ist die „Fundorena“ eine dreistöckige Mehrzweckhallenversion moderner Indoor-Maximalbespaßung auf 4000m² mit Trampolinwelt, Kletterpark, Plastikeisbahn, Dodgeballarena – für stolze sechs Millionen Euro ersetzt das hauseigene Angebot dank viel Adrenalin den Aufstieg zum angrenzenden Feldberg.
Nachfrage: Ideal für hyperaktive Stadtkids mit reichlich Restenergie und ihre Väter, die es der Couchpotato in sich noch mal richtig zeigen wollen (und besser gut unfallversichert sind).
Kirmesfaktor: Gering. Im Hotel gibt es zwar ein Multimedia-Center mit Air-Hockey, Kleinkino und Konsolengames. Das Ambiente ist aber eher sportlich als Las Vegas.
Elternasyl: Selten. Alles ist so radikal auf Kids zugeschnitten, dass Eltern nur im rustikalen Barbereich ab 22 Uhr unter sich sein können. Dafür gibt’s beim Abendessen Alkohol for free.
Go? In schneeloser Zeit die Chance, Baden-Württembergs bestes Skigebiet ohne Outdoor-Zwang zu besuchen – sofern man Gelenke aus Gummi hat oder keine Angst vor gar nichts.
Go! Zwei Erwachsene im Familienzimmer mit Zustellbett, ab ca. 200 Euro pro Nacht all inclusive. Dr. Pilet Spur 1, 79686 Feldberg https://www.feldberger-hof.de
Grandhotel Heiligendamm
Angebot: Was sich Grandhotel nennt, belässt es für die Kleinsten der Größten natürlich nicht bei Baumhaus plus Spielecke; da muss es schon eine „Kindervilla“ sein. Edles Material, viel Holz, Wandgemälde, Mini-Saloon für Kids im 1. Stock, Lounge-Atmo für Teens im 2., alles wertig (Holz), vieles Hightech (PS4), stets betreut – nichts für den Pöbel.
Nachfrage: Ideal für standesbewusste Eltern mit hohem Separationsbedarf, denen das Kind unter zwölf in deren Zimmer 50 Euro extra, also ein Bruchteil vom Gesamtpreis, wert ist.
Kirmesfaktor: Null. Die Kindervilla unterscheidet sich ästhetisch nur graduell vom eierschalenfarben barocken Grundton der Fünf Sterne Deluxe ringsum. Es blinkt allenfalls die PS4
Elternasyl: Praktisch überall. Das Grandhotel ist dank diverser Freizeitangebote zwar ausgewiesen familienaffin, allerdings in großer Sicht- und Hörweite zum G8-Gipfelort 2007
Go? Wer sich Nachwuchs auch aus dynastischen Gründen anschafft, kann sie hier von fachkundiger Hand sorgsam aufs Distinktionsbedürfnis von morgen vorbereiten lassen.
Go! Zwei Personen mit Zustellbett ab ca. 375 Euro die Nacht inkl. Frühstück. Prof.-Dr.-Vogel-Str. 6, 18209 Bad Doberan https://www.grandhotel-heiligendamm.de
Ulrichshof
Angebot: Der historische Bauernhof hat das Streichelzoo-Angebot vergleichbarer Häuser schon vor 20 Jahren um Pferde, Spaßbad, echte Kita ergänzt und seither über Autoscooter, Bogenschießen, Spielscheune, Kletterwand so stetig erweitert, dass seinem Nachwuchs besser Peilsender anheftet, wer ihn beim Abendessen wiedersehen will.
Nachfrage: Ideal für Ottonormalverbraucher mit durchschnittlich gefühlt fünf Kindern, Festanstellung im industriellen bis handwerklichen Mittelstand und großer Lärmresistenz.
Kirmesfaktor: Mittel. Das Angebot ist vorwiegend natürlicher, zum Teil gar tierischer Art in freier Wildbahn, all dies aber in so enormer Dichte, dass es dennoch vorm Auge flimmert.
Elternasyl: Einst allein die Lobby vorhanden, wo Eltern beim Rennen von zwei Dutzend Bobbycars abzuschalten versucht haben. Mittlerweile gibt es ein kinderfreies Beauty-SPA.
Go? Die Mutter aller Kinderhotels wächst so in alle Richtungen des Entertainments, dass jedes Familienmitglied bestens versorgt wird. Und die Bobbycar-Rennbahn ist nun unter Tage.
Go! Midi-Appartement für zwei Erwachsene mit Kind ab ca. 300 Euro mit Vollpension, Arrangements pro Nacht deutlich günstiger. Zettisch 42, 93485 Rimbach http://www.ulrichshof.com
Center Parcs Bispingen
Angebot: Im grünbeigen Neunzigerstil gehalten bietet der Hotelpark konzentrierte Daueraction für alle, denen Momente der Ruhe irgendwie suspekt sind. Umgeben von einem Mischwald, in dem von Pfeil über Ball bis Infrarot überall geschossen wird, befindet sich eine Art Raumstation mit Gastronomie, Daddelhalle, Sport Center und der Wasserwelt Aqua Mundo.
Nachfrage: Ideal für RTL2-Fans mit Zappelphilippsyndrom, denen ein Bungalow im Birkenhain ausreicht, um sich sogar im permanenten Spaßfeuerwerk irgendwie naturnah zu fühlen.
Kirmesfaktor: Im Herzen gewaltig, ringsum gering. Nicht umsonst denkt fast jeder, der vom Center Parcs hört, an eine gigantische Spielzeugwelt unter riesiger Glaskuppel im Dschungel.
Elternasyl: Im Grunde nur auf den gemütlichen Hausbooten im parkeigenen See. Ansonsten herrscht selbst unter dichten Blätterdach permanente Unrast und Spaßverpflichtung.
Go? Die perfekte Illusion großstädtischen Urlaubs im Grünen. Kinder drehen 24/7 permanent durch vor Glück, was allerdings teuer wird – bis aufs Spaßbad kostet fast alles extra.
Go! Pro Nacht im Hausboot für vier Personen bei Selbstversorgung ab ca. 200 Euro. Töpinger Straße 69, 29646 Bispingen http://www.centerparcs.de
Kulturinsel Einsiedel
Angebot: Deutschlands angeblich 1. Baumhaushotel am östlichsten Punkt der Republik mit neun Appartements in maximal zehn Metern Höhe, alle in liebevoller Handarbeit gefertigt und umgeben von einer abenteuerlichen Fantasy-Welt voller Holzspielzeuge jeder Größenordnung, die zudem großflächig untertunnelt und natürlich überwaldet ist.
Nachfrage: Weil Elektrizität ebenso rar ist wie Plastik oder alles aus Nullen und Einsen, ideal für Smombies beim Multimedia-Fasten oder kompromisslose Einsiedler auf Höhlenurlaub.
Kirmesfaktor: Mangels Stromzufuhr aktuell im Minusbereich.
Elternasyl: Da hier jeder Strauch, jeder Stamm, jedes Stück Holz Teil des Gesamtkonzepts ist, Fehlanzeige. Es sei denn, die Erwachsenen spazieren ohne Kinder zur angrenzenden Neiße.
Go? Heute einfach nur schön, könnten Freizeitparks in naher Zukunft, wenn künstliche Ressourcen aufgebraucht sind und der Klimawandel vollzogen ist, ungefähr so aussehen.
Go! Für 4 Personen im Baumhaus ab 230 Euro die Nacht inkl. Parkeintritt. Frühstück oder Halbpension extra. Kulturinsel Einsiedel 1, 02829 Neißeaue http://www.kulturinsel.com
Ach, Norwegen ist schon bemerkenswert. Obwohl es darin vor allem Fjorde gibt und Mondpreise, ist das Land zu einem der wichtigsten im Kosmos moderner Musik geworden. Kein Wunder, dass dort selbst waschechter Punkrock ein bisschen nach Powerpop klingt. Verantwortlich dafür ist eine blutjunge Band namens Sløtface, die mal Slutface hieß, bevor das feministische Gewissen die vier Freunde zur Umbenennung rief. Das war Anfang 2016, eineinhalb Jahre nach der Gründung und ebenso lange vor der heutigen Veröffentlichung ihres Debütalbums mit dem emblematischen Titel Try Not To Freak Out.
Nicht auszurasten ist nämlich gar nicht so leicht, wenn man die zehn Stücke hört. Denn es ist ein Highspeedspaß der besonders wuchtigen Art, den Haley Shea (Gesang), Tor-Arne Vikingstad (Gitarre), Halvard Skeie Wiencke (Drums) und Lasse Lokøy (Bass) da vom heimischen Stavanger aus auf Englisch in die Welt blasen. Das Tempo ist immer eins-zwei-drei-vier-go, aber die Stimmung dazu geht dank der einfallsreichen Riffs überm Geschrammel leicht am Rückgrat vorbei direkt ins Gehirn. Pop plus Punk kann ganz schön abgebrüht klingen. Und gut.
Sløtface – Try Not To Freak Out (Propeller)
Romano
Als Roman Geike vor zwei Jahren von Köpenick aus die Rap-Republik mit einer alles andere als innovativen, aber sehr, sehr unterhaltsamen Spielart des HipHop bereicherte, war die Kritik ein wenig irritiert. Was genau war das eigentlich – noch Trash, schon Philosophie, bloß PR? Unterm Kampfnamen Romano schuf der Endreißiger mit den Flechtzöpfen schließlich Sprechgesangsrposa, die Puristen fast ebenso verstörte wie das Partyvolk, beide aber gleichermaßen so magnetisch anzog, dass sein minimalistischer Stil als irgendwie kunstvoll durchging.
Und auf seinem zweiten Album geht das ganz genauso weiter. “Wir trinken Sekt an der Champagner-Bar / wenn wir Glück haben ist Tanja da” rappt er zu extrem reduzierten Beats und lässt die Frage abermals unbeantwortet, ob das nun bloß Lalala ist oder relevant. Antwort: Egal. Wenn er im Titeltrack Copyshop “Copycopycopycopycopyshop, die Kopie von der Kopie” dichtet, wenn er den Alltag am Rande des Irrsinns beschreibt oder seinen Eltern skurrile Liebeserklärungen macht, ist das schlichtweg zum Niederknien belanglos schön wie ein wohldosierter Wodkarausch.
Romano – Copyshop (Universal)
Fuck Art, Let’s Dance
Copyshop könnte eigentlich auch das zweite Album der Hamburger Indierockband Fuck Art, Let’s Dance heißen. Wie bereits auf dem ersten namens Atlas lud sie den Ballast einer Musikgeneration auf ihre Schultern, die fieberhaft auf der Suche nach Verlässlichkeit im Morgen war und dabei gestern ebenso fündig wurde wie heute. Die Achtziger sind ja noch immer das Jahrzehnt mit der größten Sogwirkung auf alle Altersgruppen – sei es als reine Retrospektive, sei als Adaption. Und Fuck Art, Let’s Dance haben daraus etwas gemacht, das alle sehr eigensinnig bedient, ohne das ganze Zeugs von früher bloß zu kopieren.
Auch Forward! Future! ist nämlich trotz des Titels zukunftsfreudig und nostaglisch zugleich. Die elf Tracks klingen nach Neunzigerjahren, die die Achtzigerjahre in die Zehnerjahre retten. Der Raumklang ist wavig, die Aura poppig, das Resultat oft fast schon avantgardistisch, dabei aber zutiefst eingängig. Zu Nico Chams düster getragener Stimme ist dafür vor allem Tim Hansens Schlagzeug verantwortlich, dessen Highhat zwar konsequent im Offbeat, also Showmodus bleibt, während der Rest fast mathematisch vertrackt voran flattert. Gemeinsam mit der pointierten Gitarre von Romeo Sfendules’ wird daraus das Tanzbarste, was komplizierter derzeit Rock zu bieten hat. Fuck Yeah!
Unterm Pseudonym Casper hat es der Wahlberliner Benjamin Griffey in kürzester Zeit auf den HipHop-Olymp geschafft. Wie XOXO und Hinterland dürfte also auch Lang lebe der Tod auf Platz 1 landen. Kurz bevor er die Platte einem ausgesuchten Publikum am Abend im Hamburger Mojo-Club vorstellt, erzählt Casper, warum sein drittes Album voriges Jahr plötzlich verschoben wurde, was ihm Erfolg bedeutet und weshalb sich der Sohn eines amerikanischen GI aus Westfalen manchmal wie ein gescheiterter Baumhaus-Architekt fühlt.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Gibt es schon erste Verkaufszahlen deiner neuen Platte „Lang lebe der Tod“?
Benjamin Griffey aka Casper: Noch keine, die ich kennen würde, aber ich habe das Gefühl, es läuft unerwartet gut.
Unerwartet? Alles was du seit deinem Wechsel zu Four Music 2010 angefasst hast, wurde zu Gold, beiden Alben waren Nr. 1, jetzt der Wechsel zu Sony…
Schon, aber auf XOXO und Hinterland waren auch mehr eindeutige Hits drauf. (zögert) Glaub ich… Besonders, wenn man es mit der ersten Single vergleicht, wo einer wie Blixa Bargeld dabei ist. Lang lebe der Tod ist eine viel sperrigere Platte geworden als die vorherigen. Außerdem lagen zwischen dem letzten und dem neuen vier Jahre.
Was macht es mit einem Künstler, der sich wahrscheinlich ja immer noch dem Independent näher sieht als dem Mainstream, wenn alles, was er tut, durch die Decke geht?
Einiges. Wenn man Kollegen sagt, klingt das zwar, als stünde man gemeinsam an der Zerspanungsmaschine. Aber ich habe viele, die mit dem Erfolg immer selbstsicherer geworden sind – was ich sehr bewundere. Ich dagegen hatte schon immer so ein Impostor-Syndrom.
Impostor-Syndrom?
Wenn man glaubt, sich hochgeschummelt zu haben. Ich fühle mich manchmal wie ein Hochstapler, der ist, wo er gar nicht hingehört. Deshalb stehe ich morgens auch nicht auf und sehe im Spiegel den Platin-Künstler, mit megageilen Songs, der jetzt bloß mal schnell ins Studio gehen braucht, um noch megageilere Songs zu machen.
Ist das angeborene Bescheidenheit oder erlernte Selbstreflexion?
Platten zu machen, ist bei mir ein komplett verkopfter, zugleich aber sehr emotionaler Puzzle-Prozess, der mir im Grunde gar nicht so viel Spaß macht. Ich liebe das Aufführen, live auf der Bühne, zu sehen was dort passiert mit mir, mit dem Publikum. Ich möchte ein Gesamtwerk erschaffen, das mehr ist als die einzelnen Teile. Irgendwann will ich nämlich vor der Galerie meiner Albumcover stehen und sagen, jedes davon ergibt im großen Gesamtbild meines Schaffens Sinn und ist gleichermaßen liebenswert.
Das Ziel ist der Weg.
Bei mir schon.
Hast du Lang lebe der Tod kurz vorm Release Ende 2016 noch mal zurückgezogen, weil das Ziel auf diesem Weg nicht zu erreichen war?
Kann man so sagen. Wobei das keine spontane Entscheidung nach dem Aufwachen war, sondern ein schleichender Prozess, in dem mir einfach immer klarer geworden ist – oh Mann, ich pack’s nicht, ich pack’s nicht! Persönlich und musikalisch.
Inwiefern?
Persönlich war dieser Sprint aus neuer Platte, Tour, Tour, Tour, nächste Platte, Festivals, Festivals, Festivals so lange okay wie sich die Hysterie ums Ganze gedreht hat, nicht um mich als Person. Dann aber haben die Leute so viel in mich hineinprojiziert, dass es mir echt zu viel wurde. Ich habe zwar einen Vertrag unterschrieben, der einen Teil der Privatsphäre zur Veröffentlichung freigibt; aber es wurde irgendwann so invasiv wie bei einer Boyband.
Und musikalisch?
War mein Produzent Marcus Ganter einfach schon viel weiter als ich mit meinen Texten. Umso weniger fühlte es sich für mich so an als hätten wir mit der Verschiebung Zeit gewonnen. Im Gegenteil, das war wie eine Riesenniederlage. Mir kam es vor, als wäre ich ein Stararchitekt, der nach riesigen Skyscrapern ein Baumhaus bauen soll und daran scheitert. Ich hatte das Gefühl, nochmals ganz von vorne zu beginnen.
Ist der Perfektionist in dir denn jetzt trotzdem zufrieden oder wird er das nie ganz?
Doch das wird und ist er, sonst hätte ich die Platte nicht rausgebracht. Wenn du Christopher Nolan fragst, wie er seine fantastische Batman-Trilogie findet, hätte er garantiert massig daran auszusetzen. Perfektion gibt es nicht. Und wenn ich einen Wunsch für meine Musik frei hätte, würde ich mir daher die Platte gern mal von außen anhören, ohne sie vorher gekannt zu haben. Ich klopfe mir daher nicht auf die Schulter, weiß aber trotzdem, dass sie einen Platz in meiner Galerie verdient hat.
Welche grundlegenden Veränderungen haben das bewirkt.
Vor allem, dass zwei Songs gestrichen wurden. Trim the fat, cut the shit! Außerdem ist alles noch detaillierter produziert und inhaltlich pointierter.
Weil es noch mehr von seiner Welt ringsum aufgesaugt hat, in der seit der Verschiebung unglaublich viel passiert ist?
Thematisch ist es gleich geblieben, aber es wurde schon viel geschliffen. Böse Zungen meinten ja, weil der Titelsong mit Blixa bei den Kids nicht so reingehauen hat, werfen sie es über den Haufen und machen was Poppigeres. Das stimmt nicht. Es lebe der Tod war schon vorher distorted. Es gab massig Blast. Aber alles einfach nur zu übersteuern und dann gegen die Wand rauschen zu lassen kann jeder; wir wollten einen besseren Film erzählen als im ersten Versuch und das ist uns aus meiner Sicht gelungen.
Ist das Ergebnis ein politisches HipHop-Album oder ein HipHop-Album mit Politik?
Weil ich mich subjektiv als politisch begreife, sind es meine Platten objektiv auch. Wichtig daran ist allerdings, dass ich weder mit erhobenem Zeigefinger Lösungen anbiete noch für die geilste Punchline alles bloß ironisch breche. Ich versuche vor allem meine eigene Rolle im Jetzt zu beschreiben. Deshalb fängt die Platte auch düster beschreibend, fast dystopisch an, wird dann aber zusehends persönlicher.
Und was ist deine Rolle in diesem Jetzt – Aufklärung?
Eher Beschreibung. Zum Beispiel, wie seltsam es ist, dass die Menschen hierzulande offenbar mehr Angst vor Flüchtlingen haben als vor deren Fluchtursachen wie Krieg, Armut, Unterdrückung. Als jemand, der in der DIY- und Hardcoreszene aufgewachsen ist, fällt mir das womöglich mehr auf als jemandem, der immer im HipHop zuhause war. Wobei Lang lebe der Tod mein erstes Album ist, das wirklich in der Gegenwart stattfindet. Meine vorherigen waren ja noch sehr Coming-of-Age-inspiriert und haben den Leuten vor der großen Bühne erst mal erklärt, wo der Junge vom Dorf herkommt, was er ist. Ich könnte noch drei XOXO und zwei Hinterland schreiben und wäre damit wohl riesenerfolgreich. Aber Musik ist für mich eine Entdeckungsreise.
Daher auch die Kollaboration mit Künstlern wie Blixa Bargeld, Sizarr oder Dagobert.
Casper: Genau, das waren ganz neue, sehr inspirierende Einflüsse für mich. Auf der Suche danach bin ich von Throbbing Gristle über KMFDM bei den Einstürzenden Neubauten gelandet, um über Japan Harsh Noise auf Lethargy zu stoßen, einer Black-Metal-Band aus New York, die mir gezeigt hat, was jenseits vom klassischen listening pleasure möglich ist. Fuck – so kann Musik aussehen? Rap entsteht ja vor allem aus die Möglichkeit, alles Umliegende aufzusaugen, aber irgendwann entstand darin das Dogma, nur noch Soul zu sampeln, Aber ich bin halt kein funky Typ und zitiere lieber Gesaffelstein oder Skinny Puppy als Soul, den ich gar nicht mag.
Was dazu führt, dass viele dich gar nicht mehr für einen HipHopper halten.
Ja klar.
Stört dich das?
Weiß gar nicht. Ich verstehe jeden, der mich nicht für einen Rapper hält, würde auf die Frage, ob ich mich selber für einen halte, aber immer Ja antworten – obwohl ich mir selbst unsicher bin, ob ich auf ein Festival wie das Splash gehöre. Aber beine gesamte Herangehensweise an die Musik stammt ja vom HipHop: Ich suche mir einen armen Tor, der mein Chaos, meine Zweifel aushält und passende Beats um meine Lyrics bastelt.
Was könnte denn dein nächster Einfluss sein?
Zurzeit entdecke ich gerade meinen Zugang zum Jazz. Und da kann es gut sein, dass ich in ein Wormhole falle und monatelang nicht mehr rausfinde. So war es bei mir vor sechs Jahren mit Postrock, so ist zuletzt mit Industrial und Noise geschehen. Als Kind habe ich unablässig Samy Deluxe oder Eins, Zwo gehört, aber plötzlich kommt spätnachts Extreme Metal wie Satyricon auf Viva 2 und es packt mich. Es heißt ja, Reisen bildet. Für mich ist auch Musikhören so eine Reise. Das öffnet Horizonte.