Gängeviertel: 5 Jahre & die Zukunft

IMG_20140819_160333Bleib in den Gängen

Mit der Besetzung des Hamburger Gängeviertels fand die Dauerkrise 2009 auch künstlerisch einen Ausdruck. Mitten im Glasstahlinferno der Innenstadt entstand ein Kunstprojekt, das weltweit Beachtung fand. Zum fünften Geburtstag wird es millionenschwer saniert und fragt sich, wo es künftig stehen wird – zwischen Marke Hamburg und Off-Art. Ein Besuch.

Von Jan Freitag

Und dann steht er plötzlich im Raum, das Unwort aller Bewegungen, oft Anfang vom Ende: Spaltung! Rita meint zwar keine kreative, geschweige denn menschliche. Dennoch hebt Matthias am Rande der Schnappatmung den Zeigefinger und sucht eifrig Blickkontakt zur Mitstreiterin. Als sie ihren Fauxpas bemerkt, schreiten beide zur inneren Vollversammlung: Nein, nein“, ertönt es fast im Chor, von Spaltung sei keine Rede. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht drei Tage vorm Geburtstag ihres spaltfreien Projektes, Rita und Matthias sagen: unserer Familie. Das Gängeviertel wird fünf; da soll von Gemeinsinn die Rede sein, der Zukunft. Auch wenn sie noch so wackelt.

Buchstäblich.

Seit vorigem Herbst nämlich wird das berühmte Kunstquartier am Gänsemarkt generalüberholt. Endlich – das sehen auch Rita und Matthias ein, als sie an diesem regnerischen Augusttag in den denkmalgeschützten Gebäudekomplex am Valentinskamp laden, um ihn gründlich zu erklären. Nach Jahrzehnten struktureller Vernachlässigung drohte dem kümmerlichen Rest innerstädtischer Arbeiterbehausungen der Freien- und Abrissstadt Hamburg schlicht der Einsturz. Um das zu verhindern, investiert sie in acht Jahren 20 Millionen Euro, mit denen aus dem chaotischen Kulturzentrum ein modernes Kreativquartier aus Wohnen, Ateliers, Gewerbe entstehen soll. Klingt doch bestens fürs Gängeviertel und seine Vereinsmitglieder. Nach einer Perspektive, die sich am 22. August 2009 nicht mal ansatzweise abgezeichnet hatte.

Damals wurde das abbruchreife Ensemble von 200 Kulturschaffenden aus der Off-Art-Szene besetzt. Es begann eine Erfolgsstory, von der die artverwandte Flora nur träumen kann. Unterstützt durch die globale Kunstszene samt Weltstars wie Daniel Richter, von bürgerlichen Kreisen, ja selbst ranghohen Lokalpolitikern galt das illegal eroberte Terrain als Beispiel alternativer Selbstermächtigung in lukrativer Citylage. Verträge wurden geschlossen, Visionen verwirklicht, selbst die New York Times pries eine gelebte Utopie, der die UNESCO das Prädikat „Ort kreativer Vielfalt“ verlieh. Da schien also mal eine Graswurzelbewegung Früchte zu tragen. Und jetzt – Spaltung.

Zunächst mal räumlich gesehen.

Denn die Bagger rollen, ist an einem Ort, der Veränderung zum Wesenkern zählt, ein wenig viel nicht mehr so wie es war. „Wir wollten den Charme erhalten“, sagt die bonbonbunt gekleidete Rita übers eingerüstete Kulturzentrum ringsum: das Wilde, Rohe, Organische. Da sich Bezirk und Behörden jedoch weder um Denkmalschutz noch Vereinswünsche scherten, „wird uns eine Standardsanierung übergestülpt“. Und nicht nur das: In der Vorbereitung sei vereinbart worden, Fabrik und Jupi-Bar nacheinander zu sanieren. Die Stadt aber tat das Gegenteil. Nun liegen mit den zwei wichtigsten Veranstaltungsräumen die Haupteinnahmequellen brach. „Wir sind etwas gelähmt“, sagt Rita. Und atmosphärisch gespalten, seit die Partyzone in eine Halle am Oberhafen ausgelagert wurde. Gerade im Winter werde es da schwer, „die Energie aufrecht zu halten“.

Dank genossenschaftlicher Strukturen, langfristiger Verträge, des großen Zusammenhalts stelle sich fürs Projekt im Ganzen zwar „nicht die Existenzfrage“, beteuert ein Vereinschef, der so gar keinem Klischee vom Künstler entspricht. Im Kleinen allerdings basiert auch dieses Projekt auf dem Prinzip Selbstausbeutung. Dafür sind Rita und Matthias zwei Beispiele. Zwei willkürlich gewählte, werden sie nicht müde zu betonen, keinesfalls repräsentativ also. Aber eben doch beredte. Matthias, dessen Nachname im Kontext übergeordneter Gruppenideale keine Rolle spielen soll, hat neben seiner Tätigkeit als Vereinsvorsitzender ja noch ein Restleben. Doch weder für sein Masterstudium noch den zugehörigen Broterwerb als Sozialarbeiter wendet der 30-Jährige auch nur annähernd so viel Zeit auf wie fürs Viertel.

Das Los teilt er mit der Grafikdesignerin Rita (36), die als Organisatorin, Moderatorin, Kuratorin, Künstlerin und DJ ganze Tage im Viertel verbringt. Ehrenamtlich, versteht sich. Unter den zahllosen Helfern, die von der einmaligen Tresenschicht bis zur täglichen Finanzverwaltung zum Ganzen beitragen, bezieht nur die Geschäftsführerin der Genossenschaft ein kleines Salär. „So ein Projekt ohne Hierarchie und Leistungsdruck zu gestalten“, sagt Rita, sei nicht nur befriedigend, sondern höchst lehrreich. Doch gruppendynamische Abnutzung, bürokratische Frustration, der ständige Kampf mit dem Staat und nicht zuletzt ein kreativer Output, der nur selten auf Verkäuflichkeit abzielt – da dürften sich 40-Stunden-Wochen gern mal finanziell auszahlen.

Wenn der Verein im Frühjahr erste Wohnungen an Aktivisten mit Paragraf-5-Schein vermieten darf und die Jupi-Bar wieder Bier auf Spendenbasis verkauft, könnte aus der vagen Hoffnung sogar geldwerte Realität werden. Doch genau darin steckt der nächste Spaltpilz: Je mehr der radical chic zum Lifestylepark der Bionade-Bourgeoisie gebügelt wird, desto mehr trägt er zur Marke Hamburg bei. Jenem PR-Prinzip renditeorientierter Aufwertung, die man von hier aus doch kreativ bekämpfen will. „Der Widerspruch war uns von Anfang an klar“, sagt Matthias und trinkt Wasser aus einer gewöhnlichen Plastikflasche. „Deshalb müssen wir klarmachen, konträr zur restlichen Stadtentwicklung zu stehen.“

Den glattsanierten Fassaden werde man also rasch Kanten verpassen und darauf hinarbeiten, weiter als Gesamtkunstwerk statt Kunstfabrik wahrgenommen zu werden. Rita nennt es „soziale Plastik“. Ein Ort für alle von wenigen, die vieles geben. Einer, der Kultur als Erlebniswelt statt Ware verfügbar macht. Wo Spaltung nur ein räumlicher Begriff ist, weil die Party zwischenzeitlich woanders steigt. Der sich der Sollbruchstelle zwischen Konsum und Verweigerung offensiv stellt, statt wohlfeil zu verteufeln. „Kein alternatives Disneyland, an dem nur die Sightseeing-Busse halten“, hofft Matthias. „Wild und kreativ wie nach der Besetzung“, ergänzt Rita. Damals, als Ertragsdenken, Markenbewusstsein, Bürokratie noch nicht das Zeitkonto geplündert haben. Als es mehr ums Miteinander ging, Kritik, Kunst, vor allem die. All dies war weniger geworden mit den Jahren. Verschwunden war es nie. Mal sehen, was hinter glattsanierter Fassade passiert.

Der Text ist zuvor bei Zeit-Online erschienen: http://www.zeit.de/hamburg/kultur/2014-08/gaengeviertel-kuenstler-hamburg

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Anke Engelke: Komödiantin & Marge Simpson

Ich werde total gern berieselt

Anke Engelke ist eine der klügsten Frauen der Fernsehunterhaltung. Kein Wunder, dass sie auch den klügsten Fernsehhumor verantwortet. Nur, als sie die Synchronisation der Marge Simpson übernahm, schien die Fallhöhe zu hoch. Dennoch hat sie sich auch in der vielleicht besten Zeichentrickserie aller Zeiten durchgesetzt, die nächste Woche 25 Jahre alt wird. Grund genug, das Gespräch mit einer der besten Gesprächspartner(innen) zu zeigen, die die freitagsmedien je hatten. Mit einer Anke Engelke, die fast alles bestätigt, was man so Gutes über sie denkt.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Engelke, was für ein Unterschied, Sie im Vergleich zu ihrer Synchronstimme von Marge Simpsons zu hören.

Anke Engelke: Und wie hat es Ihnen gefallen?

Man muss sich mit Euphorie zurückhalten.

Weil?

Die Simpsons sind eine überaus emotionale Angelegenheit.

Ja, ich weiß. Die Marge-Zusage bekam ich von Pro7 quasi im Kombipaket mit der Vorwarnung, dass ich nicht mit offenen Armen empfangen würde. Aber solche Fans sind mir lieber als eine tumbe, glotzende Masse, die alles frisst, was aus dem Fernseher kleckert. Ich mag es, wenn Menschen kritisch fernsehen und Bezüge entwickeln, empathisch sind oder eine Meinung vertreten.

Haben Sie sich vorher in der Szene umgehört?

Gar nicht. Prinzipiell. Das frustriert auf Dauer nur, denn meistens hört man da nur Beschwerden; gelobt wird man selten. Das ist für die Arbeit so hemmend, wenn man selber so euphorisch ist und sich über diese wunderschöne Serie freut, die so was von rund und scharf und schön und gut und schlau ist.

Mögen Sie Rollen unter besonderer öffentlicher Beobachtung wie damals Harald Schmidts?

Wenn der Inhalt gut ist, entscheidet man nicht danach, hinterher gefeiert oder angegriffen zu werden. Marge ist einfach eine spannende Figur.

Orientieren sie sich am Original oder an Volkmanns Synchronstimme?

An Julie Kavner. Man hat mir erzählt, Elisabeth Volkmann habe im Synchronstudio vor den Takes nie die Original-Marge gehört, also direkt das tonlose Bild besprochen. Das kann ich gar nicht, ich muss sehen, wie das gedacht war. Wenn das Original gut ist, muss ich nichts ändern. Keine Ahnung, was sich die Fans vorstellen: Dass es gar nicht synchronisiert wird? Dass es ein Hund macht? Wie soll man es denen Recht machen?

Durch eine Zweitauflage der Stimme, die sie gewöhnt sind.

Das ist unmöglich. Wer Elisabeth Volkmann nachmachen will, wird es nicht leicht haben und das gehört sich auch nicht.

Dafür klingt Ihre Stimme jetzt so rau wie das Original. Wurde sie digital nachbearbeitet oder rauchen Sie vorher ein Päckchen Filterlose?

Das ist mein Job, mehr nicht. Ich habe schon als Kind Sendungen moderiert, Texte und Hörspiele gesprochen. Sprechen ist das Einzige, was ich wirklich kann. Echt finster, es ist mir vorher noch nie passiert, dass Menschen so was schon sagten, bevor ich was gemacht habe.

Nicht mal bei Anke Late-Night?

Nein, das war was völlig anderes. Da ging es um Vorgaben, Erwartungshaltungen, sich nicht in irgendwas reinpressen zu lassen. Bei der Marge gibt es ein Original, das man nicht senden kann, weil wir eine andere Sprache sprechen. Also wird synchronisiert.

Würden Sie sich wünschen, dass weniger synchronisiert wird? Unsere Sicht auf Originaltexte ist durch die permanente Übersetzung ja sehr verwaschen.

Ich sehe gern Sachen im Original, wenn ich die Sprache nicht fließend beherrsche, auch mit Untertiteln. Aber es ist vermessen und ein bisschen arrogant, mehr Originale zu fordern. Ich bin dreisprachig aufgewachsen. Meine Nachbarin womöglich nicht.

Vielleicht würde sich ihr Zugang zu Fremdsprachen verbessern, gäbe es wie in Skandinavien oder Holland mehr Originale.

Es ist eben ein Merkmal unseres Landes, so was nicht zu machen. Da sind wir verkrampft, die Fans manchmal auch und das macht mich manchmal traurig.

Kann so eine anarchische Serie wie die Simpsons das Publikum da öffnen?

Sie läuft hier seit 17 Jahren. Und, hat sich was verändert? Ich werd mich auch hüten, die Resonanz zu analysieren. So deutsch bin ich nicht. Ich kann nur arbeiten, wenn ich froh bin, an Dingen, die mich froh machen, weil mein Frohsinn sich dann überträgt. Wenn’s gut läuft, bin ich ansteckend. Diese Euphorie ist das Ziel. Wenn man sein Talent gefunden hat, ist zu viel Analyse, die ständige Beschäftigung mit sich und anderen, eher hemmend.

Dennoch: Was macht die Serie so erfolgreich?

Dass man bei einer Folge nicht von Anfang an dabei sein muss, um alles zu begreifen. Jede Episode transportiert eine Grundgefühl, eine Haltung, ästelt sich aber in Geschichten auf, die überall hinführen könnten. Man möchte auch so viel auf dem Schirm haben wie die Serie, ist aber kein Harvard-Absolvent wie die 20 Autoren, nicht so auf Zack. Wenn man zurückspulen und noch mal anfangen würde, könnte die Geschichte eben andere Wendungen nehmen. Die Serie erzählt vieles nur an und selbst im Abspann kommt wieder was Neues. Ich hab eine synchronisiert, wo das Team kommentiert wird. (Mit Marges Stimme) He’s still in the team, I didn’t know he’s still livin’. Oder: Oh, I know him; I mean: her… I haven’t seen her such a long time, she’s fuckin’ old.

Haben Sie einen Lieblings-Charakter?

Na ja, ich kenne keinen so gut wie Marge, also finde ich die am geilsten.

Ist sie eine emanzipierte Frau?

Nein.

Immerhin ist sie selbstbewusst und setzt ihren Willen durch.

So gesehen ist sie emanzipiert, aber heißt Emanzipation nicht: gleichberechtigt?

Als Zustand ja, als Prozessbeschreibung ist sie auf einem Weg dorthin, manchmal aber auch ein Hausmütterchen.

Wenn das ihre Wahl ist, dann hat sie zwar die Hosen an, wie man so schön geschlechtsspezifisch sagt, ist aber nur bedingt emanzipiert. Nun komme ich aus dem Dunstkreis von Alice Schwarzer und bin so was von geimpft und alert. Aber das gute an der Figur ist ja, dass sie nicht bemitleidenswert ist, nicht würdelos und armselig.

Und in ihrem Dunstkreis wächst eine echte Feministin heran – Lisa.

Nur, dass sie nicht wächst.

Wird sie das irgendwann?

Moment, ich stell Sie durch zu Matt Groening (der Erfinder). Keine Ahnung. Obwohl er kürzlich sagte, jetzt sei so eine Art Halbzeit. Ich bin sehr gespannt auf den Film, den ich im Mai synchronisiere. Da packen die einiges rein.

Wollen wir zum Abschluss ein Quiz machen?

Auf keinem Fall! Ich habe nicht alle 17 Staffeln gesehen, was erwarten Sie. Schön, Ute (Ihre Managerin) fällt mir auch in den Rücken. Warum nicht, sagtse. Also…

Wie viele Kinder hat Apu, der indische Supermarktbetreiber.

Also Ned Flanders hat zwei. Weiß ich nicht. Wie viele?

Achtlinge. Zweite Frage?

Keine Wissensfragen. Die kann ich nicht.

Lernt man die Antworten nicht einfach im Arbeitsprozess?

Nein, da kenne ich nur meine Folgen.

Also eine Frage zu Marge: Nennen Sie drei Süchte, denen Sie mal verfallen war.

Bei mir hatte sie nur mit einem Putzzwang zu tun.

Exakt. Außerdem war sie spiel- und anabolikasüchtig.

Ach, ich bin ständig auf die Probe gestellt, irgendwelche Andeutungen in den Dialogen oder Fragen des Regisseurs richtig einzuordnen. Der ist auch neu im Team und, was ich sehr gut finde, Muttersprachler. In der letzten Zeit haben öfter Fans protestiert, weil es da so komische Fehler in den Übersetzungen gab.

Einige Idiome lassen sich eben nicht oder nicht gut übersetzen.

Und da frage ich mich, warum man nicht einfach den Mut hat, ein deutsches Idiom zu nehmen. Man darf Original und Übersetzung der Simpsons eigentlich nicht parallel hören, weil man da erkennt, wie viel fürs deutsche Ohr und die deutsche Welt verändert wird.

Gibt es ein Geräusch, das sie herübergerettet haben, etwa knarrende Seufzen, wenn Marge sauer auf Homer ist?

(Macht es nach) Das macht sie immer noch. Sie sagt halt immer Oh, Homie. Aber war ja nicht meine Idee und ich würde nie im Leben darauf kommen, mich und meine Handschrift durchzusetzen. Da bin ich anders drauf. Und übrigens: Man muss als Fan keine Spezialistin sein. Vielleicht liegt das an meinem fernsehfeindlichen Leben. Ich habe wie Marge zu viele kleine Dinge zu tun, um fernzusehen.

Raten Sie etwa von dem Medium ab?

Nein. Aber für mich ist es nichts, weil es sich auf mein Privatleben nicht gut anwenden lässt. Ich kann drei Kinofilme am Tag sehen, dreimal rein, in eine neue Welt und wieder raus. Aber zuhause zu sitzen, gerade wenn es von Werbung unterbrochen wird – da denke ich, die rauben mir meine Zeit. Natürlich finanziert mich das, aber es entspricht nicht meinem Naturell.

Auf den Punkt gebracht: Sie lassen sich nicht gern berieseln.

Sie können mich auf überhaupt keinen Punkt bringen. Da bin ich eine schlechte Interviewpartnerin. Ich werde natürlich total gern berieselt und weiß nicht, woran mein komisches Fernsehverhalten liegt. Es gibt Sachen, da bleib ich hängen, meistens bei Freunden. Ich kann alles gucken, was Bastian Pastewka, HaPe Kerkeling, Christoph Maria Herbst machen.

Die haben mehr Kredit bei Ihnen.

Die sind einfach gut.

Pastewka läuft sich doch tot.

Ich verstehe. Nur weil der Bastian ständig läuft, müssen Sie ihn nicht geil finden müssen, nur weil Stefan Niggemeier das sagt, auch nicht.

A propos Niggemeier, der Medienkritiker: In seinem Fernsehlexikon steht unter Simpsons sehr genau, an welcher Stelle falsch synchronisiert wurde.

Echt? Hart, oder? Puh. Und so deutsch. Manchmal finde ich Deutschsein super, manchmal richtig ätzend. Dann beneide ich Völkchen, die zwar langsamer denken, aber viel gutmütiger und friedvoller sind. Also jetzt bin ich aber mal wirklich gespannt, wie die neuen Folgen ankommen. Ich kann nur hoffen, dass nicht zu viele Fans Probleme damit haben

Da wird es welche geben.

Na ja, Fans zeichnen sich durch den eigenen Willen aus; ist doch super. Dass alle einer Meinung sind, das alle einer Meinung sind, geht nicht.

Werden Sie Kritiken lesen?

Nein, dann traue ich mich ja gar nicht mehr zu arbeiten. Wenn es allen gefällt, macht man was falsch, wenn es den richtigen gefällt ist es gut. So, und jetzt muss ich los, meine Kinder stehen wahrscheinlich an irgendeiner Straßenecke und warten auf mich. Den Ärger hab ich ihretwegen, überlegen Sie sich mal, wie Sie da wieder rauskommen. Meine Lieblingsblumen sind Ranunkeln.

Die gibt es doch gar nicht.

Tja. Dann checken Sie mal ihr Blumenwissen.

Mach ich. Und beim nächsten Mal gibt es ein Blumenquiz.

Das ist auch wieder so ein Ding: Männer müssen nicht wissen, wie Blumen heißen.

Ein paar kenne ich auch.

Ja toll. Rosen, Tulpen, Nelken – alle Blumen welken. Ich lass mich jedenfalls nicht auf den weiblichen Blumenfetischismus reduzieren. Übrigens: In welcher Folge kommt der vor bei den Simpsons?

Blumenfetischismus? Da können Sie mir jetzt ja werweißwas erzählen!

Richtig, das war eine Falle (lacht). Oh, hätte ich jetzt trumpfen können, Folge 14, Scheiße. Und jetzt muss ich los.


Arte: Die Zukunft der Zeitung

Das Zeitungsleben

Seit Jahren schon gilt die Zeitung als Streichkandidat der Medienlandschaft. In der Arte-Dokumentation Die virtuelle Feder (heute, 21.30 Uhr) lernen wir, warum das so ist. Erfahren aber auch, dass redaktioneller Journalismus dennoch eine Zukunft hat – nur eben seltener auf Papier.

Von Jan Freitag

Symptomatischer für den Abstieg könnte eine Bild kaum sein: In Indien, Ursprung jeder fünften Zeitung auf Erden, hat ein Rindvieh seine Artgenossin im Mund. Gelangweilt kaut da also eine heilige Kuh aus Fleisch und Blut auf einer anderen aus Papier und Druckerschwärze herum. Das mächtigste Informationsmedium vieler Jahrhunderte, wichtiger als Mundpropaganda, Sendboten, Radio, Fernsehen, Internet, ein Nachrichtenmonument, hochverehrtes, selbstverliebtes Kulturgut – verspeist. Einfach so. Von einer Kuh. Ein Desaster.

Und eine Chance.

Denn im Untergang der Publizistik, wie wir sie kennen, liegt eine große Zukunft begründet. Das behaupten zumindest die zwei Filmemacher Philippe Kiefer und Pierre-Olivier François. Um es zu belegen, sind sie um die halbe Welt gereist, stets auf der Suche nach Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven des analogen Journalismus im digitalen Sperrfeuer von Computer, Smartphone, Tablet. Die virtuelle Feder heißt das Resultat ihrer globalen Recherche auf der Suche nach dem Journalismus von morgen. Dabei stoßen die Medienexperten auf Platzhirsche und Bilderstürmer, Frischlinge mit drei Flatscreens vor der Nase und Veteranen mit zwei Fingern auf grauen Tastaturen. Sie stoßen auf Untergangsszenarien und Durchhalteparolen. Vor allem aber stoßen sie auf eins: Liebe zur Information.

Wo immer die Kamera nämlich landet – ob in der Bild, bei Le Monde oder am Times Square, im Start-up, Forschungsinstitut oder Pressehaus voller Pulitzerpreise: Überall herrscht diese obskure Mischung aus Fatalismus und Aufbruchsstimmung. In den USA, wo seit Ende der Neunziger 200 Zeitungen eingegangen sind, werden sie laut einer Studie schon 2017 ausgestorben sein. Zwölf Jahre darauf wäre Frankreich fällig. Und Deutschland? 2030, vielleicht etwas später, vielleicht auch noch früher.

Klingt dramatisch. Nach einem Weltuntergang im Kleinen, spürbar auch für die Großen. Und was tut einer von denen, Mathias Döpfner, Vorstandschef der Axel Springer AG und somit mächtigster Medienmacher im Land? Tiefenentspannt sitzt er in seinem Berliner Büro, unter sich Kreuzberg, hinter sich ein Gemälde namens „Kraft der Bilder“, drüber, drunter, drumherum die Zeitungsmacher der Zukunft, und sagt ohne Anflug von Angst: „Unsere Aufgabe ist es, die Idee der Zeitung vom Informationsträger Papier zu lösen.“

Die Königin ist tot, es lebe die Königin. In ihrer gedruckten Form nämlich, darüber sind sich selbst Haptik-Fans wie Michael Shapiro einig, ist Zeitung bald Geschichte. Trotzdem, fügt der Direktor vom journalistischen Institut der Columbia-Universität in New York umgeben von Büchern hinzu, leben wir „in einem goldenen Zeitalter“. Schließlich sei das Bedürfnis nach handfesten News, geliefert von Kennern vor Ort, editiert von Profis, sortiert nach Bedeutung, nicht Beleuchtung, nach Sinn und Verstand statt Knalleffekten ein Grundbedürfnis intelligenter Menschen. Nur: wo genau das dann zu lesen ist, auf geheckselten Bäumen oder Flachbildschirmen, schlauen Telefonen oder knisterndem Papier – das ist gleichgültig, ressourcenabhängig zudem und allerlei Moden unterworfen.

Und so ist die Botschaft dieser grandiosen Dokumentation im Untergangsgeschrei der Medienbranche eine hoffnungsfrohe: Solange Journalismus von echten Menschen gemacht wird statt von Algorithmen, wie es Google probiert, solange er die Informationsflut professionell vorgesiebt wird und damit auch noch Geld verdient, solange er sich und andere ernst nimmt, wird es Zeitungen geben. Auch wenn die heilige Kuh in Indien darauf irgendwann besser nicht mehr herum kaut.


Christenbashing & Markenchecks

Werbung, RFT Color 20, FernseherDie Gebrauchtwoche

18. – 24. August

Na das war doch endlich mal ein hörbarer Aufschrei, der da vorige Woche durch Fernsehland fegte. Als eine Religion offen kritisiert wurde, hagelte es Tiraden über die eindimensionale Verunglimpfung im Umgang mit Gläubigen einer Glaubensgemeinschaft. Gut so! Bürgerlichen Widerstand gegen antireligiöse Vorurteile haben sich aufgeklärte Gemüter schließlich schon längst mal im Umgang mit dem Islam und seiner Pauschalverteufelung als Islamismus gewünscht. Nur – dummerweise klagte der Okzident da nicht über unfaire Behandlung einer orientalischen Konfession. Nein, die ARD hatte sich erdreistet, in ihrer Dokumentation Mission unter falscher Flagge die Protagonisten des Untertitels anzugreifen: Radikale Christen in Deutschland.

Der verantwortliche NDR zählte Tausende von Zuschriften, die – wahrscheinlich mit Blut auf Büttenpapier geschrieben – zum Beispiel heimliche Aufnahmen von Gottesdiensten anprangerten. Ob die das in Moscheen wohl auch so schlimm fänden? Passend zur offensiven Stellungnahme, mit der die ARD vorige Woche eine Lanze für die Autoren des Films brach, wiederholte sie ihre Sendung Freitagabend, statt alles zu bereuen. Das war dann mal Rückgrat im Hause jener, die ansonsten zusehends ihre Fahnen in den Wind des Publikums hängen.

Dass Wolfgang Büchner die Fahnen in irgendjemandes Wind hängt, kann man hingegen nicht behaupten. Alle Ressortleiterstellen umzubesetzen und zugleich die strikt getrennten Redaktionen von gedrucktem Spiegel und Spiegel-Online enger verzahnen zu wollen – damit machte sich der Chefredakteur reichlich Feinde im eigenen Haus. Und kriegte doch eine Mehrheit zusammen. Eigentlich ein Thema für Fachleute; das mächtige Medienecho auf die Affäre aber zeigt abermals: Noch ist seriöser Journalismus gesellschaftlich bedeutsam.

TV-neuDie Frischwoche

25. – 31. August

Er wird sich künftig nur völlig neu darstellen. Das konstatiert der gut recherchierte Dokumentarfilm Die virtuelle Feder, mit dem Arte Dienstag (21.30 Uhr) nach der Zukunft analoger Publizistik im digitalen Sperrfeuer fragt. Antwort: Sofern sie sich ihrer Stärken besinnt, gibt es eine. Etwa lückenlose, umfassende, intensive Recherchen wie in der investigativen Gemeinschaftsredaktion von Süddeutscher Zeitung und NDR. Die dürfen allerdings nicht nur informativ serviert werden, sondern unterhaltsam.

Ersteres ist jetzt nicht grad eine Stärke des Marken-Checks, der heute mit dem weltumspannenden Möbelhaus IKEA in die neue Staffel geht. Trotz inhaltlicher Schwächen ist die Reportagereihe ein lobenswertes Beispiel dafür, wie man mit seriösen Sachthemen selbst zu allerbesten Sendezeit nach der Tagesschau ein größeres Publikum gewinnt. Dass sie in Sound und Bildsprache zuweilen etwas populistisch gerät – geschenkt. Denn in der Tat: Eine Dokumentation, die drei Stunden später auf gleichem Kanal läuft, mag dramaturgisch glänzen; wie AGFA 1939 rund 120 Fotos und Filme aus dem 2. Weltkrieg, die sich auf dem Dachboden eines damaligen Amateurfilmers in Polen gefunden haben, zum deutsch-polnischen Geschichtskrimi verwebt, ist vielleicht doch arg vertrackt für die Primetime im Ersten.

Ein bisschen zu schlicht für Arte ist dagegen Schöner kann jeder, wo sich der ehrgeizige Kulturkanal mit dem Charme des Hässlichen beschäftigt – die Chance, allzu glatte Oberflächen mal gründlich aufzurauen aber seltsam eindimensional vergeigt. Anstatt dieses wichtige Thema in all seinen Facetten anzugehen, konzentriert sich Jan Tenhaven nämlich allein auf die Misfit Models, einer Berliner Agentur für eher unansehnliche Mannequins beiderlei Geschlechts. So bleibt die Sendung das, was sie eben nicht sein will: eine Freakshow.

In die würde auch das verschrobenste Exemplar der französischen Gegenwartsliteratur passen, was nichts besser belegen könnte als Die Entführung des Michel Houllebecq. Der Berlinale-Film verknüpft am Mittwoch ebenfalls auf Arte die Tatsache, dass der Bestsellerautoren (Elementarteilchen) gern mal spurlos vom Erdboden verschwindet, mit der Fiktion, dies werde jetzt auf kriminelle Weise Wirklichkeit. Ungewöhnlich, skurril, wunderbar. All dies ist – bis auf letzteres – Peter Weir nicht. Dennoch gilt der australische Regisseur als Erneuerer des Kinos der Achtziger, nämlich anspruchsvoll und massenkompatibel zugleich. Nun zeigt Arte drei seiner Filme. Angefangen mit Der Einzige Zeuge, der es am Sonntag allerdings mit starker Konkurrenz zu tun kriegt: Der Tatort kehrt zurück aus der Sommerpause – und legt mit der Wiener Version gleich mal das Überraschungsteam der vorigen Saison vor. Zeitgleich zum Beginn des neuen TV-Labs, mit dem ZDFneo Donnerstag um 21.45 Uhr diesmal wieder drei Serien in den Testlauf für höhere Aufgaben schickt, läuft parallel auf Arte der Tipp der Woche, so jung und schon so legendär: „Unsere Mütter, unsere Väter“, deutsches Weltkriegsfernsehen, wie es bis dato nicht existierte.


Reportage: St. Pauli ohne Touristen

Fischbrötchen, Heiner HarhuesDer Alltagskiez

Vom Nobiskrug zum Fischimbiss: Am Wochenende ist St. Pauli ein schrilles Amüsierviertel. Wem begegnet man, wenn die Besucher aus aller Welt wieder abgereist sind?

Von Jan Freitag

Samstagnacht kommen sie von überall her / und am Sonntagmittag bist du wieder menschenleer / wie hältst du’s nur aus / dieses Hin und Her (Bernd Begemann, Oh St. Pauli)

Es gibt Orte, da führt selbst die Sonne ein Schattendasein. Erwacht sie an einem Frühsommermorgen über St. Pauli, ist alles noch auf den Beinen, und keiner interessiert sich für sie. Steht sie dann hoch am Himmel, zieht es die Leute in die Betten – Rollo runter, Sonne raus, gute Nacht am helllichten Tag.

Es sei denn, man verlässt die Partymeile, läuft die Lincolnstraße ein paar Meter runter Richtung Elbe. Hier ist der Tag nicht beendet, er steuert auf seine Mitte zu. Und wenn Harald Buers am Vormittag das allererste Astra für Tagträumer zapft statt ein allerletztes für Nachtfalter, dann trennt sich das Wochenende vom Montag. Dann wird der Kiez vom Ausflugsziel zum Lebensraum. Dann ist man im Nobiskrug.

“Älteste Schankwirtschaft auf St. Pauli” steht darüber in Stein gemeißelt, daneben eine Zahl: 1895. Das klingt ein wenig nostalgisch, vor allem aber klingt es stolz. “Hier liegt das wahre St. Pauli“, sagt Buers, ein Zugereister wie so viele der Gegend, nach 35 Jahren vor Ort aber längst einheimisch wie jene, die der Wirt mit flüssigem Frühstück versorgt. Es sind Nachbarn, Anwohner, Stammgäste, die an diesem sonnigen Montag im Dunst des Nobiskrugs den Morgen begrüßen. Denn was Kiezgäste, die freitags einfallen und Sonntagfrüh abziehen, meist nicht wissen, vergisst auch Bernd Begemann in seinem melancholischen Lied: Hier leben Menschen, echte Menschen. Mal arbeitende, mal arbeitslose, arme oder reiche, also sehr alltägliche.

Gut 24.000 sind es, Anrainer angrenzender Stadtteile nicht mitgerechnet. Und gut ein Dutzend von denen sitzt nun hier, zwischen Schwarzweißfotos einer Ära, als vorm Nobiskrug noch Matrosen flanierten und das Bier mit Pferdewagen kam. In einem Mobiliar, das kaum jünger ist als die mitteilsamen Rentner beim Frühschoppen. Nur warum, bei dem Wetter, zu dieser Zeit, hier, im Restrauch vieler Millionen Zigaretten? “Zuhause”, meint einer am abgewetzten Tresen. Er lächelt nicht. Ein Wort, alles gesagt.

Zuhause.

So nennen viele ein Wohngebiet, das schon 400 Jahre besiedelt war, als es Mitte des 17. Jahrhunderts zum Amüsierviertel wuchs. So nennen selbst Quiddjes, also Zugezogene, ihr Quartier, sofern sie nur lange genug da sind. Wie Jozi Sustar, genannt Pepi. Friseur Pepi, Jozi SustarPepi war schon einiges: Er sprang für Jugoslawien vom Wasserturm, flog die höchsten Skischanzen runter, spielte wie sonst kaum ein Slowene Tischtennis. 1960 aber wurde er St. Paulianer und steht auch mit 79 Jahren Tag für Tag vorm Spiegel seines winzigen Friseursalons. Links raus der Hamburger Berg mit seiner Flatratekultur, rechts raus die Talstraße. Auf dem Weg dorthin, gegenüber steht die Kneipe jener Rockabillies, denen Pepi bis heute Frisuren verpasst, die vor 54 Jahren populär waren. “Schöne Zeiten”, sagt er wehmütig. Ohne Nepp, Vertreibung, Eventkultur. Ohne die Gräben zwischen denen, die immer da sind, und denen, die tageweise reinschneien.

Doch für beide Gruppen wird rings um die Reeperbahn gut gesorgt. Im Topkauf etwa, dem letzten Krämer. Hier steht Ines Stoppa seit zehn Jahren an der Theke und verkauft vom Gemüse für Ansässige über den Mittagstisch fürSupermarkt, Ines Stoppa Angestellte bis zum Alk für Feierwillige alles, wonach der Kiez dürstet. “Alltags 90 Prozent Hiesige und zehn Partyvolk”, rechnet Ines Stoppa im liebevollen Chaos der früheren Schlachterei vor. “Am Wochenende umgekehrt.” Gleich um die Ecke franst die Davidstraße in verruchte Seitengassen voller Bordsteinschwalben aus, als seien die Zuhälterkriege der Achtziger weiter im Gange.

Für Normalbürger war der Kiez damals Sperrgebiet, heute meiden ihn Menschen mit dem Anspruch nach gehobener Unterhaltung. Dazwischen lag ein Jahrzehnt kultivierten Erwachens: Der Mojo-Club wurde zum Nabel des Nu Soul, das Sparr zum Punkertreff, der Sorgenbrecher zum Trashzentrum, sogar das Top Ten salonfähig und überhaupt alles Zwielicht etwas klarer. Bis der Musicalhype das Neonlicht anknipste.

Kurz zuvor war Thomas Angele in der Silbersackstraße gelandet, wie er mit Resten seines Heimatdialektes erzählt. Dort also, wo die Nutten sich noch immer die Füße platt stehen, übernahm er vor 21 Jahren den “Kiezbäcker”. Ein Kiezbäcker, Thomas AngeleKonditormeister aus Schwaben, in einem alten Sexshop – ausgerechnet! “Nein, genau richtig”, erklärt Angele die Lage seiner Bäckerei, deren Korbmöbel auch in Eppendorf stehen könnten. “Hier leben, arbeiten, feiern so viele Leute”, sagt er, während zwei ältere Damen mit Hund Butterkuchen vom Blech kaufen, “aber es gab kein Frühstücksrestaurant”.

Es gab. Die zwei Worte fehlen in kaum einer Antwort der Kiezbewohner und meist klingt es ein bisschen seelenwund. Es gab mal das Café Möller an der Großen Freiheit, wo Damen mit Rüschenschürzen 59 Jahre lang Torten zu Kännchenkaffee servierten, bis die Miete verdoppelt wurde und ein Ballermannpub einzog. Es gab das Molotow. Es gab die Kieztanke. Es gab die Essohäuser. Es gab auch Verbrechen, Armut, Abzocke, das volle Rotlichtprogramm. Es gab aber eben auch Infrastruktur für alle statt nur Kioske fürs Vorglühen. Und natürlich gab es Fisch.

“Überall”, sagt Heiner Harhues lachend am Pils vorbei. Doch als sich der gelernte Schlosser bei der Arbeit für die Gastronomen auf dem Kiez mal umsah, fehlte der Reeperbahn ihr Grundnahrungsmittel. “Und das im letzten echten Hafenviertel.” Also hat der Mittvierziger im vorigen Jahr umgesattelt und einen Fischimbiss eröffnet. Gegenüber vom berühmten Silbersack, dem mit der seligen Erna grade das letzte Thekenfossil weggestorben war, gibt es nun nicht nur Matjesbrötchen und Bier, sondern Live-Shanties im Ölzeug und einen Hauch jener Art, wirklich in Brackwassernähe zu feiern. Dass auch Heiners “Kleine Haie, große Fische” letztlich der “Marke Hamburg” dient – geschenkt. “Ich wollte dem Kiez was zurückgeben”, sagt er. Und der Kiez revanchierte sich. Mit einem Anflug von Heimatgefühl.

Der Artikel ist zuvor erschienen bei http://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2014-06/st-pauli-kiez-alltag


Samplerfriday: Koppruch, staatsakt, 2 Tone

A Tribute to Koppruch

Musikalisch Tribut zu zollen kratzt an Grenzen, die oft besser unberührt blieben. Wer die Großen, Vergangenen, Prägenden ihrer Zeit kopiert, um ihnen Ehre zu erbieten, klingt ja nicht selten impertinent oder anmaßend, wenn nicht gar größenwahnsinnig oder alles zusammen. Bei manchen, vor denen sich da verbeugt wird, ist die Gefahr gewaltig. Bei Nils Koppruch ist sie das nicht. Gerade weil er so groß, vergangen und prägend war. Vor zwei Jahren ist der Singer/Songwriter aus Hamburg gestorben und hat ein gewaltiges Loch in die Poesie des zeitgenössischen Pop gerissen. Ganz zu schweigen von den Herzen seiner Fans. Jetzt haben Freunde, Verehrer, Weggenossen ein Tribut-Album aufgenommen, dass sich dem alternativen Vordichter deutschen Countrys huldigt und es zeigt sich: Koppruch war zu einmalig und einer von vielen zugleich, als dass eine Annäherung an ihn impertinent, anmaßend, gar größenwahnsinnig sein könnte.

Und so sind die mal technoiden, rockigen, poppigen, wavigen, chansonesken, mal waidwunden,  wunderbaren, manchmal missglückten, aber stets liebenswerten Interpretationen seiner Form von urbaner Wildwestlyrik ein Compendium das zu Tränen rührt, wer Koppruch noch kannte. Oder zum Nachdenken bringt, wer ihm erst posthum begegnet. Gisbert zu Knyphausen, Olli Schulz, Knarf Rellöm, Halma, Wiglaf Droste, Bernadette La Hengst, Moritz Krämer, Kettcar, Fehlfarben Kajak und ein Dutzend weniger prominenter Künstler zollen dem Verstorbenen hier Tribut. Sie kratzen an Grenzen, die gottlob weiter berührt werden. Und halten Nils Koopruch weiter am Leben. Dafür von Herzen ein Danke.

A Tribute To Nils Koppruch + Fink (Doppel-CD, Trocadero)

Keine Bewegung

Das Berliner Label Staatsakt zählt zu den ganz Besonderen Musikmachern des Independent Die Sterne werden dort verlegt, Fraktus un Andreas Dorau, Ja, Panik!, Jens Friebe und Jolly Goods, Hans Unstern, Bonaparte und Die Türen, Verschrobenes, Brillantes, Abseitiges, Punkiges, Alternatives, Unabhängiges, Eigensinniges, all dies vor allem und gern auf einzelnen Alben vereinigt. Da ist es eine gute Nachricht, wenn Staatsakt etwas kompiliert.

Und wenn der Titel Keine Bewegung heißt, dann trägt er nur jene Dialektik des Pop in sich, die auf diesem Laben seit jeher zuhause ist. Es scheppert gewaltig, wenn 206, Trümmer oder Messer darauf mit jugendlichem Furor den Postpunk weiter radikalisieren, wenn selbst der Songwriter Friebe ruppig klingt und Die Nerven blaue Flecken verpassen. Gemeinsam ist das ein dreizehnstückger Faustschlag in die Magengrube saturierten Pops und doch selten aggressiv. Kaufen! Auf Vinyl! Schon wegen des Covers!

Various Artists – Keine Bewegung (Staatsakt)

The Best Of 2 Tone

Es gibt so Platten, die stehen ungenutzt in jeder zweiten Plattensammlung rum. Irgendein Best-of von Elvis zum Beispiel, die ersten zwei, drei Alben von Marius. Oder That’s Ska, eine Kompilation jamaikanischer Ursounds aus den Achtzigern. Das Kompendium unbekannter Bands einer bekannten Musik. Seither gab es keinen Sampler, der ihm nahe gekommen ist. Bis jetzt. Denn Crysalis hat gerade The Best of 2tone herausgebracht, eine Zusammenstellung bedeutender Bands des bedeutsameren Labels.

Es vereinigt von The Selector über Madness bis zu den Specials die Genregrößen, aber auch Unbekannteres wie Sea Cruise oder Do Nothing und flutscht rein ins Gehör wie Speiseeis in den Bauch bei Sonnenschein. 18 Stücke haben die Kuratoren zusammengetragen, die keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erheben oder gar eine qualitative Wertung vornehmen. Grandios ist der Sampler trotzdem. Und wird garantiert nicht im Fach jener Platten landen, die man zwar hat, aber nie hört.

Various Artists – The Best Of 2 Tone (Crysalis)


Heino Ferch: Grader Rücken & ganzer Kerl

Es ist ein Klischee!

Kaum ein Schauspieler in Deutschland ist so festgelegt auf einen bestimmten Rollentypus wie Heino Ferch. Dennoch hat es der Charakterdarsteller mit einsamen Wölfen und/oder kernigen Stoikern zu einem der erfolgreichsten Schauspieler im Land geschafft. Was er am besten kann, zeigt der Norddeutsche auch in seiner Rolle als Kriminalpsychologe Brock in der losen ZDF-Reihe Spuren des Bösen (Freitag, 22.35 Uhr, 3sat). Ein Interview über falsche Vorurteile. Und ein paar korrekte.

Von Jan Freitag

Herr Ferch, man muss im deutschen Fernsehen höllisch aufpassen: Ehe man bis drei zählt, ist man auch schon Serienkommissar.

Heino Ferch: Entschuldigung, Sie haben doch den Film gesehen, hoffe ich – Richard Brock ist doch kein Ermittler, er ist Polizeipsychologe!

Als solcher aber immerhin ermittelnd tätig.

Aber nur Fragen zu stellen macht einen Menschen doch noch lange nicht zum Ermittler! Nein, Brock ist Universitätsprofessor, der an der Uni Wien lehrt und – was kurz angerissen wird – eine Vergangenheit als Psychologe in einer Klinik hat, aber nicht mehr praktizieren darf. In diesen Fall hier rutscht er durch Zufall hinein, wird unfreiwillig involviert und erst wegen des merkwürdigen Desinteresses der Polizei auch selber tätig.

Was genau taugt an diesem Sujet denn so sehr zur Fortsetzung?

Das große Feld der Psychologie, das Lesen zwischen den Zeilen, das analytische Element. In Österreich kann man im Verdachtsfall nicht nur einen Anwalt anrufen, sondern eine Vertrauensperson; das wird zum Beispiel im dritten Film der Fall sein, den wir gerade abgedreht haben. Das Spielfeld ist die unendliche Weite seelischer Krankheiten und Anomalien, besonders in Wien, wo ja immer noch so ein Hauch von Freuds Psychoanalyse durch die Gassen weht. Wichtig ist auch die Reibung des deutschen Monolithen Brock im österreichischen Umfeld; dieser Mikrokosmos hat viel Potenzial.

War dieses Serienpotenzial von Anfang an klar?

Spuren des Bösen – Racheengel ist in gewisser Weise die Fortsetzung des ersten Films Spuren des Bösen – Das Verhör, der für sich eigentlich abgeschlossen war. Ich hatte zwar damals gesagt, wir sollten erst mal schauen, wie sich das Ganze entwickelt, aber Spuren des Bösen war schon von Anfang an für einen längeren Zeitraum angedacht. Und spätestens nach dem neuen Teil sind sich alle einig, dass wir bei diesen exzellenten Drehbüchern weitermachen müssen, wahrscheinlich einmal im Jahr, als lose Reihe. Das hat mit einem Serienkommissar wie gesagt nichts zu tun. Auch wenn er wie die meisten von denen ein einsamer Wolf ist.

Dieser aufrechter Streiter, der gegen alle Widerstände seinen Weg geht, scheint schon Ihre Paraderolle zu sein oder?

Ja, vielleicht ist das so. Solche Figuren interessieren mich in der Tat und werden mir auch viel angeboten. Und ich habe mich auch öfter für Bücher entschieden, wo Männer mit Druck von außen konfrontiert werden, unter dem sie den Weg ins Licht suchen.

Sind das dann im klassischen Sinne Helden?

Nach der Definition, der Held ist der Held, weil er die Geschichte zusammenhält, ist das vielleicht so. Aber nicht als strahlende Lichtgestalten. Mehr emotionale Leitfiguren also, durchaus gebrochene, auch schwache Charaktere. Antihelden.

Stört Sie das Klischee, Deutschlands Heldendarsteller schlechthin zu sein?

Ach, überhaupt nicht. Wenn mich andere so sehen, ist das ja auch Geschmackssache und somit total in Ordnung. Ich sehe es allerdings etwas differenzierter, und wie Sie richtig bemerkt haben: Es ist ein Klischee. Ich gehe nun mal mit meiner Arbeit stark in die Öffentlichkeit, da muss man damit leben, von ihr platziert zu werden. Ich halte es so, dass man die Vorurteile mit künftigen Überraschungen aus den Köpfen kriegt, nicht mit rückwirkender Aufklärung.

Dabei ist es gar nicht so, dass ihre Filme so viel Anlass zur Klischeebildung liefern, sondern eher Ihre Art, Sie zu füllen: Einerseits das Beherrschte, Schmallippige, andererseits Ihre Haltung, der grade Rücken.

Gut, ich bin Heino Ferch mit meiner Biografie und meinem Körper und solange ich nicht Quasimodo spiele, wird meine Haltung eine mir eigene sein. Auch wenn ich versuche, sie von Rolle zu Rolle zu variieren. Aber es ist immer noch dieser Schauspieler, der mit seinen Mitteln versucht, anderen Persönlichkeiten Gestalt zu geben.

Eine, die immer sehr reduziert wirkt und frei von extremer Gefühlsregung.

Das mag sein. Es gibt auch von mir Rollen mit größeren Emotionen, aber die extremen Ausraster sind doch eher bei anderen zuhause. Andererseits: geben Sie mir einen Wallenstein und es gibt auch von mir was zu sehen.

Wobei die Bühne derzeit nicht Ihr Revier ist.

Das stimmt. In den letzten Jahren sind vor der Kamera einfach die interessanteren Sachen auf mich zugekommen. Aber nochmals – ich bin auf beiden Ebenen nicht nur ein Mann der leisen Zwischentöne.

Wie wichtig ist Ihnen das Körperliche am Spiel?

Als Leistungssportler, der ich jahrelang recht erfolgreich gewesen bin, natürlich enorm. Sport ist nach wie vor ein wichtiger Teil meines Lebens, das bringt automatisch eine gewisse Körperlichkeit mit sich, das Wohlfühlen in einem fitten Körper bedeutet mir viel.

Stoßen Sie da mit zunehmendem Alter an Ihre Grenzen?

Sagen wir’s mal so: ich fühle mich eigentlich wie 33, mache aber nicht mehr die gleichen Dinge wie in dem Alter. Meine turnerische Vergangenheit hab ich zuletzt vor fünf, sechs Jahren bei Stars in der Manege erprobt, da konnte ich mit etwas Vorbereitung schon noch ein paar Flic Flacs schlagen, ohne mir was durchzureißen. Aber damit höre ich dann doch lieber auf.

Hand aufs Herz: bereitet es Ihnen Ihr 50. Geburtstag da Sorge?

[lacht] Ich versuche, keine zu haben; und ich kann’s ja auch nicht ändern. Klar, die Manschetten vor dieser Zahl kommen früher oder später bei jedem, mal sehen, ob und wann das bei mir der Fall ist. Aber ich bin gesund, habe zwei wohl geratene Kinder, eine liebevolle Familie, ein glückliches Leben – es gibt nichts, das ich zu beklagen hätte. Selbst, dass ich seit einem Jahr eine Lesebrille brauche, hab ich auch gut verkraftet. Ich bin zuversichtlich.

Diese neuralgischen runden Geburtstage…

… da mache ich dann jeweils einen Strich drunter und schaue, was ich von dem erreicht habe, was ich erreichen wollte.

Und Ihre Bilanz?

Ganz gut. Beruflich kann ich tolle Rollen spielen, die Leute wollen mich sehen, alles in Ordnung.

Welche realistischen Träume der nächsten, sagen wir: 50 Jahre, sind denn so realistisch, dass Sie sie veröffentlichen können?

Noch mal 50 Jahre, mein Gott! Glauben Sie, ich werde 100 [lacht]? Ich nicht. Also Träume…

Vielleicht mehr Komödien?

Oh ja, ich hätte Lust, aber die Bananenschale interessiert mich jedenfalls ebenso wenig wie Comedy; ich bin eher der Billy-Wilder-Typ, der das Drama in der Komödie sucht. Ich liebe das Furchtbare in der Komik wie einst bei Lemmon/Matthau. Hierzulande ist dagegen die Romantic Comedy verbreitet; sehr erfolgreich, aber nicht mein Gebiet. Meine Anfragen sind da überschaubar.

Was fast jedem arrivierten Schauspieler droht, ist eine als Tatort-Kommissar.

Hatte ich auch schon, aber bislang wollte ich keiner unter 23 anderen sein. Und ehrlich: mir liegt Spuren des Bösen einfach mehr, wo ich niemanden fragen muss, was er denn gestern zwischen acht und neun gemacht hat.

Andererseits wird Sabine Postel nicht ewig Inga Lürsen in Ihrer Bremer Heimat sein…

Da hätte ich einen Bezug zu, aber für einen Kommissar reicht die Heimatliebe nicht.

Die aber noch besteht.

Klar, ich habe wichtige Jahre meines Lebens an der Nordsee gelebt, bin dort aufgewachsen – das sind natürlich heimatliche Gefühle. Aber jetzt bin ich in Oberbayern zuhause, und das zählt. Ich fühle mich da wohl, wo ich bin.


Paul Kemp: Psychotricks & Trickpsychologie

Hilfe!

Zu Kommissaren, Anwälten und Ärzten gesellt sich seit einigen Wochen auch der Sozialarbeiter Paul Kemp. Mit der Realität hat Harald Krassnitzer als Mediator genannten Streitschlichter im braunen Cordanzug wenig zu tun, aber darum geht es der ARD am Dienstagabend auch nicht. Schade.

Von Jan Freitag

Mediatoren sind scheue Wesen. Zur Konfliktlösung irgendwie zerrütteter Parteien engagiert, halten sie sich berufsbedingt im Hintergrund. Schließlich sollen Mediatoren vermitteln, nicht mitmischen. Bis auf Paul Kemp. Paul Kemp ist ein Mediator, dessen Understatement meist auf seine sandfarbenen Cordanzüge beschränkt bleibt. Aus den Streits, die er als Moderator doch schlichten soll, hält sich dieser geübte Streitschlichter aus Wien demzufolge nie vollends raus. Im Grunde genommen ist Paul Kemp also gar kein richtiger Mediator, er ist Beteiligter. Aus ethischer, moralischer, professioneller Sicht erscheint das allerdings ziemlich egal: Paul Kemp schlichtet schließlich im Fernsehen.

In der ARD zumal. Und dann auch noch dienstags um 20.15 Uhr, wo putzige Nonnen sonst so glaubhaft wie lautstarke Raumschiffschlachten katholisches Klosterleben simulieren. Kein Wunder also, dass Paul Kemp mit der Realität ähnlich wenig zu tun hat wie weltliche Gottesdienerinnen im heiteren Dauerclinch mit einem selbstgerechten Bürgermeister namens Wöller. Fernsehen eben, Stromlinienfernsehen, die abendliche Dosis Eskapismus. Die jedoch schmeckt ein bisschen bitter, wenn sie 13 Episoden lang vermeintlich realer Grundlage beruht.

Erlebt hat die mal ungewöhnlichen, mal alltäglichen Fälle zwischen Beziehungskrise, Firmenmobbing und außergerichtlicher Einigung nämlich ein gewisser Ed Watzke, der aus 20 Jahren Berufserfahrung als Mediator ein gut gehendes Buch gemacht hat, bevor ORF und MDR auf ihn aufmerksam wurden. Es soll also ziemlich tatsachengetreu zugehen, wenn Watzkes Alter Ego Kemp gleich in Folge 1 erst einen medizinischen Kunstfehler psychisch begradigt, sodann das Doppelleben der beteiligten Ärzte zurechtrückt, zwischendurch einen Kollegen vorm Untergang bewahrt, nebenbei die eigene Ehekrise samt Pubertät des Sohnes anpackt und zwischendurch noch ein paar seiner persönlichen Defizite.

Aber Tatsachen spielen naturgemäß die zweite Geige, wenn das Erste den Alltag von seiner leichten bis seichten Seite zeigt. Dann darf dieser Paul Kemp Klienten „feiger Hund“ nennen und mit eigenen Privatgeschichten behelligen, dann darf er juristisch komplizierte Schadensersatzfälle in drei Minuten zum Wohlgefallen der Streithähne verhindern und danach praktisch alle Mandanten bei sich übernachten lassen. Weil dazu nahezu jede Pointe mit süffigem Klaviergeklimper angekündigt wird (das immerhin den noch süffigeren Frank-Duval-Gedächtnissound kurz durchbricht), weil jedes Auto wie auf diesem Sendeplatz üblich das jeweilige Sozialverhalten exakt symbolisiert (Hauptfigur: Oldimer; Fiesling: Cabrio; Mittelstand: Golf), weil das Klischee hier so grundlegend für die Handlung ist, dass sogar Computer-Nerds noch aussehen, wie anspruchsvolle Kostümbildner sie schon seit 15 Jahren nicht mehr anziehen, aus all diesen Gründen gibt es eigentlich nur einen Anlass, diese Serie weiter zu verfolgen. Und das ist Paul Kemps Darsteller.

Harald Krassnitzer.

Wie kaum ein anderer im deutschsprachigen Abendprogramm schafft es der Österreicher aus dem Salzburischen, die Widersprüche unseres Gesellschaftssystems allein durch die Aura seiner Augen zum Ausdruck zu bringen. Wie sie gleichsam lachen und weinen können, wie sie Sarkasmus und Melancholie zwischen zwei Lidschläge packen, kommentiert der abgedankte „Winzerkönig“ und amtierende „Tatort“-Kommissar den Aberwitz um seine Filmfigur Kemp in einer Lässigkeit, die sie erträglich, ja unterhaltsam macht. Und die im Nebeneffekt auch noch das zuweilen miserable Drehbuch mit dem denkbar debilen Untertitel Alles kein Problem ein wenig mildert.

So schafft es der gelernte Speditionskaufmann von 53 Jahren fast im Alleingang, dass sich ein ziemlich neuer Berufszweig des Serienpersonals ein Stück weiter in den Vordergrund spielt: Standen dort früher nämlich fast ausnahmslos Ärzte, Juristen, Ermittler und ein paar Geistliche auf der Besetzungsliste ganz oben, machen sich zusehends soziale Berufe auf dem Bildschirm breit: Lehrer (die nicht mehr unbedingt Specht heißen), Psychotherapeuten (etwa In Treatment), dazu Sozialandroiden (Real Humans), zuletzt Elena Uhlig als Familiendetektivin und nun also Paul Kemp.

Der muss sich in den nächsten zwölf Folgen nur noch so verhalten, als wäre er ein richtiger Mediator. Dann hält man nicht nur das Stammpublikum von Um Himmels Willen am angestammten Sendeplatz, sondern zollt Harald Krassnitzer den nötigen Respekt für das, was er kann: Das Seltsame sehr realistisch zu spielen.


Mork vom Ork & Glück von Schirach

Werbung, RFT Color 20, FernseherDie Gebrauchtwoche

11. – 17. August

Na-Nu, Na-Nu. Es waren vier Silben voll kindlicher Anmut und ehrlichem Erstaunen, die Robin Williams 1978 berühmt machten. Worte einer skurrilen Serienphantasie in bunt geringelten Hochwasserhosen, denen sich im System dreier Fernsehkanäle kaum wer entziehen konnte. In Mork von Orks striktem Bemühen, die Unterhaltungsindustrie durch bescheidenen Feinsinn zu unterwandern, waren die außerirdischen Kunstbegriffe von so simpler Schönheit, dass die zynische Berechnung des orchestrierten Irrsinns ringsum ein wenig erträglicher wurde.

Jetzt sind sie endgültig verklungen – auch wenn Mork vom Ork auf den billigen Abspielkanälen der RTL- und Sat1-Gruppe nun aufgebrüht werden dürfte wie die anderen mehr oder wenigen großen Episoden im Schaffen des notorischsten Kindes der fiktionalen Erwachsenenwelt. Robin Williams ist tot, freiwillig – so scheint es – aus dem Leben gegangen, nachdem es von Drogen, Angst und Missverständnissen ebenso geprägt war wie von grandiosen Filmrollen. Mit ihm ist ein weiterer Vertreter jener seltenen Spezies Darsteller der alten Schule gegangen, für die ihr Medium mehr war als Spielfeld. Nämlich Ausdruck von Haltung. Bedeutung. Einer Mission, dem Kalkül der Unterhaltungsindustrie wie in Williams Hochphase zur Präsidentschaft Ronald Reagans etwas Herzenswärme entgegenzusetzen.

Womit wir auf der bösen Seite der Macht wären, wo der kalt kalkulierende Vorstandschef Thomas Ebeling die keimfreien Sender seiner Pro Sieben Sat.1 Media AG zur hirntoten Sterilität gemanagt hat. Eben dafür aber genehmigt er sich nun 23,4 Millionen Euro Bonus, was sich nicht mal die meisten Dax-Bosse auszuzahlen trauen. Zumal die Erfolgszulage ignoriert vollends, dass Ebelings Programm seit seinem Antritt 2009 mehr denn je reines Werbeumfeld ist. In dieses Kalkül passt ein unaufdringlich grandioser Bastian Pastewka weit weniger als die selbstgefällig überdrehten Joko und Klaas. Es geht um Klicks und Quote, nie um Inhalt, gar Anspruch.

Da die Öffentlich-Rechtlichen in dem Rattenrennen um Aufmerksamkeit längst Tuchfühlung aufgenommen haben, ist es eine Nachricht von großer dialektischer Tiefe, dass Alexander Bommes gerade befördert wurde. Der fast schmerzhaft sympathische Ex-Handballer moderiert in der ARD fortan alles an erster Stelle, was mit Spitzenfußball zu tun hat. Dabei ist Bommes eigentlich zu wenig opdenhövelsch auswendigspontan, zu wenig popstaatsmännisch beckmannesk für solche Hochämter. Aber er ist eben auch zu kompetent, um ihn in der geriatrischen Quizgeisterbahn der Dritten Programme für seichte Samstagabendshows zu trainieren.

TV-neuDie Frischwoche

18. – 24. August

In diese Einbahnstraße ist schließlich auch mal ein gewisser Jörg Pilawa unfreiwillig geraten. Ebenso eloquent, aufgeweckt, freundlich und klug wie Bommes, galt der nette Hamburger Jung ja auch mal als Multitalent für größere Aufgaben, mithin als möglicher Nachfolger Gottschalks in der rot-grünen Ära. Nun vergeudet es der Hamburger Jung für Formate wie Quizonkel.TV, dessen innovatives Potenzial sich ab Donnerstag im Ersten darin erschöpft, dass die acht Promis darin eigenes Geld für gute Zwecke verspielen. Wobei es schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn die nicht wieder was mit Kindern zu tun haben.

Weil die Primetime mit Konsensformaten für Anspruchsreduzierte verstopft ist, muss man für wahrhaft Sehenswertes also länger aufbleiben. Dienstag um 22.45 Uhr läuft zum Beispiel Glück, Doris Dörries’ Adaption von Ferdinand von Schirachs Bestseller über den Obdachlosen Kalle (Vinzenz Kiefer), der sich in eine osteuropäische Prostituierte verliebt. Die ausgewogene Balance zwischen Rührung und Realismus kippte dem ZDF wohl doch zu arg in letzteren, um eine publikumsfreundliche Sendezeit freizuräumen. Wir wollen aufs Meer, Toke Christian Hebbelns DDR-Drama dreier Freunde (Ronald Zehrfeld, August Diehl, Alexander Fehling), die ihr Fernweh bei der Handelsmarine lindern wollen und vom Warten ernüchtert der Stasi beitreten, passt eigentlich perfekt auf die 20.15 im Ersten, läuft aber zweieinhalb Stunden später.

So wie tags drauf die immens wichtige Dokumentation Wem gehört die Stadt. Wer begreifen will, wie Profitinteressen den Lebensraum Berlin ungeachtet aller Wünsche seiner gemeinen Bewohner umgestalten, muss also die zwei Serien zuvor abwarten. Noch etwas länger wach halten sollten sich Fans vom gefilmten Fußballmagazin 11 Freunde. Zwei Tage vorm Bundesligaauftakt Wolfsburgs in München (Freitag, live, ARD) zeigt der RBB ab Mittwoch die Randaspekte des Milliardengeschäfts erst um elf Uhr nachts. Dafür läuft der Tipp der Woche am heutigen Montag gleich nach den Abendnachrichten im BR: Münchner Geschichten des unreifen Schlawiners Tscharlie (2. Teil: Mittwoch), gedreht von einem Regisseur, der 1974 noch völlig unbekannt war: Helmut Dietl. In einer Ära, als Peter Scholl-Latour gerade zum wichtigsten deutschen Fernsehkorrespondenten aufgestiegen war. Vorige Woche ist er mit 90 gestorben.


Reisereportage: Polo im Schlosshotel

polo-pferd-gut-ising-hut-180xVarElitenbreitensport

Polo ist aristokratisch wie die Treibjagd. In einem Schlosshotel am Chiemsee öffnet man sich dennoch der breiten Masse – zerlebriert aber weitherin die feinen Unterschiede.

Von Jan Freitag

Man findet heute viele Beispiele dafür, dass Kleider keine Leute machen. Luxusmarken gibt es auch von der Stange, vorsätzlich zerlumpter Radical Chic hat rote Teppiche und Designerlofts erobert. In Blankenese sitzt die Popperlocke kaum fester am Scheitel als in Marzahn. Selbst das Polohemd ist kein sicheres Unterscheidungsmerkmal mehr für Ursprung, Dasein, Ziel des Trägers. Es sei denn, man weiß es zu tragen. Und dieser Mann weiß es.

Knallpink leuchtet sein Shirt mit dem gerippten Kragen. “St. Moritz Polo World Cup on Snow” steht darunter, gleich neben einem seidenen gestickten Spieler, der übers Herz reitet. Und dann der Kragen: Er ist hochgeklappt, bis ran an die eisgraue Nackenwelle des sorgsam gegelten Haars. So sieht er aus: der echte Polohemdträger beim echten Polohemdereignis, das – Überraschung! – Polo heißt. Polo ist ein Wettkampf zweier Viererteams, die, auf Pferden sitzend, mit innerörtlicher Höchstgeschwindigkeit kleinen Plastikkugeln über ein 274 Meter langes Feld hinterherjagen und sie gelegentlich in ein fußballtorbreites Gehäuse hämmern. Vor allem aber ist Polo die aristokratischste aller Sportarten und wird in Sachen Distinktionsgewinn allenfalls übertroffen von der Treibjagd.

Wir befinden uns auf einem zauberhaften, weltentrückten Flecken inmitten der oberbayerischen Bauernwelt, auf Gut Ising. Hier findet die “Deutsche Polo Meisterschaft Medium Goal 2014” statt, wobei “Medium” eine Art Handicap teilnahmeberechtigter Spieler beschreibt. Das Landgut, auf dem dieses Poloturnier stattfindet, ist gut 1.200 Jahre alt, und es gibt ähnlich alte Riten wie im Polo. Hier raucht die Klientel noch Dunhill. Spreizt kleine Finger ab. Trägt Wildlederslipper. Die Uhren sind Chronometer, die Autos Karossen, die Taschen wirklich von Louis Vuitton und die Kinder Orgelpfeifenensembles mit hochgeschlagenen Polohemdkragen. polo-pferd-gut-ising-trachten-180xVar

Andernorts mögen Luxushotels ihren elitären Ruf abzuschütteln versuchen. Auf Gut Ising wird seit 100 Jahren ein Ambiente der Abschottung konserviert. Es gibt Biedermeiermöbel und Eichendielen, rissige Ölgemälde früherer Gutsherren und Originalradierungen “Österreich-Ungarischer Bauernhöfe”. Auch im 21. Jahrhundert weht ein Hauch von K.u.K.-Historie durch Gut Ising. Im Herzen mächtiger Stallungen mit Reithalle, Poloschule und Golfplatz kann man hier in Spa-Suites nächtigen, Suites mit Whirlpool, Lichtsauna und Flachbildschirmen, so groß wie Bettvorleger. Die Moderne wird hier also nicht verleugnet, aber es gibt doch auch diesen Gestus distinguierter Rückständigkeit, dafür sorgen Angestellte in Dirndl oder Janker. Sie lächeln aristokratischen Dünkel ebenso versiert weg wie die Verlorenheit jener, die hier nicht hergehören, sei es wegen des Kontostands, sei es, weil sie sich nicht hierher gehörig fühlen.

Leute wie Gerhard Mayr aus dem benachbarten Mühldorf. Der Selbstständige ist zwar kein Fremdkörper – sein Metier sind Schuhe, wenngleich günstige. Dennoch fremdelt Mayr leicht im Polo-Betrieb. “Irres Spiel”, sagt er, als ein Reiter vom Team mit dem Sponsorennamen Emirat das Siegtor schießt, “aber wer spielt sowas bloß?” Die Antwort ist: Leute, die sich bis zu sieben Pferde plus Unterhalt, Pfleger, Transport leisten können. Leute, sagt Moderator Thomsen aus der Polo-Hochburg Hamburg, “die wie ich diesen Sport lieben”. Und die “5.000 Euro pro Pferd” aufwärts übrig haben, die einfach nötig sind, will man ihn mit Ehrgeiz praktizieren. Thomsen, selbst Spieler, lächelt mild: “Das kann man sich doch leisten.”

So ticken hier viele, die sich und ihr Polo erklären. Zu gern möchte der Sport in die Breite wachsen wie zuletzt Golf. Dafür ist der Eintritt hier frei, sofern man kein VIP-Bändchen beansprucht. Dafür gibt es Kinderschminken, Bratwurst, Spieler hautnah. Als die einlaufen, werden sie von luxuriösen Sport- und Geländewagen eskortiert. Jens Thomsen ist Immobilienmakler. Überhaupt gibt es hier reichlich Architekten, Ärzte, Manager mit und ohne Adelstitel. Polo stellt sich hier dann doch eher als Breitensport für eine sehr spitze Zielgruppe dar.

Das Polohemd ist hier Freizeitdress wie Uniform gleichermaßen, für Erwachsene als Alternative zum Businessanzug, für Jugendliche als Alltagstracht – wie im Schlossinternat nebenan mit den schneeweißen Zinnen und dem Parkplatz voller anthrazitfarbener SUVs. Am Finaltag aber, während die nationale Poloelite um Ruhm und Pokale reitet, zeigt sich die regionale Standeselite von ihrer volkstümlichen Seite, ohne die standesgemäße zu vernachlässigen. Bevor Moderator Jens Thomsen die VIPs – das sind die mit dem entsprechenden Bändchen für 100 Euro, so viel feiner Unterschied muss sein – in der Pause zu Saibling aus dem nahen Chiemsee und Schaumwein aus der fernen Champagne lädt, bittet er sie zum Divot Stomping.

So treten nun Frauen mit großen Hüten das ramponierte Grün für die zweite Halbzeit platt, und ihre Stilettos, Thomsen grinst, “vertikutieren sogar noch den Rasen”. Man macht sich also durchaus schmutzig. Nicht so schmutzig wie die Aktiven in den weißen Hosen im Kontaktsport Polo, aber schmutziger als üblich in diesen Kreisen.

Als der Himmel zum Abschluss des Tages seine Schleusen öffnet, sitzt Gerhard Mayr, der Zufallsgast ohne eigene Pferde, bereits im Trockenen. So wird auch das Polohemd seines Sohns nicht nass. Auf der Brust der ortsübliche Polospieler. Wenn er ein solches Hemd trage, “musst du dir das auch mal ansehen”, habe der Vater vorab gesagt. Aber wenn das Outfit auch noch so gut passt: Spielen tun weiter andere.

Der Text ist zuvor erschienen http://www.zeit.de/reisen/2014-08/polo-bayern-gut-ising