Sehen wir’s doch mal pragmatisch: Die Europäische Datenschutzgrundverordnung, nicht grad kurz, aber doch abgekürzt EUDSGVO, ist ein bürokratisches Papiermonster, das seit Tagen alle Medien in Atem hält, um ja keine Persönlichkeitsrechte anzutasten. Mails mit neuen, alten, überarbeiteten Geschäfts- oder Nutzungsbedingungen fluten den digitalen Raum. Es ist ein gigantisches Zeit- und Ressourcenverbrennungsprogramm. Was ihm aber innewohnt, ist die Chance, endlich mal sämtliche Push-Nachrichten und Newsletter abzubestellen, die Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr die Kanäle verstopfen. Betrachten wir die DSGVO also nicht nur als Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Verfassungsgericht vorsieht, sondern ein echter Reinigungsprozess.
Bei Internetgiganten wie Facebook hagelt es seit Freitag jedenfalls schon Beschwerden. Und die bereiten ihren Inhabern wie Mark Zuckerberg gewiss mehr Kopfzerbrechen als die dubiose Fragestunde vorm EU-Parlament. Die war nämlich kein expertenbesetzter Untersuchungsausschuss, sondern ein fraktionsführerbesetztes Schmierentheater, in dem keinerlei Nachfragen erlaubt waren, geschweige denn ein echter Dialog. Gegrillt wurden also allenfalls Rechtstaatlichkeit und Parlamentarismus. Mark Zuckerburg indes kehrte nicht mal leicht angesengt aus Straßburg heim ins Valley.
Wer amtlich gegrillt werden dürfte, ist dagegen der gefallene Harvey Weinstein, dem seit Freitag in New York der Prozess wegen hundertfachen Missbrauchs gemacht wird. Schon jetzt soll es mehrere Film- und Serienprojekte geben, die sich mit dem bislang spektakulärsten Fall der anhalten #MeToo-Debatte befassen. Ob Netflix darunter ist, das mit Barack & Michelle Obama gerade ein umfangreiches, hochdotiertes Kooperationsprojekt beschlossen hat, bleibt bislang im Dunkeln. Aber auch Amazon wäre ein Kandidat. Und Sky.
Die Frischwoche
28. Mai – 3. Juni
Dort startet Dienstag aber zunächst mal ein Fünfteiler, dessen Hauptdarsteller allein schon für herausragendes Fernsehen bürgt: Bendidict Cumberbatch. In der britischen Romanverfilmung Patrick Melrose spielt er wie zuvor bereits in Sherlock einen exzentrischen Snob mit massivem Drogenproblem – das allerdings nicht bloß Cumberbatchs großes Talent zur darstellerischen Grenzüberschreitung offenlegt, sondern einen Fall von Missbrauch, der demütig macht und stumm, zugleich aber über die Maßen tragikomisch ist. Besser kann Fernsehen schlichtweg nicht sein.
Wie gut es selbst aus Deutschland bisweilen wird, zeigt sich wie jedes Jahr um diese Zeit auf der ARD-Plattform FilmDebüt im Ersten. Den Auftakt der Reihe für Regieneulinge bildet am Dienstag um 22.45 Uhr Peter Stubers grandioses Melodram Herbert, mit dem der kantige Peter Kurth als Ex-Boxer mit ALS einen Geniestreich lebensechter Milieu-Studien liefert. Jonas Rothlaenders Beziehungsdrama Fado im Anspruch zeigt allerdings, mit welch schwierigen Sendezeiten Erstlingswerke im öffentlich-rechtlichen Programm oft zu kämpfen haben. Manchmal allerdings verdient sich selbst leichte Kost ihre Primetime. Zum Beispiel am bedeutsamen ARD-Mittwoch.
Im Gegenwartswestern 13 Uhr mittags zeigt Jörg Schüttauf als norddeutscher Gary Cooper, dass sich Hollywood-Historie durchaus auf die hiesige Küstenregion übertragen lässt. Sein Einsatz als stinkfeiger Landpolizist, der bei jeder sich Gelegenheit vorm Showdown mit einer leidlich fiesen Verbrechergang zu fliehen versucht, ist wirklich sehenswert. Und auch der Tatort ist dieses Mal am Sonntag um 20.15 Uhr bestens aufgehoben. In Freies Land kriegt es das Münchner Odd-Couple Batic/Leitmayr mit einem Mord im Umfeld der Reichsbürger-Bewegung zu tun, die hier als Rudel staubbedeckter, selbstgerechter, durchgeknallter Waldschrate dargestellt wird – was sie größtenteils ja auch sind.
Mit denen hätte einst auch Kommissar Stoever sein Vergnügen gehabt. Dessen Darsteller Manfred Krug widmet ZDF-Info heute um 20.15 Uhr ein sehr schönes Porträt. Ein Tatort jüngeren Datums, der kaum drei Jahre nach seiner Erstausstrahlung schon legendär ist, leitet hiermit die Wiederholungen der Woche ein: In Das Haus am Ende der Straße (Dienstag, 22 Uhr, NDR) verabschiedete sich Joachim Król 2015 per furiosem Rededuell mit Armin Rohde von seinem Frankfurter Morddezernat und wanderte am Ende in die untergehende Sonne der Frühverrentung. Wahnsinn! Gespenstisch hingegen sind drei Gruselfilme, mit denen ZDFneo den Samstagabend füllt.
Den Auftakt macht um 20.15 Uhr Nick Murphys Geisterparabel The Awakening (2011), gefolgt von den weniger subtilen, doch unverwüstlich spannenden Carpenter-Klassikern Das Ding und Halloween. Ganz ohne Mystik kommt am Sonntag um 20.15 Uhr Arte das oscarprämierte Scheidungsdrama Kramer gegen Kramer von 1978 mit Dustin Hoffman vs. Meryl Streep aus. Und heute um 22.30 Uhr beschließt das italienische Meisterwerk Fahrraddiebe um einen Plakatkleber, der sich durchs schwarzweiße Nachkriegsjahr 1948 wurschtelt, die Wiederholungen.
Wenn elektronischer Dance auf klassische Orchestermusik trifft oder umgekehrt, hängt das Bild vom Soundtrack per se nicht so ganz schief. Henrik Schwarz aus dem oberschwäbischen Ravensburg, einer der weltweit angesehensten Producer digital erzeugter Klänge, hat sich mit dem womöglich letzten richtigen Rundfunk-Tanzorchester zusammengetan, der niederländischen Big Band Metropol Orkest, und das Ergebnis klingt irgendwie automatisch, als würde auf ihrem Projekt-Debüt ein Film von ungeheurer Wucht vertont, großes Hollywood aus einer Zeit, als noch Heist-Movies gemacht wurden.
Scripted Orkestra ist also richtig fettes Kino. Als säße sie live vor einer mächtigen Leinwand, kippt ihre Bläser-Sektion einen so grandiosen Sound übers digitale Beat-Gespinst von Henrik Schwarz, dass man beim Zuhören sofort im alten Mustang durchs noch ältere Nevada rast, das Verdeck offen, die Haare im Gegenwind. Käsige Vocals wie im eleganten Counter Culture könnte sich das Album zwar schenken. Aber spätestens dann, wenn sich hauchzarte Klarinetten übers klangfeine Xylophon legen, ist das Mash-up aus Pop und Klassik, Funk und Elektro perfekt.
Henrik Schwarz & Metropol Orkest – Scripted Orkestra (7K!)
Tom Wu
Wenn man sich vorstellt, nur mal so, Franz Ferdinand wären keine Salon-Löwen der Hollywoodglampopdisco von heute, sondern noch immer das, was sie zu Beginn ihrer Karriere waren, nämlich konstruktive Glamrockzerstörer, wenn eine Zeitreise in den Übungsraum von Franz Ferdinand demnach möglich wäre, als sie noch nicht so groß und berühmt waren – vielleicht klängen sie wie Tom Wu. Gut, der Schlagzeuger tritt meist solo auf und kommt auch nicht aus Schottland, sondern Bayern. Andererseits schafft er es spielend, Hände und Füße so zu vervielfältigen, dass sein analoger Elektropunk auch auf dem zweiten Album klingt, als sei da eine ganzes Orchester im Studio.
Es ist aber, wie gesagt, nur dieser Tom Wu, der sich auf All You Want zwar gelegentlich von Michi Achers (The Notwist) Trompete oder – da schließt sich der Kreis – dem früheren Franz-Ferdinand-Gitarristen Nick McCarthy unterstützen lässt. Ansonsten aber macht dieses musikalische Koordinationsgenie alles allein – den englischen Gesang, die vogelwilden Drums, das bizarre Synthie-Geflimmer – und mischt es zu einer Art Varieté-Techno, der so voll von sprühender Fantasie und dabei zum Abdrehen tanzbar ist, dass man sich die 75 Euro fürs nächste FF-Konzert leicht schenken kann. Als verschwitztes Kellerclubgewächs der aberwitzigsten Sorte, bringt er selbst Abstellkammern zum Kochen!
Tom Wu – All You Want (Echochamber)
Lauren Ruth Ward
Wer sich zeitgenössischen Pop genauer anhört, dem fällt darin schnell ein chronischer Mangel auf: Dringlichkeit. Oft fehlt ihm jener herzensgetriebene Eifer, der Musik vom Zeitvertreib und schlimmer noch: rein kommerziellem Interesse daran unterscheidet. Lauren Ruth Wards wunderbares Debütalbum Well, Hell als dringlich zu umschreiben, wäre hingegen noch stark untertrieben. Ihr Gesang durchströmt den fiebrigen Sound ringsum wie heißes Wasser. Seit sie 2015 in Los Angeles heimisch wurde, hat die gelernte Friseurin aus Baltimore nach jahrelangem Schlingerkurs in Stil- und Soundfragen offenbar endlich ihre Mitte gefunden – so flatterhaft und entfesselt die auch klingt.
Begleitet von klassischer Bandbesetzung scheppert ihr hippiesker Glamrock mit in einer Innbrunst aus der Box, als ginge es um alles. Immer. Jedes Gefühl in jedem Lied. Gitarre, Bass, Schlagzeug stets am Rand der Ekstase. Die Siebziger auf Hochtouren, als hätte Janis Joplin sie noch erlebt. Das dauernde Tremolo in Wards dunklem Timbre muss man zwar ebenso wie das gelegentliche Pathos in den neun Selbstverortungen zwar schon mögen. Doc wer es tut, erlebt hier das dringlichste Debüt des Plattensommers.
Lauren Ruth Ward – Well, Hell (Weekday Records)
Pressyes
Und als wäre Nostalgie das Postulat des Sommers, der dem Winter gerade ohne Umweg über den Frühling entspringt, suhlt sich auch René Mühlberger genüsslich in den Ausläufern des Flowerpower. Hatte sich der Gitarrist aus Wien mit seiner alten Band Velojet noch strikt am Sound der Sixties orientiert, reist sein Soloprojekt nun ein Jahrzehnt weiter Richtung Gegenwart und landet im teilsynthetischen Progrock der späten 70er. Von dort stammen schließlich auch sämtliche analogen Maschinen und Instrumente, mit denen er On The Run quasi im Alleingang eingespielt hat. Das Ergebnis ist ein fröhlich mäanderndes, lustig fiepsendes, luftig besungenes Potpourri der gut gelaunten Gestrigkeit.
Meist klingt es als träfe Beck die Beach Boys am Düsseldorfer Rheinufer, um dort leicht bekifft in Erinnerungen zu schwelgen, wie nah sich Melancholie und Frohsinn sein können, ohne gleich selbstgefällig zu wirken. Dass die zehn Stücke dann auch noch Namen wie Summertime oder California tragen, wäre dabei ebenso unnötig gewesen wie das ein oder andere Gitarrensolo. Der Summer of Love tanzt hier auch ohne Holzpfahlwinken sehr unterhaltsam im Stroboskoplicht von Disko und Pop weiter.
In der zweiten Staffel von You Are Wanted kämpft Showrunner Matthias Schweighöfer auf Amazon Prime wieder liebenswert, aber schwer zerschunden fast allein gegen alle und wächst dabei weit über sich hinaus. Das ist wie in der ersten Staffel perfekt inszeniert, ungemein fesselnd, aber gewohnt klischeehaft und schlicht.
Von Jan Freitag
Der Mensch, er wächst bekanntlich an seinen Aufgaben. Lukas Franke zum Beispiel lebt als Manager eines Berliner Hotels zwar im Saus und Braus einer Designervilla mit Designmobiliar und Designehefrau, ansonsten aber recht gewöhnlich: Job, Familie, Freizeit, etwas Alltag, bisschen Spaß – von James Bond unterscheidet den arglosen Mann daher nicht nur der leutselige Dackelblick, sondern alles. Bis er zum Teil eines verwirrend vielschichtigen Komplotts wird und in Echtzeit über sich hinauswächst. Denn auf der Flucht vor BND und NSA, Gangstern und Gangsterjägern hackt Lukas Franke plötzlich die vertracktesten Computerprogramme, befreit sich aus jeder noch so prekären Notlage und haut bisweilen zu, als werde er von Til Schweiger gespielt. Es ist aber nur sein Bruder im Geiste.
Matthias Schweighöfer.
Zum wiederholten Mal gibt Deutschlands beliebtester Antiheld die aufrechte Unschuld vom Großstadtkiez mit Herz und Schnauze und Hang zum kontrollierten Chaos. In der zweiten Staffel von We Are Wanted allerdings kommt mehr noch als in der ersten etwas hinzu, was dem treudoofen Herzensbrecher bislang fremd war: Action um der Action um der Action Willen. Schweighöfer wird sein eigener Bürgerkriegsschauplatz, eine Art Berliner Bruce Bond für die Generation Y. Schon bei der Premiere vor Jahresfrist durfte der Ottonormal-McGyver die Welt quasi im Alleingang gegen Geheimdienste, Digitalterroristen und dem Friendly Fire seiner Verbündeten erretten. Doch jetzt kommt es richtig dicke.
Mit dekorativen Cuts im Gesicht, rast Lukas Franke von Beginn an dem Unglück entgegen. Nach Ansicht der ersten vier Teile wird es – kein Spoiler! – wohl mit einem Cliffhanger enden, der wie im Finale des Vorgängers Zuversicht weckt und Fortsetzungen ermöglicht. Im März 2017 nämlich hatte er den Armeen seiner hochgerüsteten Feinde den Laptop mit der faustischen Software „Burning Man“ entrissen, die ihrem Besitzer zur Weltherrschaft verhelfen könnte. Der nette Lukas indes will doch nur den Weltfrieden und scheint ihn zu Beginn des neuen Sechsteilers sogar gefunden zu haben. Doch nur Sekunden, nachdem er mit seiner Kleinfamilie im Badesee planscht, taucht der unfreiwillige Held beim Waterboarding fieser Folterknechte auf und entkommt ihnen fünf Minuten später gefesselt, betäubt, eingesperrt aus dem Heck eines rasenden Kleinbusses.
Das also ist die Geschwindigkeit, mit der Amazon Prime den globalen Erfolg von You Are Wanted reproduzieren will. Damals stellte die blutleere, aber spannende Hochglanzproduktion einen Abrufrekord des Streamingdienstes auf. Und damit dieser Wert nicht unterlaufen wird, ziehen Brutalität, Tempo und Drama nochmals gehörig an. Schon in der ersten von 300 Minuten also versucht Lukas alten wie neuen Gegnern zu enteilen, wozu seine Frau Hanna (Alexandra Maria Lara) im Kampf um ihr süßes Kind wieder unablässig dreinblickt wie ein verschrecktes Reh. Totgeglaubte wie der undurchsichtige Cop Siebert (Edin Hasanovic) erwachen – wenngleich schwer entstellt – zum Leben. Als seine Kollegin Jansen wirkt Catrin Striebeck hingegen noch ein wenig untoter als vor 14 Monaten. Und in Gestalt der Hackerin Angel (Hannah Hoekstra) oder der Journalistin Nelly (Jessica Schwarz) kriegt sie es mit zwei Femme Fatales wie vom Laufsteg zu tun.
Überhaupt sind die Protagonisten dieser Serie wie ihr Koproduzent, Koregisseur, Koautor und Alleinhauptdarsteller Matthias Schweighöfer selbst dann makellos fotogen, wenn sie zuvor ein paar Stunden lang Dresche von Bösewichtern gekriegt haben, die wie Alexander Radszun als gemeiner BND-Mann im Gestapomantel dann aber schon auch mal hässlich sein dürfen. Womit wir bei der Optik wären. Mit dem alten Kameramann Bernhard Jasper schaffen es die drei neuen Regisseure präzise, Licht und Kulisse mit Ton und Musik in einer herausragenden Ästhetik zu vereinen. Keine Einstellung, kein Schnitt, nicht der kleinste Blutstropfen an Schweighöfers Alabasterkörper bleibt dem Zufall überlassen. Alles ist im Dienste der oberflächlichen Thriller-Story angemessen artifiziell. Zwischen dem Waschbeton der Koolhaas-Architektur und dem Ghettobeton der Plattenbau-Siedlungen gibt es keinen Werkstoff. Hässlichkeit oder Haarausfall existieren in dieser Zweiklassengesellschaft nur situativ. Und bevor selbst Polizistinnen die Highheels gegen Turnschuhe tauschen, brechen sie sich bei der Verfolgungsjagd lieber die Knöchel.
All dies fällt umso mehr auf, als der Inhalt des neuen Autorenstamms von einer derart schlichten Klischeehaftigkeit ist, dass der 142. Teil von The Fast And The Furious verglichen damit dokumentarisch wirkt. Dabei ist das Thema soziokulturell durchaus bedeutsam. Big Data, Internetkriminalität, das zivilisatorische Dilemma technischer Revolutionen, die der Zivilisation in falscher Hand schnell mal ein Ende bereiten – darum geht es bei der permanenter Hatz auf die richtige Hand (Lukas Franke). Dummerweise ist sie seinem Darsteller und Showrunner herzlich egal.
Denn Matthias Schweighöfer geht es ersichtlich um steile Erregungskurven mit billiger Effekthascherei. Die aber ist so versiert inszeniert, dass die Zugriffszahlen wieder enorm sein werden. Freunde anspruchsvollen Fernsehens ist You Are Wanted daher ein beidfüßiger Vin-Diesel-Tritt aufs Großhirn. Für Fans rasanter Action rauscht die zweite Staffel hingegen direkt in den Magen und macht dort spürbar Laune. Wie gut, dass wir als Zuschauer die Wahl haben.
Politisch mag Deutschland eine vergleichsweise rechtsstaatliche Demokratie sein. Im Sport hingegen ersetzt ein Verein spätestens seit der Wiedervereinigung konsequent die Herrschaft des Rechts durch das Recht der Herrschaft. Und daran ändert gewiss auch ein mieser Tag im Pokalfinale wenig.
Von Jan Freitag
Die Tyrannei, laut Duden ein antiker Begriff für Schreckens-, Gewalt- und Willkürherrschaft, beschreibt vormoderne Zeiten. Mitunter entflammen sie zwar aufs Neue; bei uns aber sind sie seit der Wende passé, politisch. Sportlich indes baute ein Imperium seine Vormacht nach dem Mauerfall zu etwas aus, das der spätere US-Präsident James Madison vor 230 Jahren mit der Ballung von Legislative, Exekutive, Judikative in einer Hand umschrieb, ob erblich, selbsternannt oder gewählt. Deutschland hat also doch einen Tyrannen, der die Herrschaft des Rechts durchs Recht der Herrschaft ersetzt, und nein, Herr Gauland, es ist nicht Frau Merkel.
Es ist der FC Bayern.
Um den Shitstorm vorsorglich im Klärwerk der Besänftigung zu filtern: wir reden hier von Fußball. Und der bewegt zwar die Massen, aber nur selten den Erdball. Hierzulande aber zeigt die Kapitalgesellschaft aus München trotz der gestrigen Pokalfinalniederlage gegen Eintracht Frankfurt, wie schreckensgewaltwillkürlich ihre Herrschaft ist. So allumfassend und absolut nämlich, das die Süddeutsche Zeitung derst kürzlich eine Vizemeisterschale für die 17 Restplatzierten der Ersten Fußballbundesliga vorgeschlagen hat. Und zwar völlig zu recht. Klingt fatalistisch, feige, larmoyant? Einige Zahlen.
Der Marktwert des FCB wächst gen zwei Milliarden Euro, ein Vielfaches kleiner Vereine, deren Etat nicht mal Bayerns Jahresumsatz in der Champions League erreicht. Da Sponsoren wie Audi an der Säbener Straße Anteilseigner sind, ist die Allianz-Arena abbezahlt, der Kader mit 779 Millionen Euro doppelt so teuer wie der des Vize BVB und ein Transfersaldo von minus 84 Millionen schon deshalb egal, weil sich der Verkaufswert jedes Neu-Münchners bei Vertragsunterzeichnung maximiert. Seit es drei Punkte pro Sieg gibt, hat der Platzhirsch 15 von 23 Meisterschaften geholt, allein seit der Ausweidung von Ex-Meister Dortmund mit 100 Punkten Vorsprung. Im Schnitt 17 pro Titel.
Da ist auch der einzige Verein, dessen Etat wenigstens noch die Hälfte der Bayern erreicht, ratlos. Fehler könnten die Dominanz zwar stören, glaubt BVB-Präsident Watzke, „aber das wird nicht passieren“. Zu brutal dominiert Manager Hoeneß den Markt, zu absolut beherrscht Clubchef Rummenigge das Metier, zu mafiös ist ihr Machiavellismus. Plombo o Plata. Mit gezielter Kaderentleerung wie in Gestalt von Hummels, Götze, Lewandowski hält er das Bürgertum gefügig, mit wohlfeilen Benefizkicks den Pöbel. Brot und Spiele.
Wie in der Antike hält sich der FC Söldner, die er anders als im Profisport üblich nicht nur vertikal erwirbt, sondern horizontal. Kurzzeitig konkurrenzfähigen Clubs von Stuttgart (Gómez, Elber, Thiam) über Leverkusen (Ballack, Kovac, Zé Roberto, Lucio) bis Werder (Basler, Klose, Ismael, Herzog, Pizarro, Frings, Borowski) wurden stets Schlüsselspieler abgekauft, sobald die Schlacht im Stellungskrieg feststeckte. Ähnlich der syrakusischen Tyrannis vor fast 3000 Jahren erhält das gekaufte Heer zudem volles Bürgerrecht und wird Teil eines Stamms, den neben Tracht und Riten auch die Treue kennzeichnet. Der letzte Krieger, den der bayerische Tyrann unfreiwillig abgab, war Christian Nerlinger. 1989!
Wie einst die Wittelsbacher Mittelmacht ist Bayern zwar stark genug, Kleinstaaten anzugreifen, aber zu schwach, um es mit Großmächten aufzunehmen. Dass Toni Kroos 2014 zu Real ging, war auf dem einträchtigen Weg zur europäischen Clubliga dennoch die Ausnahme. Krieg den Hütten, Friede den Palästen. Fürs Konto mag das allerdings lukrativ sein. Doch die Spannung, ätzte der Spiegel übers deutsche Einerlei, gleiche zusehends dem Zirkus Maximus: Christen vs. Löwen. Dem Verlierer bleibt da nur, sich vorm Tribun in den Staub zu werfen, also Gelbsperren gegen München abzusitzen und zu hoffen, dass dort kein Interesse am eigenen Personal entsteht. Zu blöd, dass Bayern sich wie attische Tyrannen schon die Jugend gefügig macht und bundesweit schon Kinder scoutet.
Darüber hinaus aber ist die Nachwuchsarbeit in München ebenso wie die Altenpflege vorbildlich. Der aktuelle Primat ist zwar einer exzellenten Arbeit des Managements geschuldet, aber auch haarsträubendem Missmanagement vieler Konkurrenten. Ihrem Wiederaufstieg stehen neue Tyrannen wie RB Leipzig im Wege, die wie in der durchlässigen Magna Graecia das Zeug zur Tyrannis hätten – sofern sie Härte mit Klugheit verbinden. Dass dem FCB einst sein Olympiastadion geschenkt wurde, ist zwar eine Verschwörungstheorie. Doch da den Emporkömmlingen Hoffenheim und Leipzig für ihre Tempel kaum Mehrkosten entstehen, ist ein Aufschließen zumindest denkbar.
Was Finanziers wie Red Bull bislang indes fehlt, ist eine Medienmacht, um die Tyrannis öffentlich zu legitimieren. Lattek, Strunz, Scholl, Kahn, Basler, Matthäus – der FC Bayern hat sein Personal so gut platziert, dass er stets im Gespräch ist. Selbst der irrelevante Beckenbauer-Cup wird übertragen. Es ist schlicht kein Entrinnen vor der Übermacht dieser Tyrannis. Was aber folgt aus dem Recht zum Widerstand, wie sie die UN-Menschenrechtscharta anerkennt? Von Salary Caps und Drafts amerikanischer Profiligen bis zur Hoffnung, der Bayerndusel könnte in Playoffs kurz pausieren, ist alles denkbar, aber unrealistisch. Zumal der erklärte Gegner des 50+1-Modells gegen all dies sein Veto einlegen würde.
So gibt es nur eine Chance, Münchens Titel-Abo aufzukündigen: Boykott. Geht nicht hin, wenn Bayern kommt! Und falls doch, schweigt die Farce tot, nehmt ihr die Atmosphäre! Denn wie PSG in Frankreich ist Bayern für Deutschland das Böse des Fußballs, sein Richter, Henker, Leichenfledderer. Die gestrige Pokalniederlage war da nur der absolute Ausnahmefall einer immerwährenden Machtdemonstration, die der 7. Meisterschaft in Folge gewiss nicht im Wege steht. Dann unterm Trainer Kovac. Den hat München vorm Finale aus Frankfurt geholt. Seither herrschte Zwietracht bei der Eintracht. Die Tyrannen der Antike wären angetan.
Am Freitag sitzt der Guerilla-Reporter Michel Abdollahi zum zweiten Mal auf dem Sofa seiner eigenen Late-Night-Show Der deutsche Michel im NDR und versucht das ausgetretene Metier dabei erneut auf den Kopf zu stellen. Ein Gespräch mit dem persischen Hamburger über vollen Körpereinsatz, Performance-Journalismus, pädagogisches Fernsehen und wie es wirklich war im Nazidorf.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Michel Abdollahi, Sie sind 1986 aus Iran nach Hamburg gezogen. Wie war zwei Jahre später ihr Deutsch?
Michel Abdollahi: Weil ich persisch aufgewachsen bin, noch nicht so doll, aber zum Fernsehen hat’s gereicht.
Haben Sie da eine bildhafte Erinnerung an Gladbeck?
Dieses Geiseldrama, das rund um die Uhr übertragen wurde? Als Zuschauer hab ich das nicht mehr in Erinnerung, aber natürlich später einiges darüber erfahren.
Ein Zweiteiler zum anstehenden 30. Jahrestag hatte gerade das kollektive Versagen der Medien, die sich wie nie zuvor gemein gemacht hatten mit dem Gegenstand ihrer Berichterstattung, zum Thema. Wären Sie als Reporter, der notorisch dorthin geht, wo es wehtut, wie der spätere Bild-Chef Udo Röbel zu den Entführern ins Auto gestiegen?
Grundsätzlich wäre ich lieber derjenige gewesen, der über die Eingestiegenen berichtet hätte. Aber wahrscheinlich hätte ich es gemacht, ja. Allerdings nicht aus Sensationslust, sondern um das Gespräch mit den Entführern zu suchen. Mich hätte interessiert, was die wirklich wollen, was die antreibt.
Und dafür riskieren Sie im Zweifel ihre körperliche Unversehrtheit?
Wenn es sein muss, schon. Bei meiner Reportage Im Nazidorf war das zunächst nicht anders. Ich bin dorthin gegangen, wo es theoretisch wehtun könnte, habe aber schnell das Gespräch gesucht und dabei auch Dinge über mich selbst preisgegeben.
Weil das deeskaliert?
Und wie! Den Ansatz hätte ich auch in Gladbeck verfolgt: kein stures Abfragen, sondern ein Dialog, bei dem alle voneinander lernen. Das ist nicht nur erhellender, sondern auch interessanter. Ich bin kein Ausfragejournalist, eher ein Gesprächsjournalist, und profitiere in Fällen wie meinem Umzug nach Jamel, wo ich 2015 vier Wochen lang Tür an Tür mit Nazis gelebt habe, von der Fallhöhe meiner Herkunft. Dass einer wie ich südländisch aussieht, aber hamburgisch spricht und tickt, überfordert die so sehr, dass kreative Reibung entsteht. Wenn die Vorurteile der Menschen ins Schwimmen geraten, wird es stets spannend.
Reicht für diese Art Konfrontation ihre bloße Präsenz?
Nein, ich muss mich schon schlau machen vorher, sonst endet die Überforderung schnell auch wieder. Zum Glück weiß ich so viel über den Nationalsozialismus und seine Folgen, dass ich auf deren Feld punkten kann. Wenn eine derart gemeinsame Ebene hergestellt ist, kann man die Situation auch mal laufen lassen.
Entwickelt man da als neutraler Journalist nicht eine heikle Nähe zu Nazis, die in Empathie münden und das eigene Urteilsvermögen beeinträchtigen kann?
Ich würde es nicht Nähe oder Empathie nennen, sondern nehme sie einfach ernst und zeige es ihnen auch. Was dazu führt, dass die mich auch ernst nehmen. Wenn ich mit meiner vorgefertigten Meinung dahingehe, um sie bloß abzumelken, kommt nichts rum. Deshalb bin ich während des Gesprächs bereit und willens, meine Ansichten zu hinterfragen. Nur so gelingt es mir manchmal, den Kern des Denkens anderer freizulegen. Natürlich gerate ich dabei niemals in Gefahr, Nazidenken zu übernehmen. Aber womöglich gelingt es mir, eigene Pauschaleinstellungen auf den Prüfstand zu stellen, um gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Haben Sie dabei den pädagogischen Ansatz, ihr extremes Gegenüber zu läutern?
Die Hoffnung schwingt mit, ist aber kein wesentlicher Antrieb meiner Arbeit. Mir ist wichtig, zu verstehen, wie jemand wird, was er ist. Nur was man wirklich begreift, lässt sich sinnvoll beeinflussen. Als ich nach meiner Rückkehr ins Dorf mal mit dessen Chef Sven Krüger gesprochen habe, meinte der ganz überrascht: Mann, du hast ja wirklich Wort gehalten und das Dorf gezeigt, wie es ist, ohne was zu verändern. Das hätte er der liberalen Presse offenbar nie zugetraut. Aber man muss natürlich dazu sagen, dass bei den meisten unserer Gespräche Kameras dabei waren, aber eben nicht immer. Morgens am Gartenzaun haben wir schon auch mal übers Wetter oder Schlaglöcher geredet. Ich wollte ja nicht permanent als Journalist definiert werden, sondern wirklich eintauchen in die Materie, um kurzfristig eins damit zu werden. Das prägt meine Arbeit insgesamt.
Ist das dann der Performance-Künstler im Field-Reporter Michel Abdollahi?
Performance-Kunst mache ich, wenn ich einen überdimensionalen Spülschwamm in die Hafencity stelle und schaue, was damit passiert. Was allerdings immer Teil meiner journalistischen Tätigkeit ist, ist Entertainment. Davon kann und will ich mich nicht lösen.
Zum Beispiel bei Ihrer vielfach zitierten Aktion, sich mit einem Schild „Ich bin Muslim. Was wollen Sie wissen?“ in eine Fußgängerzone zu stellen und abzuwarten.
Ganz genau. Der klassische Ablauf journalistischen Erkenntnisgewinns wurde dahingehend umgedreht, dass nicht ich komme und frage, sondern die Fragen der anderen erwarte.
Wer sich den Film im Netz ansieht, erkennt darin allerdings auch Comedy-Elemente, etwa über die Mimik oder eingespielte Off-Kommentare.
Das nennt man dann wohl Infotainment… Informationen, unterhaltsam verpackt – das ist gerade dann, wenn es fürs Netz gemacht ist, enorm wichtig. Den klassischen Zeit-Leser erreiche ich ja auch in eher nachrichtlicher Form. Für Digital Natives, Teenager oder auch Leute, die von klassischer Wissensvermittlung entwöhnt sind, brauch ich schon ein paar mehr Anreize. Welche das in welcher Dosierung sind, ist auch für mich ein permanenter Lernprozess. Ich selbst schaue gern und viel lineares Fernsehen, habe aber natürlich auch ein Smartphone, auf dem ich permanent herum wische. Nach zehn Jahren Facebook richtig einzuschätzen, was mit modernen Mitteln netzfähig wird, ohne das gute alte journalistische Handwerk zu vergessen, vereint daher zwei Welten, in denen ich mich auch persönlich viel bewege.
Aber selbst für verantwortungsbewusste Journalisten mit Hang zum Entertainment wie Sie entsteht daraus doch die Gefahr…
… nur noch auf schnelle Clicks zu zielen.
Exakt. Die Befürworter des öffentlich-rechtlichen Schweizer Rundfunks haben dessen Erhalt vorm Plebiszit darüber auch damit begründet, dass es eines gebührenfinanzierten Systems braucht, damit Informationen unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Interessen vermittelt werden. Wie schafft man es, im Durchlauferhitzer Internet der Versuchung zu widerstehen, Inhalte durch Oberfläche nicht zu ersetzen?
Sehr schwierig, in der Tat. Das Geheimnis sind aus meiner Sicht gute Leute um einen herum, die genau diesen Mittelweg nicht nur als nötig, sondern fast schon als Mission betrachten. Mit denen könnte ich meine Inhalte ja auch im kommerziellen Umfeld vermitteln.
Nur dass Ihnen der Aufnahmeleiter dort schnell mal ein Logo ins Bild klebt oder negative Aspekte eines Berichts über den wichtigsten Werbepartner untersagt…
Solange ich unabhängig darüber entscheiden dürfte, ob so ein Eingriff das beeinträchtigt, was ich im Beitrag zum Ausdruck bringen will, wäre das okay. Ich sehe das im Zweifel pragmatisch: Wenn mir ein Sponsor ermöglicht, Inhalte zu vermitteln, die mir wichtig sind, bin ich da zu Kompromissen bereit. Es muss einfach nicht per se schlecht sein, wenn etwas mit Hilfe von Werbung sehenswert wird. So halte ich es zum Beispiel auch, falls ich Firmenveranstaltungen moderiere. Natürlich nenne ich das Produkt da auf Wunsch; die haben das Ganze hier ja bezahlt! Wichtig ist aber immer, dass es den Inhalt nicht negativ beeinflusst. Ich nenne daher gern Audi oder lasse dessen Logo ins Bild, lasse mir vom Unternehmen aber nicht verbieten, den Diesel-Skandal zu thematisieren. Diese Art Einflussnahme würde ich nie akzeptieren. Und diese Grenze respektieren meine Auftraggeber. Alle.
Versuchen diese Auftraggeber angesichts Ihrer Bereitschaft zur Konfrontation manchmal, diese Grenze zumindest physisch auszuweiten?
Zum Beispiel?
Mit dem Muslim-Bekenntnis nicht in die Hamburger Fußgängerzone zu gehen, sondern eine Dresdner Pegida-Demo mit all dem aufgestauten Aggressionspotenzial gegen Andersdenkende, Andersseiende.
Nein, nein, die wollen gar nicht andauernd weiter ins nächste Extrem. Und selbst wenn – versuchen dürfen sie alles; am Ende entscheide ich das mit meinem Team allein. Und da mache ich zwar ganz überwiegend Sachen, die mit Schmerzen wirklich gar nichts zu tun haben, war aber auch oft genug auf Nazi-Demos, wo ich oder die Kameraleute ständig links und rechts mit den Ellenbogen eine verpasst kriegen. Das gehört dazu.
Sind Sie diesbezüglich Gefahrensucher?
Überhaupt nicht. Am liebsten würde ich zuhause auf dem Sofa sitzen und in aller Ruhe Texte schreiben. Aber so läuft’s halt nicht.
Weil Sie selbst in Extremsituationen stets höflich und stilvoll bleiben, nennt Sie Ihre Panorama-Kollegin Anja Reschke hochachtungsvoll „Gentleman-Journalist“. Ist das ein Geheimnis Ihrer bisherigen Unversehrtheit?
Zum Teil vielleicht. Die meisten Menschen rechnen einfach nicht mehr damit, dass man ihnen zuhört, sie ausreden lässt, nett ist. Lass die Leute reden. Punkt. Wenn mir jemand sagt, er mag keine Moslems, weise ich ihn ruhig darauf hin, dass ich auch einer bin und fordere ihn unterschwellig dazu auf, mir zu sagen, dass er mich dementsprechend auch nicht mag. Das verunsichert enorm. Wenn sie darüber hinaus noch zur Gewalt aufrufen oder verfassungsfeindliches Zeug quatschen, kann man ja immer noch dazwischen gehen.
Machen Sie das auch?
Ja. Wenn Fakten falsch sind und der Holocaust geleugnet wird, kann ich sehr deutlich werden.
Auch aus der Haut fahren?
Selten. Die wollen in der Regel ja nichts von mir persönlich, ich mache ja nur meinen Job.
Aber macht es Ihr Migrationshintergrund nicht per se zu einer persönlichen Sache, wenn Gesprächspartner rassistisch werden?
Selbst da sehe ich mich allenfalls als Stellvertreter für Nicht-Deutsche. Persönlich nehme ich es eher, wenn jemand meinen Anzug oder mein Aussehen kritisiert. Beides entspringt ja meinem Geschmack oder Genom. Andernfalls neige ich einfach zur Sachlichkeit und korrigiere Unwahrheiten. Was übrigens großen Spaß machen kann. Als mir Sven Krüger im Nazidorf mal selbstgebrannten Schnaps angeboten hat und ich den getrunken hab, war der völlig perplex, weil er dachte, Moslems dürften das nicht. Daraus ist ein Gespräch entstanden, dass die Grenzen von privat und beruflich sehr informativ verwischt hat.
Sind Sie denn privat exakt so wie vor der Kamera?
Natürlich, wie soll ich denn sonst sein?! Ich bin ja nicht Atze Schröder oder Cindy aus Marzahn, also eine Kunstfigur. Ich bin Michel Abdollahi und bleibe es auch dann, wenn ich auf der Bühne stehe oder etwas überspitze. Ich habe überhaupt nichts gegen Künstlichkeit, aber nur aus Authentizität kann Wahrhaftigkeit erwachsen. Gerade wenn man wie ich den Beruf des Journalisten nicht gelernt hat, aber schon ewig auf der Bühne steht.
Würden Sie sich dennoch als Journalist bezeichnen?
Ich würde mich als gar nichts bezeichnen. Conférencier, Performance-Künstler, Journalist – alle Begriffe, die über mich kursieren, stammen von anderen. Wenn ich male, bin ich gerade Maler, wenn ich moderiere, Moderator, wenn ich einen Bericht mache, Journalist. Ich empfinde mich als Auftragnehmer des Publikums.
Aber schlägt das Pendel nicht gerade ein wenig in Richtung Fernsehen aus?
Ein bisschen vielleicht. Mit meinen NDR-Formaten habe ich grad mehr zu tun als mit Poetry-Slams. Und Karfreitag starte ich dort in Fortsetzung meiner Panorama-Show eine Late-Night-Show, die Information wieder mit Unterhaltung verbinden will.
Orientieren Sie sich dabei an den amerikanischen Late-Night-Hosts wie Jimmy Kimmel, Stephen Colbert, John Oliver oder Jimmy Fallon, die von den Networks einen großen Teil der politischen Information übernommen haben?
Absolut. Reine Unterhaltung wäre in diesem Format irrelevant. Unser Ziel ist das klassische Infotainment-Konzept: These, Antithese, Synthese, nur eben humoristisch verpackt. Und da sind die amerikanischen Hosts definitiv gute Vorbilder. Ich mag deren Art, ich mag deren Bildsprache, ich mag deren Gäste, ich mag deren Look, ich mag sogar deren Anzüge.
Wenn Sie nun das Fernsehflaggschiff Late-Night moderieren, könnte man das als Einfallstor zu größeren Aufgaben sehen. Die Süddeutsche Zeitung hat die Verantwortlichen kürzlich explizit dazu aufgefordert, Sie häufiger einzusetzen.
Oh, schön!
Hätte die Forderung Aussicht auf Erfolg?
Na ja, ich weiß was ich kann, aber noch viel besser, was ich nicht kann. Wenn die Verantwortlichen ihre Schablonen rausholen und bei mir anpassen, sage ich das immer sehr deutlich.
Was genau können Sie denn nicht?
Zum Beispiel in dem Sinne lustig zu sein, die Witze anderer zu erzählen. Im Standup-Teil der Late-Night werde ich daher ein komplexes Thema abarbeiten, das mit mir zu tun hat, statt das aktuelle Tagesgeschehen mit One-Linern zu kommentieren. Und anstelle vorgefertigter Pointen, wollen wir lieber die hochgezogene Augenbraue meiner Interviews ausbauen, mit der ich den Blödsinn mancher Gesprächspartner viel besser beantworten kann als mit lauter Empörung. Ich mag einfach keine Texte aufsagen, konnte ich nie, hab ich auch nie. Wenn ich nicht mit mir im Reinen bin, bin ich nicht gut.
Die Bandbreite von Tagesthemen bis Wetten, dass…?, wofür Kritik, Zuschauer, Intendanten virtuell immer frisches Personal suchen, kommt für Sie nicht infrage?
Witzigerweise hat mich der Tagesschau-Chef neulich mal gefragt, ob das nichts für mich wäre. Da bin ich aus allen Wolken gefallen. Ihr wollt mich für die Tagesschau, obwohl ich nicht sauber ablesen kann, dauernd nuschel und das auch noch im breiten Hamburger Slang? Das ehrt mich sehr, aber so was sollen lieber Leute machen, die dafür ausgebildet sind. Und Wetten, dass…?, ehrlich – so sehr ich altes Fernsehen liebe: Das ist definitiv vorbei.
Aber Sie sind schon noch ein linearer Fernsehnutzer?
Absolut, ich bin ein Kind der alten Glotze. Anmachen, hinsetzen, gucken. Ich hab nicht mal einen Netflix-Account, das würde mich vermutlich viel zu sehr ablenken, so suchtanfällig ich in Bezug auf Serien schon gewesen bin. Ich mag es, wenn ein Format nach 45 Minuten vorbei ist und eine Woche später zur gleichen Zeit weitergeht. Mochte ich schon immer.
Es glich einer Kulturrevolution: 2017 durfte Netflix gleich zwei Filme nach Cannes schicken. Dem Fernsehkonsumvieh war‘s zwar herzlich egal. Mancher Purist aber zeigte sich entsetzt über die cineastische Adelung des profanen Streamingdienstes. Zumal der Flatscreen für The Meyerowitz-Stories eigentlich viel zu schade ist. Und 2018? Aus Ärger über die Verpflichtung, dass jeder Wettbewerbsfilm vor der TV-Auswertung sichtbar im Kino laufen müsse, hat Netflix-Chef Reed Hastings all seine Kandidaten zurückgezogen. Selbst im Nebenprogramm wollte er nichts laufen lassen.
So!
Puristen dürfte das jedoch so gleichgültig sein wie dem Fernsehkonsumvieh. Während sich erstere im Wohnzimmer höchstens dafür interessieren, dass die famose NDR-Journalistin Anja Reschke für ihren fundierten Meinungsjournalismus mit dem Hans-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt wird und dem ARD-Reporter Hajo Seppelt die Einreise zur Fußball-WM in Russland verweigert wurde, sind letztere aber ohnehin nicht so wahnsinnig scharf auf Streaming-Filme. Ihnen geht es um Serien wie die erste dänische Eigenproduktion The Rain, mit der Netflix zurzeit auch außerhalb Europas für Furore sorgt. Was gleichwohl nicht heißt, dass jede Serie derlei Furore auch verdient.
Nehmen wir zum Beispiel Striker Force 7. In der mangaesken Actionreihe des indischen Animationsstudios Graphic India rettet ein supercooler, superstarker, supernetter, supersexy Superheld demnächst die Welt und erinnert dabei superseltsamerweise an den Superstar Cristiano Ronaldo. Was auch damit zu tun haben könnte, dass der Fußballer die Selbstbeweihräucherung koproduziert hat. „Zu den Dingen, die ich in meiner Freizeit gerne mache“, erklärte CR7 bei der Vorstellung des Facebook-Projekts in Los Angeles, gehöre halt auch, „gutes Fernsehen zu schauen“. Na, wenn er damit Serien wie diese gemeint hat, möchte man die anderen doch besser nicht kennenlernen.
Die Frischwoche
14. – 20. Mai
Schwer zu glauben jedenfalls, dass ein Narzisst derart schlichten Gemüts gut vom britischen Krimivierteiler In the Dark unterhalten wird, den das ZDF ab heute um 23.20 Uhr in Doppelfolgen zeigt. Die schwangere Polizistin Helen (MyAnna Buring) steckt darin nicht nur zwischen zwei Männern, sondern auch zwei Fällen fest, was sehr eindringlich, aber nicht sonderlich aufregend inszeniert ist. Auch die BBC-Serie Strike – ab Donnerstag bei Sky – von der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling mit Tom Burke als kriegsversehrter, verbitterter, aber nicht fatalistischer Privatdetektiv in London ist mangels Glamour wohl nichts für den Sportmilliardär. Ja selbst mit der Mockumentary Der 90-Minuten-Krieg könnte er kaum was anfangen – obwohl es darin sogar um Fußball geht. Wenngleich ohne, dass der Ball rollt.
Die deutsch-israelische Koproduktion fabuliert heute kurz nach Mitternacht im ZDF, den Nahostkonflikt spielerisch auszutragen. Israel vs. Palästina, elf gegen elf, der Sieger kriegt das ganze Land. Klingt irre? Ist es auch! Und dabei extrem unterhaltsam, aber für CR7 womöglich ein bisschen verstiegen. Ein Typ wie Falk dürfte ihm da schon mehr behagen. Falk ist ein Exzentriker, der seine arrogante Selbstverliebtheit im Gerichtssaal auslebt. Und weil diesem Anwalt ein „unkonventionell“ vorangestellt wird, weiß man sofort: er ist es heute zur Primetime im Ersten, wo man derlei Knallchargen noch immer für so ulkig hält, dass sie selbst der aufopferungsvolle Fritz Karl nicht vorm Stahlbad bräsiger Klischee rettet.
Besser ließe sich kaum zu dem TV-Ereignis der Woche überleiten: Die Hochzeit von Harry & Megan. Das ZDF überträgt sie am Samstag von elf Uhr an vier Stunden lang. Was aber noch gar nichts gegen RTL ist. Dort folgen auf die Zeremonie noch Herzchen-Dokus und Schmalz-Reportagen bis – kein Scherz – 3.25 Uhr. Die ARD belässt es dabei, tags drauf um 19.15 Uhr ein Porträt ihres Adels-Beauftragten Rolf Seelmann-Eggebert zu zeigen. Wiedersehen mit Kenia entführt den Mittachtziger nach einem Korrespondentendasein in Dutzenden von Ländern an seine Wurzeln als Reporter – und das ist wirklich, wirklich sehenswert.
Wie auch, unter völlig anderen Vorzeichen, die 37°-Reportage K.o.-getropft, in der morgen um 22.15 Uhr drei Frauen (nach einem Porträt des englischen Brautpaars, versteht sich), von ihrem Filmriss erzählen. Bedrückend. Berückend ist dagegen genau 24 Stunden zuvor an gleicher Stelle die US-Komödie How to Be Single, eine Art Sex and the City ohne Konsumgeilheit, aber mit Dakota Johnson. Und auch die Wiederholungen der Woche enthalten Filme, die den Mainstream auf kreative Art unterlaufen. Heute um 20.15 Uhr zeigt One The Wrestler, der Mickey Rourke vor zehn Jahren zwar nicht den Oscar, aber enorm viel Respekt eingebracht hat. Und exakt einen Tag später belegt Alexander Paynes Weinliebhaberkomödie Sideways auf Servus, dass Kino zu jener Zeit auch ohne Superhelden und Raumschiffe massentauglich war.
Fehlt noch ein Schwarzweiß-Tipp: Richard Burton als Anti-Bond im Agenten-Thriller Der Spion, der aus der Kälte kam von 1965 (Freitag, 22.15 Uhr, 3sat). Der Alt-Tatort huldigt am gleichen Tag einem Ermittler, dem gewiss auch Cristiano Ronaldo viel abgewinnen könnte: Nick Bam Tschiller Bäng. In Der große Schmerz (Freitag, 20.15 Uhr, ARD) gab’s 2015 für die halbe Hamburger Unterwelt aufs Maul, während Schweigers Alabasterkörper glänzte. Till und Ron – Brüder im Geiste.
Singer/Songwriter, machen wir uns nichts vor, gibt es wie Sülze im Formatradio, und den meisten davon ist ein gewisser Hang zur Meldodramatik mehr zu eigen als ein breites Spektrum abwechslungsreicher Gitarrenriffs. Auch Sean Christopher hat es gern leicht pathetisch im Gesangston. Seine Vocals sind meist getragen, die Melodien schleppen sich vorwiegend im gedämpften Moll durchs Dickicht verletzter Gefühle, alles in allem ist Yonder also kein Debütalbum für die gehobene Feierlaune am sonnigen Frühlingstag. Was aber macht es dann so berückend?
Es ist ein verstiegener Flamenco-Sound, den sein fein kalibriertes Picking gelegentlich in den Regenhimmel seines Herzens schickt. Es sind kakophonische Unwetter, die stille Stücke wie Asphalt schon mal lautstark aufmischen. Hinzu kommt eine Vielzahl kleiner Fluchten vom Alltag eines Pop-Poeten aus dem britischen Bristol, dessen zerkratzer Gesang schon mal – wie in Cherokee – neugierig unterm Ethno indianischer Ureinwohner wühlt oder wuchtigen Indierock ausprobiert. Und das ist allemal ergreifender als manch hyperharmonische Selbstspiegelung seiner Singer/Songwriter-Kollegen.
Sean Christopher – Yonder (Dumont Dumont)
Julien Doré
Die Wege des Ruhms sind oft unergründlich. Julien Doré zum Beispiel hat es als Castingshowgewächs daheim in Frankreich nicht nur zum Superstar geschafft, sondern dabei auch noch ein musikalisches Werk weit jenseits des handelsüblichen Dance-Pop kreiert. Dem Chanson näher als jeder Art von Massengeschmack, ist er im frankophilen Deutschland aber dennoch völlig unbekannt. Merkwürdig. Und nachvollziehbar. Seine ersten vier Platten sind schließlich hierzulande bislang noch gar nicht erschienen. Das allerdings ändert sich nun.
Album fünf erscheint nämlich erstmals auch bei uns und ist passenderweise eine Art Best-of von Julien Dorés bisherigem Werk, das sein Schaffen gut zum Ausdruck bringt. Denn Vous & Moi enthält zwölf hauchfeine, zugleich aber kraftvolle Balladen, bei denen sich der Sänger meist nur von Klavier und Gitarre begleiten lässt. Dem Achtziger-Hit Africa von Rose Laurens etwa entlockt sein hauch-rauer Gesang eine Intimität, bei der man den Staub im Raum herumfliegen hört. Doch auch die zehn Eigenkompositionen zeigen aufs Neue, wie kultiviert Frankreichs Pop oft selbst dann klingt, wenn er den Mainstream bewegt.
Julien Doré – Vous & Moi (Sony)
Arctic Monkeys
Der Ruf nach radikaler Erneuerung ist die wohl größte Bigotterie des Pop. Weder Gäste noch Käufer wollen von einer Band ja etwas anderes als das Bekannte hören. Die Arctic Monkeys waren daher gut beraten, sich auf den Nachfolgern ihres epochalen Debüts kaum zu wandeln oder wie es im PR-Deutsch heißt: erwachsen zu werden. Ihr sechstes Album jedoch offenbart einen Sinneswandel, der auch damit zu tun haben dürfte, dass es von Alex Turner produziert wurde. Nicht nur atmosphärisch erinnert Tranquility Base Hotel & Casino nämlich an dessen Last Shadow Puppets.
Mit großer Eleganz, aber gedrosseltem Tempo reist die Platte zurück in den Cool der frühen Sechziger, als es beim Paartanz noch viel um Anmut im Anzug ging. Selbst den diskoesken Bombast des Vorgängers AM hat der Sänger seiner alten Band zugunsten eines Vintage-Appeals ausgetrieben, der Frank Sinatra näher ist als fünf Jahre zuvor Franz Ferdinand. Ab und an zersägen hochgestimmte, grobverzerrte Gitarren zwar noch die Aura des Cocktailbar. Darüber hinaus aber wird in Tranquility Base Hotel & Casino nicht nur das Outfit der Ex-Garagenrocker aufgebügelt, sondern auch ihr Sound. Lässig, kreativ und energisch ist er noch immer, mitreißend nur selten.
Arctic Monkeys – Tranquility Base Hotel & Casino (Domino)
Hype der Woche
Kontra K
Nein, als vernunftbegabter, feministischer, homophobophober HipHop-Fan wird man nie ganz seinen Frieden machen mit Gangster-Rappern – selbst wenn sie wie Kontra K spürbar die Kurve Richtung Zivilgesellschaft genommen haben. Der dreiviertelkörpertätowierte, vierfüntelkörpergepumpte Berliner hat einfach zu testosterongesättigt gegen Frauen, Schwule und friedliche Konfliktlösungen gereimt, um ihm den Wandel zum Kritiker der eigenen Vergangenheit komplett abzunehmen. Dummerweise aber zählt sein Style zum Besten, was das Genre im Ghetto der Gewalt zu bieten hat. “Ich trag ein dickes Fell unterm letzten Hemd” sind Lines von fast einschüchterner Wahrhaftigkeit. Und falls auf seiner siebten Platte Erde & Knochen (BMG) doch mal das Profilneurosenvokabular von “Fotze” über “Hurensohn” bis “Schlampe” fällt, dann überlässt er das mittlerweile seinen Features wie Fatal, Gzuz, SSIO. Tolles Album. Trotz allem.
Ach, Jan Böhmermann: Weil sich dein Neo Magazin Royal gerade mit der Guerilla-Aktion Reconquista Internet das Netz von den Trollen, Hatern, Vollidioten zurückholt, ist die Welt zwar noch immer kein besserer Planet als zuvor. Wenn unerschrockene Entertainer wie du allerdings E und U, also Spaß und Politik so verbinden, dass all die Schlafmützen vorm Bildschirm kurz mal aufwachen und vielleicht sogar ihren Arsch aus dem Sessel kriegen, ist der Weg dahin zumindest humorvoll geebnet.
Und damit ist explizit nicht das aberwitzige Arschhochkriegen in Takeshi’s Castle gemeint. Gut 40 Jahre, nachdem sich erstmals ein Rudel schmerzbefreiter Kandidaten auf die japanische Sperrholzburg gestürzt hat, holt Comedy Central das analoge Jump’n’Run-Spiel seit Samstag aus der Mottenkiste des Trashfernsehens und schickt – kommentiert von Oliver Kalkofe – 100 thailändische Kandidaten auf den Parcours der Peinlichkeiten. Das ist in seiner Sinnlosigkeit fast schon wieder lustig, lenkt aber nicht ab von den ernsten Dingen der Medienlandschaft.
Die Freistellung von Gebard Henkes zum Beispiel. Dem hochgeachteten Filmchef des WDR wird sexuelle Belästigung vorgeworfen. Es gab zwar rasch weibliche Solidaritätsadressen an den erfolgreichen Tatort-Koordinator. Die leidvolle Erfahrung mit der diskreditierten Männermedienmachtelite lässt gepaart mit belastenden Aussagen von Charlotte Roche und Nina Petri aber erneut das Schlimmste befürchten. Eher ethisch missbraucht mussten sich 2017 indes die Fans von Max Giesinger fühlen, als – schon wieder – Jan Böhmermann aufdeckte, wie der Pop-Poet sein Publikum verachtet. Doch was ihn moralisch komplett diskreditiert haben sollte, dient dem NDR als Anlass, Giesinger in die ESC-Jury zu berufen.
Die Frischwoche
7. – 13. Mai
Wenn das Erste am Samstag also den Songcontest aus Lissabon mitsamt der – hoffentlich wie immer verregneten – Party von Hamburgs Reeperbahn überträgt, entscheidet ausgerechnet dieser verlogene Schlagerschleimer darüber, welcher Popsulz douze points aus Allemagne kriegt. Da kann man eigentlich nur noch empfehlen, zeitgleich auf 3sat das Zweipersonenstück Die Odyssee vom benachbarten Thalia-Theater zu sehen. Aber gut, macht natürlich fast niemand. Was die Leute wieder massenhaft tun, ist ab morgen Weissensee einzuschalten. Die Saga einer Familie voller Stasi-Opfer und -Täter geht bis Donnerstag in die 4. Staffel. Das ist auch nach dem Mauerfall zwar zusehends öde und berechenbar, aber immer noch sehr versiert inszeniert. Weshalb die Kupfers wohl auch noch die Besiedlung des Mars im 23. Jahrhundert in der ARD erleben werden.
Die parallel gezeigten Filmkonstrukte der Privatkonkurrenz werden da natürlich längst vergessen sein. Aber vergeben? Auf RTL startet um 20.15 Uhr die nächste Heimserie. In Lifelines schlägt sich der Ex-Militärarzt Alex Rohde (Jan Hartmann) zehn Teile lang durch den Alltag einer zivilen Klinik, was sendertypisch vor allem Gelegenheit zu kernig verpackter Gefühlsduselei liefert – und dem Staatsfeind auf Sat1 damit nicht nur atmosphärisch ähnelt. Dort gerät Henning Baum als empathischer Bulle in ein staatlich gelenktes Komplott, was dem Stammpublikum ein paar Verschwörungstheorien in den Fressnapf wirft, ansonsten aber höchstens als Echtzeit-Kompost dient.
Das hat der Film mit der US-Groteske The Interview gemeinsam, die RTL am Donnerstag um 23.45 Uhr erstausstrahlt. Inhaltlich ist das fiktive Treffen zweier Journalisten mit Kim Jong-un kaum der Rede wert. Doch weil es Nordkorea mit einer Reihe realer Cyberattacken verhindern wollte, bekam das harmlose Werk vor vier Jahren globales Gewicht. Dann also doch lieber bewusst irreale Grotesken. Auf Sky spielt der Comedian Bill Hader ab heute nach eigenem Drehbuch unter eigener Regie den Auftragskiller Barry, der sich bei einem Einsatz in Hollywood entschließt Schauspieler zu werden – was sehr unterhaltsam mit seinem alten Beruf kollidiert. Vor den Wiederholungen der Woche aber noch zwei Doku-Tipps: Heute (23.30 Uhr) beleuchtet das Erste Israel, Geburt eines Staates, was nicht nur im Licht des neuen alten Antisemitismus sehenswert ist. Und drei Stunden zuvor zeigt der rustikale Presenter von Wilmsdorff in der gefühlvollen Krebs-Reportage Jenke macht Mut! am Beispiel seiner eigenen Familie, dass auch privates Sachfernsehen zuweilen ohne Pathos auskommt.
Jetzt aber zur Gebrauchtware wie dem Auftakt der SciFi-Trilogie Matrix, mit der die Brüder Wachowski vor 19 Jahren vor allem in technischer Hinsicht Filmgeschichte schrieben (Montag, 20.5 Uhr, Kabel1). Nicht ganz so richtungsweisend, aber fünffach oscarprämiert ist tags drauf (20.15 Uhr, Nitro) Martin Scorceses grandioses Porträt des Flug- und Filmpioniers Howard Hughes von 2004 mit Leonardo DiCaprio in der Titelrolle als Aviator. Am Freitag ab 23.10 Uhr wiederholt RTL2 den Start der Zombie-Serie The Walking Dead von 2010. Und den NDR-Tatort namens Dunkle Zeit (Dienstag, 22 Uhr) mit Anja Kling als Politikerin im rechten Fadenkreuz empfehlen wir hier auch deshalb, weil man Kling beim Zappen zugleich im MDR-Polizeiruf Zerstörte Hoffnung als 27 Jahre jüngere Punkerin sehen kann.
1978 wurde der israelische Nachwuchsschauspieler Yftach Katzur mit einem Schlag weltberühmt. Genau 40 Jahre nach dem ersten Teil der Filmreihe Eis am Stiel empfindet er seine Hauptrolle als Teenager Benni zwar eher als Segen. Für viele Kollegen jedoch haben sich die acht Sex-Klamotten jedoch als Fluch erwiesen – wovon Eric Friedlers grandiose Dokumentation “Eskimo Limon” im Ersten erzählt, die noch bis Sonntag in der Mediathek abrufbar ist.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Yftach Katzur, als Eric Friedler Sie angerufen hat, um genau 40 Jahre nach Eis am Stiel eine Doku über die Filmreihe zu machen – was war Ihre Reaktion: Oh Gott, bitte nicht?
Yftach Katzur: Nein, nein, nein. Meine Reaktion war sofort: Ja! Die Reihe hat so viele Leben so vieler Menschen so vielfältig beeinflusst, dass ich eigentlich immer auf einen Dokumentarfilmer wie Eric gehofft habe, der das Kapitel aus öffentlich-rechtlicher, nicht kommerzieller Perspektive beendet. Nach so langer Zeit brauchte Eskimo Limon, Eis am Stiel, Lemon Popsicle – wie immer Sie es nennen – einfach einen Abschluss.
Wenn man Ihr feines Lächeln sieht, das Sie die meiste Zeit des Films zeigen, scheinen Sie allerdings vollauf mit sich im Reinen zu sein.
Absolut. Meine Reise mit Eric zu den Ursprüngen dieser Reihe war ja auch eine zu den Wurzeln meines Berufs und mehr noch meiner Persönlichkeit. Sie müssen bedenken: Kurz bevor mich der Regisseur Boaz Davidson zum Star einer weltweit erfolgreichen Filmreihe machte, hatte ich in Peter Shaffers Theaterstück Equus erstmals in meinem Leben auf der Bühne gestanden – der größten im Land. Ich war damals gerade 18 Jahre alt geworden und überwältigt von allem. Zumal mir überhaupt nicht bewusst war, ein Schauspieler zu sein.
Danach schon?
Ja, und zwar für 15 Jahre, in denen ich neben Eis am Stiel auch Shakespeare gespielt habe. Aber mit jedem weiteren Film der Reihe, die ich schon damals überaus kritisch gesehen habe, fragte ich mich mehr, ob das dem entspricht, was ich will. Ich kannte die Welt damals so wenig, wie die Welt Israel kannte. Und plötzlich stand ich im Rampenlicht des internationalen Films, auf der Berlinale, in Hollywood. Für diesen Rummel fehlte mir damals jedes Rüstzeug.
Wie haben Sie es erlangt?
Durch mich selbst, ganz allein. Ich hatte keine Hilfe dabei, in mich hinein zu hören. Deshalb blieb mir gar nichts anderes übrig, als die Sache laufen zu lassen und die Welt kennenzulernen. Es war ein jahrelanger Selbstversuch. Als ich diese Zeit mit Eric nochmals erleben durfte, konnte ich endlich von außen darauf blicken und sah die Dinge fortan klarer. Deshalb das Lächeln während der Dreharbeiten. Ich war wie erleuchtet. Natürlich habe ich auch zuvor im Leben dauernd die Zeit von damals reflektiert, aber der Film war wie der Schlussakt im Theaterstück meines bisherigen Lebens. Mit Eric und mir als Regisseure.
Haben Sie jemals bereut, Eis am Stiel gemacht zu haben?
Ja und nein. Einerseits fühlte ich mich unwohl mit den Botschaften der Filme, die nach dem ersten Teil folgten. Ich habe mich geschämt, weil die Filme einfach sexistisch waren und eine verzerrte Realität der Beziehungen zwischen Männern und Frauen zeigten. Andrerseits war die Filmarbeit die Entdeckung einer neuen Welt für mich, für dich dankbar bin. Also kann ich nicht hundertprozentig sagen, dass ich es bereue.
Einige Ihrer Kollegen schon wie Zachi Noy, der im Film deutlich beklagt, dass er bis heute als „dicker Johnny“ über die Dörfer tingelt.
Mag sein. Mir hat die Reihe ein Geschenk gemacht, nämlich die Möglichkeit, ein Star zu sein. Das ist ein echtes Privileg. Fragen Sie mal junge Menschen, was sie sich vom Leben erhoffen. Da werden einige antworten, berühmt sein zu wollen. Ich war es und hab dadurch Orte gesehen, Leute getroffen, Erfahrungen gemacht, die mir sonst verborgen geblieben wären. Nun, da ich erwachsen bin, würde ich die Erkenntnisse dieser Zeit gerne als Schauspieler anwenden. Aber das Kapitel ist geschlossen. Ich bin jetzt Unternehmer und sehr glücklich damit.
Welche Art Unternehmer?
Zurzeit baue ich eine Immobilienfirma namens Feijoya auf, benannt nach einer sehr speziellen Frucht. Unser Startup entwickelt Methoden, um Häuser zu kaufen und zu verkaufen. Zunächst in Israel, wir würden aber gern auch nach Europa expandieren. Außerdem kreiere ich Business-Strategien.
Mit Schauspielerei hat das wenig zu tun oder?
Na ja, ich nenne es die Kunst des Geschäftemachens, es ist ein kreativer Prozess.
Vermissen Sie das echte Schauspiel da nicht umso mehr?
Jetzt, wo die Dokumentation fertig ist, tue ich das in der Tat. Andererseits mochte ich am Beruf des Schauspielers noch nie, wie sehr er einen zur Passivität verdammt. Man wartet ständig darauf, Teil der Vision eines anderen zu sein. Das ist okay, reicht mir aber nicht mehr. Ich bin jetzt der Regisseur meines eigenen Lebens.
Heißt das, Sie werden nie mehr vor die Kamera treten?
Wenn mir jemand die Möglichkeit gibt, meine Fähigkeiten selbstbewusst einzubringen, würde ich es mit Freuden wieder tun.
Und wenn jemand käme, um den neunten Teil von Eis am Stiel zu drehen, als Sequel 30 Jahre später?
Das kommt darauf an. Es gab immer wieder Gespräche über eine Fortsetzung, aber das hängt von der Geschichte ab, von den Darstellern, vom Konzept. Die Story mit Erwachsenen neu zu denken, könnte durchaus seinen Reiz haben, ich bin da offen für vieles. Aber bislang kam da wenig Konkretes, was dem Alten etwas Neues abgewinnen würde.
Inwiefern hat Jesse, pardon: Yftach von Benni profitiert…
Interessant, dass Sie mich noch als Jesse kennen. Der deutsche Produzent Sam Weinberg fand Yftach seinerzeit offenbar zu sperrig für die Filmplakate, deshalb hat er meinen Namen geändert. Einfach so. Ohne mich zu fragen! Das irritiert mich bis heute.
Wie viel von Benni steckt also in Yftach und umgekehrt?
Viel. Ich habe meinen Preis dafür bezahlt; zum Beispiel, dass viele Menschen mich zu kennen glauben, ohne die geringste Ahnung von mir zu haben. Auch im Geschäft muss ich andauernd über Eis am Stiel reden. Aber sofern ich nicht danach bewertet werde, ist das okay. Denn andererseits habe ich ja sehr profitiert von Benni. Er öffnet mir bis heute Türen, ich muss nur hindurchgehen. Benni hat mir die Chance zu Abenteuern gegeben, die ich ohne ihn nie erlebt hätte. Wichtig ist jedoch, dass er nicht an mir klebt, ich werde durch ihn nicht definiert. Anders als bei ein paar Kollegen wurde er nicht zur Identität, sondern blieb stets nur Teil davon. Zum Glück. Es ist ungeheuer traurig, wenn deine Persönlichkeit von einer einzigen Rolle definiert wird, die auch noch 40 Jahre zurückliegt.
Davon können weit berühmtere Darsteller ein Lied singen. Fragen Sie mal Darsteller von Star Wars…
Ganz genau. Ruhm, Aufmerksamkeit, Publikumsliebe macht abhängig, wer ihn einmal probiert hat, kommt schnell nicht mehr davon los. Zum Glück war mir das schon früh bewusst. Auch deshalb bin ich heute ein glücklicher Mensch mit zwei tollen Kindern und einem Beruf, den ich liebe. Auch das bringt mein Lächeln in Erics Film zum Ausdruck.
Der schönste Schmerz, so sagt man, ist doch das Fernweh. Bedarf es dafür heutzutage allerdings den Duft der richtig weiten Welt, Umrundung Neuseelands mit dem Kajak aufwärts etwa, so reichten früher bereits kleinste Trigger, ums sich in Reisestimmung zu versetzen. Ein Postkartengruß aus den Bergen zum Beispiel, der Italiener ums Eck und natürlich alles, was irgendwie nach Karibik klang. So gesehen schickt Max Clarke sein Publikum in eine sehr antiquierte Ferienregion, wenn er sein Debütalbum mit einer hawaiianischen Slack-Key Gitarre eröffnet und auch danach den Eindruck erweckt, Hollow Ground sei nicht erst kürzlich im Studio entstanden, sondern am kalifornischen Strand der frühen Sechziger.
Wirkt nostalgisch? Ist es auch! Aber nicht nur. Unterm Künstlernamen Cut Worms mischt sich der Singer/Songwriter fröhlich unter ein paar seiner Urahnen von den Beach Boys bis zu den Everly Brothers und macht mit ihnen eine hinreißend verschrobene Session voll träumerischer Westcoastfolksongs. Zehn Stück sind es, die mal countryesk klingen, mal poppig und auf gemütliche Art vergessen lassen, dass der Mann mit der Schmunzelstimme dahinter aus dem chaotischen Brooklyn stammt. Unter den 5527 Platten, die bislang als das Album des Frühlings angekündigt wurden, ist dieses hier, sagen wir: Nr. 4. Unbedingt miterblühen!
Cut Worms – Hollow Ground (Jagjaguwar)
Trampled By Turtles
Und um die Großstadt jetzt mal richtig zu verlassen, also nicht nur geografisch, sondern atmosphärisch, reisen wir kurz mal akustisch ins staubig ländliche Minnesota und besuchen dort ein Sextett namens Trampled By Turtles. In den USA ein gar nicht mal so junger Geheimtipp der independenten Country-Szene, mischt das Sextett auch auf dem neuen Album Life is Good on the Open Road wieder Western-Traditionals mit Elementen aus Folk, Punk und Bluegras, was zwar bisweilen leicht sülzig klingt – Volksmusik halt. Schon im ersten Stück aber entfesselt die Band in Kelly’s Bar eine Art musikalische Kneipenschlägerei, die sich lustig vom Mainstream löst.
Entfesselt peitscht die Fiddel da durch den virtuellen Saloon, als sei sie eine Metal-Gitarre. 3:33 Minuten lang geben Dave Simonett, Erik Berry, Ryan Young, Dave Carroll, Tim Saxhaug und Eamonn McLain mit dem klassischen Landei-Equipment Gas, bis die Banjos glühen. Und selbst wenn es im Anschluss wieder ein bisschen ruhiger wird, befindet sich besonders Simonetts Gesang stets unter Strom, ohne zu überdrehen. Für Country-Puristen ist das womöglich Teufelszeug, für Country-Verächter sowieso. Wer sich allerdings mal für ein paar Takte in die alternativen Abseiten des Genres verirren will – hier ist der Wegweiser.
Trampled By Turtles – Life is Good on the Open (Banjodad)