Nein, sie hat nicht „Digger“ gesagt. Auch „Yo, Motherfucker“ stand nicht auf Angela Merkels Spickzettel. Und die Basecap saß einzig auf dem Kopf ihres Gegenübers schief, weil die Bundeskanzlerin beim Youtube-Interview mit LeFloid keine trug. Puh, hätte voll in die Hose gehen können für den versierten Diskursprofi im selbstgewählten Gespräch mit dem hitzigen Videoblogger, der seine Tonlage von krass auf konziliant regelte und die Fragen seiner schulpflichtigen Fans mit Begriffen wie „Wortklauberei“ oder „schlussendlich“ vortrug.
Da trafen sehr verschiedene Welten also auf Augenhöhe aufeinander – wenngleich der junge Netzwerker etwas oft vorm Machtzentrum Merkel dienerte, das indes schon den Stolz ganz anderer Kaliber gefressen hat wie der Wolf das Lamm. Ungewohnt stammelnd, aber erstaunlich souverän (LeFloid) vs. gewohnt souverän, aber erstaunlich entspannt (LaMerkel), hat das seltsamste Gesprächspaar des Mediensommers somit doch keine Revolution angezettelt, sondern einfach mal den Kontakt gesucht – und in gewisser Weise sogar gefunden.
Ein Kontakt, den Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf auf sensationell selbstsichere Art verweiger. Als die zwei gereiften Nachwuchskräfte des Regelprogramms in einem furiosen Video die deutsche Arroganz gegenüber Griechenland anhand populistischer Schlagzeilen von Bild und ähnlich vulgären Kampfblättern der Biedermeierrechten bloßstellte, wollte sie SPD-Chef Sigmar Gabriel sofort ins Vizekanzleramt einladen – und erntete eine krachende Absage. Sie belegt schmerzhaft, wie wenig die alte Politik trotz Instagram-Profilen und Staatssekretären für neue Medien noch immer von eben denen versteht.
Die Frischwoche
20. – 26. Juli
Wie wenig sie selbst vom eigenen Biotop versteht, legt die preisgekrönte Doku Willkommen auf Deutsch nahe. Carsten Rau und Hauke Wendler müssen Dienstag (22.45 Uhr) im Ersten zu keiner Zeit kommentierend eingreifen, um das Versagen der Politik samt Alltagsrassismus der deutschen Mitte zu entlarven, die sich im Hamburger Speckgürtel gegen eine Handvoll Flüchtlinge wehrt, als gehe es um biblische Plagen.
Um ähnlich heißes Eisen geht es tags drauf zur Primetime bei 3sat. Die beklemmende Reportage Tödliche Odyssee durch die Schweiz zeichnet den Leidensweg eines schwangeren Flüchtling aus Syrien nach, den die Untätigkeit (oder der Vorsatz?) ignoranter Behörden das Baby gekostet hat – was im Anschluss klug in den Kontext ortsüblicher Xenophobie gestellt wird, wenn Gegen das Fremde den Versuch der Schweizerischen Volkspartei skiziiert, aus dem Alpenidyll eine Rassegemeinschaft zu formen.
Auf besseren Programmplätzen sind solche Themen gut fürs Renommee, aber schlecht für die Quote – also bestens geeignet für Dunja Hayali. Um dies zu belegen, kriegt die sympathischste Moderatorin mit Niveau im Öffentlich-Rechtlichen abseits vom Frühstücksfernsehen ein Format namens ZDFdonnerstalk, mit dem die türkischstämmige, hinreißende, lesbische Top-Journalistin um 22.15 Uhr viermal Maybrit Illners Sommerpause füllt. Gefolgt wird dieses Labor von der neuen Staffel Kessler, ist…. Zu Beginn schlüpft der Verwandlungskünstler in, nein: er wird förmlich Horst Lichter, in dieser Perle ernster Unterhaltung im Zweiten. Dort also, wo Lars Reichelt zwei Tage zuvor zeitgleich zeigen darf, warum der SWR zu klein geworden ist für den Schwäbischen Allround-Entertainer mit klavierbegleitet großer Klappe.
Aber auch fiktional gibt es was zu sehen im premierenarmen Sommer. Donnerstag um 20.15 Uhr etwa Kiyoshi Kurosawas in aller Stille mitreißendes Drama Sühne. Es behandelt den Mord an einem japanischen Kind nicht als Kriminalfall, sondern Sozialstudie jener vier Mitschülerinnen, die den Täter nicht identifizieren konnten und daran zu zerbrechen drohen – bis eine von ihnen 15 Jahren später seine Stimme im Radio hört. Weniger drastisch, aber ungemein sehenswert ist der Dreiteiler Halb so alt wie sie, mit dem Arte Freitag (ab 20.15 Uhr) beweist, dass man die Liebe einer reifen Hochzeitsplanerin zu einem jungen Studenten auch schmalzfrei erzählen kann – sofern es nicht in Deutschland geschieh.
In Schweden entstanden sind die Wiederholungen der Woche wie Ingmar Bergmans berühmtes Sittengemälde des Fin de Siècle Fanny und Alexander von 1982 (Montag, 20.15 Uhr) auf Arte, das im Anschluss das schwarzweiße Frühwerk des Regisseurs Wilde Erdbeeren (1957) um einen alten Professor zeigt, der all die verpassten Chancen seines Lebens resümiert. Bliebe noch ein Doku-Tipp: Der wirkliche Amerikaner, Lutz Hachmeisters Porträt des Kommunistenjägers Joe McCarthy (Dienstag, 0.00 Uhr ZDF), das sich die Spielszenen schön hätte sparen können, aber doch ungeheuer bedeutsam ist.
Petra Schmidt-Schaller ist der Sonnenschein des deutschen Films. Dabei zeigt sie nicht bloß (allerdings nur noch eine Weile) im Hamburger Tatort (Sonntag, 20.15 Uhr), dass die Schauspielertochter aus Magdeburg auch ganz anders kann.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Petra Schmidt-Schaller, Sie spielen Tatort und Komödien, Drama und Kitsch – gibt es einen Roter Faden Ihrer Karriere?
Petra Schmidt-Schaller: Nee, was ich mache ist Drehbuch- und mietabhängig. Bei meinem ersten Sonntagsfilm Sommer auf Long Island dachten wir alle gutgläubig, das System von innen zu zersetzen. Hat nicht geklappt; so einen Kitschfilm hakt man danach ab. Aber während des Drehs kämpfe ich selbst in solchen Stoffen um eine gewisse Unmittelbarkeit. Wenn man einen Vertrag sprengt, hat das unfassbare Konsequenzen. Ich kenne keinen deutschen Schauspieler, der das tut. Meinen ersten Leerlauf hatte ich seltsamerweise nach dem Fliehenden Pferd, meiner bis dahin größten Rolle, ein Dreivierteljahr ohne Angebote. Die extreme Existenzangst, die ich damals hatte, gehört aber mittlerweile so dazu, dass man sich in solchen Phasen sehr nüchtern zurechtlegt, was man statt Drehen machen kann, wie man als Mensch dadurch weiter kommt. Das entspannt mich beruflich sehr.
Sind Sie ein ängstlicher Typ?
Nein, ich war nur ängstlich, weil ich von meiner Mutter dazu erzogen wurde, finanziell autark zu sein. Ich wollte nicht zu Mama und Papa zurück und um Hilfe bitten. Der Stolz damals war riesig, mit Mitte 20.
Hilfe Ihrer prominenten Eltern Christine Krüger und Andreas Schmidt-Schaller beim Karrierestart?
Meine Mama wollte extrem, dass ich es alleine schaffe. Und mein Vater hat mir nur einmal geholfen, bei der Suche nach einer Agentur, was sehr schwer ist. Der Name hat also weder genützt noch geschadet. Ich bin mit einem wahnsinnig bekannten Vater groß geworden, mit dem man in der DDR nirgendwo hingehen konnte, ohne dass er angesprochen wurde. Da hab ich mir ein dickes Fell zugelegt und in der 2. Klasse auch mal zugelangt, als jemand zu mir meinte, dass dürfe ich ja nur wegen Papa. Zack, hat der sich eine gefangen. Ist natürlich auch nicht der richtige Weg. Ansonsten bin ich immer ganz normal zum Casting gegangen. Mein Vater war immer vorhanden, aber nicht ständig da.
Trotzdem die erste Filmrolle an seiner Seite.
Stimmt (lacht). Das war die Fügung der Umstände, weil ich ihn öfter am Set besucht habe. Ein Regisseur brauchte da mal eine Tochter, für einen Drehtag. Das war mal eine Tour im Fahrwasser.
Wollten Sie je was anderes machen als Ihre Eltern?
Zunächst schon. Wenn die sich zuhause über den Beruf unterhalten haben, dachte ich immer eher: was habt ihr denn für einen Scheißjob, der mit viel Stress und wenig Spiel zusammenhängt. Im Austauschjahr in den USA hab ich dann aber bei einem Schauspielkurs gemerkt wie toll er ist. Spielen ist für mich, als dürfte ich als Erwachsene zurück auf den Spielplatz.
Versucht man Sie, in eine Schublade zu stecken, etwa: freizügige Blondine?
Manchmal. Rainer Kaufmann hat mal gefragt, ob es mir geschadet hat, dass ich im Fliehenden Pferd meine Brüste gezeigt hab. Quatsch! Ich kann spielen, kann meine Miete bezahlen, hab sogar eine Familie gegründet, alles super! Dennoch versuchen mich manche in der Branche in eine Ecke schieben würde. Beim Sommer in Orange war auch viel Körper, aber ohne wäre so ein freizügiger Stoff auch nicht glaubhaft gewesen.
Ein Etikett nach dem ersten Sonntagsfilm: der personifizierte Sonnenschein. Muss man dagegen mit einer KZ-Wächterin anspielen?
Nicht unbedingt. Das Ausziehen war da schwieriger. Im deutschen Fernsehen spielt man weniger Charakterrollen als anderswo, aber man kann letztlich immer seine eigenen Entscheidungen treffen und das habe ich getan. Ich bin der Glas-halb-voll-Typ; es braucht einiges, um meinen Überlebenswillen klein zu kriegen.
Können Haare zu blond sein für anspruchsvolle Rollen?
(lacht laut) Also gerade möchte ich sie wieder etwas brauner haben. Mir kann ich aber nicht zu blond sein, höchstens anderen. Viele Redakteure wollen immer noch die alten Stereotype, aber es gibt auch die jungen, die nicht in den Neunzigerjahren feststecken.
Schon mal negative Rolle gespielt?
In der Kinofassung von Löwenzahn, einmal. Ich überlege gerade, warum mir das egal ist? Vielleicht, weil es uninteressanter ist, zwanghaft danach zu suchen, als in jeder Rolle den negativen Keim zu finden. Mir geht es darum, Rollen zum Leben zu erwecken. Zu viele Erwartungen beengen mich nur, sowohl von anderen als auch von mir selbst. Ich bin ein Spieltier, dass man antreiben kann, in dem man ihm Zucker gibt.
Echte Kernkompetenz: Heulen. Kann man das trainieren?
Es ist jedes Mal ein Balanceakt, der sehr von der Glaubwürdigkeit der Rolle und ihrer Sätze abhängt oder vom Regisseur und Anspielpartner, aber auch von der Fähigkeit zur Autosuggestion; in eine Abschiedsszene sollte ich mal bereits weinend hineingehen, musste dafür aber an einem Kameraassistenten vorbei, der fröhlich vor sich hin pfiff. Dass es trotzdem geklappt hat, lag an schlimmen Unglücken, die ich mir vor Augen gerufen habe.
Was ist der Tote im Watt für ein Film?
Ein Krimi mit familienpsychologischem Einschlag. Er ist rund, birgt aber von meiner Seite keine Überraschungen.
Die Geburt Ihrer Tochter war der Bunte eine Geschichte wert. Ist das ein Zeichen für echte Berühmtheit?
Ich dachte auch, aha, was soll das? Aber das löst bei mir nichts aus. Ich gehe nicht gern auf Galas, in Talkshows. Homestorys brauche ich ebenso wenig wie tolle Kleider auf dem Roten Teppich.
Nebenrolle hat einen despektierlichen Klang. Im Film sind das die Akteure hinter den Stars. Einer von ihnen, Ludger Pistor, hat es in Ein Schnitzel für alle (Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD) mal von hinten ins Rampenlicht geschafft – und erzählt, wie es sich auf beiden Seiten anfühlt.
Von Jan Freitag
Wir leben in einer Welt großer Namen. Der Boulevard, diese promisüchtige Welt öliger Gazetten, schmiert sein Geschäft praktisch mit nichts anderem. Bekannte Köpfe sind die Leitwährung der Erregungsökonomie. Heutzutage können sogar Arbeitslose Vorsitzende großer Dax-Konzerne benennen. Selbst Bundestagswahlen gewinnt man nun ohne jedes programmatische Profil spielend, solange nur ein gewohntes Gesicht von den Plakaten grinst. Und da ist noch nicht mal vom Film die Rede, dieser Oberflächenkunst, deren Topgagen fürs Titelpersonal nicht bloß in Hollywood zusehends den Löwenanteil der Produktionskosten fressen. Da klingt ein Begriff wie „Nebenrolle“ beinahe despektierlich.
Nebenrolle, das ist schließlich zweites Glied. Zufahrtsstraße. Ein lauschiges Plätzchen am Rande der Aufmerksamkeit, nicht irrelevant, aber austauschbar. Und wer will das schon sein? „Niemand“, glaubt Ludger Pistor. „Auch ich steh ja gern im Mittelpunkt“, fügt der ungemein rührige Darsteller unzähliger Filme und mindestens ebenso vieler Serienepisoden, von denen einem nur grad irgendwie keine einzige einfällt, hinzu. Auch er wolle sich „nicht auf Krampf nach vor spielen“, Gott bewahre; doch jeder Schauspieler, Pistor lacht fröhlich, „hat Angst, nicht wichtig zu sein und ersetzbar“.
Anders als in Schnitzel für alle also. Denn in der ARD-Komödie, „ich traue es mich gar nicht zu sagen“, so Pistor, spielt das Ruhrpottgewächs nach bald 30 seiner 54 Jahre auf Erden erst die zweite wirklich bedeutsame Hauptrolle. Und das auch nur, weil es die Fortsetzung seiner ersten ist: Ein Schnitzel für drei. Mit der durfte Ludger Pistor 2010 einen netten Wahrnehmungserfolg vorn auf der Besetzungsliste verbuchen. Davor wie danach allerdings gab es zwar Sprechauftritte in bedeutsamen Blockbustern – Schindler’s Liste oder Casino Royale, selbstredend Inglorious Basterds, zuletzt X-Men, solche Kaliber. Vor allem aber gab es nach seinem furiosen Kinodebüt in Der Name der Rose vor knapp drei Jahrzehnten reihenweise Assistenzeinsätze bei Schimanksi, allerlei Parts in Filmen mit Titeln wie Lüg weiter, Liebling, außerdem viel Trash von GZSZ bis Cobra 11. Und dann diese eine preisgekrönte RTL-Serie, in der er freilich nur den Sidekick der Titelfigur Balko gab.
Ludger Pistor, dieser gut geschulte Mime mit Ausbildungsstationen in New York bis Wien, mit markanter Nase und reichlich Bühnenerfahrung, er war also ein langes Berufsleben lang bloß Ergänzungsspieler. Das wirft die Frage auf: reicht ihm das? Tja, sagt Ludger Pistor zögernd, und verweist auf Theo Lingen. Theo Lingen, das war – für die Jüngeren – Pistors beruflicher Vorfahre, der sich einst durch die schwarzweiße Filmära näselte wie sonst nur Hans Moser – noch so einer, der Pistors, nun ja: Schicksal teilt. Denn Lingen, erklärt dieser, habe vorm Krieg vor allem Hauptrollen gespielt. Im Wirtschaftswunderland dagegen, das vornehmlich Aufsteiger liebte und strahlende Helden, sei Lingens Paradetypus vom „kleinen Mann“ zusehends im Hintergrund gefragt gewesen. Selbst ein Heinz Rühmann, glaubt Pistor, „würde heute nicht mehr reüssieren“.
Dabei zeugt es durchaus von Selbstbewusstsein, dass sich sein leidlich bekannter Kollege von am Großschauspieler dreier Staatssysteme misst. Aber auch Pistor, selbst aus „kleinen Verhältnissen“ stammend, sieht den Ottonormalverbraucher schließlich ebenso wie Rühmann als Kernkompetenz. Figuren wie jener Wolfgang, der in „Schnitzel für alle“ an Armin Rohdes Seite so weit unten im sozialen Ranking startet, wie ihn der erste Teil entlassen hatte, liegen ihm quasi genetisch. Die zwei Überlebenskünstler helfen dem Glück diesmal zwar gemeinsam mit einer Behinderten-WG auf die Sprünge, indem sie fremdes Geld (nach diversen Stolpersteinen) im Kasino mehren; doch auch jetzt wird das Happyend eines mit Haken sein. Etwas zum leise Lächeln, statt lauthals Jubeln.
Im deutschen Film, der Unterschicht meist als Desaster verhandelt, das übliche Fiktionspersonal von Kommissar bis Studienrat dagegen stets in Designervillen von Rem Kohlhaas einquartiert, ist derlei Heiterkeit am Rande der Gesellschaft die Ausnahme. Und somit ein Glück für Ludger Pistor, der es als „Mr. Germany, wie ich mich hin und wieder nenne“, endlich mal schafft, „90 Prozent der Bevölkerung zu repräsentieren“ und trotzdem an der Bühnenkante zu stehen. Dabei ist es ihm ungeachtet ihrer Größe viel wichtiger, „meine Rolle nach Kräften auszufüllen“. Zumal Nebenfiguren zwar oft „im Schatten der Titelfiguren stehen, aber trotzdem im Rampenlicht“. Wie Derricks Assistent Harry, den Pistor „eine der dollsten Figuren der deutschen Fernsehgeschichte“ nennt. „Und stellen Sie sich Schimanski mal ohne Thanner vor.“
Undenkbar, würde auch Hanns Zischler sagen, der seit 1970 weit mehr als 100 Filme mit seinem „schweigenden Gesicht“, wie es der Stern mal lobte, bereichert hat. „Ich stehe in der Besetzungsliste oft an vierter, fünfter Stelle“. Das aber sei kein Verharren auf halber Treppe zum absoluten Erfolg, sondern eine Frage der Ökonomie. „Man muss in jeder Rolle geistesgegenwärtig sein“. Schließlich sei niemand entbehrlich, nicht im Film noch auf der Bühne. „Supporting Act“ nennt die amerikanische Filmwissenschaft Charaktere seiner Güte. Nachfahren großer Nebendarsteller von Hanns Lothar bis Elisabeth Flickenschild. Heute heiße sie Johanna Gastorf, Martin Brambach und Sandra Borgmann, die sich ganz offen zur Nebenrolle bekennen: Famose, aber uneitle Diener am Großen Ganzen, im Hintergründ tätig und doch Handlung selbst wie die erste Garde.
In „Ein Schnitzel für alle“ sind das übrigens eine großartige Therese Hämer, die als Wolfgangs Frau abermals hinter den Stars agiert. Oder Christina do Rego als deren Tochter Jessica, die nicht nur in Pastewka bereits ausgiebig ihr komisches Talent bewiesen hat. Auch das sind Typen jenseits gängiger Klischees, Schönheitsideale oder Altersgruppen, die an der Besetzungsspitze schwer zu vermitteln, aber keinesfalls unterbeschäftigt, gar unterfordert sind. „Je besser die Qualität bei der Besetzung der Nebenrolle ist“, hat Berthold Brecht übers Theater gesagt, „desto besser ist die Inszenierung“. Und auch, wenn das zweiteilige Schnitzel eher leichte Kost ist: Mit guten Nebendarstellern, und seien es welche auf Ausflug in Hauptrollen, wird daraus eine nahrhafte Mahlzeit.
Das digitale Zeitalter gebiert zuweilen die seltsamsten Allianzen. Dass RTL die Lizenzrechte seiner wöchentlichen Explosionen mit ergänzender Kriminalhandlung Alarm für Cobra 11 an den Autobahnversorger Tank & Rast GmbH verkauft, gehört eher nicht dazu. Ebenso wenig wie der Versuch der Pro7Sat1Media AG, zehn Jahre nach dem Veto des Bundeskartellamtes abermals mit dem Springer-Konzern zu fusionieren. Ja selbst die dokumentarische Liaison des quotenschwachen Nachttalkers Reinhold Beckmann mit der ARD-Primetime am Montag, war – obwohl sie künftig mangels Erfolg Richtung Dienstanacht verschoben wird – keine grundlegend absurde Beziehung. Von der allerdings kann mit Fug und Recht reden, wer vorigen Freitag einem gewissen LeFloid etwas Aufmerksamkeit im Netz zukommen ließ.
Der Youtuber hat seinen 2,6 Millionen Abonnenten und vermutlich noch ein paar Tausend mehr nämlich parallel zum Regelprogramm echter Nachrichtensender die Bundeskanzlerin geschenkt. Und zwar nicht als Spielzeug oder Pappaufsteller, wie es sie in seinem Kinderzimmer so viele zu sehen gibt, sondern höchstpersönlich. Und das, Achtung, nicht auf Anfrage des jungen Click-Millionärs, sondern vom Kanzerlinnenamt, deren Chefin nach Erstellung eines eigenen Instagram-Profils nun endgültig in den Neuen Medien, also bei künftigen Wählern Fuß fassen will.
Dafür saß ihr Hosenanzug statt Anzug mit Krawatte vermutlich ausnahmsweise mal einem Reporter in Basecap und T-Shirt gegenüber, was bei der heute geplanten Ausstrahlung deutlich machen wird, dass ein Informationsmedium, das gar kein Informationsmedium ist, sondern allenfalls ein Informationshäppchenverarbeitungsmedium, relevant genug ist, um alle Konventionen Konventionen sein zu lassen. Dennoch wird der Moderator mehr noch als die Fragen seiner Fans, die er vorab gesammelt hat, den größtmöglichen Gegensatz zur mächtigsten Frau der Welt darstellen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht, oder – um im Rahmen der Politik zu bleiben: wie Merkels Heimat und Griechenland.
Die Frischwoche
13. – 19. Juli
Deren, nun ja, „Regierung“ im Übrigen seit Frühjahr eine Nachrichtenlage dominiert, die oft von Landsfrau Linda Zervakis verlesen wurde, erste Tagesschau-Sprecherin mit ausländischen Eltern und also solche eng mit deren Heimat verbunden. Doch da die halbe Griechin in Mutterschutz ist, hat sie Zeit für leichtere Kost wie den Summer of Peace. Der traditionelle Sommerschwerpunkt auf Arte kümmert sich in dieser kriegerischen Epoche fortan jedes Wochenende um den Frieden, und dafür, sagt Zervakis, sei die „Katastrophenfrau“ als Moderatorin gerade richtig. Am Samstag (21.45 Uhr) startet der Fokus mit einem tollen Porträt des Reggea-Pioniers Marley und legt tags drauf so richtig los, erst mit Robin Williams als wahrheitsliebender Frontreporter im Hollywood-Klassiker Good Morning, Vietnam, ab 22.10 Uhr dann mit Birgit Herdlischkes famoser Doku Give Peace a Chance, die 90 Minuten lang Friedensliedern und Protestsongs auf den Grund geht.
Kriegerisch geht es hingegen an gleicher Stelle beim Theaterfilm Richard III. zu, wo Lars Eidinger den blutigen Weg des psychopathischen Königs zur Macht am heute um 22.05 Uhr eine diabolische, aber brüchige Brutalität verleiht. Damit erreicht der Kulturkanal erneut ein Niveau, das andernorts chronisch unterlaufen wird. Als Beispiel fürs Anspruchunterlaufen muss da noch nicht mal Peter Zwegat herhalten oder Adam sucht Eva, worin RTL ab heute und Mittwoch sein Stammpublikum mal angezogen entschuldet, mal nackt verkuppelt. Als Beispiel dient sogar ein gediegener Sender wie ZDFneo, der Cordula Stratmanns Gabe zum glaubhaften Übersteuern ins Leere laufen lässt, wenn sie ab morgen, 22.15 Uhr, in Ellerbeck eine Dorfpädagogin spielt, die es unverhofft zur Bürgermeisterin bringt.
Und wenn es mal echt gutes Sachfernsehen gibt wie die fabelhafte Doku Kalaschnikow und Kalifat, dann versendet der Muttersender das Lehrstück über Junge Franzosen im Terrorkrieg mittwochs nach Mitternacht. Dazu passt dann, dass die großartige Rückblende 1992 über den italienischen Korruptionsskandal jener Tage, der einen gewissen Silvio Berlusconi ans Ruder gespült hat, auf Sky (freitags, 21 Uhr) läuft. Gute Nacht. Eine Dreiviertelstunde früher gibt’s aber noch die schwarzweiße Wiederholung der Woche mit Louis Trenker, der auf ServusTV den Matterhornerstbesteiger Edward Whymper im nationalsozialistischen Erbauungsfilm Der Berg ruft von 1938 verkörpert. Ideologisch weniger verunreinigt und in Farbe ist das brillante Remake des Kurosawa-Klassikers Die glorreichen Sieben (Montag, 23.35 Uhr, MDR) mit Yul Brynner, Steve McQueen und Horst Buchholz als Cowboysöldner, die ein Dorf vor Banditen beschützen.
Das Auseinanderklamüsern nach Ursache und Wirkung oder schlimmer: Original und Fälschung wirkt bekanntermaßen oft scheinheilig. Sechs Jahrzehnte nach seiner Verdichtung zum musikalischen Einerlei hat der Pop aller Wahrscheinlichkeit nach längst jede erdenkliche Harmonie schon mal hören lassen, weshalb die Kritik besser mal liebevoll nach Besonderheiten suchen sollte, statt fieberhaft nach Referenzsystemen. Von beiden gibt es zum Beispiel bei The Wooden Sky reichlich, weshalb wir letztere der Vollständigkeit halber abhaken: Etwas Mumford & Sons steckt im neuen Album des kanadischen Quintetts, dazu ein bisschen Van Morrison oder Strand of Oaks.
Doch jenseits solcher Verweise hat die Band um Sänger Gavin Gardiner eine sehr eigentümliche Art, ihren Neofolk zu variieren. Mal mit dem fröhlichen Prädikat Fuzz versehen wie im Opener Saturday Night, mal mehr melodramatisch wie im flächigen Let’s be ready, grasen The Wooden Sky das Spektrum hippiesken Gitarrenrocks ab und entwickeln darin etwas, das unter Singer/Songwritern mit Hipstermatten selten ist: Enthusiasmus.
The Wooden Sky – Let’s Be Ready (Nevado Music)
Lady Lamb
Ach Enthusiasmus, dieses göttliche Privileg jugendlicher Energie zwischen den Leitplanken des Pragmatismus. Auch Aly Spaltros zweites Profialbum (nach fünf selbsteditierten) quillt über vor musikalischer Ambrosia. Dabei erinnert After nicht zufällig an Liz Phair, auch sie aus New England. Ihr Girlie Sound blies der Männerbranche schon 20 Jahre zuvor mit virtuoser Spielfreude den Marsch des Third Wave Feminism. Jetzt macht es ihr Lady Lamb, so der Projektname, nach und liefert einen sprühenden Indie-Pop, der so gar nichts Luftiges, Betörendes, also weiblich Konnotiertes hat, aber doch federleicht daherkommt.
Dieser Spagat ist das Alleinstellungsmerkmal von Spaltro, genannt The Beekeeper. Denn wie ein Schwarm Bienen surrt die siebenköpfige Begleitband um den kräftigen Gesang der Multiinstrumentalistin herum, lässt in Violet Clementine die Bläser anschwellen, in Heretic den Psychobeat und allerorten Synths, Streicher, Percussions zum strukturierten Crescendo. Das all dies trotz derlei Klangfülle nie überladen klingt, ist kein Gotteswerk. Ein bisschen himmlisch ist es schon.
Kurz, bevor mit der Politiksatire Ellerbeck die zweite Serie seit langem Cordula Stratmanns erste namens Kuhflüsterin ablöst, spricht die Komödiantin im freitagsmedien-Interview gewohnt humorvoll über halbvolle Gläser, das Landleben als Pointenlieferant, Humor ohne Würdeverlust und warum sie auch ohne Fernsehen glücklich sein kann.
Interview: Jan Freitag
Frau Stratmann, wenn man Ihre zwei neuen Serien so sieht, könnte man glatt glauben, Sie stammen aus der Provinz…
Cordula Stratmann: Dabei bin ich aus Düsseldorf, lebe in Köln und kann mir ein Leben auf dem Land bis heute nicht vorstellen.
Was verbinden Sie damit?
Urlaub, Kindheit, Langeweile. Wegen letzterer hätte man mich, wenn ich gefragt worden wäre, in den Schulferien gar nicht aus Düsseldorf rausholen müssen.
Heiterkeit scheinen Sie mit dem Landleben nicht zu verbinden.
Mittlerweile finde ich das Reizreduzierte sehr erholsam, aber noch immer nicht allzu heiter.
Warum bloß spielen dann gerade so viele Serien und Filme auf dem Land?
Ich mache mir nie Gedanken übers Genre, sondern nur über meine Figur darin. Und die hat mir in Ellerbeck wie bei der Kuhflüsterin gleichermaßen gefallen, ohne dass mir jetzt wichtig gewesen wäre, dass beide besonders komisch sind. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich darin nach Heiterkeit gesucht. Sonst wird mir schnell langweilig.
Und werden Sie da fündig?
Meistens.
Scheint, als wären Sie der Glas-halb-voll-Typ.
Nicht immer, aber sobald es auf halbleer zugeht, versuche ich es eigenhändig nachzufüllen. Ich habe auch schon mal schlechte Laune, fühle mich davon aber so sehr gestört, dass ich alles daran setze, sie zu bessern.
Spielen Sie deshalb fast ausschließlich Komödien und meiden tiefgreifenden Ernst?
Nein, denn in jeder guten Komödie liegt tiefgreifender Ernst. Das Klügste, was man in schwerer Lage oft machen kann, ist zu lachen. Weil ich eher Geschichtenerzählerin als Pointenreißerin bin, gebäre ich die Komik aber lieber aus alltäglichen Situationen, als dauernd die griffigste Punchline zu suchen. Wenn die Struktur eines Gags zu offensichtlich ist, langweilt es mich genauso.
Die Struktur der Punchlines Ihrer zwei Provinzserien zielt gern auf Landeier ab, die oft leicht verschroben wirken. Amüsiert sich da die Stadt übers Land oder umgekehrt?
Weder noch. Da amüsieren sich Menschen über Menschen, ganz gleich welcher Herkunft. Ich finde potenziell jeden komisch, neige aber auch dazu jeden gleich ernst zu nehmen.
Dennoch werden viele Klischees übers Land gepflegt und nur wenige über die Stadt.
Davon abgesehen, dass das in der Natur des Handlungsortes liegt, an dem beide spielen, habe ich nichts gegen Klischees einzuwenden, solange sie nicht auf Vorurteilen basieren. Dass der gemeine Dorfbewohner zum Beispiel weniger kultiviert wirkt, weil er seltener ins Theater geht, ist zwar ein Klischee, aus dem man Humor gewinnen kann, basiert aber nicht auf einem Vorurteil, sondern auf der Tatsache, dass das nächste Theater womöglich 30 Kilometer entfernt ist.
Wie ist es mit dem Klischee der ländlichen Neugierde?
Diese Gartenzaunkontrolle kann man wunderbar klischieren, aber auch belegen. Andererseits wäre meine Kuhflüsterin in Köln womöglich genauso wissbegierig wie in Oberbreitbach, weil es eher eine Frage der Mentalität als des Umfelds ist.
Welche der beiden Figuren ist für Sie denn abstrakter?
Eine neugierige Tierheilpraktikerin ist genauso abstrakt für mich wie eine Erzieherin, die in die Lokalpolitik rutscht. Aber in Ellerbeck geht es ja weniger ums Landleben als um bürgerliches Engagement, Energiepolitik, Wutbürger, solche Sachen. Das betrifft mich persönlich etwas mehr – obwohl ich mich weder zur Politikerin noch zur Wutbürgerin berufen fühle. Letztlich sind mir beide persönlich eher fern als nah.
Und worin unterscheiden sich die zwei Provinzen?
Also das Bergische Land kenne ich noch aus meiner Kindheit, anders als das Emsland weiter im Norden. Beide Gegenden ähneln sich darin, dass man dort wie überall auf dem Land knorrige Menschen trifft, die in ihrer Eigenart für Außenstehende oft abweisend wirken, im Kern aber sehr herzlich sind.
Mögen Sie solche Typen womöglich mehr als rheinische Frohnaturen?
Jetzt muss ich aufpassen, was ich sage. Also: ich mag Menschen, die zügig zu einem guten Miteinander finden, weil mir der Sinn einer schlechtgelaunten Individualität um ihrer selbst Willen nicht ergründlich ist. Da bin ich dann doch zu sehr Rheinländerin. Zelebrierte Einsamkeit, allein beim Bier an der Theke, ist mir fremd.
Sagt die Karnevalistin?
Nein! Ich finde Karneval furchtbar.
Zu viele Pointen, zu wenig Geschichten?
Vielleicht. Aber ich unterscheide zwischen Karnevalisten und denen, die im Karneval feiern. Erstere sind eher humorlos, letztere lassen es gern mal krachen und haben dazu ein paar Tage im Jahr ideale Bedingungen. Was ich allerdings brüllend komisch finde ist, wenn ich an Weiberfastnacht morgens früh an der Bushaltestelle eine lebensgroße Maus sehe, daneben zwei Cowboys und eine Nonne, die allesamt todernst auf ihre Smartphones blicken. Von solchen Momenten fühle ich mich bestens unterhalten!.
Weil sie darin den Keim eine lustigen Geschichte suchen, die zu erzählen sich lohnte?
Da überschätzen Sie meinen humoristischen Ansatz. Ich suche nicht dauernd nach irgendwas Lustigem, sondern freue mich, es zu finden. Am lustigsten sind Behauptungen, wenn absolute Selbstgewissheit im Versuch steckenbleibt und du förmlich zugucken kannst, wie jemand am Arschloch Alltag scheitert (lacht). Aber das sind auch die Momente, wo ich am lautesten über mich selbst lache.
Zum Beispiel?
Ganz banale Sachen. Nachdem ich kürzlich mit dem Flugzeug fliegen wollte und der Flieger nicht flog, hab ich mich später an meinen Blick erinnert, wie ich so unter der Tafel stand, auf dem neben meinem Flug „cancelled“ zu lesen war. Diese Mischung aus Wut und Entsetzen über etwas, das das Leben nun mal mit sich bringt, amüsiert mich enorm.
Gibt es von dieser Art auch etwas in den zwei Serien?
Also was ich an der Kuhflüsterin wirklich liebe, sind die vielen Versuche, bei denen sie ihrem neuen Nachbarn…
Von dem sie herausfindet, dass er was Mysteriöses mit der Polizei zu tun hat.
… mit der ganzen Wucht ihrer Selbstgewissheit gegenübertritt, dabei schnell Wind von vorne kriegt und im Sturm versucht, gut auszusehen, selbst als sie den Text vergessen hat. Am lustigsten sehen wir schließlich aus, wenn wir in Gefahr sind, unsere Würde zu verlieren.
Humor ist Würdeverlust?
Nein, der Kampf dagegen. Freude am Würdeverlust eines anderen ist Schadenfreude, da hört bei mir der Spaß auf.
Apropos: Man hatte zwischendurch das Gefühl, nach Schillerstraße und etwas Impro-Comedy mit Annette Frier hätte der Fernsehspaß mit Ihnen ein Ende.
Das Gefühl trügt gar nicht so sehr. Ich bekam so manches Lustige angeboten, das ich leider nicht so lustig fand wie die Anbieter…
Jetzt kommen zwei Serien auf einmal. Ist das Zufall oder ein Masterplan?
Masterpläne hab ich nie. Das ist ein Zufall. Diese Male trafen sich der Geschmack der Anbieter und meiner und so sind wir zusammen losgegangen.
Ein schöner Zufall?
Ein sehr schöner, aber ich fand die Zeit ohne Fernsehen auch fantastisch. Ich hab zwei Romane geschrieben, mein Kind beim Größerwerden begleitet und auch sonst genug zu tun. In den Medien herrscht ja der seltsame Glaube, wer darin nicht regelmäßig auftaucht, hört auf zu existieren. Mich gibt es täglich, auch wenn mir dabei fast keiner zusieht. Ich bin schnell satt von Aufmerksamkeit.
Seit der legendären Schillerstraße war es ruhig geworden um Cordula Stratmann. Jetzt kehrt die begnadete Improvisationskomödiantin mit gleich zwei Serien zurück auf den Bildschirm.
Von Jan Freitag
Das Landleben, schenkt man dem TV-Programm Glauben, muss wie eine Seefahrt ziemlich lustig sein. Urige Gestalten liefern da im Sendeminutentakt mal harte, mal zarte Zoten. Von Nachkriegsschnulze bis Schmunzelkrimi, von Fjord bis Alm, von Hengasch bis Husum, von Kluftinger bis Alles Klara – das Fernsehen zeigt die Provinz gern als Hort heiterer Betulichkeit. Nach den traumschiffflüchtigen 80er, den technoiden 90er und den krisenhaften 00er Jahren jedoch gerät die Pampa nicht nur zum entspannenden Teilzeitexil gestresster Städter, sondern förmlich zur Comedybühne. Landflucht, Überalterung, Bauernhofsterben? Alles allenfalls am Rande relevant. Im (vor)abendlichen Unterhaltungsprogramm hingegen wird jenseits der Speckgürtel schenkelgeklopft und geschunkelt, dass sich die Scheunenbalken biegen.
Womit wir in Oberbreitbach wären, neuester Spielort dörflicher Sorglosigkeit, dem die ARD ab heute freitags vor der düsteren Tagesschau eine Extraportion Sonne durchs Idyll jagt als herrsche im Bergischen fortwährender Sommer. Und mittendrin: Cordula Stratmann. Als Kuhflüsterin spielt sie acht Folgen lang ein Landei aus dem Klischeekatalog: Tierheilpraktikerin, Klatschtante, Gartenzaunwacht, leicht esoterisch, sehr bodenständig, das Basisrepertoire der Feldwaldwiesenwelt im Clinch mit dem urbanen Nachbarn (Simon Boer), der sich als kerniger Bulle entpuppt, also der in Uniform, heitere Verwicklungen garantiert.
Solche Gegensatzpaare im gemütlichen Umfeld ziehen im Stromlinienfernsehen. Fragt sich nur, warum es die ARD ausgerechnet mit der überzeugten Wahlkölnerin besetzt, die bei „Landleben“ abseits von „bloß nicht“ bloß an drei Dinge denkt: „Urlaub, Kindheit, Langeweile“, wegen der man mich“, erklingt es im Tonfall ihrer Heimat, „in den Schulferien gar nicht aus Düsseldorf hätte rausholen müssen“. Stratmann und die Provinz – das passt scheinbar gar nicht. Und passt doch perfekt.
Weshalb das komödiantische Naturtalent dort zwei Wochen später abermals auftaucht: In Ellerbeck, tiefstes Emsland, wo es fürs ZDF eine umweltbewusste Erzieherin spielt, die im Streit um eine Schweinemastanlage den Kindergarten unverhofft gegen das Bürgermeisteramt ihrer fiktiven 15.000-Seelen-Gemeinde tauscht. Doch auch in der Rolle wirkt die langjährige Sozialarbeiterin keinesfalls deplatziert. Was weniger an den Geschichten selbst liegt, die abseits einiger schöner Dialoge weder durch Wackelkamera (Ellerbeck) noch Ausstattung (Kuhflüsterin) an Substanz gewinnen. Es liegt an der Selfmade-Kabarettistin allein.
Seit ihre hyperbürgerliche Kunstfigur Annemie Hülchrath zwei Jahrzehnte zuvor von rheinischen Kleinbühnen aus das Leitmedium eroberte, hat sich die schauspielerisch ungelernte Quereinsteigerin als Ausnahmeerscheinung der brachialen Spaßindustrie erwiesen. Abgesehen vielleicht von Annette Frier, an deren Seite Cordula Stratmann nicht ohne Grund mehrfach grundsoliden Wehrdienst am TV-Humor abgeleistet hat, gelingt schließlich keiner Darstellerin die Mischung aus Authentizität und Übersteuerung, kalauernder Comedy und feiner Realsatire mit ähnlich selbstverständlicher Arglosigkeit wir ihr. „Weil ich eher Geschichtenerzählerin als Pointenreißerin bin“, lautet ihr Berufsgeheimnis, „gebäre ich die Komik lieber aus alltäglichen Situationen, als dauernd die griffigste Punchline zu suchen“.
Schließlich sei es am lustigsten, „wenn jemand am Arschloch Alltag scheitert“. Momente zumal, „wo ich am lautesten über mich selbst lache“. Beobachtungsgabe, Selbstironie, Menschenliebe – drei Zutaten, die zwar nicht immer unterhaltsam sind, wie ihre satt missratene Miss Marple für Arme Ein Fall für Fingerhut vor fünf Jahren bewies, die sorgsam beigemengt aber eine Kunstform grundieren, von der nur wenige was verstehen. Aber dass Cordula Stratmann eine davon ist, durfte sie ja auch in einem Subgenre schulen, das unter Kennern als Königsdisziplin ihres Fachs gilt: Improvisation.
Bis 2007 hat sie in der Schillerstraße im Kreise unverstellter Kollegen mehr oder weniger sich selbst verkörpert, damit Preise gesammelt wie Mario Barth Einparkwitze und ihr Alleinstellungsmerkmal zur Vollendung gebracht: Witze allenfalls auf eigene Kosten zu machen. Der Freude am Würdeverlust anderer hingegen kann sie wenig abgewinnen, „denn das ist Schadenfreude und da hört bei mir der Spaß auf“. Bleibt die Frage, ob Ellerbeck und Kuhflüsterin in ihrer schützenfesthaften Provinzialität nicht doch genau das tun – an der Würde von rund 50 Prozent der Bewohner Deutschlands zu kratzen? „Ich finde potenziell jeden komisch, nehme aber auch jeden gleich ernst“, entfährt es ihr da in einem Hamburger Luxushotel, das der unprätentiösen Jeansträgerin von 51 Jahren spürbar zu glamourös ist, ernster als sonst und fügt hinzu: „Ich habe nichts gegen Klischees einzuwenden, solange sie nicht auf Vorurteilen basieren.“
Mit diesem Ansatz kehrt die rheinische Karnevalshasserin nach längerer Abstinenz also gleich doppelt zurück auf den Bildschirm. „Schöner Zufall“, wie sie findet, „aber ich fand die Zeit ohne Fernsehen auch fantastisch, habe zwei Romane geschrieben, mein Kind beim Größerwerden begleitet und auch sonst genug zu tun“. In den Medien, sie lacht ihr raumgreifend lautes Lachen, „herrscht ja der seltsame Glaube, wer darin nicht regelmäßig auftaucht, hört auf zu existieren.“ Das sei natürlich Unsinn. „Mich gibt es täglich, auch wenn mir dabei fast keiner zusieht.“ Jetzt sehen wieder ein paar mehr zu. Kein schlechter Zeitvertreib.
Was haben Maceo Parker, Britney Spears und Janis Joplin gemeinsam? Gar nichts! Vordergründig. Denn im Leben von Anna-Maria Nemetz und Jan Ole Jönssen spielen alle drei eine große Rolle. Die Sängerin und der Schlagzeuger haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem absurd erfolgreichen Modeblogger Carl Jakob Haupt alias Dandy Diary die Band B.O.X.E.R. gegründet. Zusammen machen sie eine Mischung aus Electro, Pop und Indie. Besonders die Modeszene feiert das Trio, und so verwundert es nicht, dass eine große Modefirma mit SweatandStripes die vergangene Staffel einer deutschen Model-Castingshow präsentierte.
Von Marthe Ruddat
Marthe: Ihr seid beide als erfolgreiche Models in der ganzen Welt unterwegs und habt nun auch den Weg in den Musikkosmos gefunden. Gab es da eine Platte, die diesen Weg geebnet hat?
Jan Ole Jönssen: Bei mir auf jeden Fall! Als ich so ungefähr 16 Jahre alt war habe ich die Life on Planet Groove von Maceo Parker rauf und runter gehört. Es gibt da diesen einen Song, Shake Everything You’ve Got. In dem Lied ist ein Schlagzeugsolo, was überhaupt nicht wie das typische Schlagzeugsolo klingt. Es ist eher ziemlich groovy. Ich habe zu der Zeit schon Schlagzeug gespielt, aber als ich dieses Solo gehört habe, war klar, dass ich professioneller Musiker werden möchte.
Maceo Parker ist ein amerikanischer Saxophonist. Er war lange in der Band von James Brown und veröffentlichte 2012 sein 16. Album. Life on Planet Groove erschien 1992.
Anna-Maria Nemetz: Ich glaube meine Geschichte ist dagegen fast schon peinlich! Ich habe schon immer viel gesungen, aber immer nur zuhause und eher unprofessionell. Mein Vater hat mein Talent aber schon früh entdeckt und ist deshalb mit mir in diesen Film von Britney Spears gegangen, Not A Girl hieß der glaube ich. Ich fand den Film dann richtig gut und wollte auch unbedingt Sängerin werden. Im Anschluss habe ich dann meinen ersten Gesangsunterricht bekommen, deshalb war dieser Film tatsächlich so etwas wie ein Wendepunkt.
Not A Girl kam 2002 in die Kinos. Britney Spears spielt darin die Hauptrolle und hat für ihre schauspielerische, nun ja, “Leistung” unter anderem den Antipreis Goldene Himbeere erhalten.
B.O.X.E.R. ist nun aber eine ganz andere Musikrichtung als Maceo Parker oder Britney Spears. Euer Musikgeschmack hat sich also noch sehr gewandelt?
Jan Ole Jönssen: Klar, also mein Musikgeschmack hat sich mit der Zeit sehr geändert. Ich habe immer schon viel Musik gemacht und in ganz verschiedenen Bands gespielt. Da waren Pop-, Jazz- und auch Rockprojekte dabei. Irgendwann habe ich ja auch bei Caracho gespielt. B.O.X.E.R. ist jetzt wieder etwas ganz Neues.
Caracho ist eine Elektropunkband. Die Hamburger sind für ihre politischen Statements und besonderen Konzertlocations bekannt.
Anna-Maria Nemetz: Ja, für mich auch! Ich komme eigentlich eher aus der Balladen-Ecke. Mir wurde immer gesagt, meine Stimme sei so besonders und brauche kaum musikalische Begleitung. Ich habe mich viel ausprobiert. Balladen sind aber immer noch irgendwie mein Steckenpferd, das Lied Freedom von dem Django Unchained-Soundtrack ist zum Beispiel eines meiner absoluten Lieblingslieder. Zurzeit entdecke ich aber ganz viele Musikrichtungen für mich. Mein Freund hört zum Beispiel viel HipHop und mit B.O.X.E.R. bin ich jetzt sogar ein bisschen in der Electro-Welt Zuhause.
Anna-Maria Nemetz hat einen eigenen Youtube-Kanal, auf dem man sich von ihrem Hang zu melancholischen Liedern überzeugen kann.
Wenn Maceo Parker oder Britney Spears jetzt anrufen würden, um Euch für Ihre Band zu gewinnen, würdet ihr mitmachen?
Anna-Maria Nemetz: Nein, also diese Britney Spears- Geschichte ist wirklich vorbei. Sie war sehr prägend, aber spielt für mich heute wirklich keine Rolle mehr. Mit Janis Joplin hätte ich aber gerne mal auf der Bühne gestanden. Ich habe mir alte Aufnahmen von ihrem Woodstock-Auftritt angesehen. Sie war wirklich eine beeindruckende Frau mit einer großartigen Stimme.
Jan Ole Jönnsen: Also ich finde Maceo Parker zwar toll, aber jetzt möchte ich eigentlich erst einmal mit B.O.X.E.R. auf Tour gehen.
Eure eigene Musik kann man bisher nur als MP3 herunterladen. Kauft ihr noch CDs oder gar Vinyl?
Anna-Maria Nemetz: Nein, CDs oder Platten kaufe ich eigentlich nicht. Ich bin ein großer Fan von einem bestimmten Musikstreaming-Dienst. Da kann man so schön nach neuer Musik herumstöbern.
Mit Issue No5 haben B.O.X.E.R. gerade ihren vierten Track veröffentlicht. Alle Songs und Remixe können auf www.boxer.to angehört werden.
Viele merken es womöglich kaum, doch tief im Innern wird er uns bald fehlen: Claus Weselky. Was hat seine Lokführergewerkschaft zum abendlichen Infotainment beigetragen, wie hat uns sein zitternder Schnauzbart erregt, von welcher Grandezza waren seine neun Bahnstreiks. Und nun? Aus, vorbei, die Streithälse haben sich geeinigt und nirgends scheint ein Nachrichtenberserker in Sicht, der Weselsky Lücke füllt. Oder? Doch: Sigmund Gottlieb.
Mit hasserfülltem Gefasel von erlesener Stupidität gibt der Chefredakteur des christsozialen BR seiner rechtspopulistischen Klientel mit schlichter Kampfrhetorik eine Stimme und hetzt über faule, fiese, dreiste Griechen, dass es neben der Bild (die hier wunderbar von Jennifer Rostock attackiert wird) vor allem türkische Nationalisten befriedigen dürfte. Doch der baugleich gestrickte Franke begnügt sich bekanntlich nicht mit dumpfer Hetze, wie er sie bereits vor der Bundestagswahl 2013 praktizierte, als er sich im Rededuell der Spitzenkandidaten kleiner Parteien brachial gegen Linke und Grüne auf die Seite der FDP schlug; er verpackt sie auch noch in lausigen Journalismus, was sein unterirdisches Interview mit Wolfgang Schäuble am Montag eindrucksvoll belegte, mit der sein ARD-Brennpunkt auf bislang unerreichtes Niveau sank. Das einzige, was da saß, war Gottliebs eitle Dirigentenwelle.
Die jedoch zugleich ein paar graue Haare mehr gekriegt haben dürfte, als ARZDF die Hiobsbotschaft schlechthin erhielten: Olympia findet ab 2018 nicht öffentlich-rechtlich statt. Das IOC hat die Übertragungsrechte der Sommer- wie Winterspiele bis 2024 für schlappe 1,3 Milliarden an den US-Medienkonzern Discovery Communications verkauft und somit mal ein echtes ein Zeichen gesetzt: Für Kommerzialisierung, gegen Information. Auf Abspielkanälen à la Eurosport muss sich das IOC nun nicht mehr mit Kritik über Umweltzerstörung, Korruption, Doping und ähnlich lästige Randaspekte künftiger Austragungsorte herumärgern wie es Vollprogramme von ARD über BBC bis ZDF bei allem Jubelpersertum wenigstens zur Nacht hin versuchen. So mag Verbotene Liebe nach 4664 Folgen vorbei sein; die zwei lukrativsten Sportevents neben der Fußball-WM liefern nun alle zwei Jahre eine eigene Soap, weichgespült und arglos.
Die Frischwoche
6. – 12. Juli
Eine schöne heile Goldsilberbronzewelt also im Sinne Wladimir Putins, der die Säbel ja erst richtig rasseln ließ, als der Welt Jugend sein subtropisches Winterparadies Sotschi wieder verlassen hatte. Man kann das Montag zur gewohnt arbeitnehmerfreundlichen Doku-Zeit um elf begutachten, wenn die fabelhafte ARD-Korrespondentin Golineh Atalai eineinhalb Jahre Ukraine-Krieg zur Story im Ersten bündelt. Wer die globale Dauerkrise lieber realitätsgetreu als real zu sich nimmt, wird hingegen von Homeland versorgt. Die wohl beste Politserie geht Freitag mit Dreierfolgen auf Kabel1 in die vierte Staffel und knüpft am Handlungsort Pakistan wieder an das unerreichte Niveau der ersten zwei Abschnitte an.
Überhaupt, die Realität: Sie bleibt generell das Gebot der Woche. Von, nun ja, „Sendern“ wie RTL abgesehen, die selbst dann wenig mit ihr zu tun haben, wenn sie mit, nun ja, „echten“ Menschen Fernsehen à la Bachelorette (ab Mittwoch) verantworten, wimmelt es von Wirklichkeit am Bildschirm. Rein sachlich etwa, wenn das ZDF Dienstag (23 Uhr) im Rahmen von 37° die vielfältige Welt der Sekten, Gurus und Verführer ausleuchtet. Tags zuvor, wenn die ARD um 22 Uhr mal heimlich, mal offen die Folterfabriken der Fleisch-Mafia inspiziert. Am Donnerstag, wenn 3sat um 20.15 Uhr die Generation Weichei erkundet – Kinder im liebevollen Würgegriff von Helikopter-Mum und Karriereplaner-Dad.
Doch auch spielerisch gilt die Realität als Vorbild sehenswerter Filme: Mittwoch im Ersten zum Beispiel mit Lars Eidinger als junger Vater, der im glaubhaften Familiendrama Was bleibt erfährt, dass seine depressive Mutter (Corinna Harfouch) die Medikamente abgesetzt hat, was nur scheinbar banal klingt. Da Gegenteil von banal ist am Donnerstag um 22.45 Uhr an gleicher Stelle Lincoln, Hollywoods bilder- und zeichensattes Historiengemälde mit Daniel Day-Lewis als amerikanischer Bürgerkriegspräsident, wofür er zu Recht seinen dritten Oscar erhielt.
In diesem Sinne sind auch die Wiederholungen der Woche von großer Wahrhaftigkeit. In Farbe, weil es ja doch ein Stück Weltgeschichte der leichteren Art war: das WM-Finale von 2014 in voller Länge, Sonntag um 0.40 Uhr (ARD). Und weil das Radio, hätte es einen Anstrich, ja irgendwie schwarzweiß wäre, kommt dieser Tipp mal von Deutschlandradio Kultur: Alltag anders lässt wechselnde Korrespondenten seit langem von ihrem Einsatzort berichten, wie dort gesessen, geflucht, geliebt, gebadet wird. Freitagsmorgens kurz vor neun, im Netz abrufbar, fantastisch!
Selten wurde in Hamburg so heftig gefeiert wie in einem ehemaligen Kaufhaus am Ende des Kiezes. Gleich vier Clubs luden zum Exzess. Am irrsinnigsten: die Weltbühne.
Von Jan Freitag
Senf und Zeit sind zwei grundverschiedene Ressourcen, die man allerdings gleichermaßen mit Vorsicht dosieren sollte. Wird beides über die Maßen vergeudet, geht es schließlich entweder zulasten des Geschmacks oder der Lebensqualität. Nun sind natürlich andere Substanzen weit mehr von globaler Verknappung betroffen als Senf und Zeit. Süßwasser zum Beispiel, seltene Erden oder auch Kabeljau. Trotzdem ist es bedenklich, wenn die beiden Rohstoffe aus vollen Rohren verschossen werden, wie damals, vor fast genau zehn Jahren, in der Weltbühne.
Und das kam so.
An einem Tag im Frühjahr, vermutlich fast Wochenende, hatte Tino Hanekamps und Alvaro Piñas pittoreskes Clubwunder am Nobistor die Band Jeans Team auf dem Programm. Heiterer Elektropop aus Berlin mit Hang zum digitalen Aberwitz, aufmerksamkeitsökonomisch eher nebensächlich, aber allemal einen schönen Tanzabend wert. Wenn sie denn kommen.
Doch sie kamen nicht. Und kamen nicht. Und kamen nicht. Nicht um elf, wie an der verwüsteten Stahltür parterre plakatiert. Nicht um zwölf, wie von Angestellten bald in Aussicht gestellt. Auch nicht um eins, als ich im Kreise ebenso genervter Freunde die Faxen dicke hatte und die funktionsuntüchtige Rolltreppe abwärts am Phonodrome vorbei Richtung Kiez verschwand, Aufnimmerwiedersehensflüche im Hals. So nicht! Nicht so!
Natürlich kamen wir der legendären Weltbühnen-Zeitverschwendung zum Trotz alle wieder, und nicht nur einmal, sondern ständig. Der anarchistische Wohnzimmerclub mit Holstenstraßenblick war Anfang der 2000er schließlich das Beste, was Hamburgs alternative Partykultur zu bieten hatte. In dem verlassenen Bekleidungskaufhaus, in dem zuvor Kinder stilunsicherer Eltern mit Hosen der Marke Palomino gemartert wurden, pulsierte der Sound jener Tage ja am heftigsten.
Ganz unten das Phonodrome, damals derbster Technoclub in zentraler Lage, den sein Gründer, die örtliche Powerhouse-Größe Wolf von Waldenfels, 2002 aus einer alten Autowerkstatt am Zirkusweg ins vormalige Unit am Westende der Reeperbahn verlegt hatte. Er bot fortan 202 Beats pro Minute und mehr für dauergestromte Teenager-Synapsen. Die jungen Besucher, oft aufgereiht zu Hunderten, blickten die Bomberjackentürsteher so abgebrüht erwachsen an, dass die wenigen Gäste über 25 für derlei schauspielerisches Geschick zuweilen Applaus auf offener Straße spendeten.
Im Seiteneingang ging es ins Click, eher gediegen als stampfend, Ambient, Deephouse, Runterkommzeugs. Darüber lag die Echochamber, ein Backsteinverschlag mit ebenerdiger Bühne für alles, was analog Asyl erbat in diesem digitalen Eldorado der Hansestadt. Und Wand an Wand, mit freiem Blick durch mächtige Fenster zur Holstenstraße: die Weltbühne, knallroter Irrsinn im WG-Format.
Womit wir beim Senf wären.
Knapp zwei Jahre nach der eigenen Eröffnung und gute drei nach der des ganzen Komplexes, als sein Abriss schon einen festen Termin hatte, zeigte sich Hamburgs Subkultur nochmals von ihrer originellsten Seite und lud zur “All-you-can-eat-BBQ-Gala” in die Weltbühne. Die lokale Countrypunk-Ikone Butch Meier spielte auf, sein Grillmeister schleuderte in blutiger Metzgerschürze kiloweise rohes Fleisch auf den Rost und sodann in den Saal. So lange, bis das Plüschambiente unter Rauchschwaden verschwand.
Selbst die autonomen Veganer im entfesselten Publikum drückten angesichts der performativen Metaebene ein Auge zu – bis sie beide zudrücken mussten, als Butch Meier aus einem Feuerlöscher verdünnten Senf verspritzte. Viel Senf. Literweise. So reichlich, dass es die gemütlichen Separees in der Wand gegenüber ebenso gelb färbte wie die durchgesessenen Sofas ringsum. Es war ein Inferno.
Und es war das Ende. Nach gerade mal 21 bewegten Monaten schloss die Weltbühne. Ende 2005, an Silvester, stieg die große Abschiedsparty des gesamten Betonklotzes. Das Phonodrome hieß bereits KdW und die Bagger scharrten schon mit den Schaufeln, um an gleicher Stelle das zu errichten, was im August zuvor ohne jede Vorwarnung angekündigt worden war: den neuen Flügel der privaten Endo-Klinik. Blitzeblank steht der neue Gebäudetrakt heute in aseptischem Weiß am leblosen Verkehrsring und wartet auf zahlungskräftige Patienten statt auf tanzwütige Partypeople. Hamburger Subkulturbereinigung in Reinform, ersatzlos gestrichen, weitergehen bitte!
Und plötzlich erscheint die Ressourcenvergeudung viel wärmer. Ein nostalgisch verklärtes Licht umgibt sie. All die Stunden, aufaddiert ganze Wochen, die zahlende Gäste vergeblich auf auch nur annähernd pünktlichen Konzertbeginn hofften. All der Senf, den man selbst nach mehrmaligem Waschen nie wieder aus den Klamotten kriegte. All der Schweiß, der von den Panoramascheiben lief, wenn die Weltbühne mal wieder tobte wie Hamburg selten tobt. Nur wohlige Erinnerungen an ein paar Jahre anarchistischer Unterhaltung, die so nie wieder kommt, nicht an diesem Ort, der keine dreckigen Flecken mehr duldet. Zu finden ist sie höchstens noch in luftiger Höhe, auf dem Flakbunker an der Feldstraße: Dort eröffneten die zwei displaced persons Waldenfels und Hanekamp bald darauf ein Asyl namens Uebel & Gefährlich.