Maja Göpel: Klimakrise & Kreativität

Artikel-Goepel

Wir brauchen ein neues Fortschrittsvokabular

Seit Jahren schon mahnt die Politökonomin Maja Göpel, die Klimarettung sei machbar, aber nur im Team. Davon handelt auch ihr neues Buch Wir können auch anders, um das es im Vorfeld einen kleinen Aufreger wegen intransparenten Ghostwritings gegeben hat. Im freitagsmedien-Interview, zuvor im Medienmagazin journalist erschienen, rät die zweifache Mutter (Foto: Johannes Arlt), Dinge endlich umzusetzen, statt auf Grad-Zahlen zu starren.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Göpel, wenn man wie Sie vier Jahre nach Erscheinen des prophetischen Weltbestsellers Die Grenzen des Wachstums in einer ökologischen Hausgemeinschaft bei Bielefeld aufgewachsen ist – entwickelt man sich da automatisch in Richtung des Club of Rome?

Maja Göpel:  Nicht so sehr aus der globalen Prognose als aus der Alltagspraxis. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Eltern mich ein bisschen dahingehend instrumentalisiert hatten, die ökologische Zeitschrift Schmetterling im Dorf zu verteilen, ein ziemlich konservatives Dorf. Da war also nicht das genuin eigene Interesse an grünen Themen ausschlaggebend. Das kam dann erst 1986 durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

Da waren Sie zehn.

Und hatte den ersten Schreckmoment meines friedlichen Landlebens voll grüner Wiesen, auf denen wir erstmal ein paar Tage nicht spielen durften. Dass da draußen plötzlich eine unsichtbare Gefahr lauert, gegen die man keinerlei Maßnahme ergreifen kann, war für mich zwar zunächst mal faszinierend, aber auch sehr bedrohlich. Damals habe ich begonnen, über die größeren Zusammenhänge nachzudenken. Den Bericht des Club of Rome hingegen habe ich erst richtig wahrgenommen, als ich mich in den verschiedenen Bildungsinstitutionen zum Thema Klimawandel vorgerobbt hatte.

Sie haben also anders als andere Teenager nicht gegen die Haltungen Ihrer Eltern rebelliert und das Gegenteil von Umweltschutz propagiert?

Nein, denn auch wenn ich mal Öko-Magazine austragen sollte, haben sie mich weder konditioniert noch infiltriert, sondern einfach so erzogen, auf die Welt zu schauen, wie sie wirklich ist. Dass ich die Beobachtungen zweier atomkraftkritischer Ärzt*innen geteilt habe, ist daher nicht anders, als dass andere lernen, ständig Fleisch zu essen oder Auto zu fahren. Da fragt nur niemand, ob sie indoktriniert wurden.

Haben Sie sich Mitte der Achtzigerjahre, als grüne Ideen trotz Tschernobyl und saurem Regen noch als linke Spinnerei galten, eher als Außenseiterin oder Avantgarde gefühlt?

Solche Fragen stellt man sich mit zehn Jahren noch nicht. Es war einfach Teil meines Lebensalltags, mir die Welt mit offenen Augen anzusehen und eigene Antworten zu finden. Deshalb habe ich natürlich rebelliert, aber eben nicht gegen den Umweltschutz meiner Eltern, sondern zu früh nach Hause zu müssen oder später nicht so viel Alkohol trinken zu sollen (lacht).

Und wann wurde ihr Interesse am Umweltschutz erst zur Berufung, dann zum Beruf?

Vermutlich vorm Bonner Klimagipfel im Jahr 2000, bei dem ich zwar nicht akkreditiert war, aber trotzdem an vielen der Side Events teilgenommen habe. Mich hatte das Thema Nachhaltigkeit im Studium zur Medienwirtin angetrieben und meine Diplomarbeit ist der Nachhaltigkeitskommunikation gewidmet. Aber in die Politikprozesse eingestiegen bin ich erst, als ich dort mit Leuten wie Klaus Töpfer geredet und direkt mit anderen eine europäische Jugendorganisation gegründet habe.

Das ist 22 Jahre her. Seither gab bei ungebremst steigenden Emissionen viele Klimagipfel voll ehrgeiziger Abkommen mit zwei Zahlen, die den politökonomischen Diskurs bestimmen: 1,5 oder 2 Grad maximaler Erderwärmung. Können wir die aus Ihrer Sicht noch erreichen?

Ich finde schon die Frage nicht allzu hilfreich. Im Prinzip ist es zwar richtig, wissenschaftlich fundierte Ziele so zu setzen, dass wir die Überschreitung bestimmter CO2-Budgets verhindern, von denen wir wissen: sie ziehen sehr viele sehr gravierende Konsequenzen nach sich, deren Gesamtvolumen kaum vorhersehbar wäre. Deshalb würde es nicht nur sehr teuer werden, sondern auch sehr viele Dinge, die wir heute noch gewohnt sind, unmöglich machen, wenn wir diese Nutzungsgrenzen überschreiten.

Und warum ist die Frage nach Gradzahlen nun kontraproduktiv?

Weil wir anhand dieser Budgets rückwärts rechnen sollten, wie viel CO2 wir in welcher Zeit noch verbrauchen dürfen und einen Transformationspfad bauen, den man daran messen muss, ob die Maßnahmen im richtigen Verhältnis zum Ziel stehen. Wenn wir jedoch direkt nach der Zielvereinbarung diskutieren, ob die 1,5 oder 2,0 Grad überhaupt noch erreichbar sind, anstatt einfach das, was wir wissen, so schnell wie irgend möglich umzusetzen, verlabern wir weiter unsere Chancen und erwecken den Anschein, als ob es sich sonst nicht mehr lohne, als ginge es um einen Schalter, Klimawandel an oder aus. Dabei geht es darum, dass auch 2 Grad noch viel, viel, viel besser sind als 3 Grad Erhitzung. Aus der Notwendigkeit zu handeln, kommen wir also gar nicht heraus.

Die Botschaft lautet also?

Weder wie ein Reh im Scheinwerferkegel aufs herannahende Temperaturziel zu starren noch wie ein Faultier irgendwann vom brennenden Baum zu plumpsen, sondern sich klarzumachen: 1,6 Grad sind viel besser als 2 Grad und 2,1 Grad viel besser als 3. Denn die will wirklich niemand von uns erleben.

Bedeutet das aus krisenkommunikativer Sicht demnach, bei den Zielmarken möglichst unkonkret zu bleiben und dafür das Mindset der Menschen so zu beeinflussen, dass sie zur Veränderung der Wegmarken bereit sind?

Beides ist wichtig. Wir brauchen quantifizierbare Zielgrößen, sonst ist ja unklar, wie schnell wir agieren sollten. Aber wir brauchen eben genau die vielen kleinen Zwischenziele, die dann zeigen, ob wir auf Kurs sind. Also ob wir es jetzt schaffen, den Trend zu drehen, anstatt schon wieder mehr Emissionen als zuvor auszustoßen. Denn je weniger das in Frage gestellt wird und umso konsequenter die Lenkungswirkung der politischen Mittel auf die Zielmarken ausgelegt und ihre Wirkung gemessen wird, umso eher wird auch die Aufmerksamkeit und Alltagspraxis der Menschen verändert.

Was bedeutet das für die politische und publizistische Kommunikation?

Dass die Menschheit darin als lernbereite, anpassungsfähige und kreative Spezies dargestellt wird, die ihre Zukunft selbst gestalten kann, sofern sie sich nicht von einem Konsum-, Bequemlichkeits- und Anspruchsnarrativ unterwerfen lässt, das wir mit viel Geld dahinter normalisiert haben.

Aber wenn die Mehrheit der Menschen in dieser Komfortzone den Klimawandel akzeptieren, während nur eine Minderheit bereit ist, persönlich Konsequenzen daraus zu ziehen – reichen da Appelle an die Eigenverantwortung oder muss die Gesetzgebung ran?

Sowohl als auch. Wobei wir hier mal wieder vorsichtig sein sollten mit solch hypothetischen Spielchen und Framings, die nicht den empirischen Befunden entsprechen: wiederholt geben 80 Prozent der Deutschen an, dass Klimaschutz unter den Top 2-3 der wichtigsten Themen für sie sind. Ja, es gibt den Gap zwischen Sagen und im Alltag tun.

Ein gewaltiger Gap sogar…

Darum ist es zentral, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingen und politischen Strategien, in denen Industrie- und Lebensmittelproduktion, Mobilität oder Infrastrukturen geplant, subventioniert, angereizt und gefördert werden, grundlegend neuordnen, damit Nachhaltigkeit zum Standard und für alle überall zugänglich wird. Damit entwickeln wir dann auch hier die Lösungen, die im 21. Jahrhundert die wiederum Chancen auf globale Verbreitung haben. Dieser Kreislauf muss so kommuniziert werden, dass jene, die überzeugt werden wollen, auch überzeugt werden können.

Das bremsen konservative Politiker*innen und ihre Medien im Rahmen ihrer Wahlzyklen allerdings gern mit der Floskel aus, alle mitnehmen zu müssen, also nicht ständig mit Konsequenzen und Wahrheiten zu verschrecken.

Wie schon angedeutet, lassen sich mittlerweile theoretisch 80 Prozent, die den Klimawandel als reale Bedrohung betrachten, sehr wohl mitnehmen. Diese Menschen sind in großer Sorge, aber in noch größerer davor, dass Politik, Wirtschaft und die Medien zu wenig dagegen unternehmen. Das heißt, dieses Rumdrücken, Wahrheiten zu unterschlagen, beeinträchtigt das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit weit mehr, als sie klar zu formulieren. Das Überforderungsnarrativ hinkt der öffentlichen Wahrnehmung extrem hinterher – was sich auch darin zeigt, dass Politiker wie Robert Habeck, der unbequeme Wahrheiten offener ausspricht, im Sympathieranking weiter oben stehen als jene, die zögern. Wer Probleme transparent benennt, kommt in den Lösungsmodus, wer sie verschweigt, schürt Ängste ob versteckter Agenden.

Klingt nach Innenminister Thomas de Maiziere, der 2016 nach der Absage eines Fußballländerspiels im Zuge einer Anschlagswarnung öffentlich sagte, nähere Informationen darüber würden die Bevölkerung verunsichern…

Hm, also böse Absichten von Mitmenschen sind aus meiner Sicht noch etwas anderes als naturwissenschaftliche Fakten und entsprechende Risikoabwägungen. Aber in beiden Fällen sehen wir eine große Zahl sich selbstverantwortlich einbringender Menschen. Viele wünschen sich mittlerweile aber auch deshalb mehr Regeln und Verbote, weil ihnen auf Instagram und Facebook ständig präsentiert wird, wie andere ihr ressourcenintensives Leben einfach weiterführen, während sie selbst sich freiwillig einschränken. Wie wichtig klar kommunizierte Regeln sind, zeigt sich ja auch in der Pandemie.

Inwiefern?

Im ersten Lockdown sind bis auf systemrelevante Berufe die meisten bereitwillig zuhause geblieben, weil alles klar kommuniziert und einheitlich geregelt war. Ergebnis: breiter Zuspruch für die Corona-Maßnahmen. Im zweiten Lockdown hingegen gab es zahllose Ausnahmen und ständige Regeländerungen, keine klar formulierte Strategie, nach der die Maßnahmen eingeschätzt werden konnten. Ergebnis: großer Vertrauensverlust. Die meisten sind bereit, ihr Verhalten zu verändern, sofern es alle gleichermaßen trifft und nicht nur die mit wenig Geld oder Einfluss. Und damit zurück zur Frage danach, alle mitnehmen zu müssen: Es gibt ja nicht ein einziges Politikfeld, auf dem jemals im Konsens entschieden wurde, aber im Bereich des Klimaschutzes soll das plötzlich notwendig sein? Das ist keine Demokratie, sondern Realitätsflucht.

Aber welche Rolle spielen denn nun wir, die Medien, um – wenn schon keinen Konsens, so doch wenigstens – allgemeine Akzeptanz unwiderlegbarer Realitäten zu erzielen?

Durch umfassende, ausgewogene Informationen. Dauerhaft. Es gibt da zum Beispiel die Initiative KLIMA° vor acht, die einerseits um ehrliche Aufklärung über den Stand des Klimawandels und der restlichen CO2-Budgets bemüht ist, andererseits mehr mediale Aufmerksamkeit für Lösungen zur Primetime fordert. Menschen lernen unter drei Motivationsfaktoren: moralisch, um schlechte Zustände zu beenden; innovativ, um bessere Zustände zu erreichen; und komparativ, indem sie etwas Überzeugendes nachmachen. Berichterstattung, die beschreibt, was ist, wie es sich verbessern lässt und was das Einzelnen ebenso wie allen anderen bringt, ist zielführende Berichterstattung.

Haben Sie das Gefühl, publikumswirksame Medien haben das im Großen und Ganzen auch verstanden?

Ich würde das eher an Individuen als Medien festmachen. Es gibt in unterschiedlichen Redaktionen unterschiedlicher Bereiche Vorreiter*innen, die das sogar ganz hervorragend machen. Ein Mike Moser zum Beispiel, der fundierte, reportageorientierte Berichterstattung bei RTL macht, die ihm öffentlich-rechtlich offenbar nicht möglich war.

Interessant, dass Sie angesichts der großen Zahl öffentlich-rechtlicher Journalisten von Dirk Steffens bis Ranga Yogeshwar ausgerechnet einen des vielgescholtenen Privatfernsehens nennen…

Genau dadurch, dass es nicht erwartet wird, erreicht es eben auch neue Zielgruppen. Verstörend ist demgegenüber der Opportunismus von Journalist*innen, die einerseits bereit sind, jede Nachricht entsprechend dem emotionalen Zustand der Gesellschaft zum Drama aufzublasen, es andererseits dann aber als Zumutung darstellen, analog zur Dramatisierung Konsequenzen zu ziehen.

Sie sprechen von der Bild-Zeitung

Ach, ich möchte da jetzt gar nicht einzelne Medien an den Pranger stellen, aber natürlich ist es ein Problem, wenn Wissenschaftler*innen für ihre Erkenntnisse als „Klima-Expertokratie“ oder „Lockdown-Macher“ verunglimpft werden. Wer der gesellschaftlichen Verantwortung nachkommt, auch unbequemes Wissen zu teilen, bietet dem Boulevard offenbar Angriffsflächen. Dann kommen noch so Sätze wie „wer die Hitze nicht ertragen kann, sollte nicht in die Küche gehen“. Es ist aus meiner Sicht was sehr anderes, ob ich Öffentlichkeit für meine Person suche, oder ob ich Öffentlichkeit für überlebensnotwendiges Wissen suche.

Wenn Sie hier keine klassischen Medien an den Pranger stellen wollen – könnten Sie das mit den sozialen tun, die zwar zur Erweiterung und damit Demokratisierung der Debattenräume führen, andererseits aber auch zu deren Radikalisierung?

Die Plattformen an sich bieten zunächst mal allen gleichermaßen Platz zur Entfaltung. Aber durch die Algorithmisierung der Beitragspräsenz werden negative Emotionen und Tabubrüche bekanntlich schneller nach oben gespült. Das verzerrt die Wahrnehmung dessen, was inzwischen als normal gilt. Auch, was die Umgangsformen betrifft, hat es eine Erosion zum Negativen gegeben. Auf der anderen Seite sehen wir aber, wie aufklärerische Positionen dank Social Media eine Präsenz kriegen, die auf den Plattformen klassischer Medien kaum möglich wäre.

Ein Rezo zum Beispiel.

Oder auch eine Mai Thi Nguyen-Kim, die ebenso wie viele Podcaster*innen ihre Informationen in einer Form und Frequenz verbreitet, mit denen tradierte Medien schwerer klarkommen oder sie nun kopieren und bei sich einbauen. Eine Rückbesinnung auf die Funktion von Medien als 4. Gewalt ist aber aus meiner Sicht noch etwas anderes und kann nur funktionieren, wenn das Spielfeld Debattenräume sorgfältig kuratiert und Beiträge gut recherchiert werden. Einen solchen Schutzraum gibt es auf Social-Media-Kanälen natürlich nicht. Ich merke ja bei mir selbst, wie ich mich vor manchen Tweets frage, ob ich die Kraft habe, das Feuer zu parieren.

Als Wissenschaftlerin oder als Frau?

Beides, aber letzteres ist die schwerere Rolle. Selbst Wissenschaftlerinnen, die nie persönlich werden, werden nachweislich anders und öfter als ihre Kollegen auf einer sehr persönlichen Ebene dafür attackiert, wie sie reden, aussehen, agieren. Schutzräume, in denen sich Menschen aller Art trauen, Dinge barrierefrei darzulegen, müssen wir als zivilisatorische Errungenschaften verteidigen.

Was ist da Ihr Ratschlag als wissenschaftliche Publizistin an Gleichgesinnte, die sich gegen eine kleine, aber sehr laute Minderheit behaupten müssen: dagegenhalten oder ignorieren?

Da gibt es mehrere Strategien, aber die wichtigste vorweg: ich halte bei direkten Angriffen oft gegen, würde aber niemals Menschen persönlich, also anders als evidenzbasiert angehen. Mir geht es daher selten um Einzelfälle, sondern ich versuche die Muster aufzuzeigen, die sich abspielen. Also nicht, dass ich als Frau angegriffen werde, sondern dass diese Form von Angriff nachweislich Frauen viel häufiger trifft. Mir ist an Transparenz über die strukturelle Verhältnismäßigkeit gelegen.

Aber weil diese Verhältnismäßigkeit tendenziell eine strukturelle Unverhältnismäßigkeit zugunsten der Lauten, Brutalen, Bauchorientierten ist, fragen sich die Leisen, Friedfertigen, Vernunftbegabten langsam: sollten wir nicht – ohne dabei die Sprache der Hater zu übernahmen – nicht auch mal zurückpöbeln?

Bei mir persönlich endet der Versuch der Überzeugung spätestens nach zwei Schritten, in denen die andere Seite zeigt, dass es ja gar nicht um die Inhalte geht. Aber Zurückpöbeln? Als Wissenschaftlerin möchte ich einfach mit Fakten und Quellen arbeiten, nicht mit Beschimpfungen. Denn viel schlimmer ist ja, dass viele der Zivilisierten den Diskursraum verlassen, wenn es zu fies wird.

Aber wenn Sie schon bei bloßer Wissenschaftskritik taktvoll bleiben – wie ist es dann bei der nächsthöheren populistischen Zündstufe: manifester Wissenschaftsfeindlichkeit, die Haltung mit Wissen gleichsetzt und Youtube-Videos höher gewichtet als evidenzbasierte Forschung?

Aus eigener Erfahrung können Sie diese Personen sowieso nicht medial, sondern nur im persönlichen Austausch erreichen. Ich bin keine Medienwissenschaftlerin, finde aber interessant, was Bernhard Pörksen als solcher dazu gesagt hat: Wichtiger als Debunking, also die reaktive Wiederlegung von Fake News, sei Prebunking – die aktive Vorbeugung wissenschaftsfeindlicher Behauptungen, bevor sie zum Trend werden. Zugleich sollten wir uns aber davor hüten, solche ersten Behauptungen zu Trends hochzuschreiben und die Filterblasen, in denen sie entstehen, damit aufzuwerten. Je öfter wir diese Spaltung der Gesellschaft herbeischreiben, desto mehr betrachten Menschen die Welt durch diese Perspektive, desto größer könnte dieser Spalt werden. Ähnliches gilt für die erwähnte Wissenschaftsfeindlichkeit. In der Pandemie hat sich zuletzt ja die Wertschätzung großer Teile der Gesellschaft für Wissenschaft und Forschung gezeigt.

Und beim Klimawandel?

Fiel mir grad auf, wie Ökonomen, die zuvor moralisierende Bevormundung durch jahrzehntelangen Klimaforschung deklariert haben, einige Änderungen in ihr makroökonomisches Modell getippt haben und der Bundesregierung daraufhin empfehlen, die Gasimporte aus Russland sofort zu stoppen, sonst würde sie unmoralisch und feige handeln. In dieser Form sollte sich Wissenschaft aus meiner Sicht nie in politische Diskurse einmischen. Wir können nur die wissenschaftliche Grundlage politischer Entscheidungen liefern und aus Expertensicht bewerten, ob die Maßnahmen auch zu den deklarierten Zielen passen, nie die Entscheidungen, welche Ziele aufgegeben werden und bei welcher Risikokalkulation. Da ist unsere Zunft gut beraten, mit der Macht, die wir durch Forschung und Prognosen haben, verantwortungsvoll umzugehen.

Waren Sie selbst schon mal Teil von Enquete-Kommission oder Wissenschaftsbeiräten, die politische Entscheidungen gezielt herbeiführen?

Nein. Ich werde zwar öfter wegen meiner wissenschaftlichen Expertise angehört, bin also beratend tätig. Aber solche Kommissionen bleiben in der Regel denen vorbehalten, die an der Spitze wissenschaftlicher Institutionen oder der Zivilgesellschaft sitzen und sie damit auch repräsentieren.

Finden Sie eigentlich, dass die Leugnung des Klimawandels angesichts seiner unwiderlegbaren Existenz ein Straftatbestand wie Hatespeech sein sollte?

(überlegt lange) Ich bin tatsächlich gerade intensiv damit befasst, inwieweit das Nichthandeln juristisch als Verstoß gegen die völkerrechtlichen Verträge aber auch unsere Verfassungsziele zu ahnden sind. Aber dass eine x-beliebige Person das nicht mehr leugnen kann, das ginge mir zu weit. Viel wichtiger finde ich daher, dass Wissenschaftler*innen, deren Erkenntnisse regelmäßig falsifiziert werden, die aber dennoch gegen unwiderlegte Kolleg*innen polemisieren, nicht als gleichberechtige zweite Meinung in den Medien gehört werden.

Stichwort False Balance.

Oder False Bias. Da muss der öffentliche Raum selbst dann sorgfältig kuratiert werden, wenn die Redaktion einer Talkshow meint, Meinungspluralität widerspiegeln zu müssen. Stichhaltige Evidenz liefern und eine Meinung haben, sind eben nicht das Gleiche – wie das stichhaltige Monitoring der Einhaltung von Zielen nicht das Gleiche ist, wie Ziele zu definieren. Um zu zeigen, dass selbst ein überwältigender Konsens weiter von einigen bestritten wird, muss man die Wenigen ja nicht gleich in identischer Anzahl einladen; es reicht, ihre Existenz zu erwähnen.

Und den Rest erledigt gutes Fact Checking?

Theoretisch ja. Praktisch war es vor der letzten Bundestagswahl so, dass Klimawissenschaflter*innen sich die Parteiprogramme durchgeschaut haben, die sich zu den Pariser Klimazielen bekennen, und erkannt haben, dass nicht eins davon ausreichende CO2-Einsparpotenziale enthält. Bei denen, die am schlechtesten abgeschnitten hatten, war die Reaktion darauf dann der Vorwurf, die Wissenschaft reagiere damit ideologisch. Da fällt mir nix mehr ein.

Aber wie berichten Medien zwischen Politik, die in Wahlperioden denkt, und Wissenschaft, die in Epochen denkt, denn nun so, dass das Publikum ausreichend informiert wird, ohne angesichts der Katastrophen von Klima über Krieg bis hin zu Inflation oder Energiekrise in Dauerpanik zu geraten?

Indem sie die Bücher von Sara Schurmann oder Maren Urner lesen und weder beschönigen noch berichten, dass es bald eh zu spät sei, sondern aufzeigen, wieso es dringend und kein vorübergehender Trend ist und welche Handlungsspielräume existieren.

Anders gefragt: müssen sich die Medien in der Klimaberichterstattung zwischen Alarmismus und Diplomatie entscheiden oder geht beides?

Gegenfrage: ist eines von beiden denn Ihr Auftrag? Besteht der nicht darin, ehrlich zu berichten, wo wir stehen und Leute zu zitieren, die nach Lösungen suchen? Da gibt es mittlerweile ja Schlagworte wie „konstruktiver Journalismus“ oder aus dem Englischen „solutions journalism“. Schönreden ist jedenfalls Quatsch! In einer partizipativen, lösungsorientierten, lernfähigen Gesellschaft möchte doch niemand erst dann gewarnt werden, wenn die Katastrophe da ist. Genau das aber ist beim Klimawandel geschehen, so dass es jetzt schockbasierte Innovationen braucht, um auf die Krise zu reagieren.

Wobei Sie selbst mit dem Satz, Corona sei verglichen mit dem Klimawandel Pillepalle angesichts der globalen Dramatik dieser Pandemie durchaus schockbasiert argumentiert haben…

Wo wir hier über Verantwortung der Medien reden: Das Zitat stammt aus einem Hintergrundgespräch, in dem ich anderthalb Stunden lang hochkomplexe Zusammenhänge aus jeder möglichen Perspektive zu erklären versucht habe, aber was landet in der Überschrift und letztlich gar in meinem Wikipedia-Eintrag? Dieser eine, aus dem Zusammenhang gerissene Satz, und das Portrait aus dem Gespräch hat mich dann wie eine wissenschaftliche Punkrock-Göre dargestellt. Das ist für mich eben kein verantwortungsbewusster Journalismus.

Dennoch: war der Vergleich statthaft?

Angesichts der Tatsache, dass eine Pandemie irgendwann vorbei ist und zwar Menschen befällt, aber nicht die Lebensgrundlagen zerstört: ja. Insofern sollte der Vergleich mal wieder die Verhältnismäßigkeit anregen und zeigen, dass wir bei Corona viel drastischere Maßnahmen ergreifen, weil eben Ursache und Wirkung zeitlich und räumlich eng beieinanderliegen. Mehr nicht.

Gibt es aus Ihrer Sicht als publizistisch tätige Wissenschaftlerin so etwas wie einen weder didaktischen noch verharmlosenden journalistischen Handlungsleitfaden „Klimawandel erklären?“

Mein Tipp wäre die Erwähnung und Erklärung des Begriffs „Anthropozän“.

Also die Klassifizierung unserer erdgeschichtlichen Epoche als menschengeprägt.

Weil wir in einer Welt leben, die sich radikal von jener vor der Industrialisierung unterscheidet, ist die Idee, vorindustrielle Lösungen oder auch nur solche des frühen 20. Jahrhunderts zur Gestaltung des Anthropozäns zu wählen, schlicht und einfach aus der Zeit gefallen. Bevor wir Lösungen suchen, müssen wir erstmal die aktuelle Lage richtig verstehen. Und neben der Erderhitzung gehören dazu auch das Artensterben, Vermüllung, die Begrenztheit materieller Ressourcen. Wir leben in einer komplett anderen Gesamtsituation als sie in der menschlichen Geschichte bisher gegeben war. Kontext herstellen ist die Aufgabe der Medien.

Jetzt sorgt die Erkenntnis, wie endlich sie wirklich sind, dafür, dass wir hier im Westen unser Konsumverhalten grundlegend ändern müssen. Wie sähe da der journalistische Handlungsleitfaden „Wohlstandseinschränkung erklären“ aus?

Er würde zuallererst mal die Begrifflichkeiten klären. Wenn wir solche wie „Wohlstand“ oder „Konsum“ und ganz wichtig: „Wachstum“ entglorifizieren und auseinandernehmen, was sich dahinter verbirgt und warum das immer positiv sein sollte, dann kämen wir schon ein Stück weit aus der Panikzone des Verlustdenkens heraus. Ob mit Wachstum das zunimmt, was wir uns unter Wohlstand vorstellen oder ob mit Konsum Wertschöpfung verbunden ist, sagen so abstrakte Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt gar nicht aus. Wir brauchen ein neues Fortschrittsvokabular, und da könnte der Journalismus auch mithelfen.

Welche Vokabeln schlagen Sie vor?

Wertschöpfung ist doch ein super Start: was empfinden wir als wertvoll? Und wie drückt sich das in Zahlen aus, mit denen wir ökonomische Geschichten von Kosten-Nutzen oder „leisten können“, von „wirtschaftlich handeln“ oder „erfolgreich sein“ erzählen? Ist der soziale, ökologische, menschliche Mehrwert aus einer Produktion oder einer Leistung in den Preisen ausgedrückt? Oder die Minderwerte, die wenig rücksichtslose Produktionsprozesse mit sich bringen? Dann würden die Geschäftsmodelle, Tätigkeiten und Investitionen honoriert, die ökologisches, soziales, menschliches Vermögen in einer Gesellschaft aufbauen, anstatt dass wir jubeln, wie viel Geld irgendwo angehäuft wird, egal wer dafür aus Wohnungen vertrieben oder Landflächen verloren hat, wie die dann genutzt werden und ob die Nutzung den Bestand langfristig gut erhält oder regeneriert. Ohne einen Blick auf diese qualitativen Fortschrittsfragen, starren wir gebannt auf den Wachstums-Tacho und fragen dabei weder, wohin es eigentlich gehen soll oder was die Tankanzeige so sagt.

Und bei diesem Tachoblick gilt aus publizistischer Sicht dann auch: nicht sagen, was schlecht ist, sondern wie wir es besser machen?

Ja klar! Wenn wir mal ehrlich bilanzierten, sähen viele an Nachhaltigkeit orientierte Veränderungen direkt wie ein Schritt nach vorn aus (lacht). Natürlich darstellen, wie sehr die konventionelle Landwirtschaft die Böden ruiniert, aber gekoppelt an die Information, wie regenerative Landwirtschaft den Böden dabei hilft, wieder Nährstoffe und Wasser zu speichern. Gleiches gilt für Mobilität, Stadtplanung. Bebauung eines Planeten, dessen Landfläche begrenzt ist. Eher positiv sein und Mut machen.

Geht es auch darum, Verzicht nicht als Verlust, sondern Zugewinn darzustellen, und Wohlstand weniger materiell als immateriell, in Form von Ruhe, Zeit, Konzentration aufs Wesentliche zum Beispiel?

Es geht vor allem um Verantwortung und die Freiheit, auch wieder aufhören zu können. Dass Konsumismus Wohlstand mehrt, ist doch kein Naturzustand, sondern das Narrativ unablässiger Werbebotschaften. Dass mangelnder Konsumismus unsere Wirtschaft ins Stottern bringt, ist der eigentliche Elefant im Raum. Aber an den will keiner ran, dann müsste nämlich deutlich mehr verhandelt werden als weniger schädliche Produkte zu shoppen.

Die oftmals Greenwashing betreiben. Wie verhindere ich als Journalist, darauf hereinzufallen?

Nach transparenten Kriterien und Zeitreihen fragen, nach etablierten Reportingstandards Dritter anstatt Eigenlabeln gucken, mal bei der Verbraucherzentrale oder der Deutschen Umwelthilfe nachfragen.

Sind Sie selbst durch ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema gefeit gegen dieses Narrativ?

Weitgehend schon. Bei mir verfängt dieser Werbemist schlichtweg selten – außer, es geht um solche für Carsharingportale, auf die ich auch erst durch Anzeigen aufmerksam gemacht werden musste. Aber durch mein Wissen darüber, was hinter Statussymbolik und Massenproduktion steckt, kriege ich immer so ein schales Gefühl, wenn jemand zu suggerieren versucht, mir würden ganz dringend irgendwelche Konsumgüter fehlen, mit denen alles so irre unbeschwert und cool werde.

Haben Sie trotzdem ein paar guilty pleasures?

Mein Warmwasserverbrauch ist definitiv noch nicht auf nachhaltigem Niveau, weil Duschen nach einem anstrengenden Tag für mich die effektivste Form der Rehabilitation ist. Außerdem habe ich ein Faible für handwerklich ausgefeilte, langlebige, ästhetische Dinge. Davon brauche ich dann aber nicht viele, sondern mag wenige, die dann eben auch mehr kosten dürfen.

Wie ist es mit den schmutzigen Vergnügen Fleisch?

Ich esse seit 25 Jahren gar kein Fleisch mehr. Die Bilder der brennenden Kadaver-Berge in der BSE-Krise haben mir die Perversion unseres Fleischsystems aufgezeigt. Und inzwischen mag ich es einfach nicht mehr, nicht mal, wenn mir ein Bauer ganz stolz sein Galloway aus regenerativer Landwirtschaft anbietet.

Fliegen?

Fast nie. Weil ich als Mutter von zwei Grundschulkindern die Reisezeiten mit dem Nachtzug nicht schaffe, sage ich deshalb sehr viele Vorträge im Ausland ab. Langstrecke bin ich zuletzt vor vier Jahren für einen langen Urlaub geflogen.

Und zwei Kinder in einem Industrieland – aus Sicht vieler Klimaschützer*innen die ressourcenintensivste Anschaffung?

Da halte ich es mit dem Steady-State Ansatz! Denn ob es mit dem eigenen Aussterben besser läuft für unsere Spezies? Ich weiß nicht… Interessanter ist aber, dass bei dieser Thematik nie gefragt wird, wie sich das eherne Gesetzt auswirkt, dass wir alle so lange wie irgend maschinell möglich leben sollen, wenn wir einmal da sind. Warum ist das Tabu noch größer als das der Frage nach den neu dazukommenden Menschen?

Und die Antwort lautet?

Da halte ich es mit dem Steady-State Ansatz. Denn ob es mit dem eigenen Aussterben besser läuft für unsere Spezies? Ich weiß nicht… Interessanter ist aber, dass bei diesem Zugang zur Ressourcen-Thematik nie gefragt wird, wie sich das eherne Gesetzt auswirkt, dass wir alle so lange wie irgend maschinell möglich leben sollen, wenn wir einmal da sind. Warum ist das Tabu noch größer als das der Frage nach den neu dazukommenden Menschen? Die Brücke zwischen beiden wäre die Frage nach dem guten Maß – eine Frage, die sich immer wieder sehr lohnt, zu stellen, gerade weil unsere Kultur sie seltsam konsequent abgestellt hat.

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Lindners Löhne & Eyssens Sisi

Die Gebrauchtwoche

TV

19. – 25. September

Man muss sich das kurz im neoliberalen Ohr zergehen lassen: Christian Lindner, Fan besinnungsloser Autobahnraserei und Apothekenprofite, schlägt vor, Bezüge zu deckeln, und zwar ausnahmsweise nicht diejenigen arbeitsloser oder ähnlich einkommensschwacher Menschen, denen er das Existenzminimum nicht unterm Fingernagel gönnt. Nein: Besserverdienenden, also seinesgleichen. Zumindest, sofern sie Teil der öffentlich-rechtlichen Führungsspitze sind, deren Reporter*rinnen oftmals allzu kritisch mit der FDP umgehen.

Ach ja, anschließend forderte er – unter Umgehung staatsvertraglicher Kenntnisse – auch noch, die Rundfunkbeiträge zu deckeln. Grund dafür: eine öffentlich-rechtliche Doppelberichterstattung der Queen-Beerdigung, was – trotz 4,1 Milliarden Welteinschaltquote, die auch deutsche Medien von einer argentinischen Bloggerin abgeschrieben habe – fürwahr kein gebührenfinanziertes Ruhmesblatt war, aber gleich Anlass zum Bruch mehrerer Verfassungsgerichtsurteile? Für Lindner schon, den man da allerdings hören möchte, wenn nur einer der beiden Sender vom nächsten FDP-Parteitag berichtet.

Und warum blieb ein Finanzminister, der Mietpreisdeckel kommunistisch findet, aber Gaspreisdeckel liberal, eigentlich stumm, als die Tagesthemen am Dienstag gleich von zwei Personen moderiert wurden? Ach ja, weil Ulrich Wickert nur mal kurz bei Caren Miosga reinschneite, um ihr dafür zu gratulieren, dass sie ihn als Moderator mit der längsten Dienstzeit abgelöst hat. Eine Doppelspitze gibt es dagegen, wenn RTL Ende 2022 das ablaufende Jahr Revue passieren lässt. Neben Thomas Gottschalk am Mikro, Achtung: Karl Theodor zu Guttenberg, der selbst für CSU-Verhältnisse ausgesprochen egoman und windig war.

Also ganz gut zu Gottschalk und Privatsendern passt… Da dürfte die Bild-Zeitung doch balkenbreit frohlocken, dass zwei ihrer Zugpferde gemeinsam vor der Kamera stehen. Zumal der zugehörige Internet-Sender Bild TV dank umfassender Kooperationen mit RTL noch nicht mal fremdes Material nutzen muss. Wie jenes, das er ARD und ZDF vor einem Jahr nach der Bundestagswahl geklaut hatte – und nun auch im zugehörigen Urheberrechtsstreit unterlag.

Die Frischwoche

26. September – 2. Oktober

Ob die Nachkommen derer zu Habsburg, einst das mächtigste Adelsgeschlecht Europas, Netflix fürs nächste Biopic ihres süßesten Gesichtes belangen wird, bleibt abzuwarten, aber sie ist wieder da: Sisi. Auch wenn Die Kaiserin der Herzen in Katharina Eyssens opulentem Sechsteiler partout Elisabeth genannt werden will. Als solche landet die Märchenprinzessin neun Monate nach der RTL-Serie Sisi in Franz-Josefs Käfig – allerdings ästhetisch so, als hätte Wes Anderson Babylon Berlin in Schloss Schönbrunn gedreht.

Schwer zu sagen, ob das kreativ oder unfreiwillig komisch ist, aber den Aberwitz dieser tausendfach verklärten Lovestory expressionistisch zu überdrehen, bleibt zumindest unberechenbar. Das hätte wohl auch Pistol gern von sich behauptet, ist nach Lage der Teaser (Disney+ hat bis zum Upload dieser Kolumne keine Screener geschickt), aber nur ein schaler Versuch, die Ur-Punks ab Mittwoch serientauglich zu kostümieren. Und damit zu einer Serie, die parallel an gleicher Stelle ohne Kostüm zum Besten zählt, was 2022 hervorbringen dürfte

In The Old Man spielt der unvergleichliche Jeff Bridges einen CIA-Agenten a.D., den die Vergangenheit als tödliche Allzweckwaffe abrupt aus seinem Exil in Verfolgungsjagden von ergreifender Intensität zieht. Was der Siebenteiler aus dem gleichnamigen Roman von Thomas Perry macht, ist somit nicht weniger als die Entdeckung der Actionlangsamkeit, an der man sich kaum sattsehen kann. Internationale Qualität eben, die deutsche Produktionen bisweilen fast mutwillig unterlaufen.

Die ZDF-Mediathek zum Beispiel mit dem nächsten Kommissar (Ulrich Noethen) der Samstag aus einer Großstadt (Hamburg) in die Provinz (Wendland) versetzt wird, wo er beim Mordermitteln seine Marotten kultiviert. Noch berechenbarer ist die Mystery-Serie Another Monday mit der verrückten Idee, drei Charaktere morgens in einer Zeitschleife erwachen zu lassen. Vielleicht sollte man das mal mit einem Murmeltier versuchen… Besser machen es da zwei Dokus: Passend zur linearen Ausstrahlung vom Lausitz-Drama Lauchhammer zeigt die ARD-Mediathek Hinter dem Abgrund, einer vierteilige Milieustudie übers (Über-)Leben im ehemaligen Braunkohlerevier. Und Samstag beleuchte Sky drei Teile lang das Leben und Sterben der Grünen-Ikone Petra Kelly.


Steffen Klusmann: Spiegel & Relotius

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Einen unglaubwürdigen Spiegel braucht keiner

Ausgerechnet während seiner größten Krise hat Steffen Klusmann (Foto: Tim Brüning) vor vier Jahren Deutschlands wichtigstes, weil einziges Nachrichtenmagazin übernommen. Ein Gespräch mit dem Spiegel-Chef über Claas Relotius und Compliance-Regeln, das Sturmgeschütz der Demokratie im Krisenmodus und das beste Geschäftsjahr der Geschichte. 

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Klusmann, was machen Sie am Abend des 29. September?

Steffen Klusmann: Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. An dem Tag startet der Relotius-Film im Kino, richtig?

Tausend Zeilen von Bully Herbig mit Jonas Nay als Claas Relotius und Elyas M’Barek als Juan Moreno.

Ich durfte den Film schon sehen, im Rahmen einer kleinen Preview. Zweimal muss ich nicht rein (lacht).

Gab es im Vorweg irgendeine Art der Zusammenarbeit – und sei es nur, um sich gegenseitig juristisch abzusichern?

Nein, das lief ohne Absprache. Unser Kollege Juan Moreno, auf dessen Buch der Film basiert, hat meines Wissens am Drehbuch mitgeschrieben. Aber da es sich nicht um eine Doku handelt, sondern um eine Satire, waren wir außen vor. Wäre auch schräg, wenn wir darauf Einfluss genommen hätten.

Als der Fall Ende 2018 publik wurde, waren Sie noch offiziell beim Manager Magazin, aber schon als Spiegel-Chefredakteur vorgesehen.

Ich hatte schon gewechselt und saß im 2. Stock mit Ullrich Fichtner, um mit ihm und Barbara Hans die Fusion von Online und Print vorzubereiten. Operativ habe ich noch die Finger rausgehalten, das war erst für den Jahreswechsel vorgesehen.

Was haben Sie dann am 2. Januar bei Ihrer offiziellen Amtsübernahme für eine Redaktion vorgefunden?

Angesichts des Desasters, das der Skandal für den Spiegel, die Branche, den deutschen Journalismus im Ganzen angerichtet hat, eine ziemlich verunsicherte. Wir hatten wirklich Sorge, ob die Marke diese Krise übersteht. Der Fall Relotius hat die Grundfesten unserer Glaubwürdigkeit erschüttert, und Glaubwürdigkeit ist für die Art von kritischem Journalismus, die wir betreiben, nun mal das alles entscheidende Gut. Einen unglaubwürdigen Spiegel braucht keiner.

Und – werden Sie noch gebraucht?

Sieht ganz danach aus. Wir haben den ganzen Skandal transparent gemacht, bevor ihn andere enthüllen konnten. Dafür haben wir eine unabhängige Kommission eingesetzt, die aufgeklärt hat, wie es zu dem Betrug kommen konnte. Dieser Kommission hat niemand reingequatscht. Der Abschlussbericht war schonungslos und hat wehgetan, aber am Ende mehr geholfen als geschadet.

Für Sie war es jedenfalls ein origineller Einstieg auf den vielleicht wichtigsten Chefposten der deutschen Medienbranche…

Auf so viel Originalität hätte ich gern verzichtet.

Mussten die strengen Compliance-Regeln – auch „Spiegel-Standards“ genannt – fortan nur besser angewendet werden oder grundlegend überarbeitet?

Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Compliance regelt der Corporate Governance Kodex. Für unsere Standards haben wir einen neuen Leitfaden erarbeitet: Drei Arbeitsgruppen haben die Art und Weise, wie wir recherchieren, konfrontieren, erzählen und verifizieren bis ins Detail formuliert. Auch um den grundsätzlichen Anspruch an unsere publizistische Arbeit wasserdicht zu verschriftlichen. Das kam einem gewissen Reinigungsprozess gleich, so haben wir uns nochmal vergewissert, wofür dieses Blatt, diese Marke einst gegründet wurde.

Und das wäre?

Wir hinterfragen, decken auf und ordnen ein, unerschrocken, kritisch, aber fair.

Hatte die parallele Zusammenlegung von digitalem und gedrucktem Spiegel Einfluss auf diesen Prozess?

Na klar. Dass die Fusion mit der Aufarbeitung zusammenfiel, war zwar ungeplant und eigentlich ein bisschen viel auf einmal. Andererseits hat es die Offenheit für grundsätzliche Veränderung gefördert, das hat die Fusion auch wieder leichter gemacht. Wir haben den Kolleginnen und Kollegen da ganz schön was zugemutet. Bei den beiden fusionierten Redaktionen hat wirklich kaum etwas zusammengepasst: Von der Arbeitsweise über die Kultur bis hin zur Zahl der Urlaubstage – alles war anders.

Der Journalismus auch?

Das Verständnis für Spiegel-Journalismus war natürlich ähnlich ausgeprägt, aber die Umsetzung eine völlig andere. Ein Wochenmagazin und ein schnelldrehendes Nachrichtenportal sind ganz unterschiedliche Gattungen. Bloß weil Sie Skilaufen können, heißt das noch lange nicht, dass Sie auch mit einem Snowboard zurechtkommen. Eine Tageszeitung mit einer Website zusammenzuführen, ist da deutlich einfacher. Beim Magazin ist der Anspruch an Dramaturgie, Recherchetiefe und Erzählform ein ganz anderer. Ich weiß aus Erfahrung beider Medien, wie schwer es ist, sich von der Kurz- auf die Langstrecke umzustellen.

Und umgekehrt?

Mehr Tempo draufzukriegen ist nach meinem Gefühl fast einfacher, als es rauszunehmen. Wobei auch beim gedruckten Spiegel nicht selten Geschwindigkeit zählt. Vor allem, wenn wir bei einer aktuellen Lage Mittwochabend nochmal den Titel drehen.

Ohne Qualitätseinbußen?

Ohne Qualitätseinbußen! Es gibt hier Leute, die schreiben in 6 Stunden aus einem Dutzend Zulieferungen einen 8-Seiten-Titel zusammen, vor dem man sich nur verneigen kann.

Wo war denn der Widerstand gegen die Fusion größer, bei den Onlinern oder im alten Print-Haus?

Die Vorbehalte waren ziemlich gleichverteilt.

Obwohl Vorbehalte neuer Medien gegen alte, vermeintlich träge generell größer sind?

Na ja, die einen fanden die anderen zu altbacken, die anderen fanden die einen zu leichtfüßig. Und da hat es anfangs natürlich geknirscht. Aber wir konnten relativ schnell den Beweis abliefern, dasssich das Zusammenrücken auszahlt. Insbesondere bei Großereignissen sind wir heute einfach besser, weil wir auf mehr Expertise zurückgreifen können. Früher hätten die Heftkollegen Sorge gehabt, dass spiegel.de ihnen die Exklusivität wegnimmt, und Recherchen für den Samstag zurückgehalten. Der Quatsch ist vorbei. Und das finden auch alle richtig so.

Gilt das auch für die Kundschaft?

Bislang hat sich noch kein Leser darüber beschwert, dass eine Geschichte erst bei Spiegel+ lief und dann im Heft. Warum auch? Kostet beides das gleiche. Entscheidend ist allein, dass die Geschichten einen Mehrwert bieten. Und den liefern wir – auch wenn es zynisch klingt – besonders in Krisenzeiten.

Katastrophen erhöhen das Kaufinteresse?

Sie erhöhen das Interesse an Informationen und Einordnung. Und das beherrschen wir nun mal ziemlich gut.

Gibt es abseits der Synergieeffekte auch Synergieverluste, für Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zum Beispiel?

Klar gab es Reibungsverluste. Jeder musste in dem neuen Konstrukt erstmal seine Rolle finden, sich ausprobieren. Die einen hatten das Gefühl, die Website sauge zu viele Ressourcen fürs Nachrichtengeschäft ab, andere sahen eher das Magazin im Vorteil. Für beides gab es gute Argumente. Fakt ist: Wir haben deutlich mehr Content produziert, hatten eine extreme Nachrichtenlage nach der anderen, was auf Dauer natürlich auch an den Kräften zehrt.

Ist dies der Grund, dass der Spiegel 2021 eines der bisher besten Geschäftsjahre hinlegen und entgegen dem Trend anderer Medien Absatz und Umsatz steigern konnte?

Unter anderem. Wenn in der Welt viel passiert, profitieren wir davon. Immer vorausgesetzt, wir haben ein gutes Angebot. Und das hatten wir. Jetzt geht es darum, nachzujustieren und feinzutunen, um das Programm noch besser zu machen.

Wo zum Beispiel?

Es gibt immer wieder Geschichten, von denen wir uns eigentlich mehr Abos oder Reichweite erwartet hätten. Das Gute ist: Wir können in unserem Geschäft ja inzwischen genau tracken, wie gut unsere Stoffe beim Publikum ankommen. So sehr dieses ständige Tracken manchmal auch nervt – es zeigt uns ohne langen Zeitverlust, was die Leute interessiert und was nicht.

Darf ein Leitmedium wie der Spiegel nachfragegetriebenen Journalismus betreiben?

Er darf nicht, er muss. Wir machen den Spiegel ja nicht für uns, sondern für die Leserinnen und Leserinnen da draußen. Und da kann es nicht schaden, wenn wir Angebot und Nachfrage ein bisschen intensiver aufeinander abstimmen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir unseren publizistischen Anspruch aufgeben. Nur wer zu sehr um sich selbst kreist, muss aufpassen, dass die Kundschaft nicht zur Konkurrenz abwandert.

Die im schlimmsten Fall recherche- und faktenfrei arbeiten.

Das sollten wir definitiv verhindern. Und zuletzt konnten sich unsere Zahlen ja sehen lassen.

Krisenjahre sind gute Spiegel-Jahre?

Als der Ukraine-Krieg ausbrach, waren unsere Wettbewerber mit ihren Printausgaben bereits in Druck. Wir hatten noch einen Tag Zeit, um damit aufs Cover zu gehen. „Putins Krieg“ hat uns 30 Prozent mehr Verkäufe am Kiosk beschert als üblich, auch im Digitalen haben wir überdurchschnittlich viele neue Abos gedreht. Die Kunst ist, die vielen neuen Abonnentinnen und Abonnenten dann auch bei der Stange zu halten.

Und wie macht man das?

Mit guten Stoffen zu dem Thema am Ball bleiben. Die Kunden können aus den Abos heute genauso schnell wieder raus, wie sie reinkamen, das diszipliniert.

Content, Content, Content. Aber triggern in Zeiten von Social Media nicht eher die lauten, schrillen als die disziplinierten, faktenbasierten Stoffe? Auch der Spiegel erntet seit Jahrzehnten Kritik, öfter mit griffigen Punchlines gegen den Strom zu schwimmen als objektiv auf die Kraft der Fakten zu setzen…

Das ist ein schmaler Grad. In der digitalen Welt geht es deutlich schriller und lauter zu als in der analogen, da muss man durchdringen. Zugleich sollte man seine Geschichten nicht überverkaufen, also Titel und Thesen darüberschreiben, die den Inhalt größer machen, als er ist. Am besten, man hat Stücke im Angebot, die andere nicht haben. Wir hatten zum Beispiel sehr schnell sehr viele Reporter in der Ukraine, das goutieren die Leute.

Auch in wirtschaftlich schwieriger Zeit wie dieser?

Das werden wir sehen. Wenn wir in eine schwere Rezession rutschen und die verfügbaren Einkommen zusammenschnurren, wird es für Medien schwer. Gas, Wasser, Strom können Sie im Winter nicht einfach abbestellen, genauso wenig wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ein Zeitungs- oder Magazinabo schon. Diese Krise ist da anders als Corona.

Inwiefern?

Während der Lockdowns waren viele in Kurzarbeit, saßen zuhause fest, hatten kaum Einkommenseinbußen und viel Zeit zum Lesen. Wer Angst haben muss, den Job zu verlieren und   die Gasrechnung nicht bezahlen zu können, spart vor allem. Und das könnten auch wir bei den Medien zu spüren bekommen.

Eine Gefahr, von der ein großes Haus wie der Spiegel durch explodierende Rohstoff- und Energiepreise zusätzlich betroffen ist.

So interessant die Zeiten aus publizistischer Sicht sind, so riskant sind sie aus ökonomischer.

Und wie begegnen Sie dem Risiko?

Indem wir die Kostensteigerungen versuchen zu antizipieren und in unseren Planungen zu berücksichtigen. Aber wir können uns auch nicht gegen alles absichern.

Könnten Papier- und Energiemangel die Entwicklung vom Print- zum Onlinejournalismus beschleunigen?

Das werden sie mit Sicherheit – so wie das Homeoffice der Digitalisierung in vielen Firmen zum Durchbruch verholfen hat. Heute fliegt doch kaum mehr einer wegen eines kurzen Meetings von Hamburg nach München, das läuft via Videokonferenz.

Es herrscht aber kein Flugverbot beim Spiegel.

Nein. Aber überflüssige Reisen sparen wir uns. Und für innerdeutsche Reisen nehme ich inzwischen fast nur noch die Bahn.

Wie nachhaltig kann ein denn Magazin sein, das auf hochwertigem Papier gedruckt wird und Hunderte von Menschen beschäftigt, die in aller Welt unterwegs sind?

Da wir gern Nachhaltigkeit einfordern, sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen. Unser Hamburger Standort ist ziemlich grün, kommt also mit sehr wenig Energie aus. Der Recyclingpapieranteil der Hefte ist hoch, die Herstellung auf mehrere Druckereien verteilt, damit die Transportwege nicht zu lang werden. Und den CO2-Fußbabdruck, den wir noch hinterlassen, versuchen wir bestmöglich zu kompensieren.

Papiersparen wird da schon schwieriger.

Wenn die Papierpreise dauerhaft so hochbleiben, wird sich der CO2-Ausstoß der Medienindustrie automatisch und rasch verringern: Weil sich viele Produkte schlichtweg nicht mehr rechnen.

Befeuert das, was so flapsig „Fakenews“ genannt wird, im Kern aber ja die gesamte Demokratie zersetzt, diesen Prozess weiter?

Das würde ich voneinander trennen, für Fakenews braucht es ja kein Papier mehr. Wie viele Menschen wir dauerhaft an Verschwörungstheoretiker und Propagandisten verlieren, wird sich zeigen. Auf dem US-Markt wird ein Qualitätsmedium wie New York Times von insgesamt zehn Millionen Menschen gekauft. Nur was hilft das, wenn sich zeitgleich die x-fache Zahl von Leuten von Fox News brainwashen lässt?

Ein Resultat hat man am 6. Januar 2021 in Washington gesehen.

Das deutsche Publikum kann wahrhaftige Analysen noch ganz gut von Quatsch unterscheiden, ist zumindest mein Eindruck. Andererseits hat Corona gezeigt, wie schnell sich Verschwörungstheorien auch bei uns verbreiten können. Hinzu kommt, dass Plattformen wie Twitter zunehmend toxisch werden.

Nutzen Sie soziale Medien trotzdem.

Ich nutze Social Media nur passiv, als Beobachter.

Dennoch kann sich ein Medium wie der Spiegel weder von sozialen Medien noch deren Spielregeln lossagen.

Der Spiegel ist ein Mainstream-Medium, und dazu gehört eine aktive Präsenz auf allen für uns relevanten Plattformen. Zumal man dort schon ein gutes Gespür dafür bekommt, was die Leute umtreibt.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Die Trennungsgeschichte von Johnny Depp und Amber Heard hat viele interessiert. Solch ein Thema können wir nicht Bild und Bunte überlassen. Zumal es gesellschaftliche Relevanz hat, und damit passt es auch zum Spiegel.

Wie viel Autonomie genießen denn Ihre Autorinnen und Autoren bei der Auswahl dessen, was zur Marke passt und was nicht?

Dafür haben die meisten schon ein ganz gutes Gefühl entwickelt. Die besten Themenideen entstehen hier ja nicht im Kopf des Chefredakteurs, sondern stammen von den Kolleginnen und Kollegen.

Hat der Spiegel abseits seiner Compliance-Regeln dabei noch so was wie politische Leitlinien, also das, was man früher Ideologie genannt hätte.

Mit den alten Denkmustern kommen wir heute nicht mehr weit. Ja, der Spiegel ist eher links als rechts, aber mittlerweile relativ unideologisch. Was wir uns erhalten haben, ist unsere kritische Grundhaltung: Wir glauben erstmal nichts und kuschen vor niemandem. Und eine gewisse Vielfalt tut bei Meinungsbeiträgen durchaus gut, ohne dass man gleich beliebig wird: An Kommentaren muss man sich auch reiben können, sonst wird’s vorhersehbar und langweilig.

Hat sich nicht auch die Altersstruktur der Leserschaft geändert oder die Sozialstruktur?

Bei der Heftleserschaft sicherlich beides. Die ist heute wahrscheinlich ein bisschen weniger links und wild.

Steckt trotzdem noch das alte Sturmgeschütz der Demokratie im Heft?

Wir würden das heute nicht mehr so nennen, aber das hat sich in den Markenkern eingebrannt. Was gut ist, denn auf unsere Geschichte können wir stolz sein. Eine Marke wie der Spiegel sollte sich immer auf ihre alten Stärken besinnen, man sollte sie nicht zu radikal verändern.

Darf man sie denn noch so führen wie früher, in den Zeiten eines Rudolf Augstein?

Die Führungskultur ist heute deutlich weniger hierarchisch und straff. Sonst würden uns die jungen Talente, die wir brauchen, einen Vogel zeigen.

Das klingt jetzt pragmatisch. Entspringt der Bedarf zur flacheren Hierarchie keiner berufsethischen Überzeugung ihrer dreiköpfigen Chefredaktion?

Natürlich, ich möchte schließlich auch nicht autoritär geführt werden. Je mehr Freiheit und Eigenverantwortung in einer Organisation steckt, desto besser kann sie sich zum Guten entfalten.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil dann bezeichnen?

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich versuche den Kolleginnen und Kollegen möglichst viel Klarheit zu geben, soweit das möglich ist in diesen Zeiten, mich möglichst wenig aufzuregen und vorzuleben, was ich von anderen erwarte.

Welche Rolle spielt dabei Diversität – insbesondere im Hinblick auf weibliche Führungskräfte, die jahrzehntelang ja auch beim Spiegel die Ausnahme waren?

Das gehört selbstverständlich dazu. Da wir den Spiegel ja nicht nur für die männliche Bevölkerung machen, tun wir gut daran, dass ihn auch Frauen mitgestalten. In der Redaktion liegt der Frauenanteil bei etwa 50 Prozent, in den Ressortleitungen leicht darunter. Das Produkt ist trotzdem oft noch zu männlich geprägt.

Worin drückt sich das aus?

Bei den Protagonisten wählen wir immer noch zu selten Frauen aus, die weibliche Perspektive kommt immer noch zu kurz. Dabei würde das die Geschichten und die Mischung insgesamt besser machen.

Andererseits hält sich hartnäckig das Gerücht, Barbara Hans habe die Chefredaktion 2021 auch deshalb verlassen, weil sie während ihrer Elternzeit gläserne Decken erreicht hat, an die Männer nicht stoßen…

Dann hätte es Nachfolgerin Melanie Amann nie in die Chefredaktion schaffen dürfen, die kam nämlich direkt aus der Elternzeit.

Gilt das Bemühen um Diversität nur für Geschlechter oder auch Menschen mit Behinderung, Migrations- oder LGBTQ-Hintergrund?

Das lässt sich in einem Bewerbungsgespräch nicht einfach so abfragen. Aber wir streben tatsächlich eine grundsätzliche Diversität an.

Würden Sie zum Wohle der politischen Diversität wie Ihr Vorvorgänger Wolfang Büchner 2014 jemanden wie den konservativen Nikolaus Blome zum Spiegel holen?

Na, der schreibt ja schon länger wieder für uns, als Kolumnist. Und der tut uns mit seinem Blick auf die Dinge erkennbar gut. Politische Diversität ist wichtig für uns. Wie schon gesagt, die alten, ideologischen Schubladen wurden ausgemistet und neu sortiert.

Blome steht aber auch für ein Personalkarussell, das Ihre Ex-Kollegin Barbara Hans einst heftig kritisiert hatte. Verliert ein Medium wie der Spiegel nicht Konturen, wenn theoretisch jeder hier arbeiten?

Unser Anspruch ist, dass hier die besten Journalistinnen und Journalisten arbeiten. Weil sie gut verdrahtet sind, sich etwas trauen, recherchieren, einordnen und schreiben können – oder Audio und Video beherrschen. Wir holen Leute ja nicht zum Spiegel, damit die hier ihre politische Meinung kundtun, im Wettbewerb mit der Süddeutschen Zeitung, Bild oder Zeit geht es um besondere Geschichten, um Scoops, um starke Analysen und Reportagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir versucht haben, das Meinungsressort der Welt abzuwerben.

Was Sie indes tun, ist das halbe Investigativ-Ressort der Süddeutschen Zeitung abzuwerben.

Die Kollegen, die von der SZ zu uns kamen, haben sich bei uns beworben. Und weil das Topleute einer großartigen Zeitung sind und wir Bedarf hatten, haben wir sie gern genommen.

Besteht bei dieser Art Personalrochade dennoch die Gefahr, dass sich der Qualitätsjournalismus dahingehend kannibalisiert, dass die besten Leute irgendwann bei einer Handvoll Medien arbeitet?

Blödsinn, das nennt man Wettbewerb. Im Profifußball sind solche Wechsel völlig normal.

Mit der Konsequenz, dass in der Bundesliga de facto keinen Wettbewerb mehr existiert, sondern ein Oligopol mit Bayern München als Vormacht, die dieses Jahr zum elften Mal Meister wird und dem Produkt Fußball damit massiv schadet.

Was die Bundesliga angeht, haben Sie einen Punkt, aber ohne die Bayern würde kaum noch ein deutscher Klub international eine Rolle spielen. Gehen wir es mal von der anderen Seite an: Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht mehr den Arbeitgeber wechseln, würde sie das womöglich frustrieren und in vielen Redaktionen zu Erstarrung führen.

Sie sprechen da aus eigener Erfahrung!

Ich habe vielleicht ein bisschen zu oft gewechselt (lacht). Aber der Wettbewerb um die besten Köpfe tut allen gut – übrigens auch innerhalb eines Hauses, zwischen Ressorts. Auch das kann eine Redaktion diverser machen.

Welche Medien werden aus Ihrer Perspektive diesen Wettbewerb überleben – gibt es in zehn Jahren nur noch lokale Sammelredaktionen wie Funke und Redaktionensnetzwerk Deutschland plus überregionale Flaggschiffe wie Süddeutsche, Spiegel, taz oder Zeit und ansonsten hyperlokale Medien, Blogs, Portale?

Schwer zu sagen, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sich auch hochspezialisierte Blogs mit ausgezeichneter Fachexperte von prominenten Autoren zwischen den Großen halten können.

Könnten die theoretisch zu konkurrenzfähiger Größe auf dem Gesamtmarkt wachsen?

Da bin ich skeptisch. Es gab in den USA mal eine Zeit digitaler Neugründungen von Business Insider über Vice, Politico bis Buzzfeed. Einige davon haben sich super entwickelt, andere wurden beim Versuch zu expandieren, hart zurechtgestutzt. Das zeigt, wie schwierig es ist, in Märkte vorzudringen, in denen eine gewisse Skalierungsfähigkeit und Größe unerlässlich ist. Außerdem sind einige der etablierten Medien mittlerweile aufgewacht und spielen im Digitalen ganz vorne mit.

Mit welcher Konsequenz?

Dass es wie im Rest der Wirtschaft auf einige wenige Anbieter hinausläuft, die mehr oder minder auskömmlich miteinander konkurrieren. Wer dazwischen als Start-up reüssieren will, braucht entweder ein radikal neues Geschäftsmodell oder eine ganz neue Idee von Journalismus.

Welche zum Beispiel?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht ein Journalismus, der sich wegbewegt von der Textform. Aber da gibt es ja de facto schon Radio und Fernsehen, obwohl auch die im Digitalen auf ihren Nachrichtenseiten viel mit Text arbeiten. Für uns sind Texte immer noch die effizienteste Präsentationsform. Wird das so bleiben? Ich weiß es nicht.

Wo sehen Sie sich dann – hier oben, 13. Stock, fantastischer Rundblick über die frühere Medienhauptstadt Deutschlands?

Es gibt Dinge, die ich ganz gut kann, und Dinge, die andere besser können. Ich glaube, dass die Transformation in unserer Branche eher noch an Tempo zunimmt. Und irgendwann bin ich einfach zu alt für das Neue.

Könnten Sie sich in zehn Jahren denn eine rein weibliche Führungsriege vorstellen, in der bislang ja maximal eine Frau mit zwei Männern denkbar war und das erst seit kurzem?

Das entscheiden andere. Aber warum nicht?

Das Interview ist vorab im Medienmagazin journalist erschienen

Whitney, RSS Disco, Jockstrap

Whitney

Dass aller guten Dinge drei sind, ist wie alle Sprichworte natürlich pauschalierter Unsinn. Aber wie jedes Sprichwort wartet auch dieses auf seine Bestimmung und urteilt aus sicherer Entfernung. So ist es mit dem dritten Album von Whitney, der besten ereignislosen Band überhaupt. Sechs Jahre, nachdem ihr Debüt Light Upon the Lake Easy Listening avantgardetauglich machte, erscheint nun Spark – und wieder passiert wenig. Wieder klingt alles wie in Quark gewälzte Beach Boys. Und wieder ist es wundervoll.

Erinnert der Opener von Julien Ehlrich und Max Kakacek aus dem wuseligen Chicago noch an Bee Gees auf Ketamin, wird es auch danach nur selten dynamischer, versprüht aber dieses buntgemusterte Gefühl von Selbstgenügsamkeit, in der Westcoast-Pop mit Eastcoast-Synths zu einer Melange von so eleganter Cremigkeit emulgiert, dass selbst der dauernde Falsett darin Konturen kriegt. Es bleibt dabei: Whitney haben den Softrock so schön sediert, dass auch Album 4 vermutlich klingt wie 1-3 und dennoch Lust auf Nr. 5 macht.

Whitney – Spark (Secretly Canadian)

RSS Disco

Und was Whitney auf analoge Art zaubern, erzeugen ihre Hamburger Ausstrahlungskollegen RSS Disco in digitaler Vollendung. Das Trio schafft es seit geraumer Zeit schon, Technofestivals aller Art behaglich ins Morgengrauen zu grooven. Jetzt erscheint der Longplayer Mooncake – und wieder wünscht man sich instinktiv auf einen baumumstandenen Floor fernab der 120bpm-Stampfböden, um die letzten Restenergien aus der Hüfte zu kitzeln und dann ab ins eigene Zelt.

Als hätte man Prince eine Dosis Air verschrieben oder die Achtziger in einer Dose Nuller verrührt, plöddert psychedelischer Dreampop auf dem ersten richtig physischen Album durch sonnendurchfluteten Tropical-House, kriecht dabei wie geliert durch abklingende Spaßdrogenversuche und schafft es dennoch, in aller Langsamkeit temporeich zu klingen oder umgekehrt. Das ist mindestens dreimal so berückend wie all die beatüberfrachteten Acts in den Festzelten nebenan.

RSS Disco – Mooncake (Mireia Records)

Jockstrap

Das Londoner Duo Jockstrap dagegen wäre ohnehin eher was für den kleinen Sperrholz-Floor abseits der Trampelpfade zu den großen Stages, irgendwo versteckt im Birkenwald vielleicht. Auf I Love You Jennifer B machen Georgia Ellery und Taylor Skye schließlich mal so gar nichts, was Menschenmassen zufriedenstellt. Im Gegenteil: wenn verschrobene Keyboards unter fazerdaze-katebushigem Gesang verwehen, schlägt sich der der Mainstream in die Büsche.

Von dort aus allerdings kann man dann ja mal zuhören, was das Debütalbum der beiden elektroanalogen Frickelfans zu bieten hat. Gitarren nämlich, die wie Celli klingen, Drums ohne Taktverbindung, Samples von hinreißendem Aberwitz und überhaupt ein Futurepop, dem Zukunft und Vergangenheit völlig egal zu sein scheinen, weil es in der Gegenwart so viele Absurditäten zu entdecken gilt, aus denen sich Harmonie basteln lässt. Man muss nur lange genug hinhören.

Jockstrap – I Love You Jennifer B (Rough Trade Records)


Lauchhammer: Silke Zertz & Frauke Hunfeld

Hunfeld+Zertz

Wir stehen auf schwankendem Grund

Die Drehbuch-Autorinnen Frauke Hunfeld und Silke Zertz haben schon mehrfach miteinander gearbeitet, aber nie für ein so emotionales Projekt wie den Krimi-Sechsteiler Lauchhammer, ab heute in der Arte-Mediathek. Ein Gespräch über den Drehort Lausitz, wahrhaftige Figuren und Riesenbagger als Hauptdarsteller.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Hunfeld, Frau Zertz – Ihr Sechsteiler Lauchhammer wird ab heute bei Arte von einer Reihe gewaltiger Braunkohlebagger dominiert. Standen die so auch im Drehbuch?

Frauke Hunfeld: Ja, diese Giganten einer vergangenen Industrieepoche haben uns beeindruckt und inspiriert. Die Landschaft, in der sie wie Mahnmale einer untergegangenen Zeit stehen ist so etwas wie unsere erste Hauptfigur.

Silke Zertz: Der Tagebau und seine Hinterlassenschaften hat die gesamte Gegend und die Gesellschaft geprägt und prägt sie bis heute. Und so auch unsere Erzählung.

Hunfeld: Unsere Serie erzählt ja ein Deutschland, das – als wir begonnen haben – noch auf die Lausitz beschränkt schien. Mittlerweile jedoch betreffen und erschüttern die Folgen der Energiewende, ihre Schmerzen, das Kollabieren gewohnter Lebensrealitäten, dazu der Wertewandel, die gesellschaftliche Spaltung und finanzielle Sorgen das ganze Land.

Zertz: Wir stehen auf schwankendem Grund, wissen nicht, ob die Erde uns trägt – und dafür ist der Lausitzer Boden ein Sinnbild. Überall Abgründe, bröckelndes Fundament, plötzliche Löcher und Abrutschungen. Besser kann man eine grundlegende Verunsicherung fast nicht in Bilder übersetzen.

Hunfeld: Und dieser physisch brüchige Boden erzählt auch viel darüber, wie wir uns bis heute auf dem unsicheren Grund der Vergangenheit bewegen. Die Hinterlassenschaften von Politik und Gesellschaft sind genauso wenig verfüllt und verdichtet worden wie die Braunkohlegruben. Schwamm drüber ist nicht immer die Lösung. Deshalb ist dieser Ort so ideal, um Opfer verschwinden zu lassen.

Ein Ort namens Lauchhammer.

Hunfeld: 1995 hatte er rund 24.000 Einwohner, heute sind es nur gut halb so viele. Wir haben Leerstand gesehen, auch Verfall und ganze Straßenzüge, in denen nur noch in einer Wohnung Licht brannte. Zugleich haben wir haben aber auch viele positive, optimistische Leute getroffen, die was aufbauen wollen. Die Leute lieben ja ihre Heimat. Sie wollen nicht weg, sondern kämpfen. Auch das hat Eingang in die Erzählung gefunden.

Umso auffälliger ist, dass viele Figuren der gängigen Vorstellung von ostdeutscher Provinz entsprechen – die Zahl an Rassisten, Sonderlingen, Drogensüchtigen, Verwahrlosten wirkt deutlich höher als diejenige, gewöhnlicher Menschen.

Zertz: Happy characters are boring characters, das ist so in der Fiktion, sie lebt von Konflikten, insbesondere in Krimis. Wir machen ja keine Reportage. Aber ich widerspreche, viele unserer Figuren sind sehr bodenständig, die Bergarbeiterfamilie Noack zum Beispiel. Der junge Polizist, der alte Glockengießer. Und natürlich unsere Hauptfiguren. Mišel Matičevićs zurückgekehrter Polizist Maik Briegand ist ein ruhiger, verwurzelter, trotzdem eigensinniger Typ. Aber auch die Ruhigen können ihre Abgründe haben. Verwurzelung kann auch Verstrickung sein.

Sind diese Typen abstrakt im Drehbuch entstanden oder erst, als Sie sie bei der Recherche vor Ort leibhaftig erlebt haben?

Hunfeld: Die Recherche findet ja statt, bevor das Drehbuch entsteht. Wir kannten die Lausitz schon sehr gut, haben aber für die Recherche nicht nur Museen und Archive besucht, sondern die Orte und Landschaften. Wir haben mit Sozialarbeitern gesprochen, dem Bürgermeister, einem Arzt für Drogenkranke, aber auch mit Leuten, die was Neues versuchen. Trotzdem sind die Figuren natürlich erfunden. Ein Maik Briegand arbeitet nicht im LKA Cottbus. Polizisten des Reviers Lauchhammer zertrampeln in der Wirklichkeit keine Tatort-Spuren.

Hatte es da Auswirkungen auf die Geschichte, das sie von zwei Frauen stammt – was in der Film- und Fernsehbranche ja immer noch eher Ausnahme als Regel ist?

Zertz: Ach, das stimmt so einfach nicht mehr; es gibt längst richtig viele, auch sehr erfolgreiche Autorinnen. Es kommt ja nicht darauf an, welches Geschlecht sie haben, sondern dass die Charaktere in ihrer ganzen psychologischen und biographischen Ambivalenz sichtbar werden. Darauf legen wir großen Wert, wir wollten jeder Figur Tiefe geben, gute wie schlechte, verletzliche und starke Seiten.

Hunfeld: Wobei wir Maik Briegand womöglich etwas anders gezeichnet haben als ein Mann. Vielleicht finden wir Frauen unterschiedliche Charakterzüge toll an der Figur; die Verletzlichkeit zum Beispiel hinter einer sehr maskulinen Fassade. Maik Briegand schleppt ja nicht nur einige Kilos, sondern auch sonst viel mit sich herum: Vergangenheit, Schuldgefühle, Ansprüche, auch Wut.

Das Mehrdimensionale führt hier allerdings dazu, dass viele Männer toxisch sind.

Hunfeld: Ich mag den Begriff der toxischen Männlichkeit so wenig wie „weiße alte Männer“, weil beide Begriffe ihrerseits eindimensional sind. Aber natürlich ist der Frauenmangel dieser Region ein Umstand, der die Gesellschaft, das Miteinander prägt und Gefühle von Zurückweisung und Scheitern verursacht.

Ergreift die Serie da für irgendwelche Protagonisten oder Protagonistinnen Partei?

Hunfeld: Nein. Und das sollte eine Fiktion wie diese auch nicht tun.

Zertz: Wichtig ist, dass die Charaktere rund sind. Dass Verhalten verstehbar ist, nachfühlbar. Bergleute in der DDR zum Beispiel waren sehr stolz. Sie haben hart gearbeitet und viel gegeben. Wenn dann junge Klimaaktivisten wie Maiks Tochter Jackie sagen, alles daran sei falsch, erzeugt es Abwehr. Wir wollen mit unseren Geschichten auch nachvollziehbar machen, warum Menschen tun, was sie tun, und denken, was sie denken.

Sie betreiben wie Ärztinnen eine Art Anamnese der Figuren, um ihr Verhalten ganzheitlich zu deuten?

Hunfeld: So ungefähr. Wobei uns das Erzählen mehr am Herzen liegt als das Deuten.

Zertz: Das ist unsere Form von Respekt, die wir den Figuren ebenso wie den Zuschauern schuldig sind, auch wenn es Zeit und Energie erfordert.

Hunfeld: Wir haben im Schreibprozess tagelang über Figuren geredet, als wären es Freunde, die wir manchmal gleich einschätzen, manchmal verschieden. Das ist der große Vorteil: man kann sich austauschen, man kann diskutieren, es gibt unterschiedliche Sichtweisen, es wird dichter. Deswegen schätze ich das gemeinsame Schreiben: Wenn es funktioniert, ist es ein großes Glück und ein großer Spaß.

Den Sie ja nicht zum ersten Mal hatten…

Zertz: Wir haben zuvor schon beim ARD-Fernsehspiel Vermisst in Berlin zusammengearbeitet, dann kam Gefährliche Wahrheit fürs ZDF. Lauchhammer ist unsere dritte Zusammenarbeit.

Haben ARD und Arte Sie wegen dieser Expertise gemeinsam angefragt?

Hunfeld: Es war umgekehrt. Wir haben das Konzept für Lauchhammer erst entwickelt und dann der Produktionsfirma moovie angeboten. Die haben uns erstmal machen lassen und sind dann zur ARD gegangen.

Hätte die Serie theoretisch auch in Duisburg-Marxloh oder einer abgehängten Region im Bayerischen Wald spielen können.

Beide (fast entrüstet): Nein!

Hunfeld: Die Radikalität der Systembrüche in der Lausitz ist unerlässlich für die Geschichte. Da ist ein ganzes Staatssystem kollabiert, an das viele Menschen glaubten. Die haben für ihre Ideale vom Sozialismus – die ja keineswegs alle falsch waren – gekämpft, und plötzlich soll alles verkehrt gewesen sein?

Zertz: Diese Seelenlandschaft ist schon sehr ostdeutsch, das kann man nicht einfach nach NRW verpflanzen.

Haben die Menschen in Brandenburg das fertige Produkt schon gesehen?

Zertz: Nee, noch nicht. Aber in Schwarzheide wird es vor Publikum gezeigt, mit vielen aus der Region, die uns unterstützt haben.

Fürchtet man als Autorin, die über wahrhaftige Menschen schreibt, den Moment, wenn sie es erstmals sehen und darüber urteilen?

Hunfeld: Nein, bei einer fiktionalen Serie sind alle Figuren eben nicht aus Fleisch und Blut, sondern ausgedacht. Aber wir erzählen sehr wahrhaftig aus einer Region in Deutschland, die sehr viele noch nie gesehen haben. Und ich freue mich, auch weil während der Dreharbeiten große Unterstützung spürbar war, und die Leute es toll fanden, dass man mal nicht in Berlin, Hamburg oder Köln dreht, sondern bei ihnen zuhause. Die Leute wollen gesehen werden.

Zertz: Wir machen die Region mit ihren Gefühlen und Geschichten, ihrer Vergangenheit und Gegenwart in einer bildgewaltigen Serie zur besten Sendezeit sichtbar. Manchmal haben uns Leute gefragt: Dieses Lauchhammer in dieser Landschaft – das gibt’s doch nicht, oder? Wo habt Ihr wirklich gedreht? Vielleicht wird so was nach


Habecks Gestümper & Filme im Film

TV

Die Gebrauchtwoche

5. – 11. September

Falls es jemand noch nicht bemerkt haben sollte: The Queen is dead. Das haben alle, wirklich alle Medien am Donnerstag quasi in Echtzeit berichtet und auch danach tagelang wenig anderes. Wobei nicht nur die ungekünstelte Traurigkeit ansonsten eher nüchterner Journalist*innen überrascht, sondern mehr noch ihre Kritiklosigkeit. Denn Pietät hin oder her: dem 96-jährigen Spross einer elitären, inzestuösen, undemokratischen, reaktionären, alimentierten Blutsdynastie derart zu huldigen, wie es flächendeckend erfolgte – das ist trotz Elisabeths Lebensleistung geradezu pflichtvergessen.

Einigen verhalf der Titelthemenschwenk aber auch zur willkommenen Atempause. Allen voran Robert Habeck, der mit Interview-Gestümper wie bei Sandra Maischberger grad die grüne Kernkompetenz zelebriert, gute Umfragen mit dem Arsch verbockter Kommunikation einzureißen. Auch Mathias Döpfner war gewiss glücklich, dass eine Missbrauchsklage gegen Springer in den USA flugs wieder aus den Schlagzeilen fiel. Und auch der RBB freut sich über jeden Tag anderer Titelschwerpunkte als dem Sumpf im eigenen Haus.

Dass er mit Katrin Vernau nun eine Interims-Intendantin hat, rutschte ebenso an den Wahrnehmungsrand wie ein Korruptionsverdacht gegen NDR-Funkhauschefin Sabine Rossbach, die in aller Stille von ihrem Posten zurücktrat. Netflix dagegen hätte vielleicht gern ein wenig mehr Aufmerksamkeit dafür geerntet, dass der schlingernde Streamingdienst in Cannes vermutlich zum letzten Mal die meisten Nominierungen aller Produktionseinheiten feiern durfte, während Paul Ronzheimer beim Deutschen Fernsehpreis wieder leer ausgeht – was er in grenzenloser Selbstverliebtheit kommentierte.

„Herzlichen Glückwunsch meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen“, twitterte er an Katrin Eigendorf, Kavita Sharma, Steffen Schwarzkopf und beklagte, „dass BILD bei den Nominierungen (mal wieder) ignoriert wurde nach unserer Dauer-Berichterstattung seit Monaten“. Tja, lieber Reichelt-Buddy – viel von jeder Front zu berichten hilft halt wenig, wenn man es für ein demokratiefeindliches Kampagnenblatt tut. Immerhin sprangen ihm sein Chef Johannes Boie und Christian Lindners Gatt…, pardon: Welt-Reporterin Franca Lehfeldt zur Seite, dazu Andrij Melnyk, Micky Beisenherz, Sonia Mikich und, hoppla: Karl Lauterbach.

0-Frischwoche

Die Frischwoche

13. – 19. September

Alles Medienprofis, die prima zur Fortsetzung der ewigen Achtziger-Serie Reich & Schön passen, die Warner mit den Staffeln 31 & 32 fortsetzt. Und ein bisschen fühlt man sich angesichts solcher Machtspielchen auch an The Serpent Queen erinnert – ein achtteiliges Stück Historytainment, mit dem Starzplay seit gestern die Renaissance-Strippenzieherin Caterine di Medici in einer famosen Geschichtsgroteske voller Hauptfiguren würdigt, mit deren Bezeichnung gönnerhafte Männer gern Emanzipation simulieren: „Starke Frauen“.

So altväterlich dieser Begriff ist: er trifft natürlich doch irgendwie auch auf zwei weitere Reihenformate zu. In der mehrfach Emmy-prämierten US-Serie Hacks, soll die alte erfolgreiche Komikerin Deborah (Jean Smart) mit der jungen erfolglosen Autorin Ava (Hannah Einbinder) ein Stand-up-Duo in Las Vegas bilden, und dieses Feuerwerk zweier Zynikerinnen ist von der ersten bis zur achten Folge hinreißend. Das gilt auch für Irma Vep. Und bei wem es da klingelt: So hieß ein Film von Oliver Assayas, in dem er 1996 Film im Film im Film drehen ließ. Jetzt macht er dieses Matrjoschka-Prinzip zur HBO-Serie.

Ab morgen spielt der US-Superstar Mira (Alissia Vikander) bei Sky die Hauptfigur eines Remakes vom Stummfilmklassiker Les Vampires, beginnt allerdings mit der Gangsterchefin Irma auch privat zu verschmelzen – und wie Assayas Original, Neuauflage und Entstehen unablässig gegeneinander schneidet, das ist Realismus von expressionistischer Güte. So was würde ein achtteiliges Stück schwarzer Humor im Ersten wohl ebenfalls von sich behaupten – und das nicht mal zu Unrecht. Ab Freitag kratzt Höllgrund in der Mediathek mit schwarzem Humor am Landarzt-Mythos. Ebenfalls eher heiter als wolkig: Die deutsch-österreichische Dorfsatire Alles finster über den Umgang mit einem Blackout, ab heute (20.15 Uhr) in Doppelfolgen beim BR. Und definitiv eher wolkig als heiter, aber sehr gelungen: das Arte-Drama Borga (Mittwoch, 20.15 Uhr) mit Christinane Paul um ghanaische Männer in Deutschland und ihren Versuch, hier reich zu werden.


Die Ringe der Macht: Tolkien & Amazon

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Sicherheitslücken in Mittelerde

Selten wurde ein Spin-off lautstärker angekündigt als das Serienprequel von Herr der Ringe. Jetzt laufen Die Ringe der Macht bei Amazon, und nicht nur 1,25 Milliarden Dollar Gesamtkosten sind überwältigend – auch Storytelling, Bildsprache, Originalität.

Von Jan Freitag

Die Bedeutung einer Serie, das war in analoger Zeit noch anders, bemisst sich auch am Grad der Security bei ihrer Preview. Das Handy auszuschalten, zählt zwar schon seit der Markreife kluger Telefone zum Repertoire. Aber Abgeben, Einschweißen, Versiegeln und Wegstecken, gefolgt von einem Sicherheitscheck auf Flughafenniveau – es ist offenbar ein wichtiges Stück neues Kino Fernsehen, das im nostalgischen Zoo Palast zu Berlin gezeigt wird. Prime Video behauptet gar: das wichtigste, was buchstäblich Ansichtssache ist. Im Gegensatz zum Preis.

Denn worauf eine Handvoll Influencer und Journalistinnen ohne Smartphone, aber mit Podcast, Blog oder Youtube-Kanal am Donnerstag zwei Stunden lang als erste gestarrt haben, kostet pro Folge den Gegenwert einer Villa am Wannsee plus Yacht, Limousine, Pool, Butler-Service. Schließlich hat Amazon angeblich 1,25 Milliarden Dollar für das Prequel vom „Herr der Ringe“ bezahlt, 20 Prozent allein für die Rechte. Bei fünf Staffeln dürften die ersten zwei von acht Folgen 50 Millionen vertilgt haben und somit mehr als House of the Dragon, das also nur kurz Rekordhalter war.

So viel zum Zahlenwerk, das Fragen aufwirft. Die wichtigste: Wird der Aufwand vom Ergebnis gerechtfertigt. Die Antwort ist ein bisschen überraschend, bedarf der Erklärung, darf aber erstmal im Konfettiregen durchs Traditionskino fliegen: Ja, nein, mehr als das! Denn natürlich rechtfertigt in Zeiten von Krieg und Krisen, Armut und Inflation, Energiemangel und Klimawandel mal abgesehen vom eskapistischen Nach-uns-die-Sintflut-Denken nichts, absolut gar nichts zwölfstellige Summen für Unterhaltung um ihrer selbst willen. Auch ein noch so obszönes Investment ins übernächste Spin-off von J.R.R. Tolkiens Fantasy-Legende kann jedoch Gutes bewirken.

Und damit zum Finished Product, wie Filmfiktionen in Zeiten von CGI und SFX, Stakeholder-TV und Börsenentertainment heißen. Damit zu Die Ringe der Macht. Sie spielen ein paar Tausend Jahre vor der finalen Schlacht von Peter Jacksons Trilogie und den nachfolgenden Hobbit-Märchen. Nachdem die Orks zu Beginn besiegt wurden, erlebt Mittelerde eine Ära des Friedens. Elben und Zwerge, Menschen und Haarfüßer, die mal possierlichen, meist bedrohlichen Stämme – Berg an Tal an Wüste an Wald an See an Meer existieren sie in ethnischer Homogenität, begegnen sich hier und da, halten aber respektvollen Abstand und wähnen sich auch deshalb in Sicherheit vor Unbill à la Sauron samt seiner Mutantenarmee.

Nur eine mag nicht in die kollektive Harmoniesucht einstimmen: Galadriel, die wir zu Beginn der Auftaktfolge erleben, wie sie sich dank traumatisierender Kindheitserlebnisse mit Feinden aller Art zur skeptischen Kriegerin mit der Überzeugung entwickelt, die Orks hätten sich nur versteckt. Vom Elbenkönig Gil-galad (Benjamin Walker) auf Monstersuche in sämtliche Ecken der topografisch spektakulären Mittelalterkopie entsandt, stößt sie zwar auf Spuren; nur glaubt ihr bei der Rückkehr ins Spitzohr-Idyll Lindon niemand, was da noch im Untergrund schlummert. Am wenigsten der einflussreiche Politiker Elrond (Robert Aramayo) – da kann Galadriel noch so kernig mit dem Waliser Akzent ihrer Darstellerin Morfydd Clark insistieren, „das Böse stirbt nicht, es wartet auf den Moment unserer Selbstzufriedenheit“.

Und wie uns die Showrunner Patrick MacKay und John D. Payne an vielen ihrer großflächig verteilten Handlungsorte klarmachen, ist er längst gekommen. Das wagemutige Haarfußmädchen Nori (Markella Kavenagh) spürt es zwar ebenso wie die naturheilkundige Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi), deren Sohn – Gollum lässt grüßen – vom Keim des Bösen infiziert wurde. Mittelerdes bürgerlicher Mainstream dagegen wiegt sich in betriebslinder Sicherheit – was mit etwas Einbildungskraft als Analogie auf unsere Gegenwart mit einer elbischen EU auf Appeasement-Kurs mit Putin alias Sauron werden kann.

Aber das bleibt schon wegen der jahrelangen Planungsphase Spekulation. Denn Tatsache ist, dass Regisseur J.A. Bayona, durch Jurassic World bombastgeschult, mit finanzieller und digitaler Hilfe einen Kosmos kreiert, der das Sequel vielerorts übertrifft, ja überragt. Anders als die Kinotrilogie „Herr der Ringe“ nämlich emanzipieren sich Amazon Primes „Ringe der Macht“ vom selbstreferenziellen, männerdominierten, effekthascherischen Bombast eines Peter Jackson, der letztlich nur Schlachten reproduziert und damit selbst handfeste Jünger der Bücher verschreckt hatte.

MacKay und Payne nutzen das serielle Format dagegen – zumindest nach Ansicht der ersten zwei Teile – etwas nachhaltiger, um horizontal zu erzählen. Den Charakteren bleibt dabei echte Zeit zur Entfaltung, Dialoge dienen nicht mehr nur der unerlässlichen Vorbereitung anschließender Gemetzel, können sogar von Zwergenkönig zu Elbenkumpel Tiefgang haben. Und auch, wenn Bear McCrearys brachialer Soundtrack wirklich niemals Ruhe gibt, zieht das grob Vertonte sein Publikum mit contentgetriebener Dringlichkeit ins esoterisch angehauchte Universum, als wäre Sauron von Shakespeare statt Tolkien.

Wenn man das bildgewaltige Mythengewitter von Mittelerde also mit irgendetwas von heute vergleichen will, wäre Jacksons Version wohl Wacken und das von Payne/McKay eher Woodstock. Gelegentlich flattern zwar ein paar zu viele Hippies über Auen und Bäche. Doch Actionfans aufgepasst: der titelgebende Ring stet kurz vorm Schmieden. Galadriels Schwertkampfstil deutet an, dass auch die aktuellen Macher Bock auf Martial Arts haben. Und schon bald, so scheint es, sammeln sich neue Gefährten, um Sauron die Hölle kalt zu machen. Das Ringe-Spektakel, es geht also weiter. Immer weiter. Noch sind ja mindestens 750 Millionen Dollar zu verprassen.