Ganzjahreskarnevalist & Kuhflüsterin

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

22. – 28. Juni

Wenn etwas Geschichte ist, das wissen wir nicht erst, seit Guido Knopp Deutschlands dunkle Historie zum Guten gedreht hat, kann es auch im gegenwärtigen Diskurs präsent sein. Andy Borg zum Beispiel ist seit Samstag Geschichte, zumindest im Musikantenstadl, dessen Muttersender ihren liebsten Pudel schon mit Mitte 50 aufs Altenteil schiebt. Dennoch wird er weiter durch sein Biotop pilgern, keine Frage. Geschichte ist auch der Kölner Ganzjahreskarnevalist Stefan Raab, zumindest im Eventfernsehen mit Ausflügen zu Wettcouch und Wahlkampf. Dennoch wird die rührige Spaßkanone gewiss weiter durch sein Jagdrevier pirschen.

Mehr Geschichte als alle anderen ist hingegen Elizabeth II., seit moderne Staaten das Inzestsystem vererbter Privilegien durch rotblütige Bevorteilungsmodelle ersetzt haben. Dennoch hat es die Queen beim viertätigen Deutschlandbesuch bis Freitag wieder unablässig ins Programm des royalistischen ARZDF geschafft. Und irgendwie ist auch True Detective insofern Geschichte, als sich die sagenhaft gute US-Serie um je zwei Ermittler bizarrer Morde niemals wiederholen lassen kann. Dachte man zumindest bis zur zweiten Staffel, die seit einer Woche auf verschiedenen Plattformen von Sky abrufbar ist. Mit neuem Starpersonal (Colin Farrell, Vince Vaughn, Taylor Kitsch) beweist der alte Showrunner (Nic Pizzolatto), dass sich Brillanz – diesmal am Tatort Kalifornien – doch erneuern lässt. Geschichte wiederholt sich eben doch manchmal.

0-FrischwocheDie Frischwoche

29. Juni – 5. Juli

Deshalb geht‘s natürlich auch im Partyfernsehen für jung (Stefan) und alt (Andy) weiter, immer weiter, ewig weiter. Borg zum Beispiel darf Samstag seine potenzielle Nachfolgerin im Ersten beobachten, wo die DSDS-Siegerin Beatrice Egli nach der ZDF-Ostershow nun auch Die Große Show der Träume moderiert, was inhaltlich exakt so schlicht sein dürfte, wie es klingt. Und Raab? Turnt parallel auf Pro7 seine Schlussbahnen bei „Schlag den Star“ und hat seine Epigonen in Form von Elton & Simon, Joko & Klaas ja auch schon eingeritten.

Da darf sich ihr Lehrherr mit kaum 50 getrost aufs goldene Kissen aus stetig sprudelnden Millionengagen des Privatfernsehens setzen und vorab allenfalls auf 3sat der Frage nachsinnen: Macht Geld glücklich? Reporter János Kereszti ist da nämlich eher skeptisch und fährt Donnerstag um 20.15 Uhr dokumentarisch durchs reiche Deutschland, um mit Menschen vom Aussteiger bis zum Lotto-Gewinner über wahren Wohlstand zu reden. Vielleicht lässt Raab sich aber auch von einem inspirieren, der Besitz eher im Geistigen als bereichernd ansieht: der Dalai Lama. Zum 80. Geburtstag am 6. Juli schenkt ihm Arte allerdings keine Blumen, sondern einen Themenabend über seine Heimat Tibet, an dem es bis elf Uhr wenig herzlich zugeht, angesichts der anhaltend brutalen Okkupation durch China.

Für etwas Entspannung sorgt da immerhin die Pro7-Serie Empire um den todkranken HipHop-Mogul Luscious Lyon, der sein Reich im Stile King Lears mit viel passender Musik, Cross-Promotion und Schauwert ordnet, was inhaltlich oft erschreckend leer ist, aber überaus aufregend und in den USA rasend erfolgreich. Also das Gegenteil von der Kuhflüsterin, eine Art deutscher Gegenentwurf zum Weltreich des Bling Bling. Auf dem ARD-Schmunzelplatz (Freitag, 18.50 Uhr) spielt Cordula Stratmann eine westfälische Tierheilerin, deren Chuzpe ihr ganzes Dorf samt des Undercover-Cops nebenan aufmischen – was gelegentlich ganz putzig ist, aber vor allem sehr, sehr betulich.

Das gilt auch für die farbige Wiederholung der Woche, deren biedere Nachkriegsaura allerdings auch 60 Jahre später sehenswert ist: Der Hauptmann von Köpenick mit dem fix geläuterten Nazi-Kumpel Heinz Rühmann als Spielball deutschen Kadavergehorsams (Montag, 20.15 Uhr, Arte). Der wiederum in schwarzweiß zum Lachen animiert, wenn Charly Chaplin als Der große Diktator (Dienstag, 0.15 Uhr, ZDFkultur) sein aberwitziges Schtonk durchs Jahr 1940 brüllt. Und zum Schluss die Wochendoku, diesmal mit blödem Untertitel, aber gehaltvoller Substanz: I want to break free – Pop vom anderen Ufer (Samstag, 21.50 Uhr, Arte), eine wunderbare Reise durch das, was heute Queer-Sound heißt und die Emanzipation nicht-heteronormaler Lebensentwürfe musikalisch begleitet hat.

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Pennerphilosophie & Durchschnittsdeutsche

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

15. – 21. Juni

Man würde ja zu gerne wissen, was die „Bild“ anstelle des spontanen Aufmachers vom Toilettenpa…rdon: Titelblatt geworfen hat (vermutlich was Rassistisches mit teuren Flüchtlingen oder Griechen), aber es war am Dienstag schon eine Schlagzeile wert, was sich tags zuvor bei Wer wird Millionär abgespielt hatte. Als dort „seit haben jeher die meisten a) Dober Männer, b) Cocker Spaniels, c) Schäfer Hunde, d) Riesen Schnauzer“ zur Wahl stand, entschied sich die Kandidatin für letzteres, weshalb sie als erste die 50-Euro-Frage riss und zweierlei bewies: Nichts ist unterhaltsamer als belangloses Versagen. Und niemand versteht es leichter zu moderieren als Günther Jauch. Was wiederum zeigt: Im leicht belanglosen Privatfernsehen ist er besser aufgehoben als im öffentlich-rechtlichen Debattenprogramm. Also, Günni: weitermachen!

Zumindest hier.

Weitermachen dürfte gern auch Harry Rowohlt als Literaturentertainer und sein eigenes Alter Ego in der Lindenstraße, die er als Philosoph und Penner bereicherte. Leider ist der Hamburger nun mit 70 Jahren viel zu früh von uns gegangen, aber so ist es zumindest im Jenseits nun ein bisschen schöner. Nicht weitermachen wird hingegen Stefan Raab, der Mittwoch seinen Rückzug aus dem Fernsehen zum Jahresende bekanntgab. Und ebenfalls am Ende scheinen seriöse Web-News zu sein, wie eine Studie des Reuters Instituts befürchten lässt. Demnach weigert sich die Netzgemeinde beharrlich, digitale Infos zu bezahlen. Selbst beim Spitzenreiter Finnland sind es – inklusive Abos in Kombination mit Printprodukten, die den Löwenanteil stellen – nur 15 Prozent, was aber immer noch mehr ist als in Deutschland, wo kaum jeder 20. freiwillig für den Content zahlt.

So stirbt mit den alten Medien womöglich bald deren Wesenskern relevanter Wissensvermittlung und alles wird zu Entertainment, Leichtigkeit, Larifari oder schlimmer noch: Selektion nach Gusto der Werbekunden. Weil in diesem gar nicht mal so abseitigen Szenario ohnehin keiner fernsieht, gäbe es Nachrichten also nur nach Bedarf der Sponsoren, deren Etats keine öffentlich-rechtlichen Staatsaufträge berücksichtigen, sondern einzig Eigeninteressen.

0-FrischwocheDie Frischwoche

22. – 28. Juni

Die originelle Doku Wer ist Thomas Müller? (Dienstag, 22.45 Uhr, ARD) etwa würde im Netz womöglich vom FC Bayern München präsentiert, um am Beispiel des hierzulande häufigsten Namens vordergründig dem Durchschnittsdeutschen auf die Spur zu kommen, hintergründig aber den Marktwert eines gewissen Nationalspielers zu erhöhen.

Immerhin.

Denn gar nicht erst gedreht würde in dieser trüben Zukunft mangels Ertragsaussichten Angst vor dem Abseits, mit dem die ARD Sonntag (17.30) das Tabuthema Homosexualität im Fußball seziert. Oder die artverwandte Arte-Doku Weil ich bin, wer ich bin (Mittwoch, 21.40 Uhr). Selbst famose Porträts schwuler Künstler versprechen schließlich keine Rendite. Das gilt ebenso für Spielfilme wie Reality, heute um 21.45 Uhr auf Arte um einen italienischen Familienvater, der sich vergebens um Teilnahme bei Big Brother bewirbt und das Containerleben einfach nachspielt, bis es sich mehr ergreifend als lustig verselbständigt. Chancen am Werbemarkt? Nullkommanull.

Ganz im Gegensatz zu den Privatprodukten der Woche. Die Dokusoap Schwiegertochter gesucht zum Beispiel, mit der RTL ab Sonntag (19.05) sein bildungsfernes Stammpublikum anspruchsloser Voyeure verächtlich macht. Oder Die Band auf Pro7, wo selbige erstmals im Ganzen gecastet wird, was musikalisch zwar gehaltvoller klingt als alles mit Superstar, aber nicht nur dank des musikalisch gehaltlosen Boygroup-Moderators Samu Haber reichlich Bohlen-Faktor verspricht.

Bleibt also nur, sich auf jenes Panoptikum bedeutsamer Horrorfilme zu freuen, mit denen ZDFneo die Samstage des Sommers erbeben lässt. Den Auftakt bildet die moderne Vampir-Variante Van Helsing (20.15 Uhr), gefolgt von Tarantinos Zombieorgie From Dusk Till Dawn um Mitternacht, Sonntagfrüh kurz vor fünf abgeschlossen mit der schwarzweißen Wiederholung der Woche, Jack Arnolds unfreiwillig komischer Monsterspinnenschocker Tarantula von 1955. Und in Farbe: Sergio Leones Spaghetti-Western Für eine Handvoll Dollar (Freitag, 22 Uhr, ServusTV), mit dem er 1964 einen Weltstar gebar: Clint Eastwood. Fehlt noch die Doku der Woche, passend zum Sommeranfang: Mückenalarm (Freitag, 21.35 Uhr, Arte) und der aussichtslose Kampf gegen die Invasion der Plagegeister.


Heather Nova, Hudson Mohawke

Hudson Mohawke

Die Startaufstellungen der Popmusik sind eher statisch. Falls deine Platte nicht grundlegend auf Verstörung abzielt, so lautet das Credo des Erfolgs, eröffne sie mit etwas Eingängigem, gern ein Cover, zur Not kunstvoll als Sample verpackt. Erstmal einlullen, dann fordern. Nie umgekehrt. Auch nicht in der Spotify-Diktatur zerhackter Alben. Achtung – Abschaltimpuls! Ross Birchard macht es genau umgekehrt. Sein zweites Warp-Werk Lantern beginnt mit einer Digitaltonkaskade, die förmlich in den Ohren schmerzt, um fortan auf das zu schalten, was den Sound des schottischen Soundtüftlers und Superproduzenten seit Jahren kennzeichnet: Verspielter Electrohousefunkpop aus einer erfrischenden Quelle nie versiegenden Ideen.

Das klingt dann manchmal wie Filmmusik, wenn sie mit Liebe, statt Kalkül kreiert wäre, mal nach dem großen, breiten Technobrett für die gediegenere Disco, und mal wie das fabelhafte Scud Books in der Mitte, als würde er im Raumschiff durch vier Jahrzehnte digitaler Takte rauschen und alles aufsaugen, was darin herumfliegt. Man ist auf der Suche nach schönen Adjektiven für dieses Feuerwerk der sachlichen Leichtigkeit mit Gastsängern wie Anthony Hegarty und findet doch nur krasse, wenn man sich Lil Djembe in einem Fiebertraum wähnt und ein paar Lieder darauf auf dem Dancefloor der R’n’B-Charts seines Buddies Kanye West. Lantern ist einfach richtig richtig geil.

Hudson Mohawke – Lantern (Warp)

Heather Nova

Ein krasses Adjektiv für Heather Nova zu finden, ist schon schwerer. „Geil“ passt zum Beispiel eher weniger, so sehr das karibische Feenwesen Mitte der 90er auch für Hormonschübe sorgte, als Frauen im Rock allenfalls den Background dekorieren durften. „Süß“ lag seinerzeit gut im Rennen, prallte aber stets an Novas Gitarre vorm Bauch ab wie Testosteron am süffisanten Du-nicht!-Blick. Nein, den stadionfüllenden Festivalheadliner früherer Tage umwehte was anderes, eine kühlwarme Aura zwischen Unnahbarkeit und Anziehungskraft, die auch ihr neuntes Studioalbum The Way it Feels kennzeichnet.

Noch mit fast 50 vereint sie darauf Kate Bushs hyperfemininen Mystizismus mit der kantigen Androgynität revoltierender Riot-Grrrls zu einem oft süffigen, grundsätzlich berührenden Alternative-Pop, der seine Kraft zugleich aus ein Melancholie und Kernigkeit gewinnt. Vielleicht könnte man auch das derbe nennen: derbe emotional, romantisch, manchmal etwas melodramatisch, aber immer derbe schön. Irgendwas mit Sommertag, Rausch, Melancholie und derlei anheimelndes Zeugs. Frühlingsherbstmusik.

Heather Nova – The Way it Feels (Embassy of Music)


Katharina Wackernagel; RAF & Romanzen

Gern ohne Happyend!

Im deutschen Fernsehmelodram ist Katharina Wackernagel meist das letzte Aufgebot bürgerlicher Willenskraft. Mit Mädchenlächeln und Frauenpower kämpft sie auch im ARD-Film Immer wieder anders (Freitag, 20.15 Uhr) ums Wohlergehen ihrer Familie, wie sie es schon in Dutzenden baugleicher Filme getan hat. Interview mit einer Schauspielerin, deren Figuren stets das Gute suchen – und finden.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Wackernagel, an einer Stelle in Immer wieder anders fragt die Nebenbuhlerin Katjas Mann, was er denn in diesem Spießerparadies wolle.

Katharina Wackernagel: Mit getöpfertem Türschild.

Ist das auch Ihre Vorstellung vom Spießerparadies, so eins am Einfallfamilienhaus im Speckgürtel hängen zu haben?

Das Namensschild dürfte gern aus Metall sein, aber ein Häuschen mit Garten in Innenstadtnähe und zwei Kindern plus Hund finde ich noch nicht spießig. Spießig ist allenfalls die Tatsache, dass das Paar darin nicht über den Zustand seiner Ehe reden kann, um das oberflächliche Glück drum herum nicht zu gefährden.

Dass Ihre Figur mit Heirat in weiß, 50er-Jahre-Pömps und Doris-Day-Haarbändern versinnbildlicht.

Das ist aber eher kein Konzept. Die Haarbänder waren zum Beispiel meine Entscheidung, da steh ich einfach drauf. Katja ist Lehrerin, Frau, Mutter, handwerklich begabt, also eigentlich modern. Mir ist zwar vieles an dieser Figur ein bisschen fremd, aber sie ist unbedingt authentisch. Und ihr Leben mag kein Rock’n’Roll sein, aber haben wir nicht alle die Sehnsucht nach einem gemütlichen Nest?

Sie haben die?

Ich sehne mich jetzt nicht nach Häuschen, Garten, zwei Kindern, verbinde mit spießig aber dennoch etwas anderes: kleingeistig, intolerant, engstirnig, rückwärtsgewandt.

Also das Gegenteil dessen, was man sich vom Kind einer Schauspielerdynastie vorstellt.

Das mag schon sein, aber meine Kindheit war völlig normal.

Es gingen also nicht ständig Kollegen ein und aus, um über den Kulturbetrieb zu debattieren?

Das schon [lacht], aber so viel auch über Kultur geredet wurde – ich trage das überhaupt nicht weiter.

Was macht es aus einem Kind, unter lauter Schauspielern groß zu werden?

Zum Beispiel, schon früh Theater zu spielen. Meine Familie hat mich dazu weder gedrängt noch davon abgeraten, aber es ist schon ein Bett bereitet, in das man sich gut legen kann. Es gab also nicht die typischen Sprüche wie „lern was Vernünftiges“; als ich mit 15 die reguläre für die Schauspielschule schmeißen wollte, haben meine Eltern allerdings schon gefragt, ob ich noch ganz dicht sei.

Mit Erfolg?

Na ja, ich hab noch zwei Jahre gewartet und dann zu Drehen begonnen, was für meine Eltern, Großeltern, meinen Onkel, die allesamt vom Theater kommen, dann auch wieder nicht richtig war, so ohne Schauspielschule. Umso mehr haben die geschmunzelt, als ich voriges Jahr erstmals auf der Bühne stand. Trotzdem: einer meiner Brüder ist auch Informatiker geworden: man muss also auch mit dieser Verwandtschaft nicht zwingend auf die Bühne.

Muss man mit ihr denn zwingend politisch werden?

Auch nicht. Meine Eltern sind viel politischer als ich, auch, weil sie aus einer Zeit stammen, in der kulturell viel mehr angeschoben wurde als heute.

Das hat einen Teil davon bis ins Umfeld der RAF getragen.

Ja, meinen Onkel Christof.

Hat es sie von der Politik abgeschreckt, dass er wegen seiner Mitgliedschaft im Knast saß?

Ich würde sagen: Einen anderen Zugang dazu entwickelt. Meine Eltern sind immer offen damit umgegangen, dass Onkel Christof praktisch meine gesamte Kindheit im Gefängnis saß. Dadurch habe ich natürlich viele Fragen gestellt: Was ist die RAF, was ist Terrorismus, was ist los in diesem Land? Das hat mich geprägt; wir sind alle dazu erzogen, unsere Meinung zu äußern.

Auch lautstark?

Na ja, wenn ich so sehe, wie meine Eltern stets für ihre Vorstellungen gekämpft haben, bin ich vermutlich doch, wie soll man das sagen: gemütlicher?

Spießiger?

Nein (lacht). Realistischer. Natürlich gehe auch ich auf die Straße, wenn aus meiner Sicht was schief läuft im System. Aber das gesellschaftliche Klima ist heute eben ein anderes als vor 30, 40 Jahren, selbst die Demonstrationen sind heutzutage andere. Aber so sehr meine Eltern betont haben, wie wichtig es sei, gegen das eingestaubte Nachkriegssystem mit all den Altnazis in wichtigen Positionen zu kämpfen, haben sie immer betont, das sei nur gewaltlos möglich.

Hat diese Erziehung einen anderen Zugriff auf Ihre Rolle als Terroristin Astrid Proll im Baader-Meinhof-Komplex mit sich gebracht als bei den anderen Darstellern?

Das glaube ich nicht. Ob Baader-Meinhof oder Immer wieder anders – eine Rolle bleibt eine Rolle. Die nehme ich an und spiele sie. Ein Leben im Untergrund zu spielen, ist ebenso toll wie eines in dem, was angeblich ein Spießerparadies ist; beides zu führen, dagegen eher nicht so.

Was mögen Sie denn lieber – harte Realität oder unterhaltsame Leichtigkeit, Contergan oder Romanze?

Da wird wohl jeder Schauspieler ersteres antworten. Aber wenn sie authentisch und glaubwürdig sind, mag ich leichte Stoffe genauso wie die schwierigen. Trotzdem hätte Immer wieder anders an manchen Stellen ein bisschen radikaler sein können, mutiger. Aber ich kann voll dahinter stehen. Der Film liegt mir am Herzen und er fügt sich gut in mein Gesamtwerk. Ich möchte letztlich eine breite Palette an Filmen haben.

Und welche Rolle fehlt Ihnen dazu noch ganz dringend?

Da fällt mir jetzt keine ein. Aber ich habe mal wieder Lust auf so ein richtiges historisches Drama. Gern ohne Happyend.


Alpharüden & Betaweibchen

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

8. – 14. Juni

Von Gleichberechtigung, beklagt nicht nur der Verein ProQuote, sind deutsche Medien weiter entfernt als das öffentlich-rechtliche Programm vom Staatsauftrag. „Dass ein Bruchteil der Führungspositionen in Rundfunkanstalten und Verlagshäusern von Frauen besetzt“ sei, nennt nicht nur Mitglied Anne Will „katastrophaler Missstand“. Und der wird nicht besser, wenn die Topjournalistin nun solch einen Topposten kriegt: Nach Günther Jauchs – offenbar gar nicht so plötzlichem – Ausstieg kehrt Anne Will 2016 auf jenen Sendeplatz zurück, den der abgeschobene Talkprofi fünf Jahre zuvor für den überbezahlten Talkstümper räumen musste, was belegt: Frauen sind in der ARD allenfalls ansehnliche Manövriermasse herrschender Männer, die wie deren Programmchef das Wort Herr(es) zuweilen gar im Namen tragen. Wenn sein Vorsitzender Lutz Marmor nun also sagt, „ich freue mich auf Anne Will“, gilt das nur, bis der nächste Alpharüde in ihr Revier pinkelt.

Davor sind Betaweibchen im Grunde nur gefeit, wenn sie aufgebrezelt durchs Studio wackeln wie Barbara Schöneberger. Da stelle man sich ihre Kodderschnauze mal im Leib eines Mauerblümchens vor – über die Mitternachtsschleife käme sie nie hinaus. So aber schafft es die, pardon: dralle Blondine bei Gruner + Jahr zum eigenen Magazin namens Barbara. In der Gedenkwoche für das grad verstorbenen Society-Fossil Paul Sahner, das für den Konkurrenten Burda rund 3000 Prominente zu den Belanglosigkeiten des Stardaseins interviewt hat, klingt das zwar schwer nach Brigitte, soll aus Verlagssicht aber „eine Frauenzeitschrift neuen Typs“ sein. Vermutlich gibt es also innovative Rubriken wie Styling, Beauty, Celebs, Gossip, Weiberzeugs eben, nur klüger verpackt als sonst.

0-FrischwocheDie Frischwoche

15. – 21. Juni

Männerzeugs, nur cooler verpackt als sonst, dürfte das Mackermagazin Cowboy & Dandy auf dem Pro7-Ableger MAXX sein. Fünf Teile zeigen zwei eitle Hipster ab Donnerstag, 22.30 Uhr, warum die Evolution Frauen hoffentlich bald zur Selbstbefruchtung ermutigt, angesichts solcher XY-Mutanten, die selbst dann nur an Titten, PS und Grillfleisch denken, wenn sie lässig daherkommen.

So viel Testosteron ist für Vernunftbegabte nur mit Substanzen verträglich, die Arte ab Montag mit dem tollen Themenschwerpunkt Drogen – Lust & Last bedenkt. Toll auch, weil er dumpfes Schwarzweißdenken ins Bierzelt delegiert, wo es sich ab 1,3 Promille saftig über kriminelle Kiffer herziehen lässt. Arte hingegen trennt nicht zwischen legalem und illegalem Rausch, sondern porträtiert im Drama Oslo, 31. August (21.55) zum Auftakt ein Bildungsbürgerkind im Bann von Stoff jeder Art, der dafür gar nicht verteufelt werden muss. Das erledigen dagegen am Dienstag gleich drei Dokus über die globale Versorgung unter der Klammer Die Schattenmacht.

Deren Angebot ist übrigens oft mitverantwortlich für das, was eine Dokusoap auf Sixx beseitigen soll: Horror Tattoos. Vier Profis korrigieren ab Mittwoch um 20.15 Uhr Tätowierungen, die dank „Drogen, Dummheit, Schnapsideen“ entstanden sind. Acht Folgen gewähren jedoch nicht nur einen Blick in kommerzielle Zielgruppen, sie sind auch ohne bewusstseinsverändernde Mittel unterhaltsam. Im Gegensatz zu einer irren Erstausstrahlung: Santo und der blaue Dämon contra Dracula und Werwolf von 1973 kann man Donnerstag (0.40 Uhr) zum Ende der Arte-Trashfilmreihe zwar nüchtern sehen, aber kaum genießen.

Bei vollem Verstand genießbar sind folgende Debüts: Shut Up, Crime! um einen schüchternen Koch (Rainn Wilson), der sich Dienstag (0.05 Uhr, Tele5) seines Nebenbuhlers mit enormer Spielfreude als Superheld entledigt. Dazu die deutsche Komödie Love Steaks (Freitag, 21.45 Uhr, EinsFestival), die der zarten Liebe zweier Mitarbeiter eines Wellnesshotels mit Laiendarstellern und Improvisation Wahrhaftigkeit verleiht. Und kurz darauf ein oft unterschätztes Format: Kurzfilme. Fünf Stück zeigt Arte um 23.55 Uhr im Rahmen des Animationsfestival Annecy und versprochen: Jeder davon ist hochdosiertes Entertainment der besten Art.

Wie die Wiederholungen der Woche: Billy Wilders Das verlorene Wochenende (heute, 20.15 Uhr, Arte) etwa bracht Ray Milland als alkoholkrankem Schriftsteller 1946 den Oscar ein. Ohne Oscar, aber in Farbe: Nowhere Boy (heute, 23.15 Uhr, NDR), ein Biopic über John Lennons Jugendjahre. Eine Viertelstunde später zeigt die ARD unseren Sachfilm der Woche: Florian Hubers Duell auf hoher See rollt 20 Jahre danach die Versenkung der Bohrinsel Brent Spar auf. Weitere 50 Jahre zurück geht Arte, wenn es Mittwoch (22.25 Uhr) 40 Verbotene Filme begutachtet, die von den 1200 Werken der NS-Zeit nur unter Auflage gezeigt werden dürfen.


Club-Mausoleum: Heinz Karmers (1994-97)

Koma ist Kunst

Das Heinz Karmers auf St. Pauli eröffnete in einer ekligen alten Domschänke. Es ist lange geschlossen, steht aber für den Übergang von der Kneipen- zur Clubkultur. Folge 6 des Hamburger Club-Museums.

Von Jan Freitag

Erinnerungen an alte Orte des wilden Feierns und wehen Erwachens, der knietiefen Abstürze und schmerzhaften Auferstehung sind häufig nicht nur zigarettenrauch- bis bierdunstgetrübt; sie verfliegen förmlich im Nebel nostalgischer Rückbesinnung auf durchzechte Nächte, die vielleicht besser waren, aber eben auch krasser, extremer, manchmal richtig böse. Wie zerbombte Kirchtürme ragen sie dann aus den Trümmerlandschaften persönlicher Geschichtsschreibungen hervor oder ekliger ausgedrückt, eklig wie, sagen wir, die Klos im Heinz Karmers: wie braune Zahnstümpfe aus einem ungepflegten Gebiss.

Es befand sich ringsum, damals, vor auch schon wieder mehr als 20 Jahren: Der Kiez, Mitte der Neunziger noch immer reichlich ungewaschen, roh, ludendominiert und waffenverbotsschilderfrei, weil das ohnehin kaum exekutierbar gewesen wäre. Gegenüber lag wie heute das Stadion, nur war es eine bessere Bretterbude, in der glaubhaft „Nazis raus!“ gebrüllt wurde, die dann wirklich auch raus sind, Richtung Reeperbahn, um mit Autonomen oder der Polizei Bambule zu machen. Und dazwischen, noch ungewaschener, noch roher, aber luden- wie verbotsschildfrei: Das Heinz Karmers. Bis 1994 eine „Asso-wir-saufen-uns-tot-Kneipe“, wie Oliver Hörr mal erzählte, aus der für die darauffolgenden drei Jahre ein „Asso-wir-saufen-uns-tot-haben-dabei-aber-mehr-Spaß-Club“ wurde, den der Mitbetreiber in einer versifften Domschänke installiert hatte und einfach weiter versiffen ließ. Gezielt, raunte man sich zu, mit aufgemalten Schimmelflecken und Bierflaschenabräumverbot, um dem pillenbunten Folgejahrzehnt der aseptischen Achtziger etwas entgegenzusetzen.

Es ist nicht so leicht, Erinnerungen an diesen alten Ort des wilden Feierns und wehen Erwachens wachzurufen, die über den optischen Zustand des Ladens substanziell hinausreichen. Viele kamen schon vorgeglüht an, verharrten in der Menschentraube vorm bröckelnden Flachbau mit den blickdichten Fenstern. Und sie mieden den Weg vorbei an immobilen Herumstehenden zum winzigen Tresen elegant überforderter Barkräfte, die das Wort „Service“ fürs Porzellanset in der elterlichen Vitrine vorbehielten und grundsätzlich niemanden bedienten, der ihnen am nächsten stand, sondern lieber irgendwem im hintersten Eck mit lautstarken Kommandos das Astra zureichen ließen, was zwar kommunikativ und abenteuerlich war, aber schrecklich ungerecht.

Auch deshalb blieb ich gern vor der Tür statt dahinter, hab bei Nordwind auf der ungeschützten Hauptverkehrsadervorfläche halt den Trainingsjackenreißverschluss überm Hoodie, der seinerzeit noch Kapuzenpulli hieß, hochgezogen und bin allenfalls im Winter oder nach verregneten Heimspielen des benachbarten Fußballclubs reingegangen. Wobei auch dann der Weg das Ziel war. Denn Hamburgs härteste Tür, sie mag seinerzeit das Top Ten in Blickweite verschlossen haben; den härtesten Gang hatte Heinz K. Er war gewissermaßen Türsteher, Tür, Zu- und Rückweg in Personalunion, weniger eng als inexistent. Womöglich lud er grad deshalb stets ein Drittel der Gäste zum Verweilen ein.

Immerhin entging man in der dortigen Kakophonie aus Stimmengewirr, Durchzug und Toilettenspülung dem paradoxen Klangsalat vom einzigen Raum, der an guten Tagen aus heillos übersteuertem Live-Sound von heillos untrainierten Bands wie Boy Division stammte, die sich angeblich hier gegründet hatten, an weniger guten Tagen Shanties und Surf-Trash-Punk mit Schlager kompilierte, an schlechten alles zugleich übereinander legte, weil wieder mal wer mit ausgeleierten Musikkassetten auflegte. Umso bemerkenswerter, dass die Legende am Übergang von der Kneipen- zur Clubkultur zum Fluchtpunkt wurde. Ein Heimatsurrogat. Zuhause.

Denn ob es die konsequente Regellosigkeit war, der kunstvolle Dreck, das kollektive Koma: hier herrschte noch (un)gepflegtes Miteinander des Inseldaseins an einer dicht befahrenen Monsterkreuzung, die schon damals bis aufs Karmers tot war und nun eben mausetot ist. Denn als der marode Flachbau in einer legendären Abschiedsparty vor 18 Jahren vom eigens herbeigeeilten Eventpublikum im Schutze der Nacht sprichwörtlich dem Erdboden gleichgemacht wurde, war im Sog der aufkommenden Gentrifizierung des angrenzenden Schanzenviertels mit allem zu rechnen: Cocktaillounge, Einkaufszentrum, Hochhauskomplex, Mehrzweckhalle. Dass dort allerdings das entstünde, was nun dort ist, erschien im Tränenmeer des Wohnzimmerverlustes selbst eingefleischten Miesmachern undenkbar. Wo das Heinz Karmers einst von zwei Werbewänden umrahmt wurde, ist heute:

Nichts.

Außer Zäunen, Asphalt, gähnender Leere. Kein Mensch hält sich da auf, niemals, nirgendwo. Selbst die Fans des FC, der seine Heimspiele längst in der schicken Stadtteilarena austrägt, gehen nach Abpfiff achtlos vorbei oder nutzen das Areal als öffentliches Pissoir, das Nobelhotel East vor Augen, errichtet auf den Ruinen des Muckibuden-Rap-Schuppens Powerhouse, von dem sich hier auch keine Spur mehr findet. Vielleicht ist es ganz gut so, dass der gierige Kraken Kiez seine Tentakel nicht bis hier auswirft, wo St. Pauli Wohngebiet ist und auch ein weiterbetriebenes Tanzcafé früher oder später entdeckt worden wäre vom Eventmarketing. Womöglich waren drei Jahre genug, und der Original-Tresen war ja noch ein paar mehr auf Reisen durch Hamburgs alternative Clubkultur. Die Erinnerung schmerzt zwar, aber Trainingsjacken trägt ja auch kein Mensch.

Aus: http://www.zeit.de/hamburg/kultur/2015-05/heinz-karmers-club-hamburg


Matthew Herbert, Nozinja, Ferric MC

Matthew Herbert

Was Laute zu Klängen macht, Klänge zu Tönen, Töne zu Musik und Musik harmonisch, ist vielgestaltig wie die Zahl der Geräusche generell. Eine Bach-Kantate unterscheidet demnach von karibischer Trommelei und Eurodance mehr als die Summe der einzelnen Teile, besteht aber auch nur aus ähnlichen Bauteilen, die eben bloß eigentümlich verfügt werden. Nach diesem Motto füllt der britische Elektrotüftler Matthew Herbert seit jeher Hallräume mit kuriosem Wohlklang. Selbst die Akustik eines Schweinelebens von der Geburt bis zur Schlachtbank diente da schon als Klanggerüst. Verglichen damit wirkt sein neues Album The Shakes gradlinig.

Durch viele der zwölf Stücke fließt orchestrales Dance-Pathos, als ginge Frankie noch nach Hollywood, während tanzbare Melodramatik umherflattert, als sänge Rihanna, wer „in the middle oft the night“ auf wen warte. Das wirkt zuweilen fast eingängig – würde der akademisch gebildete Produzent zwischendurch nicht dauernd widersprüchliche Soundkaskaden zu digitalen Popgespinsten verweben. Bissfester war Soundbrei selten.

Matthew Herbert – The Shakes (Accidental Records)

Nozinja

Für eher nordwestlich geschulte Ohren klingt jedoch vieles, was den strengen Regeln klassischer Harmonielehre allzu sehr wiederspricht, rasch dissonant, also unhörbar. Wer diese eurozentrische Sicht auf den Musikgeschmack überwinden will, ohne gleich jede Grenze einzureißen, dem sei ein Blick nach Südafrika empfohlen. Hier vereint Richard Mthetwa, genannt Nozinja, den urwüchsigen Sound seiner Heimatprovinz Limpopo mit digitaler Disco, und weil der Pionier elektronischen Crossovers über diese Art modernisierter Tradition den ortsüblichen Bantudialekt legt, nennt er sie „Shangaan Electro“.

Das Resultat klingt zwar leicht nach Kwaito, dieser verschwitzten House-Variante mit HipHop- und Dance-Elementen, ist aber um eine gehörige Prise aberwitziger. Da flattern Samples afrikanischen Alltagslebens vogelwild über eklektische Percussion, da überdrehen scheinbar wirr verklebte Beats, da läuft schon mal auf 45, was mit 33 Umdrehungen schon arg schnell ist, und sorgen so für eine Dynamik, wie sie womöglich nur den Vierteln dieser Region entspringen kann.

Nozinja – Nozinja Lodge (Warp)

Ferris MC

Innen rau, außen rau, durch und durch rau ist hingegen Sascha Reimann. Der Pfälzer hat seine Ursprungsmentalität seit dem Zuzug ja so oft gegen die Kaimauern der Waterkant gedeppert, dass er als assimilierter Prollrapper Ferris MC zum Synonym fürs Küstenattribut schlechthin wurde, mit dem sich das glattgebügelte Hafenviertel so gerne schmückt: Derbe. Derbe ist Ferris seit 1995 als Vorgröler des deutschen Sprechgesangs, derber wurde er zwischendurch bei Deichkind, derbst bleibt er auch auf seiner ersten Soloplatte seit zehn Jahren.

Es ist eine Rückkehr, die sich vom bierdosenzischenden Sideprojekt ein paar Eventelemente geborgt hat und auch sonst ambivalenter klingt, rockiger, poppiger, weniger bekifft als beim antiquarischen Durchbruch Asimetrie anno 99. Aber auch Glück Ohne Scherben treibt dem deutschen Hip-Hop mit kratzender Stimme die Konsensbereitschaft aus den Zeilen. „Ich lass die Kettensägen kreischen“, rappt er in All die schönen Dinge und bricht auch sonst gern Beine, entzündet Rote Teppiche, verprügelt Promis, kotzt und tritt und haut alles zu Klump. Reimann? Geil!

Ferris MC – Glück Ohne Scherben (Warner)

Mehr pics’n’sound’n’kommentare unter http://www.zeit.de/kultur/musik/2015-05/ferris-mc-heather-nova-matthew-herbert-nozinja

 


Interview-Classics: Dieter Baumann

Das bin nicht 1:1 ich

Lebende Personen werden eher selten verfilmt. Einer von ihnen war vor zehn Jahren der Weltklasseläufer Dieter Baumann. 2004 hatte das Erste die aberwitzige Karriere des Olympiasiegers unter Dopingverdacht in Spielfilmform gegossen – allerdings nicht im Auftrag des weißen Kenianers, wie seine Konkurrenz den Ausnahmeläufer seinerzeit ehrfürchtig nannten. Freitagsmedien dokumentieren das Interview zu Ich will laufen mit einem bemerkenswert übellaunigen Sympathieträger.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Baumann, wie oft wurden Sie seit Herbst 1999 frei vom Thema Doping interviewt?

Dieter Baumann: Keine Ahnung.

Und der Tendenz nach?

Ich glaube, es gehört zur journalistischen Sorgfaltspflicht, das Thema anzuschneiden. Damit lernen Athleten umzugehen. Insofern findet es in jedem Gespräch mit Journalisten statt.

Nur die Ebene hat gewechselt – vom Saubermann zum Sünder.

Ja klar, die Rolle hat sich geändert, aber dann eben auch wieder. Das ist ein ständiger Wandlungsprozess. Ich weiß, was Sie jetzt von mir hören wollen.

Ob sich bei ihnen alles um Doping dreht.

Mein Leben beschränkt sich nicht aufs Thema Doping. Es ist mit tollen Projekten erfüllt und die paar Interviews verkrafte ich halt.

­Sie waren stets offensiver als andere.

Das bin ich noch. Ich habe ja nichts zu verbergen.

Wann haben Sie beschlossen, sich selbst an die Öffentlich zu wenden.

Das war schon während der ersten Monate. Ich hatte mir viele Notizen gemacht und gemerkt, es tut mir gut, wenn ich die Tagesverläufe quasi als Tagebuch festhalte. Irgendwann ging mir auf: da könnte ein Buch draus werden.

Und wann wurde das Filmprojekt an Sie herangetragen?

Kurz vor der EM 2002.

War das eine Chance, alles noch mal mit größerer Resonanz aufzurollen?

Eigentlich habe ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Natürlich sehe ich diese Gefahr, dass alles wieder angerührt wird. Deswegen habe ich sehr lang versucht, das Projekt nicht zu machen.

Wenn auch ohne Erfolg.

Na ja, ich bin dem Charme vom Regisseur Diethard Klante erlegen und habe ihm gesagt: Gut, wenn es dein Lebensglück erhöht, machen wir’s eben. Er ist da sehr hartnäckig.

Wie finden Sie seinen Film?

Ich kann da keine Wertung abgeben. Das ist als Betroffener nicht möglich. Es gibt aber diese Ambivalenz – auf der einen Seite war alles so wie im Film dargestellt, auf der anderen wurde vieles weggelassen, das mir wichtig wäre. Und Hans-Werner Meyer…

Der Sie im Film spielt.

… kann ich beim besten Willen nicht beurteilen. Da muss ich mich neben mich stellen und sagen, dass ist künstlerische Freiheit. Der schneidet den Dieter Baumann so auf sich zu, dass er den spielen kann. So muss man auch den ganzen Film verstehen. Das bin nicht 1:1 ich, das ist ein Schauspieler, der sich dieser Figur annähert.

Wie groß war ihr Einfluss?

Diethard Klante hat mit unzähligen Menschen Gespräche geführt, die involviert waren. Natürlich auch mit mir. Irgendwann hat er uns das Drehbuch vorgestellt. Aber konkrete Einflussmöglichkeiten waren nicht vorgesehen oder gewollt.

Wie war es, als sie erstmals den Rohschnitt gesehen haben?

Da blieb die Ambivalenz erhalten, dass ich die ganze Geschichte noch mal erlebe und wieder einen kleinen Schritt zurückmache. Eigentlich wollte ich nur noch nach vorn stürmen. Aber manchmal ist es auch okay, einen Rückblick zu wagen.

Sie kommen im Film sehr gut weg. Es könnte der Eindruck entstehen, Dieter Baumann wäscht sich hier rein.

Die Sorgen mache ich mir nicht, weil ich mit dem Film gar nichts zu tun habe. Ich hab Gespräche geführt, Herrn Klante Unterlagen zur Verfügung gestellt, und er hat Rechte meines Buches „Lebenslauf“ erworben; das ist ja die Handlungsgeschichte.

Haben Sie sich mehr über die Affäre an sich geärgert oder darüber, dass die Zahnpastaversion belächelt wurde?

Ärgern ist das falsche Wort – man ist hilflos, machtlos. Es ging ja auch um eine existenzielle Bedrohung. Aber es gibt jetzt hier keine Medienschelte; jeder hat da auf verschiedenen Ebenen seine Rolle gespielt, in seinem Bereich und mit seinem Motiv. Ich war da nur der Spielball. Es ging nicht mehr darum, ob ich’s getan habe. Eine differenziertere Betrachtung konnte ich irgendwann eh nicht mehr erwarten.

Hätten Sie gedacht, dass die Geschichte irgendwann mal Filmstoff wird?

Ach, mich überrascht im Leben nichts mehr. Aber ich hätte es auch nicht vorhergesagt. Ich habe einfach überhaupt nicht gedacht.

Können Sie sich nach dem ersten Einblick ins Filmgeschäft vorstellen, dort aktiv zu werden?

Grundsätzlich bin ich für alles offen. Die Welten des Athleten und die des Schauspielers liegen ja gar nicht so weit auseinander. Beides hat immer mit einer Bühne zu tun und meine ist das Stadion. Ich habe dieses Projekt genutzt, über den Zaun zu schauen.

Vermissen Sie nach dem Rücktritt Ihre alte Bühne?

Nein. Ich hab 20 Jahre Leistungssport gemacht. Eine tolle, schnelle Zeit. Aber ich habe auch gemerkt, dass es sich abnutzt. Es hat viel Kraft gekostet. Ich genieße es, ein Freizeitläufer zu sein. Es geht um nichts mehr, das ist wunderbar.


Günther Jauch: Plaudertasche & Talkpensionär

Irrtum ade!

Nach kaum mehr als vier Jahren beendet der König des belanglosen Plauderns an diesem Sonntag seine sündhaft teure ARD-Talkshow – und damit ein großes Missverständnis: Günther Jauch ist weder Journalist noch Anwalt des kleinen Mannes. Sondern einfach ein sehr, sehr guter Geschäftsmann mit gewissen Entertainerqualitäten.

Von Jan Freitag

Irrtümer können ganz schön hartnäckig sein. Derjenige zum Beispiel, nach drei Bierchen könne man problemlos Auto fahren, hält sich bekanntlich selbst unter bayrischen Spitzenpolitikern beharrlich. Auch, dass Hunde den Mond anheulen, Jugendliche immer gewalttätiger werden oder Erkältungen durch Kälte entstehen, wird nicht dadurch richtiger, dass man es dauernd wiederholt. Da könnte man ja gleich dem denkbar größten Irrtum unserer Tage Glauben schenken: Bei einer Direktwahl durchs Volk bekäme Günther Jauch die Mehrheit.

Wer das glaubt, glaubt womöglich auch, Deutschlands beliebtester Fernsehmoderator sei auch ein guter Talkshowmaster oder noch ein bisschen verrückter: Journalist. Aber gut – jetzt ist mit diesem Märchen ja Schluss. Diesen Sonntag hört Günther Jauch auf, zu sein, wofür er einfach nicht bestimmt ist und doch Abermillionen sinnlos vergeudete Euro kriegt: Günther Jauch. Dann wechselt das RTL-Gesicht letztmals zum Wochenendfinale vom privaten Biotop rüber ins öffentlich-rechtliche Exil und begrüßt seine Gäste bei der ARD. Dann ist seine Gesprächsrunde nach vier Jahren auf Sendung trotz konstanter Einschaltquoten überm Senderschnitt Geschichte. Ein Irrtum weniger auf dem Feld beharrlicher urban legends.

Denn Günther Jauch war, er ist alle Mögliche: Ein Kaiser arglosen Entertainments, der König des belanglosen Plauderns, Edelmann diverser Unterhaltungsshows für Bürger, Bauern Bettelleute. Er kann profane Alltagsquizrunden ebenso wie übersteuerte Samstagabendsausen zum heiteren Hochamt gesamtdeutscher Abendgestaltung weihen und dem Altmedium Fernsehen somit eine Art nonchalanter Relevanz suggerieren. Noch besser aber kann Jauch den Hochadel seriöser TV-Dispute so profanisieren, dass sie intellektuell belanglos werden, äußerlich mitunter wärmend, innerlich bedeutungslos und leer.

Dafür muss man nur ein paar Monate zurückwandern auf der Zeitachse linearen Fernsehens. Im April war es, da ertranken im Mittelmeer zwar auch nicht mehr Flüchtlinge als üblich, aber die Medien waren durch ein paar besonders verlustreiche Schlepperhavarien aufgeschreckt. Aus diesem Grund nun lud der nette Herr Jauch nicht nur den rassistischen Brachialpublizisten Roger Köppel aus der Schweiz zum Disput, sondern auch einen freundlichen Philanthropen, der auf eigene Faust Schiffbrüchige rettet und plötzlich etwas tat, das den Moderator an den Rande der Zurechnungsfähigkeit brachte: Er forderte Schweigeminute für die Opfer von Europas Abschottungspolitik.

Und was tat Jauch? Er sträubte sich, stammelte, winkte ab, rang sichtbar um Regelhoheit und gewährte doch eine Audienz der Stille im Quasselforum, nur dass sie keine 60 Sekunden währen durfte, sondern rund die Hälfte – dann brach er den erhabenen Moment ab, ging zur Tagesordnung über und riss sich somit endgültig die Maske vom Gesicht. Günther Jauch, 1958 in Münster geboren, als dort noch Priester statt Grüne den Ton angaben, gilt nämlich im Medium der Machtinteressen als Stimme des kleinen Mannes – obwohl er sich wie kein zweiter Promi seines Ranges den Fangarmen der Springerkrake entzieht.

Er ist also wie gemacht fürs Unterschichtenfernsehen von RTL mit seiner verantwortungslosen Ballermannbespaßung, das die Lüge strukturell zum Faktum verdreht und Sachlichkeit allenfalls homöopathisch dosiert. Hier spielt das sportaffine BR-Gewächs seit 1999 für gut fünf Millionen Zuschauer den vertrauenswürdigen Ratepaten mit lausbübischer Empathie für den rätselnden Pöbel. Spätestens die Flüchtlingssendung vom April aber legt nahe, wie viel Pose darin steckt und wie wenig Wahrhaftigkeit.

Dafür spricht nicht zuletzt der Geschäftsmann im Moderator, dem das mitfühlende Image seit Jahren das Konto bläht, seit 2011 mit geschätzt zehn Gebührenmillionen im Jahr für eine Stunde Wochenarbeitszeit plus Vor- und Nachbereitung, die er zudem von seiner eigenen Firma i&u TV produzieren lässt. Dafür hat der Elitenzögling mit herrschaftlichem Anwesen in der reichen Residenzstadt Potsdam nicht nur die bessere Anne Will vom wichtigen „Tatort“-Anschluss auf den Aschenputtelplatz am Mittwoch verdrängt, sondern die „Gremlins“ der ARD auch sonst am Nasenring durch die Arena des Kampfs um unerreichbare Zielgruppen gezogen.

Selbst Vater Ernst-Alfred, er immerhin tatsächlich Journalist, soll mal über seinen Sohn gesagt haben, „was Günther macht, verstehe ich zwar nicht, aber es wird wohl gut bezahlt“, um hinzufügen: „Kein Mensch weiß, warum.“ Dem kann man, auch wenn es dem beruflichen Standesdünkel eines alten Printreporters vor Wer wird Millionär entsprungen sein mag, nur beipflichten. Jauch Junior ist zwar überaus nett, aber erschreckend beliebig; bildungsstark, aber meinungsschwach; unterhaltsam, aber trivial. Alles Relationen, die einer lukrativen Karriere im Kommerzfunk zuträglich sind. Fürs staatsvertraglich grundierte Hauptabendprogramm des Grundversorgers ARD taugen sie deutlich weniger.

Dass er mit kaum 60 Jahren nun – aus privaten und beruflichen Gründen, wie er mitteilen ließ – die Reißleine zieht und zum morgigen Finale allein mit Wolfgang Schäuble über Terror, Flucht und Pegida spricht, ist somit ein Schlag ins Kontor des verlängerungswilligen NDR als Auftraggeber. Bedauern sollte sie es dort nur solange, wie sich ein seriöserer Host am wichtigsten Talkshowplatz der Medienrepublik findet. Irgendjemand, der nicht nur über hohe Sympathiewerte beim anspruchsloseren Publikum verfügt, sondern über ein paar andere Dinge, die politischem Fernsehjournalismus dienlich sind: Kompetenz, Informiertheit, Augenhöhe. Irrtum ade.

Mehr Bilder und Kommentare unter http://www.zeit.de/kultur/film/2015-06/guenther-jauch-talksendung-ard-irrtum-ade


Katastrophenfrauen & Christina Große

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

1. – 7. Juni

Seit Herbst besteht die Nachrichtenwelt offenbar nur noch aus Krisen. Die „Tagesschau“ etwa geriet damals so kriegerisch, dass Sprecherin Linda Zervakis auf die Frage, warum sie ab Juli den Summer of Peace moderiert, entgegnet: Arte wolle der „Katastrophenfrau“ wohl eine Friedenspause gönnen. Doch just als der Kulturkanal seinen Schwerpunkt in Hamburg präsentierte, mehrten sich mysteriöse good news: Zuerst liefert Don Sepps Rücktritt Stoff für Dauerschleifen vom Crash seiner Mafia, pardon: Fifa. Dann berichtet Zervakis’ Sendung mehr als die üblichen 25 Sekunden pro Woche über den Kita-Streik, der nun in die Schlichtung geht. Schließlich gibt’s das Freitagsschmankerl dazu: Günther Jauch beendet seine Talkshow im Ersten. Wen man da wohl mehr vermisst – ihn, Blatter, Streiks oder doch Winnetou?

Dessen Alter Ego Pierre Brice ist nämlich Samstag gestorben. Wir werden ihn vermissen. Wen dagegen kaum jemand vermissen würde, wäre Roger Köppel. Bei Frank Plasberg durfte der Schweizer dennoch sein salonfaschistoides Weltbild absondern, in dem er Landsmann (und Kumpel) Blatter eine blütenweiße Demokratenweste attestierte und jeden Journalist, der das bestreitet, zur „Rowdy-Publizistik“ zählt, die Köppels Weltwoche ebenso wie seiner rechtsradikalen Partei natürlich total fremd ist, wenn beide saftig gegen Asis, Schwule, Neger hetzen.

Damit befindet sich der braun(gebrannt)e Publizist in bester Gesellschaft mit Ulrich Marseille, der gerichtlich gegen Günter Wallraff vorgeht, weil er Missstände in dessen Klinik-Konzern recherchierte, ohne vorher förmlich um eine Audienz gebeten zu haben. Wo kämen wir denn da hin, wenn journalistische Arbeit abseits offizieller Pressestellen beginnt…

0-FrischwocheDie Frischwoche

8. – 14. Juni

Dass er sich von derlei Drohgebärden nicht beirren lässt, zeigt RTL in seiner einzigen Sendung, die eine Vorform journalistischer Relevanz erreicht: Team Wallraff, dessen heutiges Thema aus verständlichen Gründen erst um 21.15 Uhr bekannt wird. Wenn Thomas Gottschalk am Freitag (23.40 Uhr) im Vierteiler 40 Jahre Musikvideos allerdings die ersten acht seit Queens Bohemian Rhapsodie Revue passieren lässt, zeigt der Sender, dass man auch ohne Bedeutsamkeit anschaulich unterhalten kann.

Bedeutsam und anschaulich – das schafft aber doch eher Arte, dessen Themenabend zum Thema Flüchtlinge am Dienstag zwei herausragende Dokus darüber bringt, wie Zielländer die Ströme eher blockieren als auflösen. Dazu passt Eric Friedlers preisgekrönte Doku Aghet, die den Völkermord an den Armeniern und das Versagen der Weltbevölkerung parallel auf 3sat (22.25 Uhr) in Form von Zeitzeugenberichten prominent verlesen lässt.

Ähnlich historisch geht es Donnerstag abermals auf Arte zu, wo um 20.15 Uhr die achtteilige Zeitreise 1864 beginnt, dessen Untertitel Liebe und Verrat in Zeiten des Krieges den deutsch-dänischen Konflikt jener Tage banaler erscheinen lässt, als dieses hyperrealistische Stück fiktionalen Edutainments verdient. Fiktionale Realität der besten Sorte ist auf dem Kulturkanal dann Mittwoch zu sehen, wo Nina Hoss in Thomas Arslans schwarzweißem Spätwestern Gold so glaubhaft nach dem Edelmetall jagt, als seien beide einst beim berühmten Rush in Klondike dabei gewesen.

Gelungen ist auch ein Film, der sich gar nicht um Bedeutsamkeit kümmert, sondern lieber ein skurriles Panoptikum Schweriner Plattenbaubewohner erschafft, mit Charly Hübner als scheuem Hausmeister, der sich am Degeto-Freitag in Anderst schön um Christina Große als spröde Ellen bemüht, was zeigt: Romantische Komödien brauchen auch in ARD und ZDF gar keine hübschen Gesichter, um zu gefallen. Das gleiche gilt übrigens bisweilen für Weltsport, weshalb sich beide Sender völlig zu Recht weigern, die „Europa Spiele“ aus der aserbaidschanischen Halbdiktatur zu übertragen, weshalb sie die Farce ab Freitag an Sport1 delegiert haben, dem moralische Überlegungen so fremd sind wie sexhotlinefreie Nächte.

Es wird also öffentlich-rechtlich unsichtbar bleiben, wenn in Baku, sagen wir: Marathon gelaufen wird. Aber immerhin sorgt Arte für eine Art Ersatz, wenn es – Stichwort Wiederholung der Woche – heute Dustin Hoffman als Marathon-Mann auf die Spur von Laurence Olivier als furchtbarer SS-Arzt à la Mengele (1976) setzt. Die nächste Spur (der Steine) wird 100 Minuten später im MDR gelegt, mit Manfred Krug als renitentem DDR-Bauarbeiter. Seit 50 Jahren sehenswert!