Kevin Morby, Hot Panda, R. Hollebon, Beyoncé
Posted: April 29, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a comment
Kevin Morby
Trüge das Gegenteil von Enthusiasmus im Indie-Folk einen Namen, Kevin Morby wäre wohl ein passender Kandidat. Mit der stimmlichen Durchschlagskraft Bob Dylans, in dessen Tradition sich der unscheinbare Texaners zweifellos wähnt, schwirrt sein betont beiläufiges Näseln im Hallraum des tiefenentspannt melodramatischen Genres umher, als gehe ihn die Sache mit dem dritten Album in drei Jahren ebenso wenig an wie die teils hymnische Kritik am wunderbaren Vorgänger Still Life. Doch all das könnte auch nur ein gerissener Täuschungsversuch sein.
Denn so dünn sein Gesang über die lösbaren Rätsel des Daseins wie Beziehung, Heimatliebe, Selbstzweifel auch wirkt: Sobald der 28-Jährige mit einem halben Leben Banderfahrung im Gepäck und dem Multiinstrumentalisten Sam Cohen zur Seite aufgeweckte Mariachi-Bläser unter seine Westerngitarre rührt und sodann oder auf einer Batterie Verzerrer herumtrampelt, die sein Singer/Songwriting kurz mal ins Psychedelische reißen, löst sich das Understatement in liebevollem Overacting auf. Ein wirklich zauberhafter Kontrast. Passend zum Albumtitel Singing Saw übrigens, an die seine gelegentliche Harmonieverweigerung tatsächlich erinnert. Bei aller Zurückhaltung.
Kevin Morby – Singing Saw (Dead Oceans)
Hot Panda
Ob Musik schlecht ist oder nicht, hängt vom Vergleichsgegenstand ab. Schlechter Rock, Jazz, Soul, was auch immer gewinnt sein negatives Attribut ja erst im Kontrast zum reichen Fundus hochwertiger Erzeugnisse im selben Segment. Aber schlechter Pop – ist das auf dem Spielfeld popkultureller Beliebigkeit nicht die Antithese der Antithese, ergibt also wie Minus mal Minus Plus, ergo: gut? In Ausnahmefällen schon! Hot Panda zum Beispiel, sehr lustig benannt nach einem China-Restaurant ihrer kanadischen Heimatstadt Edmonton, mischen seit Jahren Fragmente aus aller Herren Genres so unterhaltsam zu einer schrill-schönen Kakophonie, dass ihr Indie-Rock zwar poppig wirkt, für radiogeschulte Mägen aber völlig unverdaulich.
Der Titel ihrer neuen Platte klingt daher gleichermaßen ironisch und ernstgemeint: Bad Pop. Den liefert Album Nr. 4 in der Tat. Allerdings im Stile von Green Day oder Weezer, deren fuzzig fröhliche Gitarren auch viel zu laut brüllen für den Belcanto davor oder umgekehrt eigentlich weitaus brachialeren Gesang erfordern würden. Aber gut – den setzt der Songwriter des Trios Chris Connelly ja immer wieder mal ein: Dann nämlich, wenn man es am wenigsten erwartet. Also irgendwie dauernd. Wie gesagt: Minus mal Minus. Bad Pop, sensationell gut…
Hot Panda – Bad Pop (Hot Pandas)
Reuben Hollebon
Pearl Jam hatten ihre Zeit. Sie ist schon eine ganze Weile her und hat sich ereignet, als Punk über den Umweg der Garage zum emotionalen Rock ohne Pathos oder sonstigen Gefühlsballast wurde und unterm Namen Grunge jene Gitarrenmusik revolutionierte, die zuvor ihrerseits Opfer einer Konterrevolution des Mainstream geworden war. Wenn ein unscheinbar blässlicher Brite aus dem tristen Norfolk mit dem merkwürdig barocken Namen Reuben Hollebon ein Vierteljahrhundert später so klingt wie Eddie Vedder und das Ganze mit einem Sound unterlegt, der auch irgendwie eher nostalgisch als zeitgemäß klingt, besteht also eigentlich kein Grund zu größerer Erregung. Eigentlich.
Denn was der musikalische Vagabund im besten Studentenalter nach ein paar Jahren Live-Praxis in halb Europa auf seinem Debütalbum zuwege bringt, mag mit Terminal Nostalgia seinerseit leicht rückwärtsgewandt klingen, ist aber ungemein ergreifend und dabei überhaupt nicht so süffig wie es Pearl Jam in ihrem Spätewerk leider wurden. Irgendwo zwischen The National und Grizzly Bear zelebriert er einen verwaschen schönen Alternative-Folk, der keinesfalls modern ist, aber eben auch nicht im Vorgestern badet, sondern die Gegenwart des Rock ein bisschen an jene Epoche erinnert, die dem Genre einmal Dampf unterm Hintern gemacht hat.
Reuben Hollebon – Terminal Nostalgia (Bright Antenna)
Hype der Woche
Beyoncé
Es gibt so Künstler und *innen massenwirksamer Musik, an denen kommt man partout nicht vorbei, so sehr man sich auch müht und windet. Beyoncé zum Beispiel, das schickste Postergirl des Planeten Pop, hat dem Feminismus mit ihrem selbstbestimmten Arschgewackel zum elaborierten Breitband-R’n’B zugleich die Pest und das passende Penicillin verabreicht. Ihr Sound ist so seifig, dass es aus den Boxen spritzt, zugleich aber so grandios inszeniert, dass der gigantische Rest des musikalischen Geldaldels vor ihr niederknien müsste. Für ihr sechsten Soloalbum, das sie wie gewohnt vorab praktisch überhaupt nicht promoten ließ, hat ihr Management demnach Stars von Jack White über The Weeknd, James Blake, Kendrick Lamar bis hin zu einem Dutzend erstklassiger Produzenten gewonnen, die Lemonade zu einem Glanzstück des Genres machen. Wer es gern independenter mag, kantiger und alternativer, wird also alles daran setzten, Beyoncés neuem Werk zu entgehen. Wer das nicht aus Prinzip tut, sollte sich dabei nicht zu sehr verkrampfen; Lemonade läuft rein wie die Titelbrause an einem heißen Sommertag. Verdammt…
Katja Riemann: Radiopsychologie & Schmidt
Posted: April 27, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a comment
Aussehen war nie ein Thema
Diva, Zicke, konfrontativ – es kursieren die wildesten Gerüchte über Interviews mit Katja Riemann. Im Gespräch über ihre Filmreihe Emma nach Mitternacht jedoch, die Mittwoch im Ersten startet, ist die Schauspielerin nicht nur freundlich, sondern überaus unterhaltsam. Was allerdings auch an ihrem Kollegen Andreas Schmidt liegt, der Riemann im gemeinsamen Gespräch (Foto: SWR/Alexander Kluge) ebenso Paroli bietet wie in der Geschichte um eine Radiopsychologin und ihren Chef.
Interview: Jan Freitag
Frau Riemann, Herr Schmidt, ist Emma nach Mitternacht so eine Art Nachruf auf Jürgen Domian, der im Herbst seine Sprechstunde beendet?
Katja Riemann: Nur insofern, als es sich bei mir auch um eine Radio-Psychologin handelt.
Andreas Schmidt: Davon abgesehen ist eine Late-Night-Psychologin so spannend, weil es ohne Krimielemente tief in die menschlichen Abgründe unserer Gesellschaftblickt.
Heißt das, die Thriller-Elemente des Pilotfilms sind eine Ausnahme?
Riemann: Das wäre zumindest mein persönlicher Wunsch. Ich finde Radio als Medium toll und die Idee, Fernsehen durchweg darin spielen zu lassen, umso mehr. Diese Reduktion ist dem Publikum allerdings nicht leicht zu vermitteln, das ist mir schon klar.
Schmidt: Wir haben ja geradezu Angst vor fehlenden Bildern.
Riemann: Hast du Locke mit Tom Hardy gesehen? Ein Mann, 90 Minuten beim Telefonieren im Auto, sonst nix. Diese Zuspitzung wäre mein erklärtes Ziel, allerdings mit mehr Spielraum als der frontalen Ansicht von Jürgen Domian. Emma kann und darf mehr agieren.
Im ersten Teil agiert sie jedoch auch mit vorgehaltener Waffe stets kontrolliert und cool, während ihr Redaktionsleiter Benno Heinle oft fast karikiert wirkt. Ist das realistisch?
Schmidt: Vom Spiel oder vom Aussehen her?
Davon abgesehen, dass ihr Aussehen nicht exakt jener Postertauglichkeit entspricht, die der Film von seinen Hauptdarstellern erwartet, wirkt auch ihr Spiel leicht überdreht…
Schmidt: (lacht) Ich nehme das mit der Postertauglichkeit mal als Kompliment. Karikaturen zu spielen, liegt mir allerdings fern. Mein Heinle ist schon eine humorvolle Figur in einem komplizierten Job mit vier Kindern. Er hat also viele Baustellen zu bewältigen, was sich in aller Seelenruhe schwer machen lässt.
Auch nicht bei Emma, die trotz Todesgefahr nie haspelt, nie schwitzt, nie zaudert?
Riemann: Ich habe generell keinen so ausgeprägten Realitätsanspruch; wir machen ja keine Doku. Dieser Hyperrealismus der Berliner Schule, Figuren gegenüber der Wirklichkeit zu vergrößern, ist nicht so meins, gerade in einer Fernsehreihe. Mich interessieren Emmas Geheimnisse mehr als ihre Wahrhaftigkeit.
Schmidt: Und zu der gehört bei einer Psychologin, die auf souveränen Umgang mit Fremden geschult ist und sie förmlich auf den Kopf zu stellen vermag, auch die Fähigkeit, in Extremsituationen Haltung zu bewahren. Ich wundere mich auch oft, wie Politiker komplexe Dinge in Echtzeit begreifen und artikulieren. Souveränität ist eine Frage der Übung, die Emma anscheinend hat.
Riemann: Ich glaube, unser Organismus kann eine Überlebensfunktion aktivieren, die ihn wie ein Airbag schützt, wenn es hart auf hart kommt.
Wie würden Sie selber denn wohl in solch einer Situation reagieren?
Riemann: Indem ich gar nicht erst in die Tankstelle mit einem bewaffneten Kidnapper hinein ginge. Aber solche Überlegungen helfen mir bei der Vorbereitung auf eine Rolle nicht weiter.
Schmidt: Ich würde da auch nur reingehen, wenn mir jemand darin so wichtig wäre wie ich selbst. Und wozu ich dann in der Lage wäre – wer weiß. Vielleicht entsteht daraus diamantklares Denken, das man sich sonst gar nicht zugetraut hätte.
Riemann: Ich erinnere mich an zwei, drei Situationen in meinem Leben, wo körperliche Bedrohung sehr real war. Da kam es zu dem, was Andreas diamantklares Denken nennt.
Schmidt: Ich hatte mal diese typische Nazi-Situation in der U-Bahn, als wir einen Studentenfilm gedreht hatten. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, aber einer aus dem Team ist aufgestanden, hat auf die fünf Glatzen eingeredet und einfach nicht aufgehört zu reden.
Riemann: Und hat es dadurch deeskaliert?
Schmidt: Absolut. Ohne Aggressivität, einfach durch bloßen Mut.
Riemann: Fantastisch!
Schmidt: Ich hoffe, mein Inneres hat dieses Verhalten aufgesogen und gibt es in einer ähnlichen Situation instinktiv frei. Denn währenddessen kam ich mir ziemlich klein und feige vor.
Riemann: Also nicht so richtig postertauglich.
Warum kriegen Schauspieler wie Milan Peschel, AlwaraHöfels, Martin Brambach oder Sie mittlerweile spielend Hauptrollen, obwohl sie dem Anspruch der Branche nach Makellosigkeit nicht genügen?
Schmidt: Ich möchte die Frage dahingehend umdrehen, dass äußerst gutaussehende Kollegen oft unglaublich tolle Schauspieler sind, das aber nicht oft zeigen dürfen, weil man sie aufs Aussehen reduziert. Und Frauen haben es noch viel schwerer. Dass ich so viele anspruchsvolle Sachen drehe, hat also womöglich gerade mit meinem ungewöhnlichen Gesicht zu tun.
Hatten Sie, Frau Riemann, je das Gefühl, Ihre Attraktivität stand Ihnen im Wege zu anspruchsvollen Rollen?
Riemann: Attraktivität?
Anfang der Neunziger, nach Abgeschminkt, hat sie nahezu jeder im geschlechtsreifen Alter angehimmelt…
Riemann: Echt? Hab ich damals gar nicht mitgekriegt.
Schmidt: Das kann nicht wahr sein, Katja!
Riemann: Doch, deshalb fühl ich mich auch nicht von Andreas Rückfrage angesprochen. Ich wollte immer komplexe Rollen spielen und darf das bis heute. Ich bin echt dankbar, wenn andere mich gut aussehend finden, sehe das selbst aber erst so, seit ich 40 bin. In den Neunzigern fand ich mich überhaupt nicht attraktiv.
Schmidt: Ist schon krass, wie viele schöne Frauen so eine Selbstwahrnehmung haben oder?
Riemann: Tja… Bewusster war mir, dass ich in den Neunzigern Teil einer Wende war, in der ein kommerzielles deutsches Kino abseits von Klamauk und Arthaus entstand. Deshalb hab ich immer lieber an der Schauspielerei als an meinem Sixpack gearbeitet. Aussehen war für mich nie ein Thema.
Schmidt: Beneidenswert!
Majestätsbeleidigung & Schmuseorgane
Posted: April 25, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
18. – 24. April
Gute Nachrichten gefällig, zum Start der nächsten Woche voller Krisen, Krieg und Katastrophen? Im Oktober ersetzt Ingo Zamperoni den altersmüden Tagesthemen-Moderator Thomas Roth, der dann endlich Zeit hat, sich die lästige Kiefersperre lösen (und vielleicht mal rasieren) zu lassen. Zugleich gibt er dem jungen Nachfolgern die Chance, dank dessen Charisma, seiner Nonchalance, dem Augenzwinkern, gepaart mit großer Nachrichtenkompetenz den deutschen Medien einen dringend nötigen Schub Richtung Zukunftsfähigkeit zu geben. Zumindest hierzulande. Andernorts drängt sich schließlich zusehends der Eindruck auf, dass es schon mehr als einen Schub bräuchte. Tendenz Urknall.
In Russland zum Beispiel darf der Oberstaatsanwalt Alexander Bastrykin von seinem Freund Putin und auch sonst unwidersprochen fordern, Internetbeiträge fortan ohne Gerichtsbeschluss zu zensieren, falls sie „extremistische“ Dinge verbreiten, die hierzulande der Holocaust-Leugnung gleichkämen. Kritik am Krim-Referendum etwa. Starker Vergleich. In der Türkei wurde parallel dazu der SWR-Reporter Volker Schwenck nicht ins Land gelassen, um übers Flüchtlingselend an der syrischen Grenze zu berichten. Und da ist noch gar nicht von Präsident Erdoğan die Rede, der neben Jan Böhmermann 2000 weitere Personen wegen vermeintlicher Majestätsbeleidigung angezeigt hat.
Es ist übrigens gar nicht so provokant zu behaupten, das ZDF habe die lachhafte Reaktion aus Ankara förmlich erzwungen, indem es das „Schmähgedicht“ vorauseilend zensierte. Da wirkt Thomas Belluts Zusicherung, mit seinem pausierenden Mitarbeiter wenn nötig durch alle Instanzen zu gehen, allenfalls pflichtschuldig. Von journalistischer Größe würde es eher zeugen, Böhmermanns – ja: Satire endlich wieder öffentlich zugänglich zu machen. Und zwar nicht in der luftig leicht bearbeiteteten Fassung, die vorige Woche ebenso zum Klickkrösus wurde wie Claus Klebers famoses Interview mit Michael-Hubertus von Sprenger im heute-journal, das Erdoğans Anwalt als das entlarvt, was er ist – hier aber besser unausgesprochen bleibt, weil es gewiss eine Majestätsbeleidigungsklage des biegsamen Nazi-Verteidigers nach sich zöge.
Die Frischwoche
25. April – 1. Mai
Großmütiger auf Beleidigungen wie die, er sei vom Theaterstar zum Pilcher-Inventar geschrumpft, reagiert Christian Kohlund. Sein Schmuseorgan verleiht zwar selbst dem flachsten Melodram Tiefe, doch mit jedem Traumhotel, das er bezog, erklang es seltener in guten Rollen. Seit er ausgecheckt hat, ertönt es allerdings wieder etwas anspruchsvoller: Als Anwalt Borchert darf der Schweizer im Zürich-Krimi ermitteln. Und das macht er, nun ja, gar nicht mal übel. Schließlich hat seine Figur – wie so oft am ARD-Donnerstag – ein Geheimnis, das sie bei ihrer Rückkehr in die alte Heimat recht atmosphärisch umweht. Ohren statt Augen auf wäre dennoch mitunter der angenehmere Weg.
Beides schließen sollte man aber Dienstagabend. Wenn das ZDF den 70. Carl XVI. Gustavs feiert, alliteriert der Titel König, Krone, Kindersegen zwar prima, aber warum öffentlich-rechtliches Fernsehen einer konstitutionellen Demokratie springt, sobald Monarchen ihr royales Stöckchen werfen, bleibt das Rätsel der Gebührenfinanzierung. Die ja mitunter gute Güte zuwege bringt. Etwa Emma nach Mitternacht mit Katja Riemann als Radiopsychologin, die es Mittwoch im Ersten mit Ben Becker als Geiselnehmer aufnimmt. Das ist zum Start der Reihe nicht realistisch, aber auch dank Andreas Schmidt als überdrehter Redaktionschef seriös unterhaltsam.
Gegen die Bayern im Halbfinale der Champions League hat das allerdings nicht den Hauch einer Quotenchance. Aber dieses Schicksal teilt der Film mit dem preisgekrönten Regiedebüt Niemandskind auf 3sat (22.25 Uhr), eine Art jugoslawischer Kasper Hauser im Balkankrieg, der vor gut 20 Jahren nicht nur halb Osteuropa verwüstet hat, sondern auch die Seelen der Bewohner. Der Übergang zum Mythos Trümmerfrau wirkt jetzt vielleicht etwas plump, passt aber einfach zu gut, um ihn zu lassen. Im Finale des ARD-Dreiteilers Akte D werden die tatkräftigen Kriegerwitwen heute um 23.30 Uhr dokumentarisch entzaubert, ohne ihnen die Würde zu nehmen. Eine Kunst, die im heiteren Fach britischen Komikern vorbehalten bleibt. Oder österreichischen. Etwa Josef Hader.
Am Freitag auf Arte spielt er im Alpen-Fargo Der Tote am Teich einen pensionierten Bullen so bitterkomisch und gleichsam wahrhaftig wie die Wiederholung der Woche am Montag (23.15 Uhr, NDR): Wir können auch anders, Detlev Bucks Durchbruch von 1993 mit Joachim Król und Horst Krause als unfreiwillig kriminelles Deppen-Paar. Unfreiwillig komisch ist dagegen die Doku der Woche, mit der HR am Donnerstag um 20.15 Uhr auf eine Fernsehlegende zurückblickt: 50 Jahre Blauer Bock. Wer den nie selbst erlebt hat, wird kaum glauben, dass ganze Familien einst so ihre Abende verbracht haben, und die Klage vom schlechten Fernsehen der Gegenwart womöglich anders bewerten.
T. Der Bär, Edward Sharpe, Andra Day
Posted: April 22, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a comment
T Der Bär
Wer an Rapper denkt, hat gemeinhin drei Typen vor Augen: Gangster, Snobs und Spaßvögel. Tim Sander ist da gewiss nicht die einzige Ausnahme, aber definitiv die derzeit spannendste. Als T Der Bär schafft es der langjährige Kleindarsteller drittklassigen Fernsehens von GZSZ bis Dr. Kleist nämlich grad, aus diversen Rastern des HipHop furios auszubrechen und ihm dennoch aus tiefstem Herzen treu zu bleiben. Bienenwolf heißt das Debütalbum des Ostberliner Soundbastlers, das er als Komponist, Produzent, MC und Musiker quasi im Alleingang erstellt hat. Und es ist so dreckig, widerborstig, so windschief zerkratzt, als würden sich darauf alle Gangster, Snobs und Spaßvögel seines Metiers um den allerletzten Plattenvertrag prügeln.
Zu oft düsteren, meist dissonanten, aber vorwiegend passgenauen Beats ist fast jeder der 14 Tracks ein kleines Kunstwerk mit Lyrics, die manchmal ein bisschen betont dirty klingen sollen, aber angemessen angepisst sind von der Welt, die er da kommentiert. Eine Welt, die T Der Bär auch auch aus einer erfrischenden Innensicht seiner eigenen Branche bewertet. Ich könnt’ kotzen bis der Eimer voll ist /wer hat gesagt, dass HipHop jetzt toll ist, rappt er zum Beispiel auf Hulk in der Lunge und man möchte ihm spontan applaudieren, fürs selbstreferenzielle Kollegenbashing. Applaudieren möchte man aber auch dem Berliner Label Rummelplatz, dass es nach Manfred Groove (die auf Niemals real einen tollen Gastauftritt haben) schon wieder einem Rapper weit abseits vom Mainstream die Chance gibt, in den Hauptstrom zu kraulen.
T Der Bär – Bienenwolf (Rummelplatzmusik)
Edward Sharpe & The Magnetic Zeros
Und wenn man angesichts so kratzige HipHops denkt, Pop könne gar nicht theatralischer werden, referenzieller, zeichensatter, wenn man denkt, noch ein Zitat, nur ein einziger Ton mehr und das Lied platzt wie Mastvieh, wenn man denkt, Musik diesseits des Nerdigen sei einfach irgendwann gesättigt mit Soundelementen – dann flattern Edward Sharpe & The Magnetic Zeros heran und beweisen: Zu viel muss nicht zu viel, zu viel kann genau richtig sein. Dann zaubert das knappe Dutzend kalifornischer Neo-Hippies ein Album aus dem Karohemd, das allen Ernstes noch orchestral aufgeladener wirkt als die drei vorigen, in denen auch schon kein Riff, kein Griff, Null Pathos mehr Platz gefunden hätte.
Schon Hot Coals klingt zum Auftakt der hinreißenden Platte, als wolle Bandleader Alex Ebert den Indie-Folk der Vorgängeralben förmlich mit Gefühlswallungen jeder Art fluten. Nach und nach rührt er seiner operettenhaften Stimme erst grobflächig Gitarren, Drums, Klavier unter, dann fiebrige Trompeten, nostalgische Orgelpeitschen, noch mehr Drums und lässt am Ende alles ineinander rasseln, ohne je spürbar an Struktur einzubüßen. Selbst Mash-ups mit Black Sabbath oder Wohlfühlbombast im schlaghosenbunten Les-Humphries-Gedenken stürzen PersonA nie ins Chaos, sondern rufen es seltsam aufgeräumt zur Ordnung. Irgendwie entrückt, aber hinreißend innbrünstig.
Edward Sharpe & The Magnetic Zeros – PersonA (Community Music)
Hype der Woche
Andra Day
Mit facettenreichen Soul-Stimmen ist das so eine Sache. Verfügt jemand über eine und reizt sie auch noch über mehrere Oktaven aus, wird daraus statt hörbarer Musik rasch selbstverliebte Akrobatik, die (oft erfolgreich) an eher niedere Geschmacksinstinkte appelliert. Das Ergebnis lässt sich in zugehörigen Billboard-Charts ablesen, die von virtuosem, aber seelenlosem Sirenengesang wohlgeformter Schönheiten dominiert werden. Andra Day hingegen sieht bloß okay aus, ihr wandlungsfähiges Organ knirscht gelegentlich, aber welchen Soul es hat, welch Emphase – das ist von solcher Intensität, dass man der Kalifornierin ein paar musikalische Plattitüden ringsum gern verzeiht. Im R&B-Homeland USA hat ihr Debütalbum bereits vorigen Herbst für Furore gesorgt; nun erscheint die eigensinnige Halbtonwelt zwischen Nina Simone, Amy Winehouse und Christina Aguilera auch bei uns. Dank solventer Hilfe des Major-Labels Warner könnte sie dem ausgewalzten Genre tatsächlich neuen Schwung verleihen. Den meisten aber holt Andra Day aus dem eigenen Leib. Dass sie ihn auf der Plattenhülle verhüllter darbieten darf als viele ihrer Kolleginnen, spricht umso mehr für den Inhalt.
https://www.youtube.com/watch?v=HsMMGGEtBB8
Thomas Fischer: Bundesrichter & Kolumnist
Posted: April 21, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentDie Grenzen der Sozialpädagogik
Seit gut einem Jahr schreibt Thomas Fischer auf ZEIT-Online eine viel beachtete Rechtskolumne. Und auch sonst hält der Vorsitzende Strafrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe publizistisch nicht mit seiner Sicht auf die Welt hinterm Berg. Ein Gespräch mit dem 62-Jährigen Sauerländer über meinungsstarke Juristen, aufgebrachte Kollegen, überforderte Journalisten, die Gewaltenteilung und wozu er Botaniker herzlich einlädt.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Fischer, gibt es aus im Jahr 2016 zu viel oder zu wenig öffentliche Meinungsäußerung?
Thomas Fischer: (überlegt lange) Zu viel.
Das klingt aus dem Mund eines BGH-Richters, der nebenbei meinungsstarke Kolumnen schreibt, erstaunlich.
Nicht inhaltlich betrachtet. Es gibt aus meiner Sicht zwar kein objektives Kriterium, öffentliche Meinungsäußerung quantitativ einzuschränken, aber die Motivation, dem großen Teil qualitativ minderwertiger Meinungsäußerung etwas Substanzielles entgegenzusetzen.
Ist das Ihr Antrieb, die Welt seit einer Weile regelmäßig in der ZEIT zu kommentieren?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass mein Fachgebiet in der Berichterstattung viel zu kurz kommt. Über die Zusammenhänge und Bedeutung des Rechts fürs Gemeinwesen wird in der deutschen Medienlandschaft zwar berichtet, aber selten fundiert, teils gar sachlich falsch. In diesem Zusammenhang fühle ich mich nicht grad berufen, aber dazu in der Lage, mit meiner Meinung zur Aufklärung beizutragen.
Und was qualifiziert Sie dann dazu, fachfremde Bereiche des sozialen Lebens von der NSA über den Grexit bis hin zur Causa Beckenbauer zu bewerten, wie in Ihrem Jahresrückblick „Der Deutsche schreit“ in der gedruckten ZEIT?
Man hat mich gefragt und ich habe zugesagt, eine höhere Legitimation will ich mir da nicht zuschreiben. Und wer meine Meinung nicht zur Kenntnis nehmen will, braucht sie weder zu drucken noch zu lesen.
Manche von denen, die sie zur Kenntnis genommen hat, wirft Ihnen allerdings vor, Berufliches auf ungebührliche Weise mit Privatem zu vermischen.
Das sehe ich anders, denn ebenso wie die Kolumne hatte dieser Beitrag des Gastautors einer weit verbreiteten Publikation mit meinem Beruf als Richter oder gar meiner dienstlichen Tätigkeit am BGH nicht das Geringste zu tun.
Lässt sich das so einfach trennen?
Ich arbeite dran, dass es im öffentlichen Diskurs so wahrgenommen wird. Ihre Frage ist allerdings insofern etwas tendenziös, als sie unterstellt, in meiner Position habe man gefälligst den Mund zu halten bei Fragen, die über bloße Verlautbarungen oder den öffentlichen Dienst hinausgehen. Ich kann eine Verpflichtung zum Schweigen weder in meinem beruflichen noch persönlichen Profil erkennen. Warum sollte sich ein Bundesrichter für Strafrecht nicht auch über Fußball, Kunst oder Botanik äußern? Wenn sie etwas Zielführendes dazu beitragen können, dürfen sich Fußballer, Kunstkenner und Botaniker ja auch zu Fragen des Rechts auslassen. Da ich außerdem vornehmlich mein Fachgebiet kommentiere, klappt das aber sowieso nicht mit dem Trennungsgebot. Ich gebe ja auch keine Rechtsberatung in Einzelfällen, sondern versuche allgemeine Fragen des Rechts in populärer Weise zu erläutern.
Populär im Sinne von Klartext oder Verständlichkeit?
Letzteres. Umso mehr will ich nicht den Eindruck erwecken, es handele sich bei mir um eine Art neutraler Instanz. Wer die will, soll sich an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wenden. So neutral ich mich sonst zu verhalten versuche – in meiner Kolumne bin ich Kolumnist mit höchst persönlicher Ansicht, die niemals laufende Verfahren, andere Senate, gar Entscheidungen oder Kollegen kommentieren. Das nämlich wäre völlig unangemessen.
Darf man die Meinungsstärke Ihrer Texte denn als Appell an gelernte Journalisten zu mehr Meinungsstärke entnehmen?
Da ist was dran. In meiner aktuellen Kolumne geht es um die Themen Strafrecht und Presse, deren Berichterstattung ich diesbezüglich als höchst mittelmäßig bezeichne. Das ist meine Meinung, die tue ich kund, verteile deshalb aber keine Ratschläge an Journalisten oder spiele mich gar als Sachverständiger auf. Meine einzige Empfehlung lautet da, sich maximale Sachkenntnis über die Materie anzueignen, um fundierte Meinungen äußern zu können, die ich für notwendig halte.
Meinungsstärke durch Expertise zu rechtfertigen, ist aber gerade jenseits der Qualitätsmedien schwer zu bewerkstelligen.
Genau. Einer Lokaljournalistin, die neben ihrer Zuständigkeit für Kommunal- und Verkehrspolitik plötzlich noch aus dem Amtsgericht zum Stand des Strafrechts berichten soll, fällt das natürlich schwerer als versierten Prozessberichterstattern. Aber selbst die scheitern oft daran, objektiv über angeblich zu lasch behandelte Täter oder zu kurz gekommene Opfer zu befinden. Da sind viele eher von Gerichtsshows als von Fachwissen inspiriert.
Bis auf Gisela Friedrichsen vom Spiegel oder Annette Ramelsberger von der Süddeutschen also alles Laien?
Nein. Es gibt gute Rechtsjournalisten und schlechte, aber ich will das hier nicht namentlich vertiefen. Wichtiger ist: Irgendetwas rauszuhauen, hat selten Sinn und erinnert eher an Extreme von Pegida bis zu deren Gegnern ganz links. Ich erhalte täglich 200 Mails über vermeintliche oder faktische Rechtsangelegenheiten. Dass viele davon weitgehend kenntnisfrei sind, darf man den Bürgern bis zu einem gewissen Grad nicht vorwerfen, Medienprofis hingegen schon. Der Rechtsjournalismus, insbesondere im Strafbereich, ist da zuweilen von fast bedrückender Niveaulosigkeit. Das hat jedoch vor allem strukturelle Gründe, die ich dem einzelnen Journalisten gar nicht vorwerfen will.
Sondern Personalansparung, Arbeitsüberlastung, Etatkürzungen?
Ungefähr. In keinem Fach von der Medizin bis zum Ingenieurswesen gälte es als hinnehmbar, dass eine Person plötzlich fachfremd tätig wird, aber im Journalismus wird der Sportexperte schnell mal zum Gericht geschickt. Das schmerzt mich insofern, als die Justiz so unerlässlich fürs Funktionieren unserer Gesellschaft ist. Recht sorgt für Orientierung. Verwirrung wiegt da doppelt schwer. Meine Kolumne ist auch der Versuch, eine gewisse Aufklärung zu betreiben für diejenigen, die sich interessieren.
Hat dieser Versuch Einfluss auf Ihre Wahrnehmung und Arbeit als Bundesrichter?
Für meinen Beruf hat das keinerlei Bedeutung, zumal ich mich zu eigenen wie den Urteilen und Prozessen anderer weitestgehend jeder Bewertung enthalte. Dennoch gibt es natürlich Reaktionen aus der Justiz, negative wie positive. Erstere werfen mir da vor, Kompetenzen zu vermischen, letztere halten es für eine erfreuliche Auflösung jahrzehntealter Beschränkungen.
Überwiegt da eine der Seiten?
Ich zähle das nicht, freue mich aber – nahe liegend – mehr über Zuspruch als über Ablehnung, und sei sie noch so fundiert. Auch darauf reagiere ich zwar wenn möglich, bin aber überzeugt davon, auch mit noch so viel Mühe keinen Zustand allgemeiner Zustimmung zu erreichen.
Der Berliner Richter Urban Sandherr, Redakteur der Richterzeitung, schrieb in der FAZ, Ihre „brachialen Schuldsprüche“ kennen statt Mitspielern, Freunden, Kollegen nur Feinde, wählen also keinen konstruktiven, sondern rein konfrontativen Ansatz.
Ich halte im Gegenzug die Kritik von Herrn Sandherr für wenig konstruktiv und bin sicher, dass der Kollege gar nicht verstanden hat, worum es mir geht. Ich habe mich dazu aber schon öffentlich geäußert und möchte das hier nicht wiederholen.
Es sei denn, man folgert daraus, dass Publizistik neben der Pflicht zur Aufdeckung von Missständen auch eine zu deren Lösung beinhaltet.
Eine Pflicht kann ich da nirgendwo erkennen.
Ersetzen wir das sehr deutsche Wort „Pflicht“ durch „Verantwortung“ im moralischen und sozialen Sinne.
So wenig, wie ich nur Missstände aufzeige, verkneife ich mir Lösungsvorschläge. Bis zu 1,2 Millionen Menschen pro Woche allerdings, die meine Kolumne lesen und mit weit über 1000 Kommentaren bedenken, fühlen sich da offenbar weder über- noch unterversorgt. Aber bereits die Unterscheidung zwischen „Beschreibung“ und „Lösung“ suggeriert ähnlich wie bei „Meinung“ und „Information“, es gäbe so etwas wie objektive, neutrale Berichterstattung in Reinform. Das ist in der Realität die absolute Ausnahme. Wenn ich mir in der Qualitätspresse zum Beispiel zehn Veröffentlichungen zum Thema Sexualstrafrecht ansehe, werde ich vermutlich zehn verschiedene Sichtweisen lesen.
Gibt es dafür Gründe, die über einen Mangel an Sachkenntnis hinausgehen?
Sprache, Gestaltung, Perspektive. Dass die Berichterstattung variiert, hat ja nicht nur mit Unkenntnis, sondern auch Pluralismus zu tun. Aber dieser Pfeiler unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung sollte eben nicht nur Tarnung dafür sein, im Grunde keine Ahnung vom Thema zu haben. Was man nicht versteht, davon sollte man lieber die Finger lassen.
Zielt die Kritik an Ihren Texten gleichsam auf einen anderen Pfeiler dieser Grundordnung: die Gewaltenteilung, weil sie dritte und vierte Gewalt vermengen?
Nein, die Kritik reicht in der Regel von „wenn das jeder machen würde“ bis hin zum Vorwurf der Wichtigtuerei. Grundsatzfragen zur Gewaltenteilung sind zumindest aus der Justiz noch nicht an mich herangetragen worden, von Seiten der Medien schon eher. Das hat aber oft weniger mit berechtigter Sorge als mit höchstpersönlichen Befindlichkeiten zu tun.
Etwa die, dass Druck- und Sendeplätze seriöser Berichterstattung zu knapp sind, um sie auch noch an Außenstehende zu verteilen?
Mag sein, aber dabei darf man nicht vergessen, dass die journalistische Qualifikation zunächst mal darin besteht, Stift und Tastatur zu bedienen. Von diesem Level bis zum Pulitzerpreis ist das Spektrum gewaltig und irgendwo in der Mitte haben auch externe Kolumnisten wie ich ihren Platz. So wie Journalisten übrigens herzlich eingeladen sind, vor Gericht als Schöffen zu dienen oder am eigenen Auto zu schrauben. Berufe sind nicht mehr die closed shops früherer Tage; umso weniger sehe ich mich als Journalist oder gar Konkurrent. Ich nehme niemandem irgendwas weg. Die Medien kommen ohne mich gut zurecht, aber mit mir eben auch.
In welchem Zustand sehen Sie die Branche nach ein paar Jahren der Innensicht und 62 der Außensicht heute?
Für diese Einschätzung fehlt mir die Kompetenz. Drei Zeitungen und abends etwas Fernsehen reichen bei weitem nicht aus, um Medien als Ganzes zu begreifen, geschweige denn zu beurteilen. Ich erlebe sie demnach ähnlich wie die Leser meiner Kolumne, der Süddeutschen oder der Bild: selektiv. Zumal sich die Landschaft massiv gewandelt hat. In meiner Jugend gab es eine Talkshow: Werner Höfers Internationalen Frühschoppen, wo ein Altnazi unter ständiger Zufuhr von Nikotin und Riesling sonntags um zwölf mit polyglott schwatzenden Gästen faselte, als ob davon irgendwas abhinge. Mehr Debatte war nicht am Fernseher.
Darüber hinaus auch nicht?
Ach, während damals drei Medienkonzerne meinungsführend waren, hat heute keiner mehr den Überblick, wer was wann von wo aus für wen sendet. Die Medien liefern nicht mehr wie früher gemeinschaftliche Bezugspunkte, wo die ganze Region morgens eine von zwei Lokalblättern gelesen hat und abends das gleiche Programm geschaut. Diese Lücke kann weder der ESC noch die WM und schon gar kein Presseprodukt füllen. Jeder bastelt sich seine eigene Medienwelt, so wie sich jeder seine Weltanschauung bastelt.
Was gerade dieser Tage virulent ist.
Genau diese Atmosphäre erlaubt es, dass Hunderttausende Menschen in verschwörungstheoretische Schweinwelten von Pegida und AfD abdriften. Die fahren Montag früh in der Bahn zur Arbeit, essen Mittag nach Wahl, gehen abends einkaufen, wähnen sich danach aber plötzlich in einer Alien-Welt, holen ihre Deutschlandfahnen raus und protestieren gegen die Diktatur, in der sie leben.
Kann man diesem Phänomen denn in deren Vorstellung einer „Lügenpresse“ überhaupt konstruktiv begegnen?
Das muss man sogar, aber auch die Sozialpädagogik hat ihre Grenzen. Meine endet spätestens beim Gewaltterrorismus mit zuletzt mehr als 1000 Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Da muss der Staat zeigen, was in ihm steckt. Wer sich auf eine Debattenkultur einlässt, die anderen das Maul verbietet oder gleich drauf schlägt, hat schon verloren. Trotzdem muss man die Ansprechbaren ansprechen.
Auch wie Sie in einem Medium, das auf Montagsdemos kriminalisiert wird?
Was wäre denn die Alternative – neben Alice Schwarzer in der Bild zu kommentieren? Dazu hab ich keine Lust, aber auch kein Angebot erhalten. Die Frage verschleiert in gewisser Weise auch das Problem, denn man kann nie alle erreichen. Und wer sich einer halbwegs rationalen Diskussion entzieht, in dem er nur Parolen statt Fakten glaubt, ist für mich eben unerreichbar. Nicht, dass meine Kolumne eine bedeutende Funktion in dieser Gesellschaft einnähme! Aber ohne die Hoffnung, sie hätte Sinn und Wirkung, würde ich dafür gewiss keine Freizeit opfern.
Wie viel davon ist das denn genau?
Üblicherweise der Sonntagmorgen, wenn ich Zeit und Muße habe. Die ich übrigens gern investiere, denn die Kolumne macht mir weit mehr Spaß als Akten zu lesen.
Und womit vergütet Ihnen das die ZEIT?
Ich werde finanziell entschädigt.
Der Text ist vorab im Medienmagazin journalist erschienen.
Das Dienstagsgeheimnis
Posted: April 19, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 2 dienstagsmarthe | Leave a comment
Postgeheimnisumgehungsfähigkeit
Ob jemand in Film und Fernsehen nun wichtige Post erwartet oder einfach routinemäßig den Briefkasten leert – sobald er ein Kuvert in der Hand hält, reicht ihm schon ein flüchtiger Blick auf den Umschlag, um die Brisanz des Inhalts zu erkennen und entsprechend auf geregt zu reagieren.
Von Jan Freitag
Manchmal bedingen Filmgeheimnisse andere Filmgeheimnisse, was umso eindrücklicher ist, wenn es sich um solche zu einem anderen Geheimnis dreht: dem Briefgeheimnis. So ergibt die Rekapitulation aller Szenen, in denen normale Adressaten routinemäßig ihre Post durchblättern, dass die Menge der Kuverts gern zehnmal höher ist als bei ähnlich normalen Empfängern (sagen wir: Arbeiter und Bauern) im ganzen Monat; schon ihr analoger Posteingang ist also mindestens merkwürdig, aber doch mit dem zweiten Filmgeheimnis erklärbar. Falls besagter Adressat ein wirklich wichtiges Schreiben erwartet oder auch nicht, erkennt er seine Bedeutung nämlich stets schon am Umschlag und zwar sofort – selbst wenn es einer von Dutzenden ist, die auch noch hastig gesichtet werden.
Vordergründig hat auch das filmökonomische Hintergründe. Immerhin würde es ja die Aufmerksamkeit der Zuschauer selbst ereignisarmer Filme rasch überfordern, erst belanglose Korrespondenz (sagen wir: Telefonrechnungen) zu öffnen, bevor dramaturgisch dringlichere dran ist (sagen wir: Einladungen zu Duell/Mordprozess/Testamentseröffnung). Im Abgleich mit der Realität indes muss die Erkennbarkeit bedeutsamer Post eher mit dem Mitteilungsbedürfnis der Absender als der Antenne des Adressaten zu tun haben. Offenbar werden Briefumschläge in Film und Fernsehen nach wie vor mit Siegelringen verklebt, Blut beschriftet, Pistolenkugeln befüllt oder sonst wie äußerlich so gestaltet, dass das Innere bereits haptisch deutlich wird. Verwaschene Stempel, krakelige Schrift, neutrale Farbgebung – alles völlig ungeeignet für den Moment ungewöhnlicher Überraschung sogar beim belanglosen Öffnen der täglichen Post. So umfangreich sie auch Tag für Tag ist.
Berufszyniker & Lustwandelnde
Posted: April 18, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
11. – 17. April
Es müssten eigentlich gute Zeiten sein, wenn lebenszugewandte Themen wie Mindestlohn, Kabinettsgipfel oder Übertragungsrechte der Fußballbundesliga so die Schlagzeilen dominieren, dass lebensabgewandte Themen wie Krieg und Terror glatt in hintere Regionen der Aufmerksamkeit verbannt werden. Wenn selbst das hochkulturelle Akademikerblatt Die Zeit den Nischenkomiker Jan Böhmermann auf den Titel hievt, könnte sich die brutalstmögliche Gegenwart also tatsächlich kurz mal entspannt haben. Aber es ist aus medienpolitischer Sicht natürlich auch einzigartig, wenn ein unrechtsstaatlicher Despot zwar nicht sehr lustig, aber zweifellos satirisch verunglimpft wird und dafür mit ausdrücklicher Genehmigung der genehmigungspflichtigen Bundesregierung – genauer: der CDU-CSU; noch genauer: deren Kanzlerin – allen Ernstes den deutschen Rechtsstaat um Hilfe ersucht.
Der dürfte nach allen Gesetzen von Moral, Anstand und StGB höchstens eine Geldbuße verhängen, und doch sind die Folgen des Skandals übers Strafmaß hinaus bemerkenswert. Der sonst so wortreich austeilende Berufszyniker Böhmermann hat sein Neo Magazin Royale bis auf Weiteres abgesagt, steht unter Polizeischutz, schweigt erstmals in seiner Laufbahn länger als drei Minuten am Stück und muss zudem die eklige Fraternisierung des Springer-Konzerns erdulden. Erst hat sich Konzernchef Döpfner mit der Wiederholung des Ziegenfickergedichts an Böhmermanns Zielgruppe rangewanzt, dann versuchte der hauseigene Vulgärpopulist Diekmann in Gestalt eines fiktiven Bild-Interviews witzig zu sein. Was ihm ebenso misslang wie Rudi Carrell, als seine Tagesshow 1987 Irans Revolutionsführer Khomeini mit einem schlüpfrigen Witz brüskierte. Die deutsche Politik reagierte jedoch nur mit regierungsamtlichem Bedauern fürs Verletzen religiöser Gefühle. Fertig.
Ging ja auch nur um Damenschlüpfer, die der Ayatollah statt Allahs Wort unters Volk warf – was für sexuell verklemmte Islamisten indes provozierender war als jedes Montagsspiel für einen Erstligafan, von denen es ab 2017 fünf Stück gibt. Und nicht für die, also Islamisten.
Die Frischwoche
18. – 24. April
Wenn man sich die Themenwoche Sex & Love auf 3sat ansieht, wird deutlich, wie verklemmt es auch im christlichen Kulturkreis zugeht. Schon die Doku Lust und Lüge befasst sich zum heutigen Auftakt (20.15 Uhr) mit dem Falsch- bis Unausgesprochenen, das uns echte Erfüllung im Bett so schwer macht. Offenbar besonders Frauen, um die es in Matrix der Lust am Mittwoch geht, bevor den tags drauf das Wunderwerk Penis erklärt wird, das die Herren der Betten dummerweise chronisch an der Ware Mädchen missbrauchen, wie das Finale am Freitag vermittelt. Sex als Schlachtfeld; lustige Schlüpfer fliegen da selten.
Lustige Zoten fliegen hingegen durch den neuen Weimarer Tatort, dessen unterhaltsame Skurrilität Sonntag auch deshalb locker ans Niveau der ersten zwei Folgen heranreicht, weil sich zum humoristischen Dreamteam Christian Ulmen und (endlich vom Babybauch befreit) Nora Tschirner die aktuelle Allzweckwaffe gediegenen Entertainments gesellt: Matthias Matschke. Ein Breitbandkomödiant von grandioser Wandlungsfähigkeit und beängstigendem Timing, das er als Kriminaltechniker im Fall um einen ermordeten Stahlarbeiter – Der treue Roy – gekonnt zum Einsatz bringt.
Weit ruhiger, gar nicht humorvoll, aber ungemein intensiv geht es im Regiedebüt von Juliane Fezer zu. Meeres Stille zeichnet am Donnerstag (23.10 Uhr, Arte) das einfühlsame Porträt einer Mutter, die im Urlaub erst nach sich, dann ihrer Vergangenheit sucht, was ihr peu à peu entgleitet. Um scheinbar gewöhnliche Menschen und ihr Selbstbild geht es auch am Dienstag, wenn der RBB ab 20.15 Uhr im sehenswerten Dreiteiler Russland, mein Schicksal das vertrackte Verhältnis der Deutschen zum östlichen Nachbarn und umgekehrt am Beispiel der heutigen Bewohner zwischen Ural und Kamtschatka skizziert.
Als dieses Verhältnis gewissermaßen noch vom Pulverdampf vernebelt war, entstand die schwarzweiße Wiederholung der Woche. Helmut Käutners Kriegsromanze Unter den Brücken aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte bereits 1945, welche Kraft die Liebe im Untergang entfaltet (Montag, 22.05 Uhr, Arte). Liebe zum Understatement bewies Detlev Buck, als sein Erstlingslangwerk Karniggels (Montag, 23.15 Uhr, NDR) um einen Landpolizisten so hinreißend reduziert von Bucks norddeutscher Heimat erzählte, dass es selbst im fremdsprachlichen Süddeutschland (untertitelt) Erfolg hatte und seither mit ähnlichen Geniestreichen wie „Kleine Haie“ zum Kanon des neuen deutschen Humors zählt. Gar nicht zum Lachen ist hingegen die Doku der Woche namens Das Comeback der Rüstungsindustrie. Heute um 23.30 Uhr legt Teil 2 der ARD-Reihe Akte D versiert den Finger in die Wunde deutscher Geopolitik – und wird abermals bis auf ein bisschen Staub wenig aufwirbeln.
Wie es halt so ist, am Standort Deutschland.
Astronautalis, Monika Roscher, M83
Posted: April 14, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a comment
Astronautalis
Was Rapper von Rappern unterscheidet, hat leider oft mehr mit Attitüde und Form als mit Flow oder Inhalt zu tun. Um nicht im Filter der selektionsfreudigen Aufmerksamkeitsindustrie hängenzubleiben, opfern viele ihre realness schließlich einer Vermarktungsstrategie, die vielleicht mal such as life war (Gangster, 20. Jahrhundert), doch zusehends larger than life wird (Gangsta, 21. Jahrhundert). Glaubhafte Hingabe findet sich im Lichtkegel des Genres kaum. Das erklärt, warum ein Naturtalent glaubhafter Hingabe wie Charles Andrew Bothwell 13 Jahre, drei Platten, diverse Kollaborationen und eine halbe Weltreise durch kleine bis winzige Clubs nach seinem Debüt bloß Connaisseuren des Hip-Hop bekannt ist.
Unterm Nom de Guerre Astronautalis hämmert er schließlich auch auf dem neuen Album Cut The Body Loose Alltagsprosa im furiosen Sprechgesangsstakkato unter echten Bandsound bis hin zum Jazz, als ginge es um sein, um unser Leben. Mindestens. Ob es das tut, dafür benötigen Deutsche ein Auslandssemester in Minneapolis, so satt an Idiomen sind Bothwells Wortkaskaden. Doch auch ohne präzises Textverständnis wird klar: Wie der frühe Eminem rappt da ein Weißer aus dem Innersten einer gar nicht mal prekären, aber sehr erzählenswerten Existenz. Reich wird er damit wohl nicht; Astronautalis’ Bling-Bling glitzert im Herzen.
Astronautalis – Cut The Body Loose (Cargo Records)
Monika Roscher Bigband
Wo Monika Roschers Herz ihr unermesslich reichhaltiges Bling Bling bezieht, erschließt sich hingegen schon aus dem Beinamen ihrer Band. Das “Big” zeugt ja nicht grad von Understatement und Bescheidenheit. Gleich 17 Musiker begleiten die Bandleaderin schließlich auf ihrer zweiten Reise durch die unermesslich reichhalige Welt elaborierter Orchestermusik, auf der sie sich nach ihrem furiosen Debütalbum Failure in Wonderland abermals befindet. Of Monsters And Birds knüpft allerdings nicht bloß an die hinreißende Mischung aus psychoaktivem Jazz und elektronischem Funk an, sondern erweitert sie in Regionen, die Ohr und Hirn noch mehr herausfordern als vor vier Jahren.
Das Singen, auf Englisch zumal, zählt zwar nicht gerade zu den herausragenden Fähigkeiten der Gitarristin aus dem Fränkischen, aber was sie ihrem Ensemble diesmal ringsum für Arrangements geschrieben hat, spricht weit mehr als alle Wörter. Geradezu hypnotisch flattern die Bläsereinsätze da durch polyrhythmische Flächen, als flögen wirklich Vögel und Monster umher, auf dieser wilden Melange. Keine Sekunde kommt das Ganze zur Ruhe, stets faltet sich der Sound irgendwo auf, verteilt sich, wird gebündelt und wieder gespalten. Das ist Bling Bling aus allen Poren.
Monika Roscher Bigband – Of Monsters And Birds (Enja)
Hype der Woche
M83
Während das Bling Bling von Astronautalis oder Monika Roscher aus allen Poren und Herzen sprüht, entstammt das der französischen Elektrodreampopper M83 durchaus einer gewissen Berechnung – was aber überhaupt nichts Negatives bedeuten muss. Denn so viel Kalkül auch hinter der synthetisch aufgemöbelten Analogie der Band um die Brüder Yann und Anthony Gonzalez steckt: Ihre Disco ist voller Leben, voller Aberwitz, voller Zitaten und Samples, die vor allem für große Kreativität sprechen. Allerdings eben auch für ein großes Sensorium zur Erfassung des geneigten Publikumsgeschmacks. Sei’s drum – Junk, Album Nr. sieben in 14 Jahren (Naive), macht vom ersten bis zum letzten Track gewaltig Laune. Und blinkt und blinkt und blinkt.
Neil Tennant: Pet Shop Boy & Super Popper
Posted: April 14, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a comment
Ich fühle mich wie ein Pop Kid
Seit ihrem Durchbruch vor 30 Jahren gehören die Pet Shop Boys zum globalen Pop wie kaum eine andere Band. Nun legen die beiden Engländer ihr 13. Album Super vor, zwölf Stücke voller Eurodance, Orgelpeitschen, arglosem Trallala und modernisierter Disco, die so unbekümmert und arglos klingen, dass eine Zeile wie I loved you darin glatt zum zeitkritischen Statement werden kann – sagt Sänger Neil Tennant (Foto@Beaucoupkevin) im Gespräch.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Neil Tennant, hätten Sie sich nach dem Debütalbum der Pet Shop Boys träumen lassen, 30 Jahre später Interviews über die 13. Platte zu geben?
Neil Tennant: Nein (lacht)! Aber weniger, weil wir nicht an uns geglaubt hätten, sondern weil wir nie sonderlich weit im Voraus dachten. Als wir angefangen haben, bestand unser Ehrgeiz allein darin, in einem bestimmten Londoner Plattenladen in Soho eine 12‘‘ stehen zu haben.
Vinyl! Nostalgische Zeiten…
In der Tat. Als das geschafft war, ging es uns darum, das zu wiederholen, und zwar möglichst mit einem guten Plattenvertrag.
Den es dann ziemlich schnell mit dem früheren EMI-Sublabel Parlaphone gab.
Und zwar gleich für sieben Platten! Damals war ich mir aber ziemlich sicher, nie so viele Platten zustande zu kriegen. Wir waren ja nicht mehr die Jüngsten damals, aber auch Realisten, was die Chancen langfristigen Erfolgs im Popgeschäft betrifft.
Auf Super singen Sie an einer Stelle über die frühen Neunziger „They called us the pop kids / cause we loved the pop hits“ – ist diese Liebe eines Popkinds zu Pophits biografisch gemeint oder ironisch?
Weder noch. Es geht gar nicht um uns, sondern einen Freund, der damals von Birmingham nach London gezogen ist, um zu studieren, stattdessen aber mit seiner Freundin jede Nacht clubben war, weshalb man sie an der Universität nur „Pop Kids“ genannt hat. Es war also gar nicht meine Story, hat aber natürlich auch ein wenig mit mir zu tun.
Obwohl Sie Anfang der Neunziger mit fast 40 schon recht alt waren für den Begriff…
Ach, ich fühle mich noch immer oft wie ein Pop Kid, das heute wie damals Pop Hits mag. Meine Liebe dazu hat sich in all den Jahren kaum verändert.
Sich dazu zu bekennen, empfinden nicht wenige als oberflächlich oder?
Ich mag Oberflächlichkeit, sie macht Popmusik aus, aber nur, wenn unter der leichten Oberfläche eine gewisse Tiefe steckt, die sich hinter den eingängigen Sounds und Lyrics verbirgt. Das können manchmal Kleinigkeiten sein wie jene drei Worte, die der Erzähler in The Pop Kids sagt: „I loved you“. Past tense! Die Vergangenheitsform besagt nicht weniger, als dass in der heiteren Welt der Pop Kids am Ende doch etwas schief gelaufen ist. Wer das Lied aufmerksam hört, spürt diesen kleinen Bruch. Wer nicht, darf auch einfach nur tanzen. Wie 1986 zu „West End Girls“, wo es unter der Popmelodie um Klassenunterschiede ging. Diese Option ist für mich das Wesen des Pop.
Haben die Pet Shop Boys diese Optionen vor 30 Jahren anders genutzt als heute?
Im Grunde nicht, wir sind uns sowohl musikalisch als auch textlich treu geblieben. Aber die Technologie hat sich so radikal geändert, dass man in unserem Genre viel größere Möglichkeiten hat als damals. Bis tief in die 90er war elektronische Musik extrem kompliziert herzustellen. Selbst der legendäre Synthesizer DX7 war nicht annähernd so einfach zu bedienen wie heutige Software, mit denen jeder zuhause Techno machen kann. Was uns allerdings damals wie heute kennzeichnet, ist, dass wir seit jeher mit Samplings arbeiten. Schon in West End Girls mischen sich echte Sounds von der Straße mit der Melodie. Damit versuchen wir unsere Songs seit jeher filmischer zu machen als andere Popbands.
Und dafür gehen Sie mit dem Rekorder raus und nehmen den Alltag mit ins Studio?
Dafür haben wir heute natürlich auch Programme. Aber das Prinzip bleibt das Gleiche.
Wurde es dadurch beeinflusst, dass Sie nun bereits das zweite Album auf eigenem Label veröffentlicht habt, also für sich allein verantwortlich seid?
Nicht wirklich, denn wir waren auch schon vorher für uns allein verantwortlich, das unterscheidet das erste kaum vom neuen.
Das Sie allen Ernstes im Londoner Royal Opera House spielen dürfe. Wie bitte schön kam es dazu?
Das hat zunächst mal einen profanen Grund: Im Sommer haben die Ensembles klassischer Konzerthäuser wie dem Royal Opera House meist Pause, weshalb Platz für andere Stile ist. Darum haben sie uns wohl gefragt. Vor ein paar Jahren war das schon mal an Termingründen gescheitert; nun klappt es und das ist wirklich eine extrem große Sache für uns.
Welch ein Ritterschlag!
Ich war jetzt gerade kurz davor, zu sagen, dass es fürs Opera House einer ist, aber nein; ich betrachte es für beide Seiten vor allem als große Chance, ein neues Publikum anzulocken, dass weder die eine noch die andere Seite kennt und oft genug gar nicht kennenlernen will.
Werden Sie Ihr Werk denn dem Ort angemessen orchestraler, klassischer darbieten?
Im Gegenteil – wir bleiben wie wir sind: elektronisch, verglichen mit Orchestern also minimalistisch. Es wird keine große Oper, aber gewiss irgendwie mit dem Ort korrespondieren.
Und damit Ihrem Ruf als erfolgreichstes Pop-Duo aller Zeiten, wie das Guiness-Buch der Rekorde schreibt, weiter steigern?
Ich hätte jetzt gedacht, die Eurythmics lägen noch vor uns, aber gut. Was da im Guiness-Buch steht, ist vor allem Statistik, mit der ich mich nicht weiter befasse. Das hat keinen künstlerischen Einfluss auf uns.
Spornt es Sie nicht ein wenig an?
Ach, wie früher bin ich, was Erfolg betrifft, gar nicht so ehrgeizig. Bis heute planen wir das wenigste und sehen viele Möglichkeiten erst, wenn sie direkt vor uns liegen. Wie vor gut zehn Jahren, als wir einen neuen Soundtrack für Eisensteins Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ machen sollten, den
Den Sie dann mit den Dresdner Philharmonikern eingespielt haben.
Genau. Auf sowas wären wir doch nie von allein gekommen! Ich würde uns noch immer als spontan bezeichnen. Dabei hat geholfen, dass wir seit ein paar Jahren auch in Berlin leben, wo wir große Teile der letzten drei Alben aufgenommen haben. Es ist ein großartiger, freier, kreativer Ort und verglichen mit London einer, wo man dennoch wunderbar zur Ruhe kommt.
Hört man das den Platten an?
Unterschwellig vielleicht, nicht bewusst.
Was bei der neuen abermals auffällt: Ihre Stimme hat sich seit 1986 kaum verändert.
Also mir wurde mal gesagt, sie sei mit den Jahren kräftiger geworden.
Dabei allerdings wie früher ungemein hoch. Wie halten Sie sie bloß derart in Form?
Wissen Sie was? Indem ich überhaupt nichts damit tue.
Nicht die kleinste elektronische Hilfe?
Na ja, manchmal ein Doppler drauf, das war’s. Passt wunderbar zum Pop.
Den Sie offenbar aufrichtig lieben.
Ganz genau.
Das Interview ist vorab beim MusikBlog erschienen
Jan Böhmermann: Poesie & Panik
Posted: April 13, 2016 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt | Leave a comment
Mit Schlips und Stierhoden
Die Erdogan-Affäre zeigt mehr denn je: Jan Böhmermann ist der lustigste und peinlichste, brillanteste und chaotischste, eloquenteste und redundanteste Talk-Host im Regelprogramm. Kein Wunder, dass ihn die ARD ebenso wie das ZDF in der Nische versteckt, wo sein gefilmtes Radio LateLine neben Neo Magazin Royale – die einzige Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit Resonanz im Nachwuchspublikum – und einer Gesprächssendung mit Oli Schulz vor wenigen Zuschauern für Furore sorgt. Ein älteres Porträt aus gegebenem Anlass, dass den großen Austeiler des Humors nun erstmals so einstecken ließ, dass er seine morgige Sendung bei ZDFneo abgesagt hat.
Von Jan Freitag
Dieses Tempo muss man erstmal gehen, diese Prüfung erdulden, diesen Doppelsalto stehen: Auf jeden Wink folgt ein Sperrfeuer brachialer Sottisen, auf jede Steilvorlage ein schlagfertiger Abschluss, auf jede Antwort eine Gegenfrage, auf jede Gegenfrage eine Antwort, alles in Echtzeit, garniert mit Begriffen von „frisch gepresster Stierhoden“ bis „Bildung to Go“. Garantiert unverschämt, unverschämt gut – wer sich auf Jan Böhmermann einlässt, sollte besser schnell sein, er sollte diskursiv belastbar sein oder wenigstens zum eleganten Untergang bereit. Dieser Jan Böhmermann ist nämlich der moderierende Eisberg am Rumpf des Mehrheitsfernsehschiffsrumpfs, mithin nicht irgendein Moderator, der irgendwelche Worte bloß irgendwie zur Überbrückung irgendeines Formatzwangs absondert – Jan Böhmermann ist eine Waffe. Eine der Zunge, nicht tödlich, nur angemessen schmerzhaft.
Und jetzt – endlich sagen die einen, oje die anderen – kriegt dieser Nachwuchsmann von auch schon 32 Jahren seine ganz eigene Sendung. Sie heißt „LateLine“, ist im Grunde „abgefilmtes Radio“, wie er es im Zwiegespräch umrahmt von gefühlt 174 überflüssigen, aber interessanten Worten beschreibt, und unterzieht den Flatscreen einer weiteren Belastungsprobe. Seit drei Jahren läuft die „skurrile Sendung ohne Konzept“ voll „verhaltensauffälliger Mediengestalten“ (Böhmermann) rund um Mitternacht quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf den „jungen Wellen“ der ARD à la N-Joy, nun lockt das Leitmedium. Das klänge nach Aufstieg, liefe die zweistündige Mixtur aus Gehalt und Trash, ehrlicher Anteilnahme und selbstgerechtem Desinteresse nicht bei EinsPlus, was rund um Mitternacht noch weniger Menschen erreichen dürfte als das Testbild zu Zeiten, in denen der kleine Jan seine Bremer Lehrer subtiler zur Weisglut trieb als die ruppigen Klassenkasper am Schultisch nebenan.
Aber gut – der große Böhmermann kehrt nach seiner Trennung von Charlotte Roche auf dem Spartenkanal in Abwicklung (ZDFkultur) zurück auf den Bildschirm, live dazu, und das ist doch mal einer tieferen Beschäftigung mit dem Sonderfall des TV-Wesens wert. Kenner mögen den notorischen Schlipsträger bereits in den schlecht beleuchteten Ecken der Hauptsendezeit entdeckt haben: als Impro-Komiker der WDR-Reihe echt Böhmermann, im RTL-Ulk TV-Helden, neben Harald Schmidt bei Sat1 oder Klaas Heufer-Umlauf auf der Bühne, überall dort also, wo einem fernsehfernen Szenepublikum heimtückisch vorgegaukelt wird, eigentlich gar nicht fernzusehen. Das gelang ihm meist dank gediegener Zeitverschwendung plus der Kunst des fortwährenden Redens um seiner Selbst Willen. Bei Roche & Böhmermann hat er es fast zur Perfektion gebracht.
Denn Jan Böhmermann kann reden, und wie er das kann. Aus Rückenmark und Stehgreif. Ohne Punkt, ohne Komma, ohne Haspeln, ohne Äh, ohne Unterlass, ohne Sinn, aber nie vollends redundant. „Ich hab ne Aufmerksamkeitsspanne wie ein Goldfisch“, haut er beim Zuhörerchat über geile Zweilochstuten, meckernde Vorpommer und irgendwas mit Testikeln schon mal raus aus dem Nichts, als LateLine Ende 2012 testweise für EinsPlus gefilmt wurde, donnerstags ab 23 Uhr, „wo Arbeitslose, Studenten und die üblichen ARD-Jugendlichen von 55 bis 73“ zusehen, wie er auch im Interview mit halbautomatischer Phrasenknarre aus der Hüfte schießt. Das ist gern zotig, meist brachial, oft peinlich, öfter brillant, selten primetimetauglich, und doch muss die Frage erlaubt sein, was so ein eloquenter Berserker des geschliffenen Mono- bis Polylogs in der Nische der Nische der Nische verloren hat, jenseits der Wahrnehmung, diesseits messbarer Quoten. Seine Sparte sei „eine Mischung aus Schutz- und Entwicklungsraum“, entgegnet der gelernte Printjournalist und geübte Radioentertainer glaubhaft, „und ich bin dankbar, dass es sie gibt.“ Denn hier kann er seine 120 Studiogäste erst beschimpfen und dann mit Dosenbier versöhnen, mit Anrufern über fäkale Themen debattieren und sodann über Weltpolitik, hier kann er sich austoben.
Das könnte er im Hauptprogramm nicht. Gut: „Wenn der Intendant meine Telefonnummer im Papierkorb vom 3sat-Chef findet, sag ich: klar! Schmeiß die Wetten raus, lad keine Ostdeutschen mehr ein und dann nach dem Motto: Gebt mir vier Jahre Zeit!“ Doch der Autor, Entertainer, Alleskönner weiß natürlich, dass das so irrsinnig niemand ist, im öffentlich-rechtlichen Beamtenapparat mit seinen Pfründen, Deals und Zwangsneurosen. Dabei wäre er es, der zwischen zwei Gottschalkschen Schlüpfrigkeiten über die Oberweite des Hollywoodstars auf der Couch den Besitz dreier Privatjets oder 57 Badezimmer in Malibu problematisieren würde, wie er es mit Britt Hagedorns menschenverachtendem Nachmittagstalk getan hat, von Angesicht zu Angesicht. Insofern könnte LateLine doch nur Durchgangsstation sein. Irgendwann im Nachtprogramm der Großkanäle, zuvor bei ZDFneo, wo er ab eine Herbst eine „knallharte politisch-investigative Magazinsendung à la Monitor, Panorama oder Explosiv Weekend macht. Ob er das ernst meint? Schwer zu sagen. Aber auch egal. Wird schon lustig werden.