Konjunktiv & Rückgrat

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24. – 30. August

Erstaunliche Zeiten sind manchmal Ursache erstaunlicher Reaktionen. Ob das entfesselte Wüten eines Mobs handfester Nazis und ihrer bürgerlichen Claqueure vor Flüchtlingsheimen landauf landab nun überraschend ist, mag dahingestellt sein; Tatsache ist, dass ein (verschwindend geringer) Teil der Folgen globaler Konflikte grad die furchtbare ebenso wie die fabelhafte Seite der Zivilgesellschaft zutage fördert. Erstere setzt uns die Tagesschau längst täglich vor, wenn das nächste Aufnahmelager in Flammen steht. Doch selbst letztere bricht sich langsam von den Analyseseiten der linken taz in die Mainstreammedien Bahn.

Etwa, wenn die Hauptnachrichten ausgiebig über eine rührend überladene Sammelstelle für Hilfsgüter in Hamburg berichten oder Til Schweiger mal nicht nur klare Kante gegen fiktiven Schurken zeigt, sondern auch gegen den realen CSU-General Scheuer, dessen völkischer Selbstgerechtigkeit er bei Sandra Maischberger nicht unbedingt souverän, aber ehrlich die Meinung geigte. Endlich, weht es da durchs Fernsehland, entledigen sich Personen auf der richtigen Seite öffentlich ihrer Zurückhaltung und setzen dem Hass der Dummen etwas Eifer der Klugen entgegen. Und vielleicht verkneift sich ja irgendwann auch die dpa ihre missverstandene Objektivität und erspart uns Titel wie den, in Heidenau habe es „Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten“ gegeben.

Mehr Rückgrat ohne Konjunktiv als im Informationsbusiness üblich ist da im nächsten Jahr von Schulz & Böhmermann zu erwarten, wenn die zwei Entertainment-Berserker mit Mut zur Wahrhaftigkeit gemeinsam auf ZDFneo Talkgäste empfangen. „Partei ergreifend, polemisierend, gerne provozierend“, wie es in der Ankündigung heißt – davon könnte das Genre schon jetzt etwas mehr vertragen als die dauernden Durchschnittspöbeleien parteipolitisch geprägter Meinungssoldaten.

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30. August – 6. September

Ein stabileres Rückgrat hätte man diese Woche einem gewünscht, der sonst für Meinungsstärke steht: Thomas Schadt. Nach seinem filmisch soliden, aber bis zur Lächerlichkeit kritiklosen Biopic über Helmut Kohl vor sechs Jahren, ist er nun an Franz Beckenbauer gescheitert. Zum 70. schenkt der Filmemacher dem Kaiser Sonntag nach dem Tatort nämlich nicht nur eine hübsch gefilmte Geburtstagsdoku, sondern tief gebückte Huldigung, in der von Korruptionsvorwürfen bis zur menschenverachtenden Katar-Connection alles fehlt, was am Denkmal kratzen könnte.

Angesichts solcher Gefälligkeitsgutachten lobt man sich die echten Sehenswürdigkeiten. Beats of Change etwa, ein Rückblick im Soundstakkato, mit dem der RBB Dienstag (23.15 Uhr) die umwerfende Kraft des Techno im Berlin der Nachwendzeit Revue passieren und dabei vor allem DJs von damals zu Wort kommen lässt. Einen Halbgott im Tropenwald von einst entzaubert dagegen 3sat tags drauf (20.15 Uhr): Albert Schweitzer. Ungeachtet seiner Verdienste um die medizinische Versorgung Afrikas, zeigt ihn der Film nämlich auch als herrischen Rassisten, wenngleich einen mit Herz.

Ins Herz menschlicher Normalität begibt sich ab Donnerstag um 23.20 Uhr der WDR. Digital Diaries heißt ein Vierteiler, in dem Videoblogger als Teil der Jugendoffensive des Senders junge Themen fürs alte Fernsehen verarbeiten. Zum Auftakt – wenig subtil, aber unterhaltsam – Sexualität weltweit. Eher fürs ältere Publikum ist da einer, der am 5. September nochmals zehn Jahre älter wird als Kaiser Franz, dafür natürlich ein gefälliges ARD-Gutachten (21.45 Uhr) kriegt, am Freitag zuvor aber auch den neuen Streich seiner Niveauoffensive namens Chuzpe. Als jüdischer Spätheimkehrer eröffnet er darin am Ort seiner früheren Feinde ein Hackbällchen-Restaurant, was durchaus liebenswert ist, aber nichts für Zuschauer unter, sagen wir: 35.

Die gucken ohnehin Serien. Das Zombie-Prequel „The real Walking Dead“ zum Beispiel , abrufbar bei Amazon. Oder das furiose Drogendealer-Drama Narcos auf Netflix, in dem der mexikanische Kokspate Pablo Escobar fast einschüchternd real wird. Da sehnt man sich doch nach harmloserer Fiktion vor wahrem Hintergrund. Wie in der Wiederholung der Woche, farbig die grandiose Einbürgerungssatire Schweizermacher von 1978 in einer restaurierten Fassung (Sonntag, 21.35 Uhr, 3sat), gefolgt vom schwarzweißen Weihnachtsklassiker Ist das Leben nicht schön, in dem James Steward ausnahmsweise mal nicht Heiligabend nach Mitternacht vom Suizid absieht, sondern schon Sonntag um 23.50 Uhr (MDR). Und zum Schluss der Doku-Tipp: Sand – Die neue Zeitbombe, irritierender Film über die Ausbeutung der verkannten Ressource – mit fatalen Folgen fürs Ökosystem.

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Buddy Buxbaum, Mocky, Teen Daze

Buddy Buxbaum

Buddy Buxbaum heißt gar nicht Buddy Buxbaum, sondern Bartosch Jeznach, aber das ist beim Hamburger polnischen Ursprungs auch egal. Schließlich ist vieles an ihm Maskerade, seit er 1997 das Prolldiscorapkombinat Deichkind gegründet und eine Nanosekunde, bevor es richtig erfolgreich wurde, wieder verlassen hat. Immer, wenn man Buddy Buxbaum oder welches Pseudonym er grad trägt, musikalisch zu verstehen glaubt, kramt der umtriebige Produzent ein neues Metier aus und konterkariert es mit seiner schratigen Optik. Auf Solopfaden zum Beispiel klingt sein Album Unkaputtbar in vielen Passagen nach dem Rapper früherer Tage, ist aber was völlig anderes als ein Deichkind-Aufguss.

Man könnte es Hard Listening nennen, ein geschmeidiger Mix aus Soul, Electroclash, HipHop, der in zwielichtigen Momenten nach Max Mutzke klingt, in benebelten nach Udo Lindenberg, in klarerern aber nach BB selbst, einem Seelenmusiker, der sein raues Toasting mit etwas Hustensaft einer erstaunlich warmen Stimme zu theatralischem R’n’B von unvergleichlicher Lässigkeit mixt. Das ist manchmal seifig, fast radiotauglich, zeigt aber in den absurderen Momenten wie Vodka Soda oder Robodiscoa, dass Buddy Buxbaum woanders zuhause ist. Im Aberwitz. Hierhin hat er sich nur verirrt. Zum Spaßhaben und Ausprobieren.

Buddy Buxbaum – Unkaputtbar (Holo Rec.) 

Mocky

Zum Schwelgen, Schmausen, Begehren ist, was Dominic Salole zurzeit als Mocky so macht. Vor einigen Jahren hatte der Kanadier mit brillant verschrobenem Hip-Pop noch den oberen Berliner Underground von Peaches bis Puppetmastaz aufgemischt. Nun begibt er sich von L.A. aus auf die Spur eines kongenialen Landsmannes, mit dem der rührige Produzent ebenfalls schon kollaboriert hat: Chilly Gonzales. Ohne den Bademantel, dafür mit entrücktem Menjoubart schüttelt Mocky ein Album aus dem Ärmel, dessen digital aufgemöbelter Zuckersoul so mühelos nach Big Band klingt, als wäre die Disco ein Wiener Kaffeehaus mit Gold und Schmäh und Grandezza.

Die Stimmen darin sind gern geschmeidige Choräle aus dem lässigen Cool der Sixties, all die Streicher, Bläser, Tasten von zeitloser Beschwingtheit argloserer Zeiten, die ganze Aura sehr gediegen. Wie ein frischer Luftzug weht Mockys nostalgischer Sound durch den künstlich überfrachteten Gegenwartspop und macht die Welt ringsum ein wenig schwerelos. Herrlich!

Mocky – Key Change (Heavy Sheet)

Teen Daze

Pfeifen, körperlich und analog – davon wollte ein junger Mann aus Kanada, der sich bei persönlicher Ansprache Jamison nennt und auf Plattencovern Teen Daze, lange Zeit nichts hören. Seine Frühwerke, die auch nicht allzu alt sind, haben Ambient, Dubstep, Deephouse zu einer leichtfüßigen Form synthetischer Popmusik kompiliert. Vier Platten später aber geht er neuer Wege, nicht umstürzlerisch, gar revolutionär; dafür steckt zu viel der elektronischen Leichtigkeit vorheriger Alben in Morning World. Die elf Stücke aber mögen teils am Rechner generiert sein – ihre Aura ist von modernem Indiefolk geprägt,

Einer Mixtur aus Singer/Songwriting und Popelementen, saitenbegleitet, gesangsbasiert, eher was für die Seele als den Dancefloor. Da fragt man sich schon, was dem Mittzwanziger da wohl widerfahren ist. Vielleicht ein Erweckungserlebnis beim Yoga oder Gebirgswandern, wer weiß. Das vorgezogene Spätwerk eines ausgewiesenen Elektrofricklers jedenfalls braucht sich vor Geistesverwandten wie Family oft the Year nicht zu verstecken.

Teen Daze – Morning World (Paper Back Records)

Mehr Sound, Bilder, Kommentare zu wwei der Kritiken gibt es auf www.zeit.de


Wladimir Kaminer: Germanenseismograph

Die Provinz hat mehr Keller

Wladimir Kaminer ist eine Art russischer Seismograph deutscher Befindlichkeiten. Nun reist er für 3sat durch die Kulturlandschaften (montags, 19.30 Uhr) unserer Provinz – und entdeckt darin Dinge, die Eingeborenen vielleicht verborgen blieben.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Wladimir Kaminer, Sie wenden sich in „Kulturlandschaften“ dauernd an eine imaginäre Olga. Wer ist das – eine Brieffreundin?

Wladimir Kaminer: Olga ist weder imaginär noch eine Brieffreundin, sondern meine Frau, die da drüben steht (zeigt zur Tür).

Die Frau im bunten Kleid?

Nein, die im schwarzen; Olga ist nicht so ein bunter Typ. Wie ich. Es ist eine Macke von mir, dass ich mehrmals am Tag mit ihr reden muss, selbst wenn ich weit weg bin. Weil wir beim Drehen also sowieso ständig kommuniziert haben, kam der Produktion die Idee, dass ich meine Gedanken auch im Film in einer Art vorgelesenen Briefen an sie weiterreiche. Zuerst war ich misstrauisch, aber das Lesen symbolisiert wunderbar die Distanz, die auch ich gegenüber dem habe, worüber ich hier berichte.

Distanz zu dem Land, dass Sie mittlerweile die Hälfte ihres Lebens bewohnen?

Wissen Sie, wir leben in einer der Zeit der Völkerwanderung, gegen die die vor 2000 Jahren purer Stillstand war. Jeder sucht nach einem besseren Ort zum leben, lieben, arbeiten; dadurch sind wir alle Touristen. Man hat zwar eine Postadresse, aber selten Bezug zum Wohnort. Ich zum Beispiel bin fast das ganze Jahr unterwegs und weiß, wie schwer es ist, eine Gegend in kurzer Zeit kennenzulernen; dafür brauchst du Insider. Das Erfolgsrezept der Sendung ist also weniger Distanz als die Mischung aus Eingeweihten und einem Ahnungslosen wir mir, der ohne Vorbehalte und Bilder an eine neue Gegend herantritt. Das heißt nicht, dass ich Distanz zu ganz Deutschland habe, sondern nur zu den unbekannten Ecken.

Was bezeichnen Sie dann als Heimat?

Meine Heimat ist am Ende da, wo ich geboren bin. Aber in dieser neuen Zeit müssen alle alten Begriffe neu definiert werden. Ich kann und will den sozialistischen Background meiner Vergangenheit, den ich durchaus schätze, weder verdrängen noch eins zu eins in die Gegenwart übertragen. In der Sintflut neuer Technologien und Werte muss jeder seine Heimat immer wieder aufs Neue entdecken. Umso erstaunlicher, dass so wenige Europa als ihre Heimat bezeichnen, dieses mächtige, starke, gewaltige Gebilde mit endloser Wirtschaftskraft und 500 Millionen Einwohnern. Ich sehe mich nicht als Deutscher oder Russe, sondern als Europäer. Denn in Europa hat die Vielfalt der Kultur den Menschen eine Form der Freiheit verschafft, wie es sie sonst nirgends gibt. Hier kann man sein Leben selber basteln – ohne dass ihm ein Staat, ein Führer, die Kirche sagen kann, wo es lang geht. Davon bin ich großer Fan.

Ist das schon Patriotismus?

Nein. Ich habe bislang vor allem negative Erfahrungen mit Patrioten gemacht, weil die meisten von ihnen Liebe zu ihrem Land als Hass auf andere missverstehen. Der gemeine Patriotismus ist mir zu aggressiv, wohingegen wahre Patrioten die Liebe zum Ort ihres Herzens dafür verwenden, es allen darin besser gehen zu lassen. Egal wer und woher, das kann ein Dorf sein, eine Insel oder die größte Stadt.

Wie ist als langjähriger Berliner Ihr Verhältnis zur Provinz?

(überlegt lange) Ein bisschen gespalten. In einer Großstadt kann sich jeder ausleben wir er mag, ohne dass er dabei beobachtet wird. In der Provinz ist es umgekehrt: Die Möglichkeiten sind begrenzt, aber jeder sieht dabei zu, sie zu ergreifen oder auch nicht. Nehmen Sie die beiden Musiker der Serie aus dem Schwarzwald; ich denke nicht, dass deren Nachbaren wirklich wissen, welche Art Black Metal die zwei machen. Provinz hat mehr Keller, in denen ein Doppelleben möglich ist.

Keller, spannend!

Absolut. Großstadt ist dagegen ein bodenloser Eimer, in dem alles verschwindet, was man so hinein kippt; deshalb fahre ich gern in die Provinz, um in einige hineinzuklettern.

Nur auf Besuch oder mit der Option, zu bleiben?

Ach, ich habe zwar meine Wohnung am Mauerpark, wo heute Tausende von Menschen dran vorbeiziehen und morgen Tausende anderer. Gleichzeitig habe ich allerdings auch mein Häuschen mit Garten in einem nordbrandenburgischen Dorf, das offiziell 160 Einwohner hat, gefühlt aber höchstens drei. Wenn ich da spätabends die Sterne zählen gehe, wissen es am nächten Morgen alle.

Ist das ein Rückzugsort?

Es ist vor allem eine Bereicherung, weil ich das Großstadtleben nicht missen möchte, aber ab und zu Luft holen muss.

Könnten Sie sich vorstellen, je wieder in Russland zu leben?

Hmm, lieber würde ich in Berlin bleiben. Russland ist ein sehr interessantes Land, aber durch bestimmte Ereignisse der Geschichte hat es sehr viel Zeit verloren, die für seine Entwicklung wichtig gewesen wären. Ich helfe denjenigen, die versuchen, das Land auf Weltniveau zu bringen, wie und wo ich kann, aber lieber aus der Ferne.

Zumal die Menschen in Deutschland Sie mehr schätzen und lesen als irgendwo sonst auf der Welt. Liegt das am Spiegel, den Sie Ihrer Wahlheimat aus der Perspektive eines Zugereisten vorhalten?

Ich bilde mir ein, dass meine Nationalität in der Liebesbeziehung dieses Landes zu mir und umgekehrt eine untergeordnete Rolle spielt. Ich und meine Leser haben einfach sehr ähnliche Interessen. Weil Literatur eine Einladung zum Gespräch ist, finde ich daher hier mehr Gesprächspartner als in Russland, wo die Probleme ganz andere sind als die, die ich anspreche. Russland hat trotz der schwierigen deutschen Geschichte noch viel mehr mit seiner Vergangenheit zu kämpfen.

Sind Sie dennoch bekannt in Ihrer alten Heimat?

Anders als hier. Als Russland noch ein europäisches Land sein wollte, haben sich die Medien für mich als jemand interessiert, der es im restlichen Europa zu etwas gebracht hat. Das hatte Beispielcharakter. Jetzt, wo das Land sich beleidigt von Europa entfernt und wie eine wütende Ziege in den Wald rennt, werde ich zur fünften Kolonne erklärt, der zum Feind übergelaufen ist.

Stört Sie das?

Im Gegenteil. Das reißt doch einem System die Maske vom Gesicht, das im 21. Jahrhundert aus ehemaligen KGB-Offizieren und korrupten Komsomolzen besteht. Was für ein hinterwäldlerischer Anachronismus!

Zum Abschluss also bitte: Wladimir Putin in einem Satz?

(Überlegt lange) Ach Putin, das ist eine sehr tragische Geschichte. Goethe hat es im Faust gut beschrieben: Wladimir Wladimirowitsch wurde die Verwirklichung eines Traums geschenkt, die sich zusehends als Haufen Scheiße entpuppt hat. Ich glaube, das hat ihn zutiefst frustriert, denn die Tatsache, dass Russland die Mühen des sozialistischen Experiments 70 Jahre lang auf sich genommen hat, könnte der Welt doch vieles geben. Die aber wollte gar nichts haben. Deshalb sind diese 70 Jahre schlicht verloren. Und als Erbe dieser verlorenen Zeit hat Russland nicht viel mehr als Atomwaffen, Rohstoffe und viel Platz. Das ist wahnsinnig deprimierend – für Russland, aber auch für Putin. Deshalb reagiert er, wie er reagiert.

Also – Putin in einem Satz?

Er wartet auf ein Angebot.


Der Patriarch: Uli Hoeneß & Udo Honig

Von wegen Demut

Sat1 und ZDF machen den Fall Hoeneß fast zeitgleich zu abendefüllenden Filmen. Der Patriarch mit Thomas Thieme als Bayern-Boss macht heute den Anfang und zeigt: etwas mehr privater Humor hätte dem gut recherchierten Dokudrama gut getan.

Von Jan Freitag

Es gibt nicht viele Menschen, deren Äußeres allein schon zur bundesrepublikanischen Ikonografie zählen. Konrad Adenauer vielleicht, Boris Becker, Tony Marshall, vielleicht noch Susann Stahnke. Ach ja – und Uli Hoeneß natürlich, der schwäbische Dampfkessel. Wenn es in ihm arbeitet, arbeitet es nämlich meist gewaltig. Wenn es in ihm kocht, kocht er beinahe über. Wenn es ihn ihm brodelt, dann wird sein Kopf gemeinhin zum Hochofen: Schmallippig, rotgesichtig, prallvoll mit Plänen vom nächsten Angriff noch im Moment des Rückzugs. Uli Hoeneß, das weiß Annette Ramelsberger besser als andere, ist ein Vulkan kurz vorm Ausbruch, mal charmant, meist aufbrausend, aber demütig? Nein, sagt die Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung im ZDF-Film Der Patriarch, Demut sei „wider seine Natur“. Weshalb sie dem gefallenen Engel hiesiger Fußballherrlichkeit unterstellt, die Beichte vor Rupert Heindl sei bloß gespielt.

Na das passt ja.

Vorm Strafrichter am Landgericht München mimt Thomas Thieme die Demut seiner Titelfigur mit einer Art innerem Aufruhr, der offenbar nur vorgeschoben ist und dem Original somit fast gespenstisch nahe kommt. Dauernd arbeitet, kocht und brodelt es so wahrhaftig im Charakterdarsteller, dass Der Patriarch oft vom Dokudrama zur dramatischen Dokumentation wächst. Und das hat mehr Gründe als besagter Thieme, der seinen wuchtigen Leib schon Helmut Kohl lieh, Gustav Krupp oder Martin Bormann.

Da wäre das Drehbuch, mit verfasst von Annette Ramelsberger, die dem Steuerhinterziehungsprozess vom mediensturmumtosten Anfang bis zum erwartbaren Ende beigewohnt hat. Da wäre also eine umfassende Recherche, die in den Verhandlungspassagen auf Gerichtsprotokollen beruht und in den Rückblicken auf reichhaltiger Quellenlage der aufkommenden bis formvollendeten Mediengesellschaft. Da wäre demnach eine Titelfigur, die Zeit ihres Lebens im Rampenlicht steht und dort von allem berichtet, was angefragt wird, also einer Menge. Da wäre, in einem Wort: viel Wahrhaftigkeit.

Und zwar selbst dann, wenn sich das obligatorische Reenactment mit Robert Stadlober als Dieter mit Löwenmähne überm Bayerntrikot in ihrer polyesterbunten Siebziger-Ästhetik oft arg gefällt. Geschickt montiert Regisseur Christian Twente einen Ulmer Metzgersohn mit dem bayerischen Nationalspieler zum Über-Ich globaler Fußball-PR, dessen machtbewusste Empathie seinen Sport mehr geprägt hat als alle Beckenbauers, Bosmans, Ballartisten. Und wenn das Bild vom Gerichtssaal, wo mit jedem Verhandlungstag weitere Millionen hinterzogenes Geld zutage treten, über den väterlichen Betrieb, wo der Lehrling zur Expansion rät, umschaltet auf ein grobkörniges Originalzitat des 22-Jährigen, keiner seiner Schulkameraden müsste wie er „Steuererklärungen ausfüllen oder Geld anlegen“, ist das dramaturgisch auf höchstem Niveau.

Dummerweise bleibt der Film auch atmosphärisch oft erhaben. Von der Kanzel seriöser Unterhaltung aus sendet er reichlich Moralin ins Publikum – bedeutungsschwer, sachlich, aber nur selten mit dem, was Uli Hoeneß kennzeichnet: Hingabe. Dem Patriarch fehlt trotz Thieme, Kostümorgien und putziger Originalzitate jede Leichtigkeit im Umgang mit einem Skandal, der ja vor allem bizarr anmutet. Von Willi Lemke über Theo Zwanziger bis Rainer Calmund sitzen gewichtige Zeitzeugen im Dutzend vor der Kamera; allein, es fehlt jene Emotionalität, die der tiefe Fall des hochgestiegenen Halbgottes bei vielen bis heute entfacht, wo er Gerüchten zufolge schneller als jeder Verurteilte zuvor zum Freigänger wurde.

Da war es keine schlechte Entscheidung von Sat1, den Fall 13 Tage später zur Groteske im Stil von Wes Andersons Grand Budapest Hotel zu machen. Uwe Ochsenknecht spielt Udo Honig darin als ulkigen Strippenzieher, der seinen Knast bald nach der Einweisung zur florierenden Wurstfabrik managt. Mit Wahrheit hat das weniger zu tun als Steuerbetrug mit einem Kavaliersdelikt. Da oft aber grad im Humor die Wahrheit am wirksamsten ist, sei Wissbegierigen mit Unterhaltungsbedarf vielleicht doch eher der Kommerzkanal empfohlen. Nach kurzem Warm-up im Zweiten.


Bachelorette & Udo Hoeneß

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

17. – 23. August

Die Nachrichten richtiger Fernsehsender sind, was sie bekanntlich im Vergleich mit ein paar weniger richtigen auszeichnet, vorwiegend durch Sachlichkeit geprägt, Distanz, Objektivität, solche Sachen. Und das ist meist auch gut so, seltener hingegen leicht anrüchig. Am Dienstag zum Beispiel konnte man nicht nur in der „Tagesschau“ erleben, wie das Gebot objektiv distanzierter Sachlichkeit zu subjektiv anbiedernder Unsachlichkeit führt. Der bräunliche Fußball- und Wirtschaftsfunktionär Gerhard Mayer-Vorfelder nämlich wurde da posthum von Hans Filbingers völkisch-nationalistischem Ziehkind auf „sehr konservativ“ herabgestuft, was in etwa so objektiv, distanziert und sachlich ist, als würde man die NPD „sehr rechts“ nennen und schnell über das Geschenk unserer Autobahnen reden.

Auf denen, das ist die private Top-News der Vorwoche, wird das nächste Mitglied von Cobra 11 für Raserei sorgen. RTL vermeldet, dass der unermüdliche Autoschredderer Semir Gerkhan (Erdoğan Atalay) ab 2016 mit Daniel Roesner einen neuen Beifahrer kriegt. Wobei dessen künftige Parallelpersönlichkeit mit dem sprechenden Namen Renner allen Ernstes folgende Biografie mit in die Explosionsserie nimmt: Paul, heißt es im Pressetext, „hatte nie ein anderes Berufsziel, als Autobahnpolizist zu werden“. Gäbe es solche Wünsche tatsächlich, hätte die Verblödungsstrategie kommerzieller TV-Sender Früchte getragen. Menschen des Stammpublikums strebten dann allen Ernstes nach dem neuen Mädchentraumjob Topmodel echte Lehrberufe an wie Tanzshowjuror, Raabschläger, Duellkoch oder Bachelorette.

0-FrischwocheDie Frischwoche

24. – 30. August

Die nimmt Mittwoch nach acht Folgen ihren Ausbildungsleiter mit nach Hause und wartet sodann auf ihre Nachfolgerin, die angesichts akzeptabler Quoten höchstens eine RTL-Saison auf sich warten lassen dürfte. Was mal wieder einiges aussagt übers Land, das man eigentlich gar nicht wissen möchte. Ganz im Gegensatz zu dem, was uns Wladimir Kaminer darüber zu erzählen hat. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Mann aus Moskau als humorvoller Chronist deutscher Befindlichkeiten tätig, nun begibt er sich montags ab 19.30 Uhr fünf Wochen lang für 3sat auf die Reise in provinzielle Kulturlandschaften seiner Wahlheimat. Den Auftakt macht der Schwarzwald, wo sein distanzlos-subjektiver Blick ins Unbekannte auf Dinge trifft, die Eingeborenen womöglich verborgen blieben.

Blicke, die auch weit über das hinausgehen, was der WDR eine Dreiviertelstunde später zeigt. Als Referenzobjekt einer Programmoffensive zur Publikumsverjüngung startet um 20.15 Uhr Meuchelbeck, in dem ein Berliner samt Teeny-Tochter ins niederrheinische Titeldorf seiner Jugend zurückkehrt, das alles bietet, was in den Hirnen hiesiger Drehbuchautoren als ländlich, skurril, grotesk, ulkig und natürlich kriminalistisch gilt. Viel lustiger droht es auch im Anschluss nicht zu werden, aber immerhin abwechslungsreich, wenn nach der Politiker-WG in Duisburg-Marxloh, wo sich sieben Parlamentarier zur Brennpunkterkundung einquartieren, eine Comedy namens Das Lachen der anderen startet, dicht gefolgt von einer zweiteiligen „Abzocker“-Reportage und dem Alltagstalk Die runde Ecke (23.30 Uhr) mit ganz gewöhnlichen Menschen statt des üblichen Jauch-Inventars.

Aber wie heißt es so schön: Wer’s nicht versucht, hat schon verloren. Wenn Thomas Thieme am Donnerstag die Affäre um Uli Hoeneß als Der Patriarch darstellt, versucht das ZDF nämlich nicht mal dem Anschein nach, irgendwen unter 30 für dieses gut recherchierte, bieder inszenierte Dokudrama voll quietschebunter, aber steriler Rückblenden aufs sein Werden und Wirken vom Tablet wegzulocken. Falls überhaupt blickt die Zielgruppe allenfalls zwölf Tage später mal kurz davon hoch. Dann karikiert Uwe Ochsenknecht den gestürzten Bayern-Boss zum Knast-Chef Udo Honig, was überdreht, aber heiter ist. Meiden werden Jüngere indes weiterhin Arte, wo Mittwoch Die andere Heimat läuft, das vierstündige Prequel von Edgar Reitz‘ Hunsrück-Saga, die donnerstags ab 22.15 Uhr wiederholt wird.

Wobei: mit derart originellem Programm kein junges Publikum zu erreichen, liegt ja weniger am Publikum als am Programm; das Mittwoch auf 3sat noch ein ansehnliches, aber unsichtbares Stück bereithält. Ab 23.30 Uhr erzählen sechs Holocaust-Überlebende im Wiener Burgtheater vom Guten und Bösen in trauriger Zeit und fordern: Vergesst uns nicht! In Vergessenheit geraten, könnten die Wiederholungen der Woche, weshalb wir hiermit empfehlen: The Big Easy von 1987 mit Dennis Quaid als zwielichtiger Cop im bruttigen New Orleans (Dienstag, 0.25 Uhr, BR). Im bruttigen Casablanca hingegen spielt, genau, ebendies, worüber man ja nun wirklich nicht mehr Worte verlieren braucht als jene, wo es auch jetzt noch gesehen werden sollte: Auf Arte natürlich, am Sonntag um acht. Ebenso wie der wöchentliche Dokutipp, allerdings schon heute um 21.30 Uhr im Ersten: Schäuble. Macht und Ohnmacht von Stephan Lamby, der seit Jahren als Seismograph politischer Untiefen firmiert.


Gabi Delgado: Erdbeerkuchen & Tanzmusik

GabiVerschwende dein Alter

Vor 36 Jahren hat Gabi Delgado-Lopéz (Foto@Joe Dilworth) die deutsche Popmusik revolutioniert. Nach mehreren Punkprojekten im Rhein- und Ruhrgebiet gründete der gebürtige Spanier 1979 mit seinem Freund Robert Görl in Düsseldorf die Deutsch-Amerikanische Freundschaft. Mit Hits wie Tanz den Mussolini prägten DAF fortan Techno und NDW gleichermaßen. Nach sieben Alben und mehreren Nebenprojekten brachte der Musikproduzent 2014 sein erstes Soloalbum heraus, dem nun das zweite namens 2 folgt, auf dem der 57-Jährige 32 Stücke zusammenbringt, die manchmal, aber nicht immer nach DAF klingen.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Gabi Delgado, seit Sie vor 35 Jahren maßgeblich geholfen haben, die elektronische Musik in Deutschland zu etablieren, hat sie sich in diverse Spielarten von Techno über EBM bis Synthiepop ausdifferenziert. Behalten Sie da noch den Überblick?

Gabi Delgado: Eigentlich schon. Ich bin auch außerhalb der elektronischen Musik so interessiert, dass ich viele Stile intensiv beobachte. Anderseits kapsel ich mich von diesen Einflüssen oft ganz bewusst wieder ab, wenn ich meine eigenen Alben produziere. Dann setzt meine Beobachtung aus und ich höre weniger fremdes Zeug.

Welches Zeug zum Beispiel?

Alles Mögliche. Zuletzt habe ich mich viel mit französischen Tectonics beschäftigt oder brasilianischem Techno.

Also schon sehr digital.

Richtig, ich höre auch alles Mögliche abseits davon, Reggea zum Beispiel oder Flamenco, aber mein Hauptaugenmerk gilt schon dem Electro.

Im ersten Track der neuen Platte singen Sie von der Neuen Deutschen Klubmusik und verpassen ihr mit NDK gleich ein Label. Ist es das?

Das ist durchaus eins, aber nicht mein eigenes. Es kennzeichnet eine der tollen neuen Entwicklungen in Deutschland, die sich witzigerweise abspielt, wo die Hälfte der Menschen lebt, auf dem Land, in der Agrar-Disco, wie ich es gern nenne, wo es Donnerstag Gothic gibt, Freitag Techno, Samstag HipHop, Sonntag Rock, wo man also die verschiedensten Genres an einem Ort erlebt. Das ist in Berlin undenkbar, wo viele Clubs nur einen Stil kennen, sieben Tage die Woche. Andernorts jedoch entstehen hingegen spannende Hybriden, die NDK ausmacht.

Hybriden heißt vor allem Mashups, also Remixes bestehender Stile. Der Scooter-Frontmann H.P.Baxxter hat vor kurzem gesagt, es wird keine neuen Musikrichtung mehr geben wie Rock, Techno, Rap, sondern nur Zusammensetzungen. Wie sehen Sie das?

Also in Analogie zu anderen Kunstformen gilt das Zitieren auch musikalisch als Wesen der Postmoderne. Selbst die Gema sagt ja, im Bereich der westlichen Harmonielehre werde es keine grundlegenden Entwicklungen mehr geben. Ich halte das für eine gewagte These, weil niemand weiß, was im tonalen Bereich noch möglich ist.

Stichwort Kakophonie.

Zum Beispiel, extreme Dissonanz. Und auf der Beat-Ebene ist längst noch nicht alles ausprobiert. Wer weiß, was da noch in absehbarer Zukunft auf uns zukommt.

Werden Sie daran noch beteiligt sein oder ist Ihr Beitrag geleistet?

Schwer zu sagen, aber weil ich kein Nostalgiker bin, suche ich schon noch Neuland. Da warte ich immer auf Vorschläge von außen, langlebige Musik, die über Mode, Trends, Tagespolitik hinaus relevant ist. Ich mag Dinge, die lange brennen lieber als solche, die es hell tun.

Ist das ein Plädoyer für Qualität statt Quantität?

Ich würde es eher Qualität in der Quantität nennen. Die Engländer haben dafür den Begriff Silent Hit – Stücke, die sich nicht in zwei Wochen, sondern in 20 Jahren millionenfach verkaufen. Darin steckt Nachhaltigkeit jenseit der Masse.

Das ist insofern spannend, als Sie auf Ihrer Platte 32 Tracks verabreichen. Das klingt nach reichlich Masse…

Was aber den Grund hat, dass ich den Spielraum des Vorgängeralbums 1 weiter auffächern wollte, sowohl musikalisch als auch textlich. Dafür brauchte ich einfach viele Stücke. Andererseits ist das ein Statement, in der Kunst immer alles zu geben. Ich habe die CDs satt, wo zwei liebevoll gemachte Tracks von sieben Mal Füllmaterial umrahmt werden, um auf 35 Minuten zu kommen. Mein Motto lautet eher: Geiz ist nicht geil! Geil ist Großzügigkeit! Ich will viel geben. So habe ich zwar den Schrank leer, aber den Kopf frei fürs nächste Projekt.

Was allerdings die Arbeit und Aufwand am nächsten Projekt immens erhöht.

Mag sein, dass es wirtschaftlich vernünftiger wäre, etwas aufzusparen, aber so ticke ich nicht. Ich möchte Sachen abschließen und den Leuten zeigen: Habt keine Angst, alles zu geben! Sparen ist auch ökonomisch nicht haltbar.

Sie nennen es „Ökonomie der Verschwendung“.

Genau, wie die Blume: Heute alles geben, um zu verblühen, und auf dem welken Blatt was Neues starten. Ewiges Wachsen, ewiges Vergehen, so ist Natur. Angst vorm Ende hemmt nur.

Wobei Angst einer der Treibstoffe jener Zeit war, in der Sie mit Musik begonnen haben – Wettrüsten, Waldsterben, Terrorismus.

Richtig.

Ist daraus Ihr Credo vom „Verschwende deine Jugend“ entstanden?

Ich denke schon. Mit dem Deutschen Herbst 1977 war die Zeit der Zuversicht endgültig vorbei. Zuvor dachte man noch fröhlich, irgendwann hätten alle Atomtoaster und die Technik sorgt für ewigen Frieden. Das hat sich zu Beginn meiner Karriere radikal gewandelt und findet jetzt seine Fortsetzung im Rahmen der europäischen Krise und globaler Katastrophen.

Das macht Ihnen keine Angst?

Allenfalls Sorge; Angst macht mir fast nichts. Ich empfinde die radikalen Veränderungen unserer Tage eher als Chance zu positiver Veränderung. Es ist nur so, dass ich zuhause in Spanien weiter deutsche Nachrichten sehe und Zeitungen lese, aber erkennen muss, dass darin vieles, was Hoffnung machen könnte, ausgespart wird. Wenn wie zuletzt 500.000 Spanier für direkte Demokratie auf die Straße gehen, heißt es in Deutschland, die hätten gegen Sparpläne demonstriert.

Haben Sie mit demonstriert?

Nein, aber ich unterstütze die Ideen der Bewegung. Ich möchte mich als Künstler nicht zu sehr für PR-Zwecke vor den Karren spannen lassen; wenn ich was bewegen will, ist meine Arbeit eher musikalischer Natur oder erfolgt im Netz.

Weil Sie Ihre Jugend so verschwendet haben, dass Ihnen mit 57 Jahren die Kraft für physischen Einsatz fehlt?

Nein, nein (lacht). Zumal ich selbst in meiner wildesten Zeit immer ganz, ganz alt werden wollte. Meine Großmutter, die Frau, die mich am meisten beeinflusst hat, ist 99 geworden. So alt will ich auch werden. Ich fühle mich mit 57 überaus wohl, wenn auch die Regenerationsphasen nach dem Feiern spürbar länger werden.

Im Stück Der neue Stil heißt es, Sie essen im einen Moment gern gemütlich Kuchen und im gehen im nächsten tanzen. Ist das die Ambivalenz Ihres altersgerechten Alltags?

Nein, denn das war schon früher so, als ich viele Drogen genommen habe. Auch damals war ich kein Fan vom Dauerrausch und brauchte meine Zeit zum Runterkommen. Ich gewöhne mich einfach nicht gern so an Sachen.

Gewöhnen im Sinne von Abhängigkeit?

Genau, wenn etwas die Kontrolle über mich gewinnt. Erstens hat man daran letztlich keine Freude, zweitens genieße ich meine Freiheit. Daher die Pausen.

Die hat Denis Moschitto in der Verfilmung von Verschwende deine Jugend so verkörpert, dass er die meiste Zeit faul auf dem Sofa lag. Hat er Sie gut getroffen damals?

Ich finde schon. Es ist natürlich nicht Gabi Delgado, aber er macht das gut.

Stimmt denn die exaltierte Arroganz seiner Darstellung?

Schon, denn die war im Kontext der damaligen Zeit, als Gegenpol zum Hippietum, so passend wie wichtig. Vielleicht hab ich sie noch heute manchmal, aber das ist nur eine Facette von mir. Andererseits ist eine gesunde Arroganz nicht das Schlechteste, heißt sie doch, nicht alles mitzumachen, was man dir sagt.


The Yes Men: Spaß & Guerilla

Ja-Sager mit Nein-Kraft

Seit 20 Jahren irritieren The Yes Men mit unterhaltsamen Fake-Aktionen die Mächtigen aus Politik und Business. Nach zwei grandiosen Porträts kommt nun die nächste Beleuchtung der Spaß-Guerilla mit Tiefgang ins Kino: In Die Yes Men – Jetzt wird’s persönlich zeigt Laura Nix mal ein paar private Seiten des Aktivisten-Duos mit belgisch-ungarischen Wurzeln, aber auch ihre neuen Einsatzorte. 

Von Jan Freitag

Es gab Zeiten, da riefen Unzufriedene bei Ämtern an, um ihrem Ärger Luft zu machen. Manche schrieben auch Leserbriefe oder gingen unverdrossen auf die Straße, wenn aus ihrer Sicht etwas falsch lief im System, welcher Art auch immer. Modernen Aktivisten mit Sendungsbewusstsein ist das längst zu ineffektiv. Statt vor einer Handvoll Anwohner auf abgelegenen Routen zu demonstrieren, führen sie lieber 120 Millionen TV-Zuschauer weltweit so dreist hinters Licht, dass selbst die Aktienkurse purzeln. Ihr Name: The Yes Men. Eine Schar  renitenter, aber humorbegabter Weltverbesserer, die den Gang der globalisierten Dinge so dicke haben, dass sie No Men heißen müssten. Man konnte ihr Schaffen vor ein paar Jahren im schlichtweg brillanten Dokumentarfilm Die Yes Men regeln die Welt bestaunen. Jetzt kommt der dritte Teil einer losen Reihe verschiedener Autoren über das Medienphänomen zweier Ja-Sager mit großer Nein-Kraft ins Kino. Und verspricht wieder großes Entertainment mit Relevanz.

Denn Jacques Servin und Igor Vamos alias Andy Bichlbaum und Mike Bonnano – Autoren, Täter, Hauptdarsteller all dieser fantastischen Kompendien kreativen Widerstands gegen übermächtige Gegner – schaffen es seit nunmehr 20 Jahren, den Irrsinn unserer Welt frei von Zynismus so auf die Hörner zu nehmen, dass einem das Lachen nicht im Halse stecken bleibt, sondern den Kopf freiräumt. Wenn sie etwa als Konzernsprecher eines US-Multis vor die Kamera treten, um via BBC zu verkünden, Dow Chemical wolle 25 Jahre nach der Katastrophe im indischen Bhopal endlich über 100.000 Opfer der explodierten Pestizid-Fabrik mit zwölf Milliarden Dollar entschädigen. Dafür mussten die Yes Men bloß eine Homepage der Welthandelsorganisation WTO online stellen und auf eine Einladung der BBC zu warten.

Und so geht es weiter.

Noch immer narren sie Konferenzen, veröffentlichen Zeitungen mit guten Nachrichten, mischen sich unter die Occupy-Bewegung oder versprechen als Verwaltungsangestellte verkleidet, anders als es skrupellose, aber einflussreiche Investoren planen, völlig intakte Sozialwohnungen nach dem Hurrikan Katrina doch nicht abreißen, sondern sanieren zu wollen. Sie verkünden also eine Gerechtigkeitslogik, die der Shareholderkapitalismus täglich verhöhnt. Ihr Lohn ist das rechts-konservative Urteil “abartig und pervers” – nicht über die Politik sondern über den Protest dagegen.

Das macht die Spaß-Guerilla zu Michael Moores von heute, nur humorvoller, mutiger, weniger selbstgerecht. Und weil man ihrem scheuen Charme fast unvermeidlich erliegt, weil der Erfolg ihrer Aktionen scheinbar niemanden so sehr überrascht wie die Aktionisten selbst, dürfen auch Filme über ihr Engagement sein, was sachliche Dokumentationen eigentlich nicht sein dürfen: subjektiv, parteiisch, mal wütend, mal froh. Gerade deshalb aber sollte sie zum Pflichtprogramm marktradikaler Kräfte auf dem ganzen missbrauchten Planeten werden. Der unverfrorenen, zerstörerischen, machtbesessenen Dreistigkeit eines Systems, das ihn zum Spielball ihrer Profitinteressen macht, ist anders kaum beizukommen. Lacht kaputt, was euch kaputt macht!


Das Dienstagsgeheimnis

fragezeichen_1_Nachrichtensprecherinnensträhne

Davon abgesehen, dass kurzhaarige Nachrichtensprecherinnen offenbar illegal sind – warum hängt ihnen dann stets eine Haarsträhne links über die Schulter?

Es gab mal eine, bei der hätte das nicht geklappt mit der zeitgenössischen Frisurenuniform im medialen Informationsvermittlungswesen: Dagmar Berghoff. Dafür hatte La Grande Dame der Tagesschau schlicht den falschen Schnitt. Akkurat lag er kurzgewellt am Kopf wie Serepentinen im Hochgebirge. Damals, die Achtziger, eine betonfrisierte Zeit. Aber heute? Haben Nachrichtensprecherinnen zumindest im Ersten seit Susann “Bacall” Stahnke die Haare schön lang, wobei eine Hälfte rechts hinterm Schulterblatt hängt, die andere links vor der Brust. Seltsam. Aber erklärbar.

Meint jedenfalls Linda Zervakis, gesegnet mit dem dunkel-dichten Bewuchs ihrer griechischen Ahnen. Damit die Matte nicht am Mikro scheuert, erklärt das neue Nachrichten-Gesicht seine Strähnenjustierung, müsse sie halbseitig sichtbar sein. Wobei da doch ein paar Fragen bleiben. Warum nicht (sorry, liebe Antifa) mal rechts vor links? Warum nicht alles hinterrücks oder, ein radikaler (fast schon der ZDF-Kolaboration verdächtiger) Vorschlag, einfach mal Haar ab wie bei Margit Slomka?

So weit kommt’s noch, bei der bürokratischen ARD, wo Adenauer unverdrossen durch die Gremien hustet! Also gibt‘s nur eine Erklärung für die Unwucht: Mit der freien Schulter symbolisiert die Welterklärerin den männlichen, vulgo seriösen Teil ihrer Rolle; mit der bedeckten den femininen, vulgo anlehnungsbedürftigen. Soll ja keiner denken, Emanzipation reiche bis ins bürgerliche Hamburg-Lokstedt. Da könnte nachrichtenfrau gleich Jackett ohne T-Shirt drunter tragen.


Stimmenbruch & Nachtspielzeiten

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

10. – 16. August

Nachrichten sind ein knallhartes Geschäft. Gerade in Krisenzeiten wie diesen bedarf es einer gehörigen Portion Distanz, um im Wellenbad katastrophaler Neuigkeiten nicht Schaden zu nehmen an der Nachrichtensprecherseele. Umso rührender war es vorige Woche, Klaus Kleber zu beobachten, wie ihm angesichts einer seltenen Nachricht über echte Willkommenskultur für Flüchtlinge in Deutschland die Stimme brach. Langsam, aber hörbar, vor allem: spürbar. So viel Mitgefühl ist selten, im knorrigen Metier täglicher News.

Das Klebers ebenso empathische ZDF-Kollegin Dunja Hayali übrigens zeitgleich vom Spätabend zurück ins nette, aber belanglose Frühstücksfernsehen schickt. Vier Wochen lang bot ihr Donnerstalk eine frische Abwechslung zum Gesprächseinerlei von Jauch bis Illner, jetzt dürfen die Platzhirsche wieder ran. Hoffentlich kommt die sympathischste Stimme des Informationswesens bald zurück ins Rampenlicht.

Aus dem die geistig schlichten, aber bestens verdienenden Auto-Reporter um den britischen TV-Star Jeremy Clarkson fast verschwunden waren. Hofften zumindest alle Menschen mit höherem IQ als ein Kleinwagen PS hat. Nun aber kehrt der gefeuerte Moderator des Automagazins Top Gear auf den Bildschirm zurück. Angeblich bietet ihm Amazon Prime für 36 Folgen einer Online-Show umgerechnet 250 Millionen Euro, also gut sechs Millionen pro Folge. Das sind Dimensionen weit jenseits von denen des Fernsehens und belegen irritierend, auf welche Konkurrenz es sich künftig einzustellen hat.

Bleibt abzuwarten, wie die Platzhirsche darauf reagieren. RTL2 zum Beispiel zerrt ab Montag nach drei schönen Jahren Pause das einst florierende Pro7-Produkt Popstars aus der Grube, die vor 15 Jahren unterm Regiment von Detlef D. Soost eine Band namens No Angels hervorgebracht hatte. Ob die „Mutter aller Castingshows“ nach dem Ende des Genre-Booms noch funktioniert? Na ja…

0-FrischwocheDie Frischwoche

17. – 23. August

Da schauen wir uns doch lieber an, was wirklich ernst zu nehmendes Fernsehen so im Angebot hat. Vorweg: Gar nicht wenig. Wenngleich natürlich wie so oft fern der Wahrnehmbarkeit. Das ZDF etwa versteckt sein preisgekröntes bulgarisches Drama Die Lektion nach realen Begebenheiten um eine kriminelle Lehrerin, die ihre Schüler gleichzeitig vorm Verbrechen warnt, heute eine knappe halbe Stunde nach Mitternacht. Nochmals 20 Minuten später läuft am Mittwoch Die Elbphilharmonie, eine entwaffnende Doku über Hamburgs teuerste Baustelle, die ihre Kosten auf fast eine Milliarde vervielfacht hat. Tags zuvor kriegt Stefanie Schoeneborns und Christiane Hoffmanns äußerst aktuelle Doku Der Buchhalter von Auschwitz über den grad beendeten Prozess gegen SS-Mann Oscar Gröning zwar eine akzeptable Sendezeit (19 Uhr), aber einen abseitigen Sendeort (ZDFinfo).

Und dreieinhalb Stunden später bleibt für Steven Soderberghs hochgelobte Serie The Nick mit Clive Owen als drogensüchtiger Arzt eines New Yorker Krankenhauses Rassismus, Hygienedesaster, Ärztepfusch und Hierarchie-Irrsinn im Jahr 1900 der Schwesterkanal Neo. Wo im Übrigen auch Jan Böhmermanns grandioser Satire-Talk Magazin Royale am Donnerstag (22.15 Uhr) aus der Sommerpaus zurückkehrt.

Etwas besser hat es Nachspielzeit: Das leichtfüßige, aber authentische Drama vom Brennpunkt Neukölln übers Scheitern der Integration zwischen Besitzstandsdenken und Gentrifikation im Fußballmilieu zeigt der immerhin eingeweihten Kreisen bekannte Kulturkanal Arte am Freitag um 20.15 Uhr. Bemerkenswert an dem sehenswerten Film besonders: Mehmet Atesci als junger Deutschtürke, der sich mit Nazis und Investoren anlegt. Apropos Investoren: Am Montag läuft die nächste Runde im öffentlich-rechtlichen Dauersponsoring vom FC Bayern, dessen Benefizspiel gegen Dresden ab 17.40 Uhr übertragen wird. Danke ARD.

Danke Arte! Für die Wiederholung der Woche, in Farbe: Die durch die Hölle gehen, Michael Ciminos Meisterwerk von 1978 über zwei Jäger (Christopher Walken, Robert de Niro) im Vietnamkrieg (Sonntag, 20.15 Uhr). Und in schwarzweiß, Montag um 20.15 Uhr: der Defa-Klassiker Das Beil von Wandsbek von 1951 über einen Hamburger Schlachter, der aus Geldnot zum SS-Henker wird. Keine Anklageschrift, sondern einfühlsames Psychogramm.


Spechtl, Ratatat, Author & Punisher

Sleep

Andreas Spechtl ging es noch nie um Verständnis und Konsens, gar Beifall oder Lob – weder als Experimentalrocker im Burgenland noch als Herz der verkopften Progpop-Band Ja, Panik im Berliner Exil und erst recht nicht im Projekt Sleep, mit dem er die Suche nach Wohlklang im Duktus der Dissonanz zugleich verfeinert und vergröbert. Auch auf seinem selbstbetitelten Solodebüt erweist sich der Österreicher als Jäger und Sammler eines Sounds, dessen Zusammensetzung kaum einer Harmonielehre folgt, aber seltsam einträchtig klingt.

Sinneswach und neugierig schleicht er barfuß durch die „Polyrhythmik unserer Biospähre“, um herumliegende/fliegende/stehende Töne zu ertasten, die seinen Vorstellungen musikalischer Haptik genügen. Kompiliert zu acht flächig arrangierten Liedern gehen da gleich zum Auftakt gewittrige Trompetenschauer über sommerlich weiche Basswiesen nieder, die Spechtls Stimmwatte in englischer Sprache auf fortan mal mit irritierenden Saxophonfetzen, mal eklektischem Field-Recordings den Flausch aufrauen. Spechtls Welt der Kakophonie, zu schön um schief zu sein.

Sleep – Sleep (Staatsakt/Caroline)

Author & Punisher

Was Tristan Shone als Author & Punisher zur neuen Platte Milk en Honing verlötet, ist demgegenüber zu schief, um schön zu sein. Unterlegt vom fatalistischen Gebrüll des (auch mal ganz schön) chronisch übellaunigen Kaliforniers scheppert da acht überdehnte Tracks lang Stahl auf Stahl, Stromgitarre auf Verzerrungsfuror, Fabriksample auf Urknalldröhnen, dass man für die passende Atmosphäre auch am Strand von San Diego liegen könnte – selbst Shones sonnige Heimat würde beim Klang dieser Platte darker wirken als jeder Strobokeller. So weit so stumpf? Mitnichten!

Wie den Alben zuvor wohnt auch Nr. 6 die sonderbare Magie des brachial Unzugänglichen inne, das viele Schranken ins Gemüt überwindet. Author & Punisher, der nicht ohne Grund beim Label des Grölmetallers Phil Anselmo erscheint, entwickelt ein Volumen, das den selbstreferenziellen Materialtests des Industrial fast schon Liedstrukturen verpasst. Man muss nicht schlechter Laune sein, um das zu ertragen, man kann sogar bester Laune sein, ohne sie beim Hören einzutrüben. Ein kleiner Dachschaden wäre indes ratsam; Normhörgewohnheiten sind hier ja fehl am Platze.

Author & Punisher – Milk en Honing (Housecore Records)

Ratatat

Mit Hörgewohnheiten ist das allerdings so eine Sache. Wer etwa hätte im Rückblick gedacht, dass eine Band, die bald darauf Stadien jeder Größe füllte, ausgerechnet mit Aberwitz der Art von Bohemian Rhapsodie zum Durchbruch käme? Außer Ratatat wohl keiner. Die zwei Kalifornier bewegen sich ja äußerst erfolgreich in Queens musikalischem Ideenkosmos – und das trotz ihrer Jugend noch nicht mal mit den Mitteln von heute.

Unterstützt durch prähistorische Verstärker, Vintage-Gitarren und dem spinettartigen Orgelsound aus Freddy Mercurys Jugend zaubert das New Yorker Duett eine Sinfonie des Indietronic aufs neue Album, die sich an tollen Vorbildern dieser verspielten Mashup-Variante des digitalen Pops messen lassen darf. Französische Frickelgiganten von Air bis Phoenix suppen frontal in Magnifique hinein, das kindliche Genie von Retro Stefson oder Vampire Weekend zudem seitlich, alles überlagert von Krautrock, Queen und allem, was die Siebziger zu geben haben. Jeder Track ist ein Mixtape verknallter Schüler beim Balzen um die Schönste im Klassenraum der Popmusik. Zum Tanzen, Wippen, Verlieben.

Ratatat – Magnifique (Because Music)