Fernehwesternwelle: 1883 & The English
Posted: December 15, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentTotgesagte töten länger
Western gibt es seit 120 Jahren und wurden seither ständig rituell beerdigt. Gleich zwei opulente Serien – 1883 bei Paramount+ und The English auf MagentaTV – aber belegen eindrucksvoll: „Cowboys und Indianer“, wie man früher sagte, sind mediale Überlebenskünstler.
Von Jan Freitag
Es gibt kein Film- und Fernsehgenre, das öfter totgesagt und wiederbelebt wurde als der Western. Zu schwarzweißer bis technicolorbunter Zeit die Essenz einsamer Überlebenskämpfe in feindseliger Umgebung, kamen Cowboys und (damals noch statthaft) Indianer Ende der Fünfziger außer Mode, wurden Mitte der Sechziger von Sergio Leone reanimiert und fielen Ende der Siebziger ins Koma, aus dem sie 1990 Costners Der mit dem Wolf tanzt holte.
Es war das Anschwellen weiterer Wellen, auf denen vor Jarmusch (Dead Man) oder Tarantino (Django Unchained) ein Fernsehformat nach Westen ritt, mit dem sich 2003 auch am Bildschirm alles änderte. 100 Jahre nach Der große Eisenbahnraub stellte das real existierende Deadwood die US-Zivilisation von 1877 dar, wie sie mit jedem Kilometer landeinwärts wirklich wurde: gesetzlos, dreckig, darwinistisch, also tödlich wie jenes Fort Worth, wo gerade die neuste Westernwoge brandet.
Mit Frau (Faith Hill) und Kind (Isabel May) führt James Dutton (Tim MacGraw) deutsche Immigranten aus der texanischen Wüste ins fruchtbare Montana, und wem der Name bekannt vorkommt: es ist ein Urahn jenes Patriarchen, den Kevin Costner im Neowestern „Yellowstone“ einige Generationen später zum Welterfolg machte. Zum Start von Paramount+ erzählt 1883 nun die Vorgeschichte der Großgrunddynastie. Und wie in den vier Staffeln von heute, tut es Showrunner Taylor Sheridan in der zehn Folgen von gestern mit einer Bild- und Tonsprache, die sich nicht meilenweit, sondern kontinentbreit vom früheren Genre entfernt.
Schon zu Beginn zoomt Regisseur Ben Richardson nicht auf frisch rasierte Cowboys in gebügelter Weste; minutenlang filmt er die junge Elsa Dutton im Staub der „Great Plains“. Solche Bezeichnungen, sagt sie im Staub der endlosen Steppe, hätten sich „Professoren umgeben von Ideen der Ordnung“ ausgedacht, „aber um sie zu verstehen, muss man sie durchqueren, in ihren Dreck bluten“. Und das machen nahezu alle Charaktere fast pausenlos. Auf dem Treck gen Norden herrscht bestenfalls Faust-, meist aber Standrecht, das Beteiligte wie Unbeteiligte noch schneller unter die Erde bringt als Hunger, Kojoten, Unfälle und Schlangen.
Der Tod, lautet die Botschaft des neuesten Revivals, ist das einzige, worauf sich europäische Siedler und ihre Begleiter auf dem Weg durchs gelobte Land verlassen dürfen. Und wer sich nicht bewaffnet, zweite Message, hat schon verloren – was beiläufig einiges über die schießwütigen USA der Trump-Ära sagt. Das in dieser Drastik zu zeigen, animiert Superstars wie Tom Hanks (2020 mit dem Netflix-Film News of the World in derselben Zeit tätig) zur winzigen Nebenrolle und steckt auch in der zweiten großen Serie des neuen Kinos Fernsehen.
Zwei Wochen früher (und vier vorm Start der Paramount-Version von „Billy the Kid“) ist bei Magenta ein wahres Meisterwerk angelaufen. The English schildert das Los der englischen Aristokratin Cornelia Locke (Emily Blunt), die dem angeblichen Mörder ihres Sohnes nach Amerika folgt. Finanziell sorglos, aber ohne Prärie-Erfahrung, begleitet sie der indigene Armeescout Eli (Chaske Spencer) ins Ungewisse und erlebt dort dieselben Gewaltexzesse wie ein Portal weiter Familie Dutton.
Wildnis, Rache, Lagerfeuer: die Konstellation erinnert verteufelt an John Fords Kavallerieexpeditionen im Monument Valley – würde Showrunner Hugo Bick nicht aus jeder Szene ein sprechendes Gemälde machen, das Kameramann Arnau Valls Colomer in die originellsten Töne, Bilder, Perspektiven taucht und nebenbei das Leben der Ureinwohner authentischer erzählt als alle alten Western zusammen. Und das wie bei 1883 in einer Langsamkeit, die mit dem zurückhaltenden Soundtrack um Deutungshoheit ringt. Gewinner ist das Publikum. Und ihr beharrlichstes Genre.
The English – 6 x 45 Minuten, seit 26. November, Magenta TV
1883 – 10 x 60 Minuten, ab 14. Dezember, Paramount+
Harry & Meghan: Porträt & Publicity
Posted: December 13, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentFeudale Selbstbelagerung
In der sechsteiligen Netflix-Doku Harry & Meghan (Foto: Netflix) beklagen die verstoßenen Windsors ihr Leben im Lichtkegel der Kamerass – und nutzen für ihre Generalabrechnung, genau zu Eigenreklamezwecken: das die Lichtkegel der Kameras
Von Jan Freitag
Wer hoch fliegt, kann tief fallen, oder um es mit dem buchstäblich großen Boulevardsophisten Mathias Döpfner zu sagen: Wer mit irgendwem irgendwomit aufwärtsfährt, fährt irgendwann wieder abwärts, und nur, weil er/sie/es dort oben alles hatten, schön und reich waren, womöglich gar mächtig, muss es unten nicht besser sein als für all jene, die dort endemisch sind. Das gilt also auch „Harry & Meghan“. Nur dass es bei den Titelfiguren der gleichnamigen Netfix-Serie Auslegungssache bleibt, wo sie drei Jahre nach ihrem Rückzug aus der schrecklichsten Familie neben den Trumps gerade heimisch sind: im Himmel, auf Erden, darunter?
Regisseurin Liz Garbus scheint in den ersten drei der 300 Minuten Doppelporträt eine Antwort zu liefern: am Höllenschlund – so wie das hochgestiegene, tiefgefallene Prinzenpaar aus seiner maßgeschneiderten Wäsche blickt. In groben Smartphonevideos sieht man den Königssohn in der Windsor-Suite eines Londoner Flughafens klagen, wie schrecklich die Monate vorm Entzug königlicher Privilegien für ihn waren, bevor seine Frau im kanadischen Luxusexil mit Meerblick und tränenerstickter Stimme hinzufügt, weil „ihnen nichts heilig ist, zerstören sie uns“.
Soweit der Einstieg einer Doku, die schon lang vor ihrer Ausstrahlung turmhohe Wellen schlug. Und nun, da sie einem Tsunami gleich um den Globus rollen, da statt werbewirksamer Trailer die ersten drei von sechs Teilen zu sehen sind, kann man sich ein eigenes Bild vom Standort des tiefgestiegenen, hochgefallenen PR-Produkts aus der himmlischen Hölle ihres Wolkenkuckucksheimes im Säurebad der Boulevardpresse machen. Und das ist trotz nerviger Pianotupfen, die uns von Anfang an melodramatisch infiltrieren, nicht nur sehenswert, sondern erhellend.
Schließlich erleben wir Harry & Meghan dabei, sich kennen, lieben und ängstigen zu lernen. Wir folgen dem dackelsüßen Duke of Essex in die Vergangenheit seiner ebenso behüteten wie beäugten Kindheit. Wir sehen seine afroamerikanische Prinzessin beim Weg aus ihrer ebenso bürgerlichen wie elitären Hollywoodblase in den rassistischen Buckingham Palace. Wir begleiten beide zwischen Safari und Charity-Gala auf der Flucht vor Paparazzi, was sie Liz Garbus in lässiger Sofa-Atmosphäre schildern, als wären es gewöhnliche Erinnerungen.
Dabei sind es Zeugnisse eines fortwährenden Ausnahmezustandes, den die Emmy-dekorierte Filmemacherin mit einer halben Armada Co-Regisseure routiniert zur Gesellschaftsstudie montiert. Schuld an der Misere einer klassen- wie rassenübergreifenden Lovestory, daran lässt das Format keinen Zweifel, sind schließlich wir, die Medien, ein Beruf also, dem die vielen Talking Heads der Serie nur gelegentlich das englische „Tabloid“ für „Boulevard“ voranstellen. Ansonsten steht Journalismus hier pauschal für das Böse.
In Zeiten royalistischer bis reichsdeutscher „Lügenpresse“-Krakeeler ist das allerdings nur der gefährlichste Makel dieser vielbeachteten Serie. Flankiert wird er vom unreflektierten Blickwinkel zweier Objekte, die sich als Subjekte öffentlicher Aufdringlichkeit geben, um ihren Teufel sodann mit dem Beelzebub auszutreiben. Denn während das (höchst sympathische) Dreamteam seine Belagerung durch Schundblätter von „Sun“ bis „Daily Telegraph“, pardon: „die Medien“ beklagt, bläst es mit einem Videoblog zur Gegenoffensive, in dem sich H&M – genau – für alle ständig selbst beobachten.
Weil ihnen die Selbstbelagerung angeblich „Kontrolle über unser Leben“ zurückgeben soll, klingt das Löschen des Feuers mit Feuer sogar recht glaubhaft – wäre es nicht Teil einer PR-Kampagne inklusive Autobiografie im Januar, die angesichts gekürzter Apanage einen ordinär luxuriösen Lebensstil finanzieren hilft. Und auch das röche weniger streng, würde(n) „Harry & Meghan“ auch nur ein einziges annähernd kritisches Wort über den unverdienten Reichtum des antidemokratischen Feudalsystems Erbadel verlieren, der beiden bis heute ein Leben im Überfluss finanziert.
Stattdessen erleben wir zwei Boulevardmedientäteropfer beim Wehklagen über ein parasitäres Biotop, das hiermit keinesfalls verteidigt werden soll. Aber wer sechs beispiellos unterhaltsame, virtuos geschnittene, über die Maße auskunftsfreudige Episoden Insider-Wissen sieht, sollte sich klarmachen: unter all den Problemen dieser krisengeschüttelten Welt, haben „Harry & Meghan“ eines, das geschätzte 7,95 Milliarden Erdbewohner nur zu gerne hätten.
Fernsehretrowelle: Wetten, dass…? & TV total
Posted: November 18, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentAls die Welt noch in Ordnung war
Die Retrowelle spült gerade Dutzende alter Fernsehsendungen wie TV total oder Die 100.000 Mark Show durchs Programm. Aber warum? Eine Spurensuche zur morgigen Winterausgabe von Gottschalks ewiger Wettshow (Foto: ZDF), die bald wieder öfter laufen könnte.
Von Jan Freitag
Die Deutschen sind keine Fans robuster Revolutionen – auch wenn sie mittlerweile Motoren, Make-up, Milchprodukte so nennen. Abgesehen von 1989 also lag Lenin richtig, wir würden vorm Gleissturm eine Bahnsteigkarte lösen. Wie suspekt uns der Wandel verglichen mit dem Status Quo ist, erklärt aber auch ein Blick ins Fernsehprogramm: Bei RTL richtet Barbara Salesch, auf Sat1 talkt Britt Hagedorn und ProSieben hat TV total reanimiert, derweil Kai Pflaume aka JBK durch Hans Rosenthals Dalli Dalli hüpft.
Wenn Thomas Gottschalk Samstag blond wie 1999 zu Wetten, dass…? lädt, könnte man das Krisenjahr 2022 also glatt mit dem sorglosen von damals verwechseln, als die Twin-Towers noch über New York thronten, Stefan Raabs über den Maschen-Draht-Zaun sang und unser Geld zehn Groschen hatte. Apropos: Ulla Kock am Brink ist ebenfalls zurück auf großer Fernsehbühne, wo sie seit September Die 100.000 Mark Show moderiert.
Fast 22 Jahre nach der Währungsreform ist das im Gegensatz zur Idee fast schon ein origineller Titel – der gut 15 Jahre nach einem Revival mit Euro im Gewinntopf und Bause am Mikro bei doppeltem Nostalgiefaktor belegt, wer den Gebrauchtwarenfundus am liebsten durchwühlt. RTL-Geschäftsführer Henning Tewes klingt da geradezu drollig, wenn er seinen Sender als „Innovationstreiber“ bezeichnet.
Denn während sein Sender von Ruck Zuck über 7 Tage, 7 Köpfe bis Der Preis ist heiß so viel Tiefkühlkost erwärmt, dass selbst die Rückkehr von Tutti Frutti oder Pronto Salvatore nicht ausgeschlossen scheint, finden kreative Überraschungen allenfalls beim digitalen RTL+ statt. „Je unsicherer die Zeiten, desto größer der Wunsch nach Vertrautem“, sagte Tewes zum Mediendienst DWDL, „da fragt das Publikum Zeitreisen zu geliebten und vertrauten Fernsehmomenten nach“.
Für einen Bilderstürmer, der das Metier mal angebotsorientiert durcheinanderwirbelte, ist das ein nachfrageorientiertes, also mutloses Konzept. Schließlich haben die Privatsender ihre öffentlich-rechtliche Konkurrenz mit Der heiße Stuhl (Revival 2016), Glücksrad (Revival 2016) und RTL Samstag Nacht (Revival 2022) einst vor sich hergetrieben. Und während deren Retrowelle aktuell beim Herzblatt endet, recyceln kommerzielle Kanäle bereits Formate der Nuller, wie ProSieben mit Wok-WM oder Turmspringen zeigt.
Die erneute Rückkehr von Wetten, dass…? taugt da weder als Ausnahmeregel noch Gegenbeweis, denn Europas erfolgreichste Fernsehshow war ja nie weg. Im Gegenteil. Gleich nach Markus Lanz unseligen Finale 2014 wurden alle Herdplatten der Gerüchteküche an- und nicht mehr abgedreht. Bevorzugter Nachfolgekoch im medialen Kaffeesatzlesezirkel: Thomas Gottschalk. Von keinem Hüter des Fernsehlagerfeuers versprechen sich die Leute mehr hedonistische Ablenkung.
Das klassenlose Überwältigungseinerlei vom „goldenen Bub“, wie ihn Martin Walser lobte, hilft sogar den Ermüdungsbruch aktueller Fernsehunterhaltung zu schienen. Ob Musik, Mode, Mobiliar oder Medien: dass die Achtziger ihr Comeback mittlerweile im Jahres- statt Dekaden-Rhythmus feiern, dass selbst die ästhetisch grässlichen Neunziger so satisfaktionsfähig sind wie im Rokoko Puderperücken, hat ja nicht nur mit Nostalgie, sondern Fantasielosigkeit zu tun.
Neue Showformate? Erfinden praktisch nur noch Joko & Klaas, erzielen damit gegen Netflix, Gaming, Mediatheken aber nur noch geringe Quoten. Von 14 Millionen, die Tommi 2021 an der Wettcouch versammelte, können selbst Tatorte da nur träumen. Und wenn sich 2022 Herbert Grönemeyer dazu setzt und Robbie Williams, wenn wie immer kurz Hollywood gastiert (John Malkovich) und etwas länger Babelsberg (Veronica Ferres), wenn Bagger was balancieren und Bully blödelt, dann ist alles ein bisschen wie damals, als die Welt zwar nicht in Ordnung war, aber ein bisschen so wirkte.
„Wetten, dass…?“, 19. November, 20.15 Uhr, ZDF
Die Ringe der Macht: Tolkien & Amazon
Posted: September 6, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentSicherheitslücken in Mittelerde
Selten wurde ein Spin-off lautstärker angekündigt als das Serienprequel von Herr der Ringe. Jetzt laufen Die Ringe der Macht bei Amazon, und nicht nur 1,25 Milliarden Dollar Gesamtkosten sind überwältigend – auch Storytelling, Bildsprache, Originalität.
Von Jan Freitag
Die Bedeutung einer Serie, das war in analoger Zeit noch anders, bemisst sich auch am Grad der Security bei ihrer Preview. Das Handy auszuschalten, zählt zwar schon seit der Markreife kluger Telefone zum Repertoire. Aber Abgeben, Einschweißen, Versiegeln und Wegstecken, gefolgt von einem Sicherheitscheck auf Flughafenniveau – es ist offenbar ein wichtiges Stück neues Kino Fernsehen, das im nostalgischen Zoo Palast zu Berlin gezeigt wird. Prime Video behauptet gar: das wichtigste, was buchstäblich Ansichtssache ist. Im Gegensatz zum Preis.
Denn worauf eine Handvoll Influencer und Journalistinnen ohne Smartphone, aber mit Podcast, Blog oder Youtube-Kanal am Donnerstag zwei Stunden lang als erste gestarrt haben, kostet pro Folge den Gegenwert einer Villa am Wannsee plus Yacht, Limousine, Pool, Butler-Service. Schließlich hat Amazon angeblich 1,25 Milliarden Dollar für das Prequel vom „Herr der Ringe“ bezahlt, 20 Prozent allein für die Rechte. Bei fünf Staffeln dürften die ersten zwei von acht Folgen 50 Millionen vertilgt haben und somit mehr als House of the Dragon, das also nur kurz Rekordhalter war.
So viel zum Zahlenwerk, das Fragen aufwirft. Die wichtigste: Wird der Aufwand vom Ergebnis gerechtfertigt. Die Antwort ist ein bisschen überraschend, bedarf der Erklärung, darf aber erstmal im Konfettiregen durchs Traditionskino fliegen: Ja, nein, mehr als das! Denn natürlich rechtfertigt in Zeiten von Krieg und Krisen, Armut und Inflation, Energiemangel und Klimawandel mal abgesehen vom eskapistischen Nach-uns-die-Sintflut-Denken nichts, absolut gar nichts zwölfstellige Summen für Unterhaltung um ihrer selbst willen. Auch ein noch so obszönes Investment ins übernächste Spin-off von J.R.R. Tolkiens Fantasy-Legende kann jedoch Gutes bewirken.
Und damit zum Finished Product, wie Filmfiktionen in Zeiten von CGI und SFX, Stakeholder-TV und Börsenentertainment heißen. Damit zu Die Ringe der Macht. Sie spielen ein paar Tausend Jahre vor der finalen Schlacht von Peter Jacksons Trilogie und den nachfolgenden Hobbit-Märchen. Nachdem die Orks zu Beginn besiegt wurden, erlebt Mittelerde eine Ära des Friedens. Elben und Zwerge, Menschen und Haarfüßer, die mal possierlichen, meist bedrohlichen Stämme – Berg an Tal an Wüste an Wald an See an Meer existieren sie in ethnischer Homogenität, begegnen sich hier und da, halten aber respektvollen Abstand und wähnen sich auch deshalb in Sicherheit vor Unbill à la Sauron samt seiner Mutantenarmee.
Nur eine mag nicht in die kollektive Harmoniesucht einstimmen: Galadriel, die wir zu Beginn der Auftaktfolge erleben, wie sie sich dank traumatisierender Kindheitserlebnisse mit Feinden aller Art zur skeptischen Kriegerin mit der Überzeugung entwickelt, die Orks hätten sich nur versteckt. Vom Elbenkönig Gil-galad (Benjamin Walker) auf Monstersuche in sämtliche Ecken der topografisch spektakulären Mittelalterkopie entsandt, stößt sie zwar auf Spuren; nur glaubt ihr bei der Rückkehr ins Spitzohr-Idyll Lindon niemand, was da noch im Untergrund schlummert. Am wenigsten der einflussreiche Politiker Elrond (Robert Aramayo) – da kann Galadriel noch so kernig mit dem Waliser Akzent ihrer Darstellerin Morfydd Clark insistieren, „das Böse stirbt nicht, es wartet auf den Moment unserer Selbstzufriedenheit“.
Und wie uns die Showrunner Patrick MacKay und John D. Payne an vielen ihrer großflächig verteilten Handlungsorte klarmachen, ist er längst gekommen. Das wagemutige Haarfußmädchen Nori (Markella Kavenagh) spürt es zwar ebenso wie die naturheilkundige Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi), deren Sohn – Gollum lässt grüßen – vom Keim des Bösen infiziert wurde. Mittelerdes bürgerlicher Mainstream dagegen wiegt sich in betriebslinder Sicherheit – was mit etwas Einbildungskraft als Analogie auf unsere Gegenwart mit einer elbischen EU auf Appeasement-Kurs mit Putin alias Sauron werden kann.
Aber das bleibt schon wegen der jahrelangen Planungsphase Spekulation. Denn Tatsache ist, dass Regisseur J.A. Bayona, durch Jurassic World bombastgeschult, mit finanzieller und digitaler Hilfe einen Kosmos kreiert, der das Sequel vielerorts übertrifft, ja überragt. Anders als die Kinotrilogie „Herr der Ringe“ nämlich emanzipieren sich Amazon Primes „Ringe der Macht“ vom selbstreferenziellen, männerdominierten, effekthascherischen Bombast eines Peter Jackson, der letztlich nur Schlachten reproduziert und damit selbst handfeste Jünger der Bücher verschreckt hatte.
MacKay und Payne nutzen das serielle Format dagegen – zumindest nach Ansicht der ersten zwei Teile – etwas nachhaltiger, um horizontal zu erzählen. Den Charakteren bleibt dabei echte Zeit zur Entfaltung, Dialoge dienen nicht mehr nur der unerlässlichen Vorbereitung anschließender Gemetzel, können sogar von Zwergenkönig zu Elbenkumpel Tiefgang haben. Und auch, wenn Bear McCrearys brachialer Soundtrack wirklich niemals Ruhe gibt, zieht das grob Vertonte sein Publikum mit contentgetriebener Dringlichkeit ins esoterisch angehauchte Universum, als wäre Sauron von Shakespeare statt Tolkien.
Wenn man das bildgewaltige Mythengewitter von Mittelerde also mit irgendetwas von heute vergleichen will, wäre Jacksons Version wohl Wacken und das von Payne/McKay eher Woodstock. Gelegentlich flattern zwar ein paar zu viele Hippies über Auen und Bäche. Doch Actionfans aufgepasst: der titelgebende Ring stet kurz vorm Schmieden. Galadriels Schwertkampfstil deutet an, dass auch die aktuellen Macher Bock auf Martial Arts haben. Und schon bald, so scheint es, sammeln sich neue Gefährten, um Sauron die Hölle kalt zu machen. Das Ringe-Spektakel, es geht also weiter. Immer weiter. Noch sind ja mindestens 750 Millionen Dollar zu verprassen.
House of the Dragon: Geburt & Töten
Posted: August 24, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentGame of Dragons
Endlich erzählt die HBO-Serie House of the Dragon (Sky/WOW) wie es 200 Jahre vor Game of Thrones zur späteren Schlacht der Clans von Westeros kommen konnte. Ergebnis: beeindruckend opulenter Eskapismus für 20 Millionen Dollar pro Folge mit Analogien in die Gegenwart – und brillanten Darsteller*innen.
Von Jan Freitag
Tod und Geburt, Sieg und Verlust, Aufstieg und Fall – die Gleichzeitigkeit fundamentaler Gegensätze zählt seit Shakespeare zum Fundus unzähliger Dramen. Selten aber sind sich Anfang und Ende näher als in Westeros, wo ersterer für jeden schon letzteres bedeuten kann. Dort, so lehrte uns Game of Thrones acht Staffeln lang, sterben selbst Hauptfiguren wie Fußsoldaten unterm Schwert berittener Ritter. Dort, so setzt es House of the Dragon fort, sind sich Kreation und Zerstörung nah genug, um sie im Wechselschnitt als wesensverwandt darzustellen.
200 Jahre, bevor sich die sieben Königreiche der mittelalterlichen Fantasiewelt gegenseitig in Schutt und Asche gelegt haben, regiert sie ein Urahn jener Daenerys Targaryen, die dafür mitverantwortlich war: Viserys I, für GoT-Verhältnisse ein milder König auf dem Eisernen Thron, wenngleich mit Sorgen. Seine Frau hat ihm nach vielen Fehl- und Todgeburten „nur“ eine Tochter geschenkt – im Wertekanon der misogynen Männerwelt von Westeros zu wenig. Falls das nächste Kind kein Junge wird, drohen die Targaryans trotz feuriger Drachen auszusterben.
Es sind Probleme einer vormodernen Epoche, die ebenso existenzieller Natur sind wie Zuckerbrot und Peitsche eines grausamen Turniers, das parallel zur königlichen Niederkunft stattfindet. Und so sieht das Fernsehpublikum in der ersten von zehn Folgen nicht nur, wie sich Lanzenträger die Schädel einschlagen, bis ihr Blut zu den Edeldamen spritzt; als Auftaktregisseur schwenkt Sapochnik, der auch mal zwei Folgen Game of Thrones drehte, die Kamera dabei ständig ins Gemach der Königin, wo es so blutig zugeht wie auf dem Spielfeld darunter.
Tod und Geburt, Sieg oder Niederlage, Aufstieg und Fall: wie üblich in der verfilmten Romanreihe von George R. R. Martin, rücken die neuen Showrunner Ryan J. Condal & Miguel Sapochnik Anfang und Ende eng aneinander, zollen dem Werk ihrer legendären Vorgänger David Benioff & D. B. Weiss also unverkennbar Tribut. Umso erstaunlicher, dass House of the Dragon weit mehr ist als eine Kopie von „Game of Thrones“.
Skeptischen Fans in der globalen GoT-Gemeinde sei daher versichert: die Erzählung früherer Schlachten um den Thron aus Schwertern besiegter Feinde ist nach Ansicht der ersten fünf Episoden ganz großes Fernsehkino – und dürfte zügig weitere Staffeln nach sich ziehen. Wobei die Gründe dafür nicht nur in profaner Suchtbefriedigung zu suchen sind; mindestens mitverantwortlich ist das herausragende Storrytelling von Headautor Condal und seinem Cast, den er für 20 Millionen Dollar pro Folge mit akribischer Anteilnahme zusammengestellt hat.
Der Brite Paddy Considine zum Beispiel spielt Viserys zwischen Pflichterfüllung und Familiensinn mit einer schwächlichen Freundlichkeit, die das exakte Gegenteil seines impulsiven Bruders Daemon ist, dem Matt Smith – bekannt als junger Queen-Gatte in „The Crown“ – zum faszinierendsten Bösewicht seit Cersei Lennister fiebert. Dazwischen brilliert Milly Alcock als junge Königstochter Rhaenyra, die nach dem Kindstod ihres Bruders wider alle Konventionen zur Thronfolgerin erklärt wird und so zum Teil einer machtpolitischen Eskalationsspirale wird, die – für GoT-Verhältnisse unvorstellbare – 75 Jahre Frieden beendet.
Krieg und Intrigen, Inzest und Korruption, expliziter Sex und noch explizitere Gewalt: um eine Vielzahl computergenerierter Drachen am Rande des digital Möglichen erweitert, ist das Spin-Off wie sein Original ein hochintelligentes Gebräu kreativer Jungsfantasien, gleichsam infantil und ernsthaft, sozialkritisch und selbstreferenziell. Obwohl die Produktion vielerorts frei von weiblichem Einfluss bleibt, gelingt House of the Dragon erneut Außergewöhnliches: Mehr denn je kommentiert es die Rolle der Frau im Patriarchat und gleicht sie subtil mit unserer ab. „Das Kindbett ist unser Schlachtfeld“, antwortet Rhaenyras Mutter auf deren Bitte, Schlachten zu schlagen, statt Prinzen zu heiraten. Dumm gelaufen. Für beide.
Kurz darauf verliert Mama Targaryan für Vaters Wunsch nach einem Thronfolger die eigene und macht klar, was die Darstellerin der erwachsenen Tochter kürzlich auf dem Premierenteppich sagte. Die Serie sei ein „Spiegel aktueller Ungleichheit“, erklärte Emma D’Arcy dem überhitzten WOW-Reporter in London kühl und fügte hinzu, dass Fantasy dem Publikum genügend Distanz bötet, „um sie leichter zu reflektieren“. Ein Satz, so groß und klein, so klug und schlicht, so laut und leise wie das gesamte Vorspiel von Game of Thrones. Trotz allem.
Wie das Nachspiel krankt es nämlich am Aushebeln physikalischer Gesetze. Natürlich genießt märchenhafter Firlefanz wie dieser besondere Freiheiten. Aber dass sich in 200 Jahren Thronspiel weder Sitten noch Mode ändern, von Alltags- oder Kampfgerät zu schweigen, ist ähnlich absurd wie Helden, die Tausende tödlicher Hiebe überleben. Fast drollig, dass sich da im Grunde nur der Thron sichtbar wandeln durfte. Verglichen mit dem raumgreifenden Stück im „House of the Dragon“, hat er beim „Game of Thrones“ Sesselgröße. Aber gut: dafür wird der Vorspann von Miniaturwunderland auf ein simples Wappen reduziert.
Entschlacken hier, aufblähen dort: an Aufwand, Opulenz, Dramatik steht das Prequel dem Sequel in nichts nach. Die Musik, wie immer von Ramin Djawadi (vorerst der einzige Deutsche in tragender Verantwortung), ist präziser, Ryan J. Condals Cast brillanter, aber Bild- oder Tonsprache auf eigensinnige Art werkgetreu. Und wer abseits vom Eskapismus neofeudale Analogien zur Gegenwart sucht, sieht hinter den Lennisters und Targaryans, den Hightowers oder Velaryons von Putin über Trump bis Musk und Zuckerberg moderne Fürsten der Finsternis aus dem Mittelalter von Westeros winken, die ähnlich zur Weltmacht streben wie der finstere Daemon im Drachenhaus. Gute Unterhaltung!
Flight 666: Iron Maiden & Ed Force One
Posted: June 24, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentIm Privatflieger der Metalprediger
Ein hinreißender Konzertfilm über die Welttour der unverwüstlichen Iron Maiden macht deutlich, warum die Zackengitarrenszene keine Zweckgemeinschaft, sondern eine Familie ist. Nach 13 Jahren DVD-Dasein steht er jetzt endlich in der Arte-Mediathek.
Von Jan Freitag
Die Boing 757: zweistrahliger Stolz des American Way of Life, Symbol entgrenzter Mobilität, ein Stück US-Identität, das zwar im Schatten der Boing 747 steht, aber genau wie der Jumbo-Jet fossile Fortschrittsgläubigkeit auf kurzer Strecke verkörpert und damit etwa so zeitgemäß ist wie Pfälzer Schlachtplatten, Rohrstockzüchtigung oder, sagen wir: Iron Maiden. An dieser Stelle dürfte es (zumindest unterm zeitunglesenden Teil der Rockszene) einen Aufschrei der Entrüstung geben. Also Ohren zu, Augen auf.
Die Urväter harten Rocks mögen jahrelang in bandeigener Boing 757 um den Globus gejettet sein, als sei der Klimawandel ein flüchtiges E-Gitarrensolo; wer ihnen dort volle 45 Tage im grandiosen Dokumentarfilm Flight 666 beiwohnen darf, kann nur zu einem Urteil gelangen: Pfälzer Schlachtplatten und Rohrstockzüchtigung bleiben wohl (hoffentlich) für alle Ewigkeit Anachronismen; Iron Maiden aber sind auch nach 50.000 Meilen in ihrer Ed Force One genannten Kerosinschleuder zukunftstauglich wie Mediationen und Veggieburger.
Zur Erklärung für Spätgeborene, Ungläubige, beide in einem: Iron Maiden, lange vor Maggie Thatchers Wahl zum Prime Minister unweit vom Westminster Palace gegründet und seit 40 Jahren in nahezu gleicher Besetzung auf Tour, waren aus Rockstarsicht bereits 2008 Fossile. Damals überzeugte der Anthropologe und Regisseur Sam Dunn seine Lieblingsband davon, ihre Welttournee begleiten zu dürfen. Und wie in den meisten seiner Genre-Analysen unterstützt vom kanadischen Filmemacher Scot McFadyen, sollte das Resultat ein Mix aus gefilmtem Fanzine und gefühlter Sozialstudie werden.
Hierzulande allenfalls in Programmkinos oder Festivalzelten sichtbar, haben die beiden Showrunner 2009 mit Flight 666 ein zweistündiges Juwel publizistischer Distanzlosigkeit geschliffen, das trotz ihrer spürbaren Vergötterung der Berichtsgegenstände jedoch über den Wolken nie an Bodenhaftung verliert. Mehr als ein Jahrzehnt später steht es nun endlich in der Arte-Mediathek. Und wem beim Gedanken an hochtourige Riff-Stakkatos zum Pathos operettenhafter Gesänge die Fußnägel hochklappen: bitte dennoch reinhören. Es lohnt sich.
Die – für einen Konzertfilm verblüffend schlecht gemischte – Tourneebegleitung handelt zwar wesentlich von der Wall of Sound turmhoch gestapelter Stromgitarren im Doublebass-Gewitter. Darunter jedoch schwingen zarte Liebesmelodien im Takt einer organischen Verbindung zwischen Sender und Empfänger, die so vermutlich kein anderes Musikgenre herzustellen vermag. Die Weltreise in 21 Städte auf vier Kontinenten zeigt schließlich keine Konzert-, sondern Messebesucher (das zeitgenössische -innen kann man sich getrost sparen; neun von zehn Besuchern sind Männer, aber das stört hier gar nicht weiter).
Vom Start in Mumbai über Perth (Tag 7, 10.924 Meilen) und Tokio (Tag 16, 16.277 Meilen), Los Angeles (Tag 19, 22.073 Meilen) oder Sao Paolo (Tag 31, 28.863 Meilen) bis nach Toronto (Tag 46, 36.192 Meilen) haben Hunderttausende zahlender Gäste nicht nur Eintrittskarten, sondern Himmelsleitern erworben. Ihr kollektives Glücksgefühl wird auch in der zweidimensionalen Fernsehversion jederzeit deutlich. Noch bemerkenswerter ist da nur, mit welcher Demut sechs alternde Prediger der Church of Heavy Metal – schon damals alle über 50 und noch heute auf Tour – die bedingungslose Zärtlichkeit ihrer Fans in klassenlose Energie verwandeln.
Iron Maidens Boing 757, gelenkt von Sänger Dickinson persönlich, kennt keine First Class für eiserne Jungfrauen, nur einen Teamspirit, den die Kameras zwar kaum unbeeinflusst lassen; Heisenbergs Unschärferelation macht schließlich auch an der heiligen Zackengitarre nicht Halt. Aber wie Crew und Band auf Augenhöhe interagieren, wie ihnen die Hingabe des Publikums den Atem verschlägt, wie würdevoll sie dabei ihr schütteres Haupthaar schütteln, altersgemäß „bloody“ statt „fucking“ sagen, vor den Gigs gern Golf spielen, aber abzüglich eigenen Starruhms plus Flieger nicht grundlegend anders drauf sind als vier Generationen entfesselter Fans vor der Bühne – das macht diese Zweckgemeinschaft zur Familie.
Von der darf sich die Welt vorm Stadiontor also ruhig eine Scheibe abschneiden. Zumal die Ed Force One mittlerweile ausgemustert wurde. Nicht mehr nachhaltig genug, hieß es. Iron Maiden aber fliegen einfach weiter. Und weiter. Und weiter. Und weiter. Flight 666 zeigt eindrücklich, warum.
https://programm.ard.de/TV/arte/iron-maiden—flight-666/eid_287244000695085
WeCrashed: CoWorking & Supernovae
Posted: March 23, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentLiebe in Zeiten des Spätkapitalismus
Die großartige Miniserie WeCrashed erzählt vom Aufstieg und Fall der real existierenden Immobilien-Firma WeWork und ihres charismatischen Gründers, belässt es bei Apple+ aber zum Glück nicht bei wohlfeiler Kritik am Blasen-Kapitalismus.
Von Jan Freitag
Eine Supernova ist Anfang und Ende zugleich. Im Moment seiner größten Ausdehnung kollabiert dieser enorm massige Stern mit solcher Strahlkraft, dass ihr Anblick – würde er sich nur wenige Tausend Lichtjahre entfernt ereignen – nicht nur der imposanteste, sondern letzte aller Lebewesen wäre. Rebekah hätte sich also besser mal ein weniger explosives Kosewort ausgesucht, um Adam Neumann zu beschreiben. Zu spät.
Als sie ihren Mann zu Beginn der Apple-Serie WeCrashed mit „du bist eine Supernova“ zur Aufsichtsratssitzung seiner eigenen Firma schickt, dürften aufmerksame Zuschauer schließlich ahnen: es wird seine letzte. Denn am Ende der ersten von acht Folgen ist der CEO des hellsten Sterns am New Yorker Start-up-Himmel schon wieder verglüht. Danach aber erzählt WeCrashed auf Basis des gleichnamigen Podcasts vom Aufstieg und Fall eines realen Immobilien-Unternehmens, das Rebekah und Adam Neumann 2010 aus den Ruinen der Finanzkrise gestampft haben.
Zwölf Jahre vorm schicksalhaften Septembertag 2018 nämlich schicken die Autoren Lee Eisenberg und Drew Crevello ihre Hauptfigur mit dem Rollkoffer durch Manhattan, wo er Babyknieschützer und Wechselhacken verkaufen und den überhitzten Mietmarkt nebenbei mit einer Idee umwälzen: Coworking-Spaces. „Könnte man Ihr Selbstbewusstsein in Flaschen abfüllen“, meint ein potenzieller Geldgeber über sein Konzept geteilter Büroflächen, „wäre ich dabei“. Luftschlösser jedoch wolle er nicht bauen. Offenbar ein Fehler. Oscar-Preisträger Jared Leto spielt Adam schließlich wie das israelische-amerikanische Original als charismatischen Überzeugungstäter, der sich von Rückschlägen nie einschüchtern lässt.
Weder als seine Idee kollektiver Arbeitswelten in rummelplatzartigen Lofts Absagen erntet, noch als ihn die Yogalehrerin Rebekah – mit kerniger Empathie von Anne Hathaway verkörpert – mehrfach abblitzen lässt. In ihr findet der unwiderstehliche Träumer folglich eine Seelenverwandte, die das gemeinsame Luftschloss mit Worthülsen von „Familie“ über „Lifestyle“ bis „Community“ zum Weltkonzern mit 425 Immobilien in 100 Toplagen aller Global Cities aufplustert. Gesamtwert zwischenzeitlich: Rund 47 Milliarden Dollar – Mitte der Zehnerjahre das drittwertvollste Privatunternehmen Amerikas und schillerndster Ausdruck einer kapitalistischen Kultur, die Eisenbergs und Crevellos Regisseure grandios in Szenen setzen.
Was WeCrushed – Deutsch: wir sind zerbrochen – in achtmal 50 Minuten zeigt, ist das Dotcom-Versprechen explodierender Renditen auf Fabriketagen ohne Produktionsmittel. Wie Popstars werden die Neumanns von Beleg- wie Kundschaft gefeiert, wenn sie ihre Lyrik von der ethischen Gewinnmaximierung vortragen. Eine „Share Economy“ genannte Form urbaner Nachhaltigkeit, in der Besitz zugunsten kollektivierter Waren und Räume an Bedeutung verliert – für andere zumindest. Denn bevor Adam die eigene Kündigung kriegt, lässt er sich von Dienstboten im Luxusloft zum Aufwachen seine Bong anzünden, während die jüdische Millionenerbin Rebekah mit dem Helikopter zur Firmensause ins Grüne fliegt.
Weil fiktionale Fundamentalkritik der Klassengesellschaft 2.0 aber schnell öde wird und auch ein wenig wohlfeil, erzählen die Showrunner parallel noch andere Geschichten. Die einer Börsenblase zum Beispiel, in der Autobauer, bei denen kaum Autos vom Band laufen, mehr wert sind als alle deutschen Autobauer zusammen. Die einer Selbstbetrugsbranche, in der ein Kapitalist zum anderen sagt, „ich habe kein Wort von dem verstanden, was Sie grad gesagt haben, aber ich wünschte, ich hätte es als erster gesagt“. Oder die einer vermeintlich emanzipierten Arbeitsatmosphäre, in der Frauen auf „Fuck-Klos“ gefügig gemacht werden.
Noch bedeutungsvoller jedoch ist, dass WeCrashed abseits der sozioökonomischen Stoßrichtung eine wundervoll gleichberechtigte Lovestory erzählt, deren Tonfall das Ende der ersten Folge setzt. Nachdem Adam abgesetzt wurde und bei der Fahrt im Fahrstuhl abwärts so laut schweigt, dass es schmerzt, meint Rebekah „fertig mit Schmollen?“ und fordert ihre Assistentin auf, die Anwälte anzurufen. „Welche?“, fragt die. „Alle!“. Hier erst geht der Kampf richtig los. Es ist einer um Lebenswerke und Liebesbeziehungen, Überzeugungen und Ideale, männliche und weibliche Egos, also den Spätkapitalismus im Ganzen. Und das sehr sehenswert.
Oh Hell: Selbstoptimierung & Selbstbetrug
Posted: March 18, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentFucking Hell!
In der brüllend komischen Magenta-Serie Oh Hell spielt die verblüffend humorbegabte Mala Emde einen Loser, der sich und andere betrügt – oder doch zu aufrichtig ist für die Selbstoptimierungsgesellschaft? Das überlässt Showrunner und Jerks-Autor Johannes Bosse dem Publikum.
Von Jan Freitag
Das Fernsehen ist seit schwarzweißer Zeit voller Hochstapler. Es gibt die großen und die kleinen, die charmanten und die schamlosen, die echten und die falschen, die Krulls und Madoffs, die Kujaus und Lupins. Mit Anna Sorokin gab es zuletzt zwar eine Frau im Betrugszirkus Maximus; meist aber sind es doch Männer, die publikumswirksam betrügen. Auf Helene hat das Fernsehen daher lange gewartet. Zu lange. Weshalb ihm das Streaming abermals zuvorkommt und der sehenswertesten Hochstaplerin seit Erfindung der Täuschung die Bühne bereitet.
Also Vorhang auf für Hell. Besser: Oh Hell! Da das Fake-Leben dieser Fake-Studentin mit Fake-Freunden und Fake-Jobs bei der Anrede stets unausgesprochen Ausrufe des Erstaunens vor sich zieht, sind Serientitel und Hauptfigur ab heute bei Magenta TV quasi deckungsgleich. (Oh) Hell Sternberg, 24 Jahre alt und auf der Karriereleiter noch deutlich unterhalb der ersten Sprosse, ist nämlich ein autobiografisches Desaster, dem die fabelhafte Mala Emde ein gleichermaßen naives wie abgebrühtes Gesicht verleiht.
Denn anders als Papa Günter (Knut Berger) glaubt, sitzt sie Mitte der zweiten von vorerst acht Folgen keineswegs im Audimax, um ihr Staatsexamen abzuholen, sondern im Call-Center, um Gartenartikel zu verkaufen. Und so geht es weiter. Immer weiter. Angefangen bei Rückblenden zur pubertären Gymnasiastin (Romi Pauline Dörlitz), die wegen fortgesetzten Schwänzens beim Psychologen (Roland Bonjour) ist, dort aber das Liebesleben ihrer Eltern („Ich gehe wieder zur Schule, wenn meine Eltern wieder richtig saftigen Geschlechtsverkehr haben, mit dem Penis in der Scheide“) kitten will und sich zur manipulativen Lügnerin ausbildet.
Nichts an Oh Hell, das wird mit jeder von jeweils 25 Minuten pro Episode offensichtlicher, entspricht den Erwartungen anderer, also: aller. Aber „das Tolle, wenn du immer verkackst“, beteuert sie mit gefälschtem Zeugnis auf dem Weg zur eigenen Abschlussfeier, für die ihr Vater überraschend seine Dienstreise absagt: „Du bist unglaublich gut darin, das Verkacken zu vertuschen“. Und so hangelt sich Oh Hell vom Verkacken zum Vertuschen zum Verkacken zum Vertuschen und wieder zurück. Nur: wen sie mehr betrügt, lässt der frühere Journalist Johannes Boss auf ähnlich brillante Art offen, wie in seiner fabelhaften Männlichkeitsstudie „Jerks“.
Mit Dialogen nahe Monty Python und einer Bildsprache Richtung Wes Anderson, also einer realsatirischen Portion Aberwitz, die hierzulande selten ist, zeichnen die Drehbücher des Showrunners nicht nur das tragikomische Bild einer zwanghaften (Selbst-)Betrügerin. Simon Ostermann und Lisa Miller machen daraus ein entwaffnend lustiges Lehrstück über die Mechanik unserer hochglanzpolierten Aufmerksamkeitsgesellschaft, an der grobkörnige Freigeister wie dieser halt traurig oder fröhlich scheitern. Hell entscheidet sich für letzteres. Was für ein Glück.
Während das strahlende Rolemodel Maike (Salka Weber) schon in der Geburtsklinik besser aussah, täglich ein paar Tausend Insta-Follower zwischen sich und ihre Krippenfreundin legt, reihenweise Weltverbesserungsstart-ups hat und einen Freund zum Niederknien, kultiviert Oh Hell mangelnden Geschmack mit Ramschware, plant ein Losergram mit Don’t Likes für Menschen ohne Stil, Freunde und Einfluss, lebt so mittel- wie ideenlos in den Tag hinein und sucht in Laternenpfahlannoncen Anschluss, den sie im dritten Teil sogar findet.
Der schüchterne Musiklehrer Oskar (furios: Edin Hasanovic), dem sie (natürlich) vorlügt, Cello-Virtuosin ohne Praxis zu sein, entdeckt an seiner neuen Schülerin etwas, das sonst niemand in ihr sieht. Und so wird aus dem bizarren Psychogramm nebenbei die aktuell wohl schönste Lovestory im Serienfernsehen von heute – auch, weil zu keinem Zeitpunkt klar wird, ob Helene alias Oh Hell sich das alles nur einbildet oder wirklich erlebt. Und genau hierin liegt die eigentliche Kunst von Johannes Boss, der alle Fragen nach wahr oder falsch im Ungefähren lässt, also Interpretationsspielräume statt Filterblasen öffnet. Was Helene niemals träumt, ist nämlich eine Aufrichtigkeit, die der bürgerliche Kontrollwahn schon vor den sozialen Netzwerken als übergriffig empfunden hat.
Aus seiner Sicht versagt Helene pädagogisch, als sie der siebenjährigen Madlen (Rosa Löwe) im Kindergarten „wenn du später kiffst, achte auf die richtige Musik“ oder „fuck the system and create your own“ mit auf den Weg gibt, aber Kindern, die sie mobben, „noch eine dumme Bemerkung, dann wacht ihr morgen auf und habt Krebs“. Aus humanistischer Sicht begegnet sie Kindern damit auf Augenhöhe. Ob Oh Hell sich selbst betrügt oder andere, ob hier überhaupt irgendwer betrogen wird oder doch nur zur Aufrichtigkeit animiert – das überlässt Boss demnach uns, dem Publikum.
Es gelingt ihm auch mithilfe der Hintergrundmusik von Daniel Strohhäcker und Felix Raffel blendend, die ein wenig so klingt, als hätten Bach und Buxtehude den Soundtrack von Clockwork Orange auf Ketamin im Kinderkarussell komponiert. Er untermalt eine meist brüllend komische, gelegentlich melancholische Figur, die in uns allen steckt, aber von den Konventionen einer ordnungsliebenden Selbstoptimierungsgesellschaft partout nicht rausgelassen wird. „Wenn die Welt eine Vernissage wäre, wärst du ein tolles Exponat“, sagt die Callcenter-Chefin zu Hell, die nach zwei Wochen nur einen Kaktus verkauft hat, weil sie am Telefon halt lieber quatscht als belabert. „Ist sie aber leider nicht“. Schade eigentlich.
Inventing Anna: Sorokin & Delvey
Posted: February 17, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentDie Welt will betrogen werden
Im hochinteressanten Biopic Inventing Anna fiktionalisiert Netflix die reale Millionenbetrügerin Anna Sorokin alias Delvey und fragt neun Teile lang mit lipstickfeministischem Trotz: verdienen wir es nicht anders? Tja…
Von Jan Freitag
Kein Profilfoto mit Falten, kein Insta-Post ohne Farbfilter, kein Wort der Wahrheit, kein Lachen von Herzen. Mundus vult decipi, sagten Lateiner lange, bevor Social Media digitalisiert wurde – die Welt will betrogen werden. Ergo decipiatur, folgt darauf bis heute – dann betrügen wir sie! Zwar ist nicht überliefert, ob Anna Delvey zusätzlich zum halben Dutzend lebendiger Sprachen auch tote spricht. Aber wenn jemand das altrömische Sprichwort bis hin zum Pseudonym verinnerlicht hat – dann die Großbetrügerin aus Deutschland, der halb Amerika auf den Leim gegangen ist.
Geboren 1991 in Moskau, als Russland eine Diktatur war, umgezogen 2007 ins Rheinland, als Putins sie grad erneuerte, zog Anna Sorokin, so lautet ihr echter Namen, mit Anfang 20 über Paris nach New York und fand eine Stadt vor, die um Betrug förmlich bettelte. Also gab ihr Anna Sorokin alias Delvey, was sie wollte, flog höher als alle Hochhäuser, fiel tiefer als jeder Metro-Schacht und lieferte den Stoff einer Realfiktion, die Shonda Rhimes zum Auftakt jeder Episode mit „diese Geschichte ist total wahr“ einleitet, „außer alles, was daran total erfunden ist.“
Geht das? Und wie das geht! Zumindest, wenn sich die Schöpferin stilbildender Serien von Grey’s Anatomy bis Bridgerton der total wahr erfundenen Geschichte annimmt. Zusammen mit Jessica Pressler hat sie deren Magazin-Story How Anna Delvey Tricked New York’s Party People für Netflix in ein neunteiliges Biopic übersetzt. Und ließe sich nicht so gut recherchieren, was darin alles stimmt – vieles wäre zu fantastisch, um wahr zu sein. So wahr, dass selbst die Urheberin dran glaubt.
„Bitches, ich arbeite für meinen Erfolg“ sagt sie zu Beginn in die Polizeikamera, pöbelt „fickt euch“ hinterher und zeigt: hier betrügt jede jeden und alle sich selbst, Titelfigur inklusive. Weil die ehrgeizige, aber erfolglose Reporterin Vivian (Anna Chlumsky) eine Story wittert, nimmt sie Kontakt auf zur inhaftierten Anna (Julia Garner), die der ebenso ehrgeizige, aber erfolglose Anwalt Todd (Arian Moayed) lieber öffentlich verteidigen will, als einen Deal anzunehmen – schließlich brächte der spektakuläre Fall Schwung in seine Berufskarriere und der Angeklagten die Aussicht auf noch mehr Publicity.
Schon früh wird deutlich: Inventing Anna handelt nur vordergründig von der manipulativen Hochstaplerin, die sich als Milliardenerbin ausgibt und New Yorks Boheme im Stil von Mark Twains Novelle The Million Pound Bank Note ohne einen Cent im Gucci-Täschchen um Kleider, Kunst, Luxusgüter erleichtert; dahinter geht es um die Aufmerksamkeitsgesellschaft, die Neidgesellschaft, die Statusgesellschaft, die Profilneurosengesellschaft. Eine Klassengesellschaft massenhafter Individuen auf der Jagd nach Distinktion oder wie es Vivians Informantin Neff (Alexis Floyd) ausdrückt: jeder in New York will „Geld, Macht, Image, Liebe“. Nur die Wahrheit, die will hier niemand.
Ob Anna Objekt oder Subjekt ihrer betrügerischen Energie ist, darauf können sich alle nun volle neun Stunden kurzweiliger Fernsehunterhaltung ihre eigenen Reime machen. Doch je tiefer Vivian mithilfe eines Quartetts abgehalfterter Kollegen ins Glamourdasein der Fake-Erbin taucht, desto mehr sagt Netflix über unsere Zeit aus. Eine Zeit unablässig veröffentlichter Privatsphären, die Blender zu Influencern macht, also aus Parias früherer Gemeinwesen angehimmelte Parvenüs. Doch hier, da emanzipiert sich Shonda Rhimes erneut von Frauenrechtlerinnen der Generation Alice Schwarzer, formuliert die Serie einen Feminismus fernab bloßer Gleichstellungsträume.
Annas Freund Chase (Saamer Usmani) und sein Start-up dienen ja allenfalls als Einfallstore der Ambitionen willensstarker Frauen wie ihre Mentorin Nora (Kate Burton). Überhaupt sind Männer wahlweise Helfer oder Hemmnisse weiblicher Selbstermächtigung – verkörpert durch Alphatiere in Prada-Kostümen, die ihre Interessen ähnlich skrupellos verfolgen wie jene in Boss-Anzügen, aber nicht annähernd so erbärmlich aussehen, wenn sie dabei auf Anna reinfallen.
Obwohl Anna Chlumsky ihre Vivian sketchupmäßig überspitzt, macht das die Serie zur lohnenswerten Feldstudie einer autoaggressiven Konsumepoche. „Anna ist alles, was an Amerika schiefläuft“, sagt eine Staatsanwältin. „Und sie ist noch nicht mal Amerika“. Wer Anna Sorokin alias Delvey, der shondaland angeblich 325.000 Dollar Honorar für die Verfilmung ihrer Story zahlte, stattdessen ist – die Frage zieht sich durch neun Teile und gibt doch keine Antwort außer der, dass unsere Welt betrogen werden will. Ergo decipiatur.
Suspicion: Überwachung & Entführung
Posted: February 10, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a comment
Im Fadenkreuz des liberalen Kontrollwahns
Der irritierende Apple-Thriller Suspicion mit Uma Thurman hetzt uns an der Seite scheinbar argloser Briten unter Entführungsverdacht acht Teile lang atemlos durch die Welt der Überwachungskameras und sozialen Medien.
Von Jan Freitag
1984, das muss man 73 Jahre nach der berühmten Dystopie anerkennen, blickte lang vorm digitalen Zeitalter furchtbar visionär in die Zukunft moderner Überwachungsstaaten. Das London von heute ist George Orwells Version von damals also alles andere als unähnlich. Mit einer Ausnahme: Es hält seine Bürger nicht in Beugehaft freudloser Alltagsroutinen und bei Zuwiderhandlung schon mal hungrige Ratten vor ihre Gesichter. Die gegenwärtige Gedankenpolizei hat bessere Methoden zur kollektiven Kontrolle. Feinere, geschicktere, smartere – garantiert durch Millionen Kameras.
Allein im öffentlichen Raum der britischen Hauptstadt kommen unfassbare 73,3 davon auf 1000 Einwohner – mehr als Peking und Moskau zusammen. Bei aktuell 8.961.989 Londonern, erfassen also gut 650.000 Objektive jeder Art alle, wirklich alle, die sich durch Straßen und Häuser, Geschäfte oder Parks bewegen. Auch Eddie, Tara, Aadesh und Natalie. Nachdem maskierte Kidnapper den Sohn der einflussreichen Unternehmerin Katherine Newman (Uma Thurman) aus einem New Yorker Luxushotel entführt haben, geraten sie schon darum ins Visier der Polizei, weil die vier Londoner zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Und so werden drei davon gleich am Anfang des achtteiligen Apple-Thrillers Suspicion nach ihrer Rückkehr aus den USA festgenommen. Die begüterte Finanzmanagerin Natalie Thompson (Georgina Campbell) bei der eigenen Traumhochzeit. Der mittellose IT-Experte Aadesh Chopra (Kunal Nayyar) im Teppichladen seiner Familie. Die kultivierte Uni-Dozentin Tara McAllister (Elizabeth Henstridge) vor den Augen ihrer Klasse. Als es den Studenten Eddie (Tom Rhys Harries) Ende der dritten Folge vorm Pup erwischt, sind seine Leidensgenossen also längst Teil einer Eskalationsspirale, wie sie die weltweite Paranoia im Jahr 20 nach 9/11 allerorten hervorruft.
Nach getrenntem Verhör des englischen Good Cops Vanessa Okoye (Angel Coulby) mit dem amerikanischen Bad Cop Scott Anderson (Noah Emmerich), wird das Trio tags drauf zwar gemeinsam entlassen. Scheinbar auf freiem Fuß aber lässt es Regisseur Chris Long nicht nur durch die Linsen seiner drei Kameraleute verfolgen; mindestens ebenso oft erscheinen sie auf dem CCTV genannten Arsenal omnipräsenter Monitore westlicher Konsumgesellschaften, die ihre Kundschaft pauschal zu Verdächtigen aller denkbaren Delikte erklären oder einfach süchtig nach Informationen sind.
Nur einer entkommt der allumfassenden Verfolgung filmender Drohnen, ausgerechnet: der Hauptverdächtige Sean Tilson (Elyes Gabel), den wir anfangs als Passagier Richtung Belfast kennengelernt haben, bevor er sich im Stil eines Doppelagenten mit der Lizenz zum kaltblütigen Töten nach London durchschlägt. Spätestens hier wird die stille Jagd der Staatsmacht auf ihre mutmaßlichen Gegner zur wilden Jagd aller gegen alle. Denn je mehr das Hollywood-Remake der israelischen Thriller-Serie „False Flag“ Fahrt aufnimmt, desto unlösbarer verknotet Showrunner Rob Williams ihre Fäden. Denn während die Tatbeteiligung des Quartetts im 400-minütigen Spannungsbogen denkbarer wird, geraten sie auch noch ins Fadenkreuz machtpolitischer Intrigen.
Wie Suspicion von einer klugen Sozialkritik am paranoiden Kontrollwahn liberaler Prägung zum Verschwörungsthriller anschwillt, behandelt er aber auch ein paar Randaspekte von 1984 Baujahr 2021. Soziale Medien etwa, die jedes digitale Raunen durch Links & Likes zur Tatsache aufblasen und Wahrheiten noch schneller zerstören als Existenzen. „Das Geschwätz hört auf, sobald jemand einen Hund beim Bellen eines Mariah-Carey-Songs filmt“, sagt Dozentin Tara zum Rektor, als er sie wegen des Sturms in der Hochschulblase entlassen will. Sie sollte sich irren. Zum Leidwesen der Demokratie, zur Freude des Entertainments.