Die amerikanische Krimiserie Quantico (ab 27. Juli, 20.15 Uhr, Pro7) ist professionell produziert und überaus spannend, hat aber ein Problem: die Macher interessieren sich einen feuchten Kehricht für Inhalte, solange die makellos schöne Optik der Darsteller (Foto: ABC) stimmt.
Von Jan Freitag
Da liegt sie nun inmitten der Trümmer fern des Laufstegs, fern also auch von Makeup, Haarspray, Visagisten und doch strahlend schön wie frisch von Heidis Modelbootcamp: Priyanka Chopra. Sechs Jahre vorm fiktionalen Terroranschlag, der heute Abend auf ProSieben New Yorks ehrwürdige Grand Central Station in Schutt und Asche legt, wurde die indische Bollywood-Queen zur Miss World gekrönt. Jetzt entsteigt Chopras Hauptfigur der Verschwörungsactionthrillerkrimiserie Quantico nach einem Terroranschlag den qualmenden Überresten des zerstörten Bahnhofs und siehe da – die Frisur sitzt, der Lippenstift sowieso, Alex Parrish sieht super aus, auch wenn ringsum alles brennt.
Weil das so ungefähr die Quintessenz des amerikanischen Polizeiserienfernsehens insgesamt ist, prägt sie also auch diesen US-Export für ProSieben, Deutschlands wichtigstem Fernsehimporteur derartig hochglänzender Produkte: In Hollywood wird der Nachwuchs noch so robuster Berufe von Feuerwehr bis forensisches Institut nie nach Qualitäten wie geistiger und physischer Fitness rekrutiert, sondern zunächst mal rein optisch. Kein Wunder, dass es Chopra alias Parrish ins Ausbildungslager des FBI in Quantico gebracht hat; schließlich sehen alle Azubis aus, als hätten sie sich in der Tür zum Model-Casting geirrt.
Das ist in seiner hochglänzenden Berechenbarkeit nur noch lachhaft, aber bekanntlich ein zentrales Wirkprinzip international verkäuflicher Serien vor medizinischem, juristischem, polizeilichem Hintergrund. Dabei ist der auch in diesem Fall gar nicht unspannend: Auf dem Weg zur Bundespolizeischule trifft die (schöne) Alex den (schönen) Simon und vernascht ihn im Auto, bevor sich beide im Kreise (schöner) Mitschüler bei der Begrüßung durch die (schöne) Schulleiterin wiedertreffen. In Zwischeneinblendungen sitzt die schöne Alex jedoch nicht nur brav im Unterricht, sondern schön in der Scheiße, da sie den erwähnten Trümmern des Attentats unverletzt entsteigt und nicht nur deshalb verdächtigt wird, es selbst begangen zu haben. So beginnt ein beliebtes Thrillerspiel: Agentin auf der Flucht vor ihrerseits verdächtigen Kollegen, um in den elf Doppelfolgen der ersten Staffel die eigene Unschuld zu beweisen.
Dank üppiger Budgets ist das gewohnt professionell inszeniert, mit ansehnlichen Effekten versehen und voller Überraschungsmomente, die zwar gern unlogisch, aber – wie im Cliffhanger der Pilotfolge – vielfach überraschend sind. Wäre da nicht die fast schon obsessive Oberflächlichkeit. So integer es auch ist, dass Farbige hier Leitungsfunktionen übernehmen, Schwule offen schwul sein und eine Muslima mit Kopftuch dabei sein dürfen – jeder dramaturgische Twist verschwindet hinter der Optik selbstverliebter Makellosigkeit.
Stets ein Hemdknopf überm Dekolletee zu viel geöffnet, überzuckert dabei besonders die handwerklich limitierte Priyanka Chopra alles mit Schmollmund, der selbst in Schutt und Asche nie hautfarbig um Küsse bettelt. „Sie hatten keinen Kratzer, können also erst nach der Explosion an den Tatort gekommen sein“, wirft ihr ein Ermittler vor. Er kennt offenbar nicht die Präambel im Grundgesetz amerikanischer Polizeiserien: Kratzer haben nur die Bösen.
Stimmt ja, da war doch was, ein seltsames Loch im kollektiven Gedächtnis, das vom Fernsehen bisher nicht wirklich gestopft wurde. Und damit ist weder die redselige Sprachlosigkeit vom Tagsthemen-Korrespondent Wolfgang Jandl nach dem Axt-Angriff im Regionalzug gemeint noch die Stille seiner Tagesschau-Kollegen, als der Amoklauf von München noch lief, geschweige denn die Verlegung der neuen (siebten (letzten (aarrgh!))) Folge von Game of Thrones in den Sommer 2017 gemeint, sondern ein Schlagzeilenlieferant weit älteren Datums: Gladbeck, 1988, das Geiseldrama aus Zeiten, als solch eine Horrormeldung noch nicht nach zwei, drei Tagen von der nächsten verdrängt wurde, die wiederum…
Damals hatten sich deutsche Medien erstmals seit dem Krieg zum integralen Bestandteil eines Schwerverbrechens gemacht, das bislang allen Ernstes unverfilmt geblieben ist. Und nachdem Phänomene wie zuletzt der NSU-Prozess mittlerweile schon mal vor deren Vollendung fiktionalisiert werden können, macht Ziegler Film aus dem tödlichen Bankraub gerade – von Täterseite aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen durchaus marketingtauglich bekämpft – einen Zweiteiler. Mit Zsá Zsá Inci Bürkle als Opfer, die angemessen schön ist fürs Gute, und Sascha A. Gersak als Täter, der adäquat schmierig ist fürs Böse.
Schlecht, aber vielerorts glaubhaft informierten Fotoanalytikern einschlägig verachteter Boulevardmedien zufolge laufen übrigens parallel dazu bereits die Dreharbeiten zu Merkel – Die Schicksalswahl (Sat1) und Gysi – Der Verräter (ZDF), beides natürlich mit Heino Ferch und Veronica Ferres in den Hauptrollen. Beides aber insofern noch nicht spruchreif, weil beide ja eigentlich ständig irgendwas mit Hitler und dessen Folgen drehen.
Die Frischwoche
25. – 31. Juli
Von daher geben wir kurz Entwarnung: Wenn ZDFInfo seinem Namen am Mittwoch durch irgendwas mit Hitler und dessen Folgen übergerecht wird, fehlen Fer(ch)res und Fiktion völlig. Stattdessen wagt der Spartenkanal Neues mit altem Material: Sein Thementag leitet das Tagesthema Rechtsextremismus mit echten Nazis ein, um sodann deren Nachfolger mit Neo davor unter die Lupe zu nehmen. Eine ebenso kluge wie pragmatische Dramaturgie. Ab 12.45 Uhr liefern Bestandsdokus mit Titeln wie Hitlers letzte Wunderwaffe die Grundlage für das, was seine Epigonen heute anrichten. Der Dreiteiler Die neuen Nazis etwa ab 18 Uhr, dazwischen das Wutbürger-Psychogramm zwischen Protest und Extremismus (dazu auch empfehlenswert: die Doku Hassbürger – Zwischen Protest und Extremismus, Mittwoch, 19.30 Uhr, ZDFinfo), gefolgt von zwei NSU-Analysen und Mo Asamungs Reportage Die Arier, in der sich die farbige Journalistin ins finstere Herz weißen Rassenhasses begibt.
Wer einen labilen Magen hat, sollte Mittwoch also nicht von Mittag bis Mitternacht ZDFInfo sehen. Robustere Zuschauer mit genug Freizeit indes kriegen dort die volle Breitseite rechter Gesinnung von eliminatorisch bis, nun ja, auf dem Weg dorthin. Das ist ein echtes Kontrastprogramm zu dem, was Pro7 zur gleichen Primetime aus der Realität macht. Die US-Serie Quantico schildert unterhaltungsfixiert, aber spürbar um Authentizität bemüht einen Fall interner Ermittlungen beim FBI, in dem es um eine Rekrutin geht, die fälschlich für einen Terroranschlag verantwortlich gemacht wird. Das hat schon inhaltlich Mängel bis in jeden mies synchronisierten Dialog. Aber wenn sämtliche Polizisten – vor allem die indische Miss World 2000 Priyanka Chopra (Foto: ABC) als Hauptfigur – einzig nach optischen Kriterien gecastet wurden, ist die 22-teilige Hatz nach der Wahrheit von Beginn an egal. Und man kann sich getrost der echten Realität zuwenden.
Etwa wenn 3sat Brasilien bis Mittwoch in den Programmfokus stellt. Begonnen mit einem atmosphärischen Montag voller Zugfahrten und Fußmärsche durchs Olympia-Land, begibt sich Julien Temples Doku Rio 50 Grad Celsius heute um 22.55 Uhr auf einen Problempfad, den das Straßenkinderporträt Zona Norte morgen (22.45 Uhr) ebenso wenig verlässt wie die Wassermangelreportage Ausgetrocknet am Mittwoch um 21 Uhr. Tags drauf folgt Maybrit Illner Sandra Maischberger in die wohlverdiente Sommerpause, wird aber wie im Winter zuvor mehr als gleichwertig ersetzt durch Dunja Hayali – die im Anschluss an ihren ZDFdonnerstalk (22.15 Uhr) gleich auch noch von Michael Kessler imitiert wird. Bei Kessler ist… wird sich also zeigen, ob die preisgekrönte Journalistin im Selbst- oder Zwiegespräch besser ist.
Und weil sich derzeit auch die besseren Sendeplätze für Spielfilmpremieren im Urlaub befinden, kommen die Wiederholungen der Woche voll zu ihrem Recht auf PR: In Serie zeigt Eins Festival ab Freitag um 20.15 Uhr abermals, wovon Kenner gar nicht genug kriegen: Braunschlag, Bernd Schalkos erschreckend wahrhaftige Provinzgroteske Braunschlag. Ebenfalls in Farbe und von viel altmodischerem Charme, ist Der Millionenraub (Montag, 23.40 Uhr, MDR), eine US-Komödie mit den damals jungen Goldie Hawn und Warren Beatty als Tresorknacker, die den Direktor (Gert Fröbe) einer Hamburger Bank um eine Million Dollar aus illegalen Geschäften berauben, wofür sie deren Täter durch die knallbunte Hansestadt von 1971 verfolgen.
Nicht nur was für Kiez-Nostalgiker. Weitere 40 Jahre älter ist die schwarzweiße Wiederkehr der Scharlachroten Kaiserin (Montag, 23 Uhr, Arte). Josef von Sternbergs Historienepos mit der Dietrich als Katharina die Große schert sich zwar kaum um Dramaturgie und Fakten, war dank der exzentrischen Ausstattung des Regisseurs 1934 aber ein echtes Ereignis. Apropos. Der Dokutipp ist ein exzentrisches Ereignis sondergleichen: Björk!, das Porträt der Popikone von Hannes Rossacher (Mittwoch, 21 Uhr, Eins Festival), der schon den Stones, Kraftwerk, Lindenberg und zuletzt Rammstein (in Amerika) so dicht auf die Pelle gerückt ist, das man fast glaubte, sie zu verstehen. Fast.
Der so genannten Hamburger Schule wurde ja so einiges nachgesagt, wovon wenig schlüssig war: hedonistisch zu sein, aber gleichsam verkopft, stilistisch ebenso progressiv wie regressiv, weil mal indiepoppig, mal schweinerockig, außerdem textlich selbstbezogen und dabei hyperpolitisch, also geiler Scheiß für die Mainstreamnische. All dies stimmte oft, öfters stimmte es nicht, doch falls es überhaupt so etwas wie die Hamburger Schule gab, konnte im Grunde nur eine Band praktisch alles auf sich vereinigten, was man daran liebte und hasste: JaKönigJa. 1994 vom Liebespaar Ebba und Jakobus Durstewitz dort gegründet, wo damals wie heute die alternative Musik in Deutschland spielt, haben sie von Beginn an verträumten Orchsterpunk mit minimalistischer Grandezza vermengt und das auf den ersten fünf Platten genauso hingebungsvoll zelebriert wie auf der neuen.
Auch Emanzipation im Wald ist demnach ein sprudelnder Quell musikalischer Absurditäten. Ein Album, das sich hinter sich selbst versteckt und dabei abermals überragt. Mit gewohnt überreichem Angebot randständiger Instrumente von Mandoline über Posaune bis in die unbekanntesten Register der Hammondorgel oder dem Schlagwerk des ewigen Percussionisten Marco Dreckkötter verwebt Familie Durstewitz ihr Sammelsurium ineinanderlappender Töne zu einer Sinfonie von aufgewühlter Verträumtheit, die Ebbas sanfter Singsang mal aufmischt, mal unterspült. Entscheidend aber ist: Immer dann, wenn das Gefühl aufkommt, das klinge seicht, bricht sich in der Harmonie irgendwas Dystopisches, immer wenn es allzu durcheinander geht, kommt ein geschmeidiges Riff daher, das alles ins Lot bringt. Auf diesem Waldspaziergang gut gelaunter Misanthropie.
JaKönigJa – Emanzipation im Wald (Buback)
Bosco Rodgers
Pilzköpfe, Popstarcodes, Spiegelsonnenbrillen? In Zeiten zunehmend dialektischer Männlichkeit mit androgyn konnotiertem Vollbart lag der Schluss nah, mit dem Reifungsprozess der Gebrüder Liam und Noel Gallagher sei die ironiefreie Schnöseligkeit des Britrock endgültig passé. Aber gilt das nicht generell für soundbegleitende Ästhetik, sobald deren Zenit überschritten ist? Krautrockgitarren und Hammondorgelpeitschen jedenfalls waren ebenso raus wie Blumenleggings und Holzfällerkaro, doch weit gefehlt: Alles längst zurück! Selbst die 60er/70er/80er oder alles in einem wie bei Bosco Rodgers. Das französische Duo würzt seinen Psychobeatsalat mit Dressings vieler Epochen.
Dabei schmeckt er zwar oft ein bisschen wie die Last Shadow Puppets, deren Mash-up sich ebenfalls durch die Jahrzehnte wälzt; allerdings nacheinander. Barthélémy Corbelet und Delphinius Vargas dagegen stopfen alles in alle Songs ihres Debütalbums, jauchzen schon mal ein Woohoo mit Frühlingswiesenpfeifen über verzerrte Surfpunkriffs und erinnern dabei an die Beatles mit so viel Frozen Margarita intus, dass Beach!Beach!Beach! wie BitchBitchBitch klingt und das feministische Gemüt dennoch stillhält. Die Vereinigung zweier EPs samt zweier Netzhits namens GooGoo und French Kiss ist eben einfach zu schmissig. Sind Sommeralben eigentlich zu Neunziger? Egal – hier wäre eins.
Bosco Rodgers – Post Exotic (Bleep Machine)
BadBadNotGood
Zeitreisen sind unmöglich, das lehrt uns Einsteins Relativitätstheorie, der zufolge nichts schneller ist als das Licht, was eine Fahrt gegen die Richtung allen Seins jedoch sein müsste, auch wenn das ohne Promotion in Physik keiner erklären kann. Um in herrlich hedonistische Epochen ungezügelter Fortschrittsfreude zurückzufahren, bedarf es demnach autosuggestiver Methoden. Diese zum Beispiel: Ins Auto setzen (am besten Ford Granada), Tapedeck an (keine CD), Kassette von BadBadNotGood einlegen (kann man sich gegebenenfalls überspielen) und schon brettert man ohne Gurt und schlechtes Gewissen, dafür mit viel Zucker in der Coladose und 80 Pfennig pro Liter Super verbleit eine Serpentine der frühen Siebziger talwärts.
Das neue Album der Experimentaljazzpopper aus Toronto mit dem – angesichts eines weiteren mit Ghostface Killah – irritierenden Titel IV klingt schließlich wie ein Roadmovie der Kategorie C bis D aus nostalgischer Zeit, als man sie mit Koteletten und Kippe im Gesicht noch gänzlich sorglos entlangfuhr. Wenn Leland Whittys Saxofon in Speaking Gently dabei über die psychedelisch flatternden Keyboards von Matthew Tavares weht, wähnt man sich demnach in den Straßen von San Franzisco, die Ära des knallbunten Cool ohne Gewissensbisse, dafür mit viel selbstgerechter Grandezza und fantastischem Sound. Großartig.
BadBadNotGood – IV (Innovative Leisure)
Hype der Woche
Snoop Dogg
Von Gewissensbissen weiter entfernt als Michael Douglas vom Kino seines Vaters ist Calvin Cordozar Broadus Jr., der sich auch 23 Jahre nach dem Durchbruch weigert, nur ein einziges Zeichen der Zeit zu hören. Nach Kurztrips in Reggae und Funk ist Snoop Dogg zum Hip-Hop zurückgekehrt und ehrlich: ist echt egal. Egal, was der Mittvierziger anpackt – es verkauft sich eh. Egal auch, welcher Großproduzent von Timbaland über Just Blaze bis Nottz, Daz, Swizz Beatz gebucht ist – alles klingt wie Hip-Hop klingt, wenn er nicht dem Herzen, sondern Kalkül entspringt: Bis ins kleinste Detail perfektioniert, oft seelenlos. Man könnte es für würdelos halten, wenn sich ein faltenfrei gereiftes Fossil der Generation MTV im Video zum Kiffersong Kush Ups vorm Flügeltüren-BMW zwischen die Wackelärsche halb so alter Hotpant-Chicks stellt und das gleiche Bitches-Niggaz-Weed-Zeugs faselt wie einst, als so was wowowo war; solang es ökonomisch funktioniert – so what?! Oder sind die 20 Tracks auf Coolaid (Ca$h Machine Records)etwa ironisch gemeint, also reifer als Snoop Dogg sich gibt? Ein extrabitchniggaweedfettes Egal obendrauf!
Roland Zehrfeld (Foto: BR) zählt zu den Großen des hiesigen Films, gebucht von noch größeren Regisseuren, allen voran Dominik Graf. Im ARD-Debüt Finsterworld (noch verfügbar in der Mediathek) jedoch spielt der Berliner in Frauke Finsterwalders erstem Langfilm. Warum? Ein Gespräch über junge Filmemacher, autoritäre Kollegen und den Zauber des Teamworks.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Ronald Zehrfeld, sind Sie am Set eigentlich eher Herdentier oder Leithammel?
Ronald Zehrfeld: Weder noch. Dafür finde ich es viel zu spannend, wenn alle zusammen mit ihrer ganzen Vorstellungskraft auf eine Reise gehen, an deren Kommunikation man sich reiben, aber auch wachsen kann. Leithammel und Herdentiere machen das eher langweilig und unergiebig. Ich bin Teamplayer.
Hatten Sie schon Regisseure, bei denen das Teamplay nicht funktioniert hat?
Natürlich, aber nur eine Handvoll. Ich will es auch gar nicht verurteilen, wenn jemand einen eher autoritären Ansatz hat; in meiner Biografie kamen halt nur die interessanteren Filme dabei heraus, wenn es demokratisch zuging.
Ist das Autoritäre eine Angewohnheit renommierter Regisseure, die glauben, aus Erfahrung keine Ratschläge mehr zu brauchen?
Ach, jeder verliebt sich auf seinem Weg doch in eine Arbeitsweise, die ihm liegt und Erfolge bringt. Deswegen ist es am schlimmsten, wenn Regisseure gar keinen Weg haben, beide Methoden also ins Leere laufen. Mangels Erfahrung ist es bei Jüngeren dagegen oft so, dass sie aufs Team geschult sind und sich hinterher manchmal fragen, ob nicht mehr Einflussnahme besser gewesen wäre.
Wie war es bei Frauke Finsterwalder, die mit Ihnen ihren ersten Langfilm gedreht hat?
Sie hatte klare Vorstellungen, ein offenes Ohr, vor allem aber Mut zur Veränderung. Es gab zum Beispiel einen Drehtag, dessen Ergebnis allen gelungen erschien, bis Sandra Hüller und ich eine Idee hatten, es doch zu verbessern. Da hat Frauke nach dem Mittagessen gesagt, wir machen das Ganze noch mal – und es war toll! Frauke weiß genau, was sie will, ist aber flexibel genug, es immer wieder infrage zu stellen.
Kannten Sie sie eigentlich vorher schon?
Nur dem Namen nach, aber vor allem in Kombination mit ihrem Mann Christian Kracht, der ja auch das Buch mitgeschrieben hat.
Achten Sie bei einem Drehbuch darauf, wer es verfasst hat?
Grundsätzlich drücke ich bei jedem Buch auf meinem Tisch die Reset-Taste und beginne vorbehaltlos zu lesen. Es ist natürlich schwer zu ignorieren, ob man den Autor kennt, gar Bücher von ihm verfilmt hat; aber von diesem hier war ich unabhängig von Christian Krachts Beitrag sofort begeistert und interessiert. Ich wollte Frauke unbedingt sofort kennenlernen und erfahren, wie sie das umsetzen will. Und als ich dann später erfahren habe, wer da noch alles mitmacht, Sandra Hüller vor allem, Michael Maertens, gab es keinen Zweifel mehr für mich.
Sie haben zuvor bereits unter Regiestars wie Christian Petzold, Lars Kraume, Matthias Glasner gedreht und zählen zum Stammpersonal von Dominik Graf – worin unterscheidet sich da die Arbeit einer Anfängerin wie Frauke Finsterwalder?
Ich würde es nicht über Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten beantworten: Was gute Regisseure gleich welcher Erfahrung eint, sind Fragen wie: brennen die für den Film? Leuchten ihre Augen? Sind sie gut vorbereitet? Wir groß sind Offenheit, Mut, cineastische Lust? Wer all das über die Jahre bewahrt, als wäre er frisch dabei, zählt für mich zu den ganz Großen.
Woran hat man es darüber hinaus dennoch gemerkt, dass Frauke Finsterwalder unerfahren ist?
Das äußert sich natürlich an der einen oder anderen Unsicherheit im Umgang mit Schauspielern, wo man sich vielleicht manchmal fragt, sag ich jetzt etwas oder lasse ich ihn spielen und gebe ihm Raum. Umso schöner ist es, wenn das Team dann zusammenrückt, um gemeinsam Lösungen zu finden, die den Erfahrungshorizont aller erweitern. Deshalb weiß ich genau: Frauke wird ihren Weg machen.
Wobei ihr Debütfilm eher klassisches Autorenkino ist, während die Zukunft von Film und Fernsehen angeblich doch im Writersroom liegt, mit diversen Schreibern und Regisseuren. Was bevorzugen Sie?
Das lässt sich schwer verallgemeinern. Aber ich schätze es sehr, wenn alle Beteiligten an der Entwicklung eines Stoffes mitwirken können und dafür auch die nötige Zeit bekommen. Das ist unter den aktuellen Produktionsbedingungen zwar immer schwieriger, aber besonders die großen Serien zeigen ja, dass wieder mehr in die Breite geplant wird, hin zu komplexen Stoffen mit viel Fantasie und Aufwand. Auch in der totalen Demokratie muss zwar irgendjemand am Ende Entscheidungen treffen, aber Vielschichtigkeit gibt’s selten im Alleingang. Fraukes Film mag also ein Stück Autorenkino sein; im Ergebnis ist es Gemeinschafsarbeit.
Wo ordnen Sie die in ihrer langen Filmliste ein?
Ganz weit oben, definitiv. Der Film ist ein absolutes Geschenk. Ich wünsche mir mehr Mut der Verantwortlichen, so was zu realisieren; und der ist auch da, das spüre ich. Es gibt zwar immer wieder Redakteure, die sich wegen des Bildungsauftrags beschweren, wenn mal einer im Auto nicht angeschnallt ist oder so. Aber es geht um die Realität, wie sie ist, nicht wie sie sein sollte. Leben ist nie schwarzweiß und Film kann das zeigen. Dieser hier auf jeden Fall!
INFO Zehrfeld
Wäre die Mauer nicht gefallen, Roland Zehrfeld hätte es vielleicht zum Judo-Olympiasieger gebracht. 1989 jedoch brach die Sportkarriere des zwölfjährigen Ostberliners ab und er wandte sich nach Zivildienst, Germanistikstudium und einem Theaterworkshop der Schauspielerei zu. Nach seiner Entdeckung durch Peter Zadek blieb er der Bühne lange treu, bis Dominik Graf ihn vor die Kamera holte, wo er im Mauerbau-Drama Der Rote Kakadu 2006 seinen Durchbruch feierte. Auch danach drehte er viel mit seinem Lieblingsregisseur, etwa dessen Serie Im Angesicht des Verbrechens. Zuletzt gewann Zehrfeld für seine Rolle als Staatsanwalt in Der Staat gegen Fritz Bauer den Deutschen Fernsehpreis als bester Nebendarsteller. Der Vater einer Tochter lebt in Berlin.
Weil wir zur Nachrichtenlage zwischen Putsch, Terror und Rassismus hier jetzt auch nichts Erhellendes beitragen könne: on statistics! Das Dortmunder Medienforschungsinstitut Formatt, vermutlich eher Experten als Publikum bekannt, brachte es vorige Woche auf den Punkt: im Studienzeitraum 2014 wurden mit rund 117.000 Minuten Fernsehprogramm etwa 33.000 weniger produziert als im Jahr zuvor. Weil zugleich weit mehr kostengünstige Unterhaltungsformate hergestellt wurden als Serien und Filme, sank der Anteil fiktionaler Formate erstmals unter 20 Prozent. Nun sagen Zahlen allein noch nichts über Inhalte aus; wer aber am Mittwoch in den Genuss der Programmpräsentation von ProSiebenSat1 kam, wo das saisonale Angebot wie jedes Jahr um diese Zeit in Hamburg mit Köstlichkeiten vom Grill und PR-Personal auf halsbrecherischen Highheels serviert wurde, dem dröhnte all die Theorie plötzlich sehr praktisch in Auge, Ohr und Nase.
Auf den sechs Kanälen der kommerziellen Sendergruppe gibt es bis tief in den Winter hinein vor allem dreierlei: viel Lärm um wenig, vorwiegend billige Dokusoaps mit erniedrigungsbereiten Protagonisten und einen Blockbusterplatzregen, der nur bei abgeschaltetem Ton kollektivem Tinnitus vorbeugt. Simone Thomalla begutachtet Tattoos, Jack the Ripper rippt auf Deutsch, Foodtrucks ergänzen die Showküchen, das Herzblatt kehrt zurück, Promis spielen Darts, FBI-Agenten gibt’s ausschließlich vom Laufsteg und damit all das nicht durch lästige Realität gestört wird, lagert Kabel1 Informationen an einen Doku-Kanal aus.
Schöne neue Fernsehwelt. In der für Debütfilme mit Niveau dummerweise nur die billigen, also abseitigen Plätze zur Verfügung stehen.
Die Frischwoche
18. – 24. Juli
Dass Frauke Finsterwalders fabelhaftes Erstlingswerk Finsterworld Dienstagnacht um 23 Uhr im Ersten läuft, ist nicht nur respektlos, sondern angesichts der hinreißenden Kreativität des Episodenmosaiks schlicht Blödsinn. Corinna Harfouch und Bernhard Schütz spielen darin zwei Yuppies, die im protzigen Mietwagen ihre Großartigkeit feiern, während der verwöhnte Sohn auf Studienreise ins KZ die Existenz seines idealistischen Lehrers (Christoph Bach) zerstört, derweil Sandra Hüller als Sachfilmerin daran scheitert, die Realität der Unterschicht abzubilden und die ihres Mannes (Roland Zehrfeld) hinzunehmen, der seine Polizeiuniform gern mit Plüschtierkostümen tauscht. Wenn Fußpfleger Michael Maertens seiner Angebeteten dann noch Kekse aus Hornhaut backt und ein Einsiedler wahllos auf Autos schießt, wirkt das lose montiert, skizziert aber die Verlorenheit unserer Gesellschaft, wie es nie zuvor jemand wagte. Was für ein Debüt!
Apropos: Kurz vorm 1000. Tatort feiert der SWR die Reihe ab Mittwoch mit einer nostalgisch schönen Rückschau auf die ersten Fälle aktueller Ermittler (und dem pensionierten Wein-Junkie Bienzle). Angefangen mit Lena Odenthal 1989 geht die Zeitreise vom Bodensee über Köln, Hannover, Münster nach München weiter zu Lannert/Bootz nach Stuttgart. Die wahren Krimis aber spielen sich bekanntlich ohnehin in der Realität ab. Das zeigt der morgige Arte-Schwerpunkt zum Thema Geheimdienst eindrücklich. Angefangen mit der Doku Schattenwelt BND und einer über die Nazi-Verstrickung in selbigem danach, zeigt der Kulturkanal fünf Stunden lang, wie wichtig es ist, staatlicher Fürsorge gegenüber stets wachsam zu sein.
Einer, für den das fast zeitlebens galt, heißt Gregor Gysi. Die Angriffslust seiner Gegner hatte aber natürlich auch mit dem streitbaren Geist des Linken-Politikers zu tun, der bis heute reichlich Angriffspunkte für alle bietet und somit die ideale Projektionsfläche für Persiflagen. Zum Auftakt der neuen Runde von Kessler ist… schlüpft der Verwandlungskünstler Michael K. in Gysi hinein und befragt sich am Ende gewissermaßen selbst, was auch auf besserem Sendeplatz (Donnerstag, 23.15 Uhr, ZDF) ungebrochen erhellend ist. Das ist gewissermaßen auch die Sportpolitik des gleichen Senders. Ein irrelevantes Testspiel der Bayern gegen das Milliardärsspielzeug Manchester City am Mittwoch live zu zeigen und beiden Clubs die Taschen somit immer weiter und weiter und weiter zu füllen, ist nichts weiter als illegitimes Product Placement im Dienste der eigenen Champions-League-Rechte. Lausig, lausiger, ZDF.
Von derart berechnender Kommerzialisierung kann eigentlich nur noch The Substance ablenken, der 3sat im heutigen Dokutipp (22.25 Uhr) nachspürt: LSD. Wobei es die Erfindung des Schweizer Chemikers Albert Hofmann anfangs sogar besser mit seinen Nutzern meinte als das ZDF zuweilen mit den seinen. Die schwarzweiße Wiederholung der Woche von 1957 ist übrigens nur 14 Jahre älter als Hofmanns Halluzinogen: Antonionis neorealistisches Meisterwerk Der Schrei (Mi, 1.55, ARD) macht aus dem ziellosen Herumirren eines verlassenen Italieners eine Art Kammerspiel im öffentlichen Raum.
Gleich um die Ecke spielt die Farbempfehlung Der Göttliche (Montag, 23.25 Uhr, WDR). Sie zeichnete 2008 ein groteskes, aber präzises Porträt des siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, dessen Mafiakontakte in ihrer Offensichtlichkeit sprachlos machen. So wie Benedict Cuberbatchs Durchbruch aus dem Jahr 2004, als der spätere Sherlock in Die Suche nach dem Anfang der Zeit (Dienstag, 20.15 Uhr, ServusTV), den jungen Steven Hawking an der Grenze zur Brillanz verkörperte.
Aus einer Stadt zu kommen, die Ravensburg heißt, meint eine Band die offenbar aus Ravensburg kommt, sei gar nicht so schlimm. Schließlich sorge schon das Herz des Stadtnamens Ravensburg für Anziehungskraft: Raven. Nun haben Von wegen Lisbeth wirklich nicht das Geringste mit dem technoiden Bezug des Wortes am Hut. Aber wenn grundsätzlich analoge Popmusik je die enthemmte Ausgelassenheit berauschter Raves im Wesenskern trug – dann diese. Grande heißt das Debüt der fünf zuckersüßen Hauptstädter (die zumindest dauernd Berlin im Text erwähnen), und dieser Titel ist angesichts der hinreißenden kleinstädtischen Großstadtpoesie zu bisweilen größenwahnsinnigen Arrangements voll überfrachteter Bläsersequenzen, Atariflächen, Steeldrums, gar einer E-Harfe und auch sonst übergroßem Gehabe absolut angemessen.
Schon das Eröffnungsstück mischt Metropole und Provinz mit so grandioser Nonchalance, dass man darauf glatt eine Ravensberliner Schule bauen könnte. “Schlaf auf jedem Klo mit jedem Typen den du willst”, singt Matthias Rohde da mit seiner aufgeweckten Stimme im sedierten Superpunk-Stiel, wähl’ die AfD, geh boxen, sei ein Arsch, “mach, was du willst, aber bring nie wieder deine neuen Freunde in meine Kneipe”. Stimmt, geht gar nicht, Fremde in meinem Terrarium und dann noch welche, den endemischen Arten wir meiner nicht passen. Diese windschiefe Geradlinigkeit urbaner Existenzen bringen Wir sind Lisbeth fast so toll auf den Punkt wie Ja, Panik und Bernd Begemann. Mit einem Sound, der zu fast jedem Zeitpunkt Spaß bereitet, ohne beliebig zu sein, voller Preziosen wie “Ich hab 99 Probleme und du bist jedes davon”. Herrlich!
Von wegen Lisbeth – Grande (Columbia)
Woodkid & Nils Frahm
Das Dilemma aller Pianisten überall ist: Wenn sie nicht gerade Stilettos zum Minikleid tragen wie Yuja Wang, selbstverliebte Rampensäue sind wie Lang Lang oder Kölner Konzerte geben wie Keith Jarrett, führen viele ein Dasein im Schatten großer Meister. Da die Klassikbranche nun ohnehin nicht für Innovationsfreude bekannt ist, haben es neue Arrangements ohnehin schwer. Es sei denn, man geht sie so feinfühlig, so wuchtig an wie Nils Frahm. In zwei Dutzend Platten und Kollaborationen hat der Hamburger seine Klaviertöne mit moderner Technik zu einer Art zeitgenössischem Traditionalismus verdichtet, der die Grenzen von U und E auflöst.
Nun vertont er an der Seite des interdisziplinären Superpatheten Woodkid einen Kurzfilm über New Yorks frühere Flüchtlingsschleuse Ellis Island. Wo will dieses raunende Klangkonvolut aus tropfendem Klavier, flächigen Synths und Robert De Niros Off-Stimme hin, wo kommt es her, was ist das überhaupt? Seine Antwort: Ellis will weder Soundtrack sein noch Album, sondern vertontes Empfinden dessen, was menschlich ist in unmenschlicher Lage – also weniger Musik als Dasein. Ellis erklingt nicht, Ellis lebt. Und zwar so, dass es der Bilder dazu kaum bedarf. Eindrücklicher ist selten jemand aus dem Schatten anderer getreten.
Woodkid & Nils Frahm – Ellis (Erased Tapes)
Nonkeen
Wobei man dazu dringend erwähnen muss, dass wohl kaum jemand eifriger aus seinem eigenen Schatten springt als eben dieser Nils Frahm. So oft variiert der Mittdreißiger seine Mischung aus Klassik und Moderne, dass man mittlerweile den Klappentext fast jeder Platte jenseits von Speed Metal einmal kurz durchlesen sollte, um auszuschließen, dass er nicht doch irgendwie seine Finger darin hat. Erst im Frühjahr kam ja das Resultat einer richtigen Band namens Nonkeen auf den Markt, die Frahm kurz zuvor an der Seite seiner Freunde Frederic Gmeiner und Sepp Singwald gegründet hatte, mit ersterem am echten Bass und letzterem am wahrhaftigen Schlagzeug.
Und irgendwie scheint das eingespielte Repertoire aus jazzigem Postrock und psychedelischer Electronica vom Februar 2016 einiges an verwertbarem Überfluss kreiert zu haben. Denn kein halbes Jahr später legt das Trio bereits den Nachfolger von Oddments vor, ergänzt um …Of The Gamble. Es ist wie der Vorgänger ein irritierendes Werk experimenteller Rock-Dekonstruktion, in dem man ständig auf der Suche nach Struktur und Ordnung ist. Wer sich jedoch hoffnungsfroh an wirren Tonkaskaden wie kassettenkarussell vorbeischlängelt, stößt auf taktsichere Synthieflächen wie diving plattform oder Krautreminiszenzen à la glow, die einfach ungeheuer angenehm reinlaufen ins Ohr. Schattensprungmusik vom Feinsten.
Nonkeen – Oddments Of The Gamble (R&S Records)
Hype der Woche
The Avalanches
16 Jahre sind eine Ewigkeit. Vor 16 Jahren hatten Rechner Bildschirme in Quadratform, Handys Tasten zum Telefonieren und Musikfans Regale voll Tonträger aus silbrigem Plastik oder einem seltsam schwarzen Zeug, das zu Knistern begann, wenn man es so oft benutzte wie The Avalanche. Zum Start des Millenniums veredelten die Australier einen Stil, der schon damals überholt war wie Postkarten: Turntableism. Aus 3500 Vinylsamples bastelten Robbie Chater, James Dela Cruz und Tony Diblasi seinerzeit ein Debüt, dessen Welterfolg Jägern und Sammlern der dritten Vinylgeneration von C2D bis Birdy Nam Nam die Wege ebnete. Zwei digitale Revolutionen später kehren The Avalanche nun mit gleicher Technik zurück, und selten hat eine Band länger fürs zweite Album gebraucht, selten klang es mehr wie zuvor, selten war das egaler. Denn wenn das Rapduo Camp Lo nun Honey Cones Philly-Hit Want Ads in Because I’m Me mit Big Beat anfettet und Frankie Sinatra durch schwarzweißen Calypso und bekifften Hip-Hop zur Synthie-Oper wird, vibriert jede Faser im Leib – so unterhaltsam, kreativ, so sprudelnd ist Wildflower. Alles schon da gewesen? Kein Problem! Nachdem die 90er grad mit Blumenleggings und Eurodance recycelt werden, stehen die 00er ohnehin in den Startlöchern. Mit The Avalanche an der Spitze.
Mit frischen Hipster-Reportern wie Thilo Mischke und schwiegermüttertauglichen wie Stefan Gödde wagt sich ProSieben gerade erstmals in die Problemzonen der Welt. Den Weg vom spaß- zum erkenntnisdurstigen Plastikkanal hat aber ein anderer bereitet: Aiman Abdallah (Foto@Pro7), dessen Dauerbrenner Galileo nun volljährig ist. Ein Gespräch über Verantwortung im Infotainment, Politik bei den Privaten und Abdallahs Migrationshintergrund.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Abdallah, nach fast 4000 Sendungen plus Specials und Spin-Offs – gehen Galileo mit der Volljährigkeit irgendwann die Themen aus? Aiman Abdallah: Dafür ist die Welt zu vielfältig und unsere Neugier zu groß, um alle Fragen je gestellt, geschweige denn beantwortet zu haben. Allerdings gehen wir ähnliche Fragestellungen im Laufe der Jahre immer wieder mit neuen Schwerpunkten und Techniken an. Beschränkend könnte wirken, dass die Themen der Info- und Wissenschaftsformate von ProSieben besonders visuell sein müssen, also dramaturgisch gut aufzukochen?
Zu Beginn stand es tatsächlich im Vordergrund, was sich wie visualisieren lässt. Weil unsere Möglichkeiten da aber auch personell enorm gewachsen sind, gibt es kaum Themen, mit denen das nicht machbar ist. Aber es ist auf diesem Sendeplatz in der Tat wichtig, dass Information und Entertainment in einem guten Verhältnis stehen.
Und da gibt es keine Unwucht in Richtung Unterhaltung?
Es ist immer eine Gratwanderung, aber unterm Strich sollte Gleichgewicht herrschen – und der Erfolg zeigt, dass wir hier richtig liegen.
Auswahl und Aufbereitung vieler Themen erinnern an den Slogan eines Technikkaufhauses: Hauptsache ihr habt Spaß! Gibt es eine Schwelle der Verantwortung, die „Galileo“ mit seinen sorglosen Anleitungen zum Grillen, Rasen, Mann sein unterläuft?
Wir sind uns der Verantwortung sehr bewusst, recherchieren sauber, sorgen journalistisch für Mehrwert, also nicht nur Hauptsache Spaß. Aber ohne geht‘s um diese Urzeit eben auch nicht. Mit Spaß lernt sich‘s besser, sonst wird es schnell Schulunterricht. Mit Spaß kann man den Wissensdurst unser Zuschauer wecken; komplett stillen kann man ihn nicht.
Andererseits strahlt das Format eine Fortschrittsgläubigkeit aus, die angesichts von Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit vielfach verstört.
Wir müssen und wollen am Puls der Zuschauer sein. Wenn es sie interessiert, wird ein Thema durchleuchtet; wir können ja nicht am Publikum vorbeisenden. Relevanz bedeutet für uns, nah an den Menschen, ihrem Leben, ihrem Alltag zu sein. Und dazu gehören natürlich auch Themen wie Umweltzerstörung bzw. Ressourcenknappheit – unter anderem während Green Seven 2016: Save the Water.
Politik scheint dennoch eine eher untergeordnete Rolle zu spielen oder?
Tagesaktuell nicht. Wir wollen schon erklären, wie TTIP oder Milchpreise zustande kommen. Und an einem Schwerpunkt zur Türkei oder der interaktiven Doku Du bist Kanzler kann man sehen, dass Politik für uns eine Rolle spielt.
Gilt das auch für politisch heikle Themen wie Flüchtlingskrise und Pegida?
Zu Beginn der Flüchtlingskrise hatten wir einen Reporter vor Ort, der die Wege der Flüchtlinge nachverfolgt hat. Und zur AfD haben wir das Parteiprogramm unter die Lupe genommen.
Zumal Alexander Gauland einen Deutschen mit ausländischen Wurzeln wie Sie nicht als Nachbar will.
(Lächelt süffisant) Wer einen Boateng nicht als Nachbar will, will auch keinen Abdallah, aber gottseidank denkt ein Großteil der Menschen da anders.
Spielt ihre Herkunft im Alltag nach so langer Zeit vor der Kamera noch eine Rolle?
Ich wünsche mir natürlich, dass sie keine spielt, und danach lebe ich auch. Schließlich sollte man Menschen nach ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit beurteilen, nicht nach Hautfarbe oder Religion.
Ist das Wunschdenken oder die Realität?
Es ist so real, dass ich manchmal überrascht bin, wenn mich jemand wie Sie jetzt auf meinen Migrationshintergrund anspricht. Das es in meinem Arbeitsumfeld und Freundeskreis keine Rolle spielt, ist jedenfalls kein Wunschdenken. Ich wünsche mir für noch viel mehr Menschen als mich, dass das auch in deren Alltag Realität wird.
Als Sie Ende der Neunziger Galileo moderiert haben, waren Moderatoren mit dem ominösen „Migrationshintergrund“ eine absolute Ausnahme. Wäre das auch bei einem anderen Sender als ProSieben gegangen?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Sender mich wegen des überzeugenden Castings, nicht meiner Biografie wegen genommen hat. Aber was Weltoffenheit und Toleranz betrifft, war ProSieben schon immer ein Vorreiter.
Andererseits wird ihm seit jeher ein gewisser Unernst vorgeworfen.
Wissen Sie, es gibt nichts Schöneres als die Begeisterungsfähigkeit der eigenen Kinder, dieses Funkeln in den Augen, auch bei Erwachsenen zu erzeugen. Wenn wir ein Stück dieser Sehnsucht nach Leichtigkeit stillen, sind wir einen großen Schritt weiter. Nennen Sie den Unernst doch einfach einen positiven Blick in die Welt.
Werfen Sie den als Zuschauer mit oder bevorzugen Sie privat Arte?
Ich sehe vieles überall, oft mit dem professionellen Auge. Und als Serienfan streame ich einiges im Netz, bin aber auch bei ProSieben sehr gut aufgehoben.
Wie lange werden Sie das denn als Moderator nach bald 20 Jahren noch sein?
Über „Galileo“ hinaus mache ich auch Formate wie Big Pictures am Samstagabend, das ist der Traum jedes Fernsehmoderators, die Königsdisziplin. Ich bin also sehr dankbar für all die Möglichkeiten, mich auszuprobieren. Da frage ich mich: „Wenn ich hier alles machen kann, was ich machen will, was soll ich dann woanders?“
Gab es je Anfragen von der Konkurrenz, womöglich gar der öffentlich-rechtlichen?
Das möchte ich nicht vertiefen, bin aber bei ProSieben in diesem Genre sehr glücklich. Als ich 1998 zum Sender kam, stand er für Serien und Blockbuster; ich durfte da ein völlig neues Gebiet aufbauen. Wenn Leute um die 30 auf mich zukommen und sagen, ich hätte sie ihr Leben lang begleitet, macht mich das unglaublich stolz.
Gab es in Ihrem Leben eine lineare Entwicklung hin zum Moderator von Wissensfernsehen auf ProSieben?
Ja, das hat aber nichts mit dem Chemie- oder Physikunterricht in der Schule zu tun, sondern mit einer gewissen Neugier, die auch alle anderen Mitarbeiter von Galileo haben müssen.
Wollten sie die mal mit einem Thema befriedigen, das vom Sender unerwünscht war?
So, nach vier Wochen Fußballdruckbetankung mit 30 Millionen Zuschauern des französisch-deutschen Halbfinales und gut halb so viele bei Wales gegen Portugal können wir nun endlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Für Suchtopfer hält sie zwar zunächst einen Wochenbeginn auf Entzug bereit. Um ihnen zumindest theoretisch ein bisschen Stoff nachzureichen, passen wir an dieser Stelle aber noch kurz vier Fragen abseits vom grünen Rasen in den freien Raum, deren Antworten die Faszination des Fußballs etwas klarer machen würde: Wieso lassen sich all die schicken, coolen, berlinmittigen Hipster-Models, die im Werbefernsehen andauernd mit Deutschlandtrikot ausrasten, nie zwischen den nicht ganz so schicken, coolen, berlinmittigen Durchschnittsbesuchern realer Fan-Feste blicken? Weshalb klingen sämtliche WM- und EM-Songs stets, als säße Xavier Naidoo mit Magenkrämpfen auf Peter Maffays Klo? Warum sehen die Bolzplatzkicker*innen im Respect-Spot der Uefa aus wie Sexroboter? Und war die Bandenreklame für Aserbaidschans Tyrannei eigentlich bereits ein PR-Feldzug für die Ausrichtung 2024 oder nur ernstgemeinte Produktinformation?
Das wäre doch mal ein Debatten-Thema, mit dem die Bild-Zeitung ausnahmsweise seriös Aufmerksamkeit erzielen könnte, statt ewig nur mit ihrer Mixtur aus Boulevard und Eigenlob, die das Springer-Blatt gerade abermals auf den zweiten Platz der meistzitierten Zeitungen im Land gerüpelt hat. Nur, dass Kai Diekmann die Originalbaupläne des Vernichtungslagers Auschwitz illegal außer Landes bringen ließ, hat sein Blatt gewiss nur zu erwähnen vergessen…
Erwähnenswert wäre noch die sensationelle Neuigkeit aus dem WDR-Rundfunkrat, dass die unendliche Geschichte, pardon: Lindenstraße um zwei weitere Jahre bis 2019 fortgesetzt wird. Auch nach den Staffeln 33 und 34 ist ein Ende allerdings außer Sicht. Es geht einfach immer und immer und immer weiter. So wie es eben einfach immer und immer und immer weitergeht mit dem TV-Dauerbrenner Nationalsozialismus.
Die Frischwoche
11. – 17. Juli
Wer nun glaubt, die Themen könnten da ausgehen, kann sich am Samstag zur besten Sendezeit davon überzeugen, wie viel Stoff noch unerzählt ist. Der Traum von Olympia mag zwar ein ausgewalztes Feld beackern. Florian Hubers Dokudrama über Die Nazi-Spiele von 1936 jedoch wählt einen echt eigentümlichen Ansatz zur Illustration der NS-Propagandashow.
Mit Wolfgang Fürstner und Gretel Bergmann porträtiert er darin den linientreuen Chef des Olympischen Dorfes und die jüdische Weltklassehochspringerin, die beide am Rassewahn der Nazis zerbrechen – was für ersteren im Freitod endet, weshalb ihn letztere um mittlerweile 80 Jahre überlebt hat. Und das Archivmaterial zu den angenehm dezenten Spielszenen ist vor allem dann umwerfend, wenn etwa eine Ansagerin „alle Volksgenossen und Volksgenossinnen in den Fernsehstuben Großberlins mit dem deutschen Gruß“ begrüßt, während die Jugend der Welt ringsum feiert, als seien die Nazis ja eigentlich doch ganz okay. Die seifige Bruttigkeit des Genres vermieden, mit Wahrhaftigkeit überrascht – so darf der Nationalsozialismus gern TV-Thema bleiben. Immer und immer und immer wieder.
Derweil testet das Programm zwischen EM und Olympia kurz ein paar mehr oder minder innovative Erstausstrahlungen. ProSieben etwa schickt Thilo Mischke ohne journalistisches Handwerkszeug, aber mit lässigen Sneakers montags um 22.15 Uhr unter Ganoven wie japanische Mafiosi, die er dem Titel nach Uncovered, tatsächlich aber nur mit maximalem Thrill und verstörender Naivität vorführt. Arte startet Sonntag um 21.45 Uhr seinen jährlichen Summer of … diesmal Scandals. Zum Auftakt mit der italienischen Pornopolitikerin Cicciolina, die Anfang der 90er den Boulevard mit viel nackter Haut zum Sabbern brachte.
Noch weiter zurück in der Zeit reist die Mystery-Serie Stranger Things um ein vermisstes Kind im Jahr 1983, das Netflix am Freitag mit der immer noch hinreißenden Winona Ryder streamt. Tags zuvor startet der britische Achtteiler No Offense mit gleich drei ruppigen Ermittlerinnen im robusten Manchester auf ZDFneo. Das Nischenhighlight aber läuft heute im ZDF: Um 23.50 Uhr erzählt Cem Kayas Doku Remake, Remix, Ripp-Off die bizarre Story des türkischen Kinos der 60er und 70er. Unterm Namen Yeşilçam wuchs es seinerzeit mit Billigkopien bekannter Formate von Enterprise bis Supermann zur weltweit bedeutenden Filmindustrie – deren knisternde Dilettantismus heute fast ebenso erstaunt wie die Blüten des US-Präsidentschaftswahlkampfs, dem Arte Dienstag ab acht einen Themenabend widmet.
Und sonst? Gibt‘s feine Wiederholungen der Woche! Samstag zum Beispiel Ridley Scotts stilbildendes Roadmovie Thelma und Louise anno ‘91 mit Susan Sarandon und Geena Davis auf der Flucht und einem gewissen Brad Pitt in einer sexy Nebenrolle. Mittwoch zuvor (23.30 Uhr, BR) ist Martin McDonaghs Gangstergroteske Brügge sehen… und sterben? mit Colin Farrell als depressivem Killer auf der Abschussliste zu empfehlen. Schwarzweiß brilliert John Wayne heute (23.30 Uhr, NDR) als Siedlerschutz im Finale von Glen Fords legendärer Kavallerie-Trilogie Rio Grande von 1950. Und dokumentarisch ratsam: Guns N’Roses, das Bandporträt der gefährlichsten Band der Welt, Sonntag, 20.15 Uhr, auf Arte, mehr aber noch die famose Punkwurzelbehandlung Keine Atempause über die Ursprünge des deutschen Punk im Ratinger Hof, heute im WDR (23.50 Uhr).
Wie begeisterungsfähig Nordeuropäer wider alle Klischees sein können, erschließt sich nicht nur vorurteilsbehafteten Südeuropäern zurzeit ganz gut in Frankreichs Stadien. Je weiter man das Mittelmeer hinter sich lässt, desto ekstatischer werden die Leute. Welcher Sound für, sagen wir: Island steht, hätte man jedoch auch nach dem euphorischen EM-Auftritt der Eingeborenen mit Dreampop, Ambient, Electronica beantwortet. Zugeknöpftes Zeugs also. Aber Funk? Aldrei! würden da selbst Betroffene verneinen. Bis auf Júniús Meyvant. Der hat ihn ja, den Funk, wie sein Debütalbum Floating Harmonies belegt. Wobei ihn der junge Skater von den Westmanninseln weniger besitzt, als erobert.
Und welche Wucht das entfaltet, hat der Cockney-Rapper Plan B ebenso gezeigt wie sein deutscher Kollege Jan Delay. Ihr Funk versucht sich gar nicht erst an dessen tief empfundener Innerlichkeit. Er kocht auf mittlerer Flamme gar, bis daraus ein Pop wird, der bei aller Tanzbarkeit zum Denken anregt. Auch der von Meyvant alias Unnar Gísli Sigurdmundsson transponiert das Virile afroamerikanischen Ursprungs eher kopf- als bauchgesteuert in die Mitternachtssonne. Synkopischer Bass, verschwitzte Bläser – alles dabei. Aber ebenso ein Schuss nordischer Reserviertheit, der das Ganze so schön spannend macht.
Und um nochmals bei der Atmosphäre zu bleiben, die das winzige Inselreich gerade interkontinental emittiert hat: Das südpolare “Huh” der fußballbegeisterten Massen, also nahezu jedes Insulaners, hallt auch knapp eine Woche nach dem Viertelfinal-Aus gegen Frankreich weiter wie ein Soundtrack europäischer Völkerverständigung durchs Netz. Dass diese liebenswerte Kernigkeit allerdings keine Ausnahme vom wächsernen Minimalismus der örtlichen Popszene zwischen Sigur Rós und Björk ist, zeigt eine richtige Band mit richtigem Sänger zu richtigen Instrumenten, die alles andere als lieblich klingt, ohne dabei allzu kernig daherzukommen. Sie heißt Fufanu und macht eine Art technoiden Noiserock, das jedes beseelte Brüllen ihrer Landsleute zum Wiegenlied macht.
Als Techno-Duo gestartet, haben sich Frontmann Kaktus und sein programmierender Gittarist Guðlaugu zu einem Quintett erweitert, das voriges Jahr ein wenig beachtetes Debütalbum herausgebracht hat – bis Blur-Kopf Damon Albarn seine Liebe zu Fufanu entdeckte, woraufhin sie Radiohead zur Vorgruppe erhob, was die Aufmerksamkeit radikal nach oben trieb. Um dem wachsenden Hype um ihren psychedelisch dräuenden Alternative mit englischer Wave-Stimme gerecht zu werden, gibt die Band eine Deluxe-Edition von Few More Days To Go heraus, das ungeheuer breitwandig klingt, mit raunenden Synths unter der windschiefen Gitarre und einem Schlagzeug, dass den Bass mit überreichlich Becken aus der Tiefe holt. Nicht modern, nicht neu, umso weniger isländisch, aber unentrinnbar energetisch.
Fufanu – Few More Days To Go (One Little Indian)
Sarathy Korwar
Energie war auch das alte Antriebsmodul dessen, was einstmals Weltmusik hieß. Eine Art erdverbundener Kraft, so heißt es gern, habe den zum Ethno und entkolonialisierten Sound globaler Bodenständigkeit durchströmt, als entführe er den Genen, nicht den Boxen. Na ja. Aber ein bisschen was ist schon dran am Energiehaushalt irgendwie urwüchsiger Klänge. Etwa, wenn man Sarathy Korwar zuhört. Der Perkussionist aus den USA wuchs in der indischen Heimat seiner Ahnen auf und hat dort jene Traditionals der Sidi eingesogen, die vor 1400 Jahren als Händler über den Subkontinent zogen und dort allerlei tonale Spuren hinterließen, die Korwars Debütalbum nun aufschnappt.
Mit ziemlich coolem Jazz und vielfach treibender Electronica reichert er die historische Sangeskunst zu einer grandiosen Melange globaler Vielfalt an, die gelegentlich ein wenig verstört in ihrer disharmonischen Experimentierfreude, aber immer wieder den Weg zurückfindet in den ordnenden Beat. Und dazwischen flattert immer wieder hitzig ein Saxofon unter die fremdartigen Vocals und wilden Drums, als wolle es die Luft ringsum entzünden. Das macht Day To Day zu einem der ganz großen Geheimnisse des Sommers, irritierend und ergreifend, eine echte Energieleistung des Wahl-Londoners, ob nun ethnisch oder nicht.
Sarathy Korwar – Day To Day (Ninja Tune + Steve Reid Foundation)
Rechtspopulisten müsse man bekämpfen, nicht aber ihre Wähler – so geht das Mantra etablierter Parteien. Bullshit! Wer Rassisten wie die AfD wählt, ist selber einer. Über aggressive Fremdenfeindlichkeit als Antriebswelle reaktionärer Bewegungen, die Großbritannien gerade sehenden Auges in die Rezession treibt.
Von Jan Freitag
Parteiprogramme sind Nachtschattengewächse. Wie AGB und Beipackzettel durchaus von Relevanz für Wahlentscheidungen, führen sie ein Dasein im Halbdunkel politischer Aufmerksamkeit, selbst von der eigenen Klientel kaum gelesen. Warum auch: Schon das Kürzel der SPD signalisiert eine Gerechtigkeit, die der Wähler nicht groß nachblättern muss. Das Christliche der CDU steht stellvertretend für Tradition der Werte. Grüne wie Linke tragen das Wesen gar ausgeschrieben im Titel, während die Alternative für Deutschland ihren Rassismus bereits in der Präambel als…
Moment!
Dass die AfD rassistisch ist, findet sich auf 78 Seiten Parteiagenda ebenso wenig wie „Xenophobie“ oder für Fans leichter verständlich: „Ausländer raus!“ Was vermuten lässt, die vielfach schlechter gebildeten, sozial oft benachteiligten, kulturell abgehängten Wähler würden das Programm ihrer Wahl gar nicht kennen. Warum sonst sollten sie eine Partei wählen, die ihnen Mindestlohn und Kitaplätze nehmen, aber Wehrpflicht und Atomkraft zurückgeben will, die Gleichberechtigung ablehnt, Zwangsarbeit für Arbeitslose fordert und Wirtschaftskompetenz für überflüssig hält?
Eine Antwort gab das Frühjahr 2015. Die frisch gespaltene Wutbürgerinstanz nebst Sächsischer Sturmabteilung drohte im Wahl-Appendix „andere“ aufzugehen. Dann aber kamen die Flüchtlinge und als einige davon auf der Kölner Domplatte wüteten, wuchs die AfD und wuchs und wuchs auch ohne Parteiprogramm. Das gab es seinerzeit ja so wenig wie eine Agenda abseits vom Rassismus, der sich nur halbherzig als Anti-Islamismus tarnte.
Man muss die Ökonomie politischer Ideen also dringend von der Nachfrageseite her denken. Die Dreifaltigkeit der Demokratie rheinischer Prägung mag seit ihrer Zerfaserung in Weimarer Verhältnisse gebetsmühlenartig wiederholen, nicht Wähler von hart links bis härter rechts zu bekämpfen, sondern Gewählte. Tatsache aber ist, dass diese Gewählten zuletzt erst zu solchen wurden, wenn ihr nationalautoritärer Populismus rassistisch zugespitzt wurde.
Als Bernd Lucke den Weckruf 2015 schrieb, kratzte seine Expartei in spe an der Fünfprozenthürde. Manche Fraktion war zerstritten, ihr beflaggter Arm Pegida auf Pilotenstreikgröße verdorrt, die Alternative brauchte eine für sich selbst – und fand sie am Schlagbaum. Je mehr Fremde dort Einlass begehrten, desto mehr Fremdenfeinde wurden laut. Und nicht nur in Sachsen: Vor 13 Monaten wurde Polens moderater Präsident Komorowski trotz aller Stabilität durch Andrzej Duda ersetzt, dessen zusehends faschistoide PiS im Herbst auch den Sejm eroberte. Kurz darauf gewann der Front National Frankreichs Regionalwahlen, während Donald Trump die eigene Konkurrenz auf dem Weg ins Weiße Haus erst pulverisierte, als er Amerika gegen Terroristen und Vergewaltiger einzumauern drohte.
Parallel bescherte das Zerrbild vom blutsunrein gefluteten Inselreich der europafeindlichen Ukip einen Zulauf, dem nun das knappe Votum zum EU-Austritt folgte. Wäre die Türkei EU-Mitglied, hatte Justizminister Michael Gove im Vorfeld geraunt, würden sich „Millionen von Wanderarbeitern hier niederlassen, um unser großzügiges Sozialsystem auszunutzen“. Ein Sozialsystem übrigens, den der Austritt nun stärker gefährdet als jeder Geflohene, was Brexit-Fans ohne manifesten Rechtsextremismus im Gedankengut nun langsam für den Brexitexit entflammt. Für das Gros aber gilt: der Kernbestand sozialer Marktwirtschaft – innerer, äußerer, materieller und militärischer Frieden – wird von den USA über Deutschland bis Russland ethnischer Homogenität (Schweden oder Flamen findet selbst Nigel Farage nahe der eigenen Haustür akzeptabel) untergeordnet. Erstmals seit 1945 ist Abschottung in der parlamentarischen Demokratie selbst dann mehrheitsfähig, wenn sie Wohlstand und Sicherheit senkt.
Während Heinz-Christian Strache, Marie Le Pen oder Geeert Wilders die reaktionäre Hegemonie im Westen dabei noch legitimieren müssen, exekutiert die Rechte um Orban, Putin, Kaczyński ihr pannationales Herrenmenschentum im Osten längst per Ausschluss Andersartiger bis hin zu den Juden – wobei der Rassismus jener zwei Drittel Brexit-Wähler, die den Feminismus ablehnen, eben auf den Mann als Herrscher übers schwache Geschlecht übertragen wird. Das Dressing in diesem dialektischen Ideologiesalat aus verzagter Aggressivität und neoliberalem Protektionismus für kleine Männer mit großem Genom würzt die Propaganda mit: Angst. Angst davor, Fremde im eigenen Land zu sein. Angst vor Volksvernichtung durch Gutmenschen, Lügenpresse, Genderirrsinn. Angst vor Bedeutungsverlust des Patriarchats. Angst vor allem, was anders ist als das, was ist, wie es eben ist, nämlich die Herrschaft des eigenen Blutes über den eigenen Boden.
Umso wichtiger ist es für Parteien wie die AfD, ihren Rassismus nach innen zu hegen, nach außen aber zu chiffrieren. Angst ist was für Objekte, defensiv und abwehrend; ein Rassist agiert offensiv, Tendenz aggressiv, ist im Abwertungsdiskurs also das handelnde Subjekt, im politischen hingegen angreifbar. Um Angst vor Fremden als Steißgeburt eines völkischen Primats zu entlarven, reicht demnach ein Besuch digitaler Foren, in denen sich auch der nazistische Straßenköter Björn Höcke ungeniert als Rassist gefällt. Der Neojunker Alexander Gauland hingegen mag auf seinem inneren Rittergut Hauptschüler jeder Herkunft verachten; nach außen gibt er sich als väterlicher Hüter des Volkswillens.
Den Fremdenhass seiner Kunden (der mangels Vorbehalt gegen, sagen wir: Schweden eher kolonialistischer Art ist), bläst er zur kollektiven Furcht bloß auf, um sie mit Zucht und Ordnung, Hausfrauenehe und Testosteronkult, mit Härte gegen sich wie andere auf Dominanz zu drillen. Das ist populistisches Machtkalkül in Reinform, nur eines ist es selten: überzeugt xenophob. Dafür sind Frauke Petry, Boris Johnson, Norbert Hofer schlicht zu kultiviert. Anders als 15 bis 25 Prozent Wählern in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, die das Gegenteil glauben (wollen). Weil ihnen die CDU zu human ist und die NPD zu krass, wählen sie eine Art vatikanisch-chinesische Möllemann-DVU und wähnen sich in der Mitte des Schweinesystems.
Dessen Altparteien brauchen also keinen Programmpunkt außer jenem, der verschlüsselt wird, konstruktiv anzugreifen. Die Siegesserie der AfD gepaart mit drei Anschlägen potenzieller Wähler auf Flüchtlingsunterkünfte pro Tag wird eindrücklich vom Leipziger Forschungsprojekt „Mitte in der Krise“ erklärt, das den Zuwachs rassistischer Einstellungen jenseits rechtsextremer Weltbilder belegt. It’s the racism, stupid – alles andere ist AfD-Wählern wie Brexit-Fans ohnehin meist egal. Und was dem Wähler egal ist, ist es auch den Gewählten.