98 Prozent Trump-Kritik & sechs Thatchers
Posted: May 29, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
22. – 28. Mai
So kann’s kommen: Netflix, dem die exklusive Ausstrahlung von Brad Pitts Kriegssatire War Machine seit Freitag offenbar 60 Millionen Dollar wert ist, setzt die hochglänzende HipHop-Serie The Get Down aus Kostengründen nicht fort. Das ZDF hingegen gibt währenddessen die 2. Staffel der mattglänzenden Politsatire MdB Eichwald mit Bernhard Schütz als abgehalftertem Altabgeordneten in Auftrag, obwohl die 1. Staffel beim Ableger Neo quasi unter Ausschluss des Publikums lief. Zeigt der öffentlich-rechtliche Rundfunk etwa unerwartetes Beharrungsvermögen im Kampf mit Streamingdiensten? Rein journalistisch betrachtet ist ihm dies ja ohnehin zu Eigen.
Das legt eine Harvard-Studie nahe, die den Umgang der Presse mit Donald Trump untersucht. Ergebnis: Vier Fünftel aller Beiträge bewerten den US-Präsidenten weltweit persönlich oder inhaltlich negativ. Am meisten aber missbilligt die ARD, was derzeit im Weißen Haus vor sich geht: Stolze 98 Prozent aller Berichte, also praktisch jeder einzelne, kritisiert Donald Trump für das, was er tut, sagt, twittert. Da wäre es erhellend, wenn jemand auch noch ermitteln würde, wie das Erste mit Putin oder Macron, AfD und FDP, Infantino oder sagen wir: Heidi Klum umspringt.
Letztere hat am Donnerstag auf ProSieben erneut irgendein anorektisches Ding im biegsamen Alter zum neuen Autohauseröffnungssupermodel gekürt und dürfte weiterhin behaupten, ihr vorwiegend minderjähriges Publikum nehme daran keinerlei Schaden. Dazu jedoch hat Die Zeit nun eine aufschlussreiche Studie von 1995 ausgegraben. Sie untersucht den TV-Konsum auf der Fidschi-Hauptinsel Nadroga und setzt ihn mit deren (eher rundlichen) Schönheitsideal ins Verhältnis. Ergebnis: Drei Jahre nach Einführung des Fernsehens verzeichneten Haushalte mit Apparat dreimal mehr Mädchen mit Essstörung als solche ohne. Jedes zehnte erbrach sich sogar regelmäßig zur Gewichtskontrolle. Es war halt die Zeit, als wohlgeformte Models durch knochige abgelöst wurden und normale Moderatorinnen durch bauchfreie Girlies.
Zum Kotzen!
Die Frischwoche
29. Mai – 4. Juni
Ganz im Gegensatz zur 4. Staffel von Sherlock. Ab Sonntag um 21.45 Uhr geht Benedict Cumberbatch wieder auf die Jagd nach den äußeren und inneren Dämonen seines Detektivs, also dessen Widersacher Moriarty und der eigenen Soziopathie. Beides wird zwar auch in den neuen drei Fällen bis zur Abnutzung ausgewalzt. Dennoch zählen auch sie zum Besten, was Krimi derzeit hergibt – und das will angesichts der Synchronisation, die alle Stimmen entweder eine Oktave zu hoch oder zu tief ansetzt, was heißen.
In Die sechs Thatchers zum Auftakt wirkt Holmes zusehends gelangweilt vom Leben. Ihm fehlt der angeblich tote Todfeind – daran kann auch die Geburt von Watsons Tochter nichts ändern, geschweige denn eine Reihe simpler Aufträge. Dann aber holt ihn ein mysteriöser Leichenfund aus der Lethargie. Dabei spielen nicht nur Steinbüsten der Premierministerin eine Rolle, sondern Watsons Frau Mary, internationale Verbrecher und natürlich Moriarty, der partout nicht totzukriegen ist. Wie diese Filmreihe.
Ob Sky am gleichen Tag dasselbe mit Dying Up Here gelingt, bleibt abzuwarten. Aber die sorgsam kostümierte Drama-Serie um die wilde Stand-up-Comedy-Szene im New York der Siebzigerjahre macht nach ersten Bildern zumindest den Eindruck, es würde seine Zeit unterhaltsam nachstellen statt effektvoll ausschlachten. Die Sechzigerjahre, genauer: der 2. Juni 1967 erstehen am Montag (23.45 Uhr) im Ersten wieder auf. Ohne lästiges Reenactment, sondern mit der Kraft authentischer Bilder rekonstruiert die Dokumentation Wie starb Benno Ohnesorg? den Tod des Studenten vor genau 50 Jahren, ohne den RAF und Grüne kaum denkbar wären.
Wie man dereinst wohl über den 8. November 2016 urteilen wird, steht zwar noch in den Sternen. Doch die Tatsache, dass damals Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, dürfte global weitreichende Folgen haben. Umso wichtiger ist es, sich dieser Figur über seine Anhänger zu nähern, wie es Arte in Trump, mein neuer Präsident am Dienstag (20.15 Uhr) unvoreingenommener tut, als es sein diabolischen Chefberater Steve Bannon bei aller Neutralität zulässt. Das Filmporträt Der Trump-Flüsterer versucht es im Anschluss dennoch. Um Voreingenommenheit der harmloseren Art geht es ab heute auf gleichem Kanal fünf Montage lang um 16.15 Uhr: Sterotyp listet Vorurteile über nationale Klischees auf – und versucht damit aufzuräumen, soweit das möglich ist.
Film gewordenes Klischee ist die Wiederholung der Woche in Farbe Wenn der weiße Flieder wieder blüht (Montag, 20.15 Uhr, MDR) mit den Nazi-Lieblingen Willy Fritsch und Magda Schneider. Dramaturgisch kompletter Bullshit steht er nach wie vor in den Top 3 der meistbesuchten deutschen Kinofilme. Auf über 20 Millionen Zuschauer kamen die drei ersten Erfolge von Quentin Tarantino der Neunziger hingegen nicht mal zusammen. RTL II zeigt sie am Freitag um 20.15 Uhr in umgekehrter Reihenfolge: Erst Jackie Brown (1997), dann Pulp Fiction (1994), zuletzt Reservoir Dogs (1991). Zwischendurch (1995) ist unser Tatort-Tipp entstanden: Falsches Alibi mit Kain und Ehrlicher (Mittwoch, 22.05 Uhr, MDR), dessen Sohn hier unter Mordverdacht gerät.
Marteria, Anneli Drecker, LIFE
Posted: May 26, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a comment
Marteria
Der Unterschied zwischen “conscious” und “politisch” ist im Bereich populärer Musik ziemlich simpel: Wenn HipHop zum Beispiel ersteres ist, denkt er kritisch über die Verhältnisse nach, ist er eher letzteres, dann mit ideologischer Stoßrichtung. Die feministische Rapperin Sookee aus Berlin ist demnach bei aller Kampfkraft eher nachdenklich, der antideutsche Rapper Disarstar aus Hamburg bei aller Nachdenklichkeit eher ideologisch. Und dazwischen? Gibt es vor allem einen: Marten Laciny, genannt Marteria. Auf dem traditionell eher dünn besiedelten Terrain dezidiert linken Sprechgesangs füllt der Rostocker die Leerstelle zwischen Poesie und Politik. Und sein neues Album hat sich dafür ein ziemlich interessantes Objekt ausgesucht: Aliens.
Wobei Aliens auf Roswell nicht für Außerirdische, sondern Außenseiter stehen wie er selbst oft einer war in seinen 34 Jahren – als HipHopper unter Glatzen, als Model in Amerika, als Fußballer mit Profi-Ambitionen, jetzt als großes Tier im alten Hood. Zwölf Stücke lang rappt sich Marteria mit düsterem Bass und wenig Chichi durch ein Leben zwischen Plattenbau, Laufsteg, Nationalmannschaft und Starkult. Dabei kritisiert er die Verhältnisse, ohne draufzuhauen. Er singt an gegen Konsumwahn und Bling Bling, aber nicht von oben herab, sondern von innen heraus. Er zieht dabei wie immer hinreißende Punchlines aus dem Ärmel, aber nicht nur um der Punchline Willen. Er ist halt ein Poet unter den Kämpfern des politisch bewussten Rap.
Marteria – Roswell (Four Music)
Anneli Drecker
Ach, ihr Feenwesen des Pop! Ihr Traumtänzerinnen wie Kate Bush! Ihr Folksirenen wie Tori Amos! Mit eurer esoterischen Gefühlsduselei macht ihr es Menschen mit rationalerem Geschmack schon ganz schön schwer, euch ernstzunehmen. All diese Geigen und Zimbeln und Waldgesänge im Pianogeplödder – fraglos harmonisch, aber eben auch ein bisschen nervig. Da tut es ungeheuer gut, wenn der wallende Faltenrock da mal ein bisschen auf dicke Hose macht, wenn etwas Glamour in die Erdverbundenheit hineinrauscht. Wie bei Anneli Drecker.
Schon in den 80ern war der damalige Teenager im Biotop des New Romantic gelandet und über ihre Heimat Norwegen hinaus wahrgenommen worden. Vor zwei Jahren dann folgte das Comeback und jetzt also Revelation For Personal Use, ein Feenwesenfolkpoptraumtanz wie er im Buche steht – wäre da nicht dieser orchestrale Ansatz, den Dreckers Dutzend versierter Mitmusiker über die Emotionalität ihrer Stimme kippen. Das klingt fast nach Big Band, ein Swing-Element im Grünen, gewürzt mit kleinen Electronica-Einsprengseln. Wenn schon Gefühlsduselei – dann so!
Anneli Drecker – Revelation For Personal Use (Rune Grammofon)
LIFE
Mit Gefühlsduselei hat eine neues Quartett aus England so gar nichts am Hut. LIFE, so heißt es proklamatorisch, machen politisch (selbst)bewussten Noiserock aus dem verarmten Industriegürtel rings um Manchester, der recht emotionslos gegen die Verhältnisse angrölt. Wobei Grölen jetzt plumper klingt, als es ist. Mit etwas Hall zerkratzt, klingt Mez Sanders-Greens Stimme wunderbar nach dem Wavepunk der späten Siebziger, wenn er auf dem Debütalbum Popular Music von links gegen rechts anschreit – Donald Trump, Nazis, die Eliten, solche Sachen.
Was die vier Freunde mit den engen Hosen und den tiefhängenden Gitarren dabei allerdings angenehm von vergleichbarem Alternative unterscheidet: Sanders-Green, Mick Sanders, Loz Etheridge und Stewart Baxter definieren ihn strikt als Partysound, der zwar auch schon zum Nachdenken anregen, aber nicht unterwandern soll. Das One-Two-Three-Four-Go-Konzept macht nie Kompromisse, immer volles Rohr. Das erinnert manchmal ein wenig an die jungen Arctic Monkeys, eine schöne Erinnerung.
LIFE – Popular Music (Cargo)
Maximilian Brückner: Mundart & Amigos
Posted: May 25, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a comment
Ich vermeide Wohlfühlzonen
Maximilian Brückner sieht aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Umso erstaunlicher ist, dass er ständig abgründige Rolle spielt wie Alfons Zischl, der sich als korrupter Bürgermeister des Provinznestes Hindafing mittwochs im BR und vollständig in der Mediathek abrufbar von Folge zu Folge näher an den Abgrund stößt. Ein Gespräch über Lokalpolitik, Heimatdialekt und die Schönheit des Scheiterns.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Brückner, wenn Sie wählen müssen – was wäre der bislang wichtigste und wegweisendste Film Ihrer Karriere?
Maximilian Brückner: Wenn man’s genau nimmt, war das 2003 mein erster: Männer wie wir. Ich kam damals frisch von der Schauspielschule, durfte sofort die Hauptrolle eines großen Kinofilms spielen – und dann auch noch einen schwulen Fußballer. Das war mein Entrée, ich hatte sofort einen Namen, eine Agentur. Ich war drin. Drin zu bleiben ist zwar manchmal schwieriger, als drin zu sein, aber der Start war schon mal perfekt – obwohl es oberflächlich betrachtet nur eine Komödie ist.
Welchen Stellenwert hat im Vergleich da Ihr Räuber Kneißl fünf Jahre später?
Warum der?
Weil Sie darin nicht nur einen Schurken mit reiner Seele spielen, sondern auch noch in Ihrer Mundart.
Stimmt schon; witzig, dass Sie das sagen. Zuletzt hatte ich mit Pregau eine ganz ähnliche Figur in der Gegenwart, die ohne es zu wollen immer tiefer in eine kriminelle Spirale gerät. Vorm Kneißl dagegen war ich tatsächlich viel öfter die Unschuld vom Lande. Trotzdem verlaufen auch Schauspielerleben in Phasen. Vorige Woche erst stand ich als Ibsens Baumeister Solness auf der Bühne, ein älterer Herr um die 60 mit schwerer Midlife Crisis, den jetzt halt mal ein jüngerer wie ich spielt. Meine Rollenauswahl lässt sich vermutlich darauf reduzieren, dass ich Wohlfühlzonen vermeide.
Wie jetzt, in Hindafing.
Ganz genau. Wobei der Alfons Zischl zwar wie der Räuber Kneißl Mundart spricht, aber alles andere als eine reine Seele hat. Er ist zwar kein waschechtes Arschloch, aber es ist völlig offen, wohin es ihn im Strudel aus Korruption und Vetternwirtschaft in der Provinzpolitik treiben wird.
Die kennen Sie als Dorfbewohner ja auch aus eigener Erfahrung.
Grundsätzlich wird es die in viel schlimmerer Form geben. Es ist verglichen mit meiner eigenen realen Umgebung eine heillose Überspitzung.
In der Sie selbst sogar mal kommunalpolitisch aktiv waren.
Aber wirklich nur ganz kurz und ganz pragmatisch, weil ich die Leute dort halt kannte, wie es auf dem Dorf eben so ist.
Die berüchtigte Amigo-Wirtschaft der CSU haben Sie nicht erlebt?
Nein! Deshalb hat meine Realität da draußen mit der dieser Serie auch wirklich überhaupt nix zu tun. Zumal dieser Alfons Zischl im Grunde auch gar nicht am System scheitert, sondern an all den selbst gestellten Fallen, in die er permanent hineintappt. Fernsehen kann natürlich auch in aller Ruhe funktionieren, aber die permanente Eskalation einer heillos überforderten Figur finde ich fesselnd. Zumal man ihn ständig packen, durchschütteln und da raus holen möchte.
Sie empfinden scheinbar große Sympathie für diese Figur?
Es ist ja das Geheimnis jeder schlüssigen Filmfigur, dass das Publikum selbst dann Empathie empfindet, wenn sie abgründig ist. Nehmen Sie Francis Underwood in House of Cards, bei dem das Publikum mit fiebert, ob er es ganz nach oben schafft, obwohl das ein skrupelloser Zyniker ist, der für sein Ziel sogar tötet. Da ist es doch kein Wunder, wenn man den kleinen Zischlaus Hindafingmag. Wobei mir anders als Kevin Spacey bei dessen Figur auch wichtig war, das Menschliche an meiner herauszuarbeiten. Eigentlich will er das Gute, aber die Gier ist stärker und der Drang, aus dem Schatten des übermächtigen Vaters herauszutreten.
Kennen Sie das als ältestes von acht Geschwistern, sich behaupten zu müssen?
Nein. Wir sind zwar alles andere als stets harmonisch; das schafft man ja nicht mal in Zweierbeziehungen. Aber die Grundlage ist solide genug, um bei allen notwendigen Auseinandersetzungen am Ende immer gut miteinander klarzukommen.
Sie wohnen immer noch mit zwei Brüdern auf dem Bauernhof?
Brüder ja, Bauernhof klingt jetzt zu sehr nach Landwirtschaft. Wir haben ein bisschen Kleinvieh, das war’s.
Apropos Kleinvieh: Warum läuft Hindafing eigentlich im kleinen Dritten, nicht im großen Ersten Programm?
Weil es in seiner Besonderheit hervorragend auf diesen Sendeplatz passt. Am Anfang geht es ja noch gemächlich los, aber mit jeder weiteren Folge nimmt alles so absurd Fahrt auf, dass es für die ARD vielleicht etwas zu wild ist.
Suchen Sie als Hauptrollenschauspieler manchmal gezielt nach solchen Abseiten?
Ich suche weder das eine noch das andere, schließe aber auch nichts aus. Nachdem ich zum Beispiel Martin Luther gespielt habe, mache ich jetzt ein Low-Budget-Projekt fürs Kino. Dabei bin ich mir allerdings auch des riesigen Glückes bewusst, diese Wahl zu haben.
Nutzen Sie die auch, um Ihre Bandbreite zu erweitern?
Ich drehe jedenfalls ganz bestimmt keine schlecht geschriebene Komödie, weil ich jetzt grad was mit Humor zur Primetime brauche. Dann mach ich lieber weiter gute Krimis, danach besteht hierzulande ohnehin ständig Bedarf, gerade in meinem Alter. Oder ich spiele Theater, um mich wieder mehr der Gefahr auszusetzen, auf die Schnauze zu fallen. Das ist mir mal mit Schillers Die Räuber passiert, hat mich aber eher angestachelt, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Solange dich die Niederlage nicht zerstört, macht sie dich im Gegensatz zum Erfolg nur stärker.
Lesen Sie Kritiken?
Manchmal ja, besonders die schlechten. Auch wenn mir Lob natürlich gut tut.
TV-Beben & Hit-Maschinen
Posted: May 22, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
15. – 21. Mai
1998 war das Leben am Bildschirm noch geordnet. Auf MTViva sangen Boygroups von Girls und Girlgroups von Boys. Linda de Mol arrangierte heteroherrliche „Traumhochzeiten“ und Homosexuelle gab es in exakt vier Aggregatszuständen: Tunte, Tunte, Tunte oder gar nicht. So gesehen war die US-Serie Will & Grace nicht nur ein Format mit schwuler Hauptfigur, es war ein TV-Beben. Dieser Will hatte zwar so seine Probleme mit dem Coming-Out, zeigte sich allerdings 194 Folgen lang als leicht überspannter, ansonsten recht gewöhnlicher Mitbewohner seiner Ex Grace.
Was es uns da sagen könnte, dass NBC vorige Woche die Fortsetzung in gleicher Besetzung angekündigt hat? Außer der puren Freude: Nix! Elf Jahre nach der letzten Staffel sind Homosexuelle überall präsent, aber selten tuntig, also ganz schön normal. Was weniger normal ist? Alles andere. Mittlerweile gibt es ja halbkybernetische Fernsehgeschöpfe wie Helene Fischer, der die NDR Talk Show am Freitag so tief ins Zentrum ihres Verbrennungsmotors kroch, dass der sein neues Album mit gleich fünf Songs vermarkten durfte und zwischendurch im Kreise lobhudelnder Hofschranzen saß.
Mittlerweile gibt es aber auch vollkybernetische Webstars wie Bibi, deren Youtube-Kanal Abertausende Mädchen zu Sexobjekten schminkt. Selbst ein drastisch missratenes Musikvideo steigert ihren Umsatz da nur noch weiter, vom fabelhaften Ulk des Postillion, der IS habe sich zu dem Clip bekannt, ganz zu schweigen. Ach ja – was es mittlerweile auch gibt: Milliardäre, die Sport kaufen wie kleine Mädchen Bibis PR-Produkte. Einer davon ist der US-Investor Leonard Blavatnik. Er hat gerade die Übertragungsrechte an der Champions League ersteigert, weshalb Spitzenfußball ab 2018 nur auf der PR-Plattform Dazn (und Sky) zu sehen ist. Das Free-TV geht leer aus.
Die Frischwoche
22. – 28. Mai
Das erinnert an 2009. Damals wanderte ein Kanal ins kostenpflichtige Kabelangebot ab, der die Popkultur geprägt hatte wie zuvor nur Vinyl und danach das Internet: MTV. Ohne konkreten Anlass erinnert Arte Freitag um 21.50 Uhr an Aufstieg und Fall des Musiksenders. Vom allerersten Clip am 1. August 1981 (Video Killed The Radio Star) bis zur hinterletzten Reality-Show (my super sweet 16) von heute schwelgt die französische Doku im Vergangenen und beklagt im Kreise diverser Zeitzeugen, was daraus geworden ist.
Dabei widerstehen die Regisseure Laurent Thessier und Tierry Teston der wohlfeilen Versuchung, bloß tolle Videos und Teaser aus den ersten drei (sehr erfolgreichen) Jahrzehnten abzuspielen. Das tun sie auch. Vor allem aber wird Die Hit-Maschine als das skizziert, was sie war: Ein Geschäftsmodell, das anfangs von bilderstürmendem Feuer entfacht zusehends den Mechanismen der Marktwirtschaft gehorchen musste. Als reines Rendite-Instrument jedoch versank sie spätestens 2009 in der Bedeutungslosigkeit. Das macht die 55 Minuten zwar ungeheuer trist, aber eben auch nostalgisch schön. Besonders (wenngleich nicht nur) für die Jugendlichen von damals.
Wie man wohl besser nicht auf Vergangenes zurückblickt, zeigt am Mittwoch der RTL-Dreiteiler I Like die 2000er, dessen Titel allein schon Anlass für Schmerzensgeldforderungen wäre. Dann doch lieber pur und unkommentiert die Rocknacht am selben Abend (1.05 Uhr), wenn der MDR an die Tour von Depeche Mode des Jahres 1993 erinnert. Das war übrigens gar nicht so lange vor einem Fußball-Triumph der besonderen Art, als Schalke und Dortmund 1997 kurz nacheinander Uefa-Pokal und Champions League gewonnen haben – woran der WDR am Freitag (20.15 Uhr) zum Jubiliäum gewiss nicht ohne Stolz erinnert.
Irgendwie auch bereits historisierend könnte der Blick auf Trumps Weg an die Macht sein, den ZDFinfo 24 Stunden zuvor wagt, während sich der US-Präsident bereits wieder zügig von ihr, der Macht, verabschiedet. Ebenso weitsichtig wirkt die Doku Wir hacken Deutschland (Montag, 22.45 Uhr), mit der das Erste den globalen Virenangriff von voriger Woche am Beispiel eines Neusser Krankenhauses antizipiert hat. Ohne aktuellen Anlass kommt die Fortsetzung der ZDFinfo-Reihe Szene Deutschland – Unter Tätern aus, wo sich der grimmepreisnominierte Ex-Knacki Sascha Bisley wieder in die Abgründe der Kriminalität begibt, am Samstag etwa zu den Eltern eines getöteten Kindes. Und damit es an dieser Stelle auch ein wenig heitere Fiktion gibt, sei hiermit War-Machine empfohlen, mit dem Netflix am Freitag nicht nur zeigt, dass seine eigenproduzierten Filme längst Superstars wie Brad Pitt anlocken, sondern auch, wie man ein ernstes Thema wie den Afghanistan-Krieg heiter aufbereitet, ohne sich über jemanden lustig zu machen.
Ersteres, nicht letzteres gilt auch für die schwarzweiße Wiederholung der Woche am Montag (13.20 Uhr). Dann zeigt 3sat zweimal Laurel & Hardy hintereinander, im Knast und bei der Fremdenlegion. In Farbe läuft Donnerstag (23.25 Uhr, Sat1) Tom Tykwers Das Parfüm von 2006 mit dem hinreißenden Dustin Hoffman. Und der WDR serviert uns Samstag um 22.25 Uhr den schönen Schimanski-Tatort namens Freunde von 1986.
Käptn Peng, San Cisco, Kasabian
Posted: May 19, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | 1 Comment
Käptn Peng
Ach, Robert – HipHop war vor dir ein anderer und wird seither nie mehr ganz der gleiche sein. Wenn du auf deiner neuen Platte Neue Freunde mit “ihr seid hipsterdissende Hipster / die Hipster dissen” begrüßt und weiter rappst, “doch Hipster dissen ist nicht hip / solange alle Hipster Hipster dissen”, dann fragt man sich, ob Sprechgesang vorher überhaupt existiert hat oder einfach nur von Sprechern vorgetragen wurde, die halt nicht singen können. Wer Das nullte Kapitel von Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi hört, kommt irgendwie nicht umhin, zu sagen: völlig egal, was vorher, was nachher war. Diese Art von HipHop ist einfach so derartig zum Niederknien grandios, dass sich Vergleiche mit irgendwas von selbst verbieten.
Gut, Langspielplatte Nr. 3 reicht nicht ganz ans Debüt Expedition ins O vor vier Jahren heran, dessen Mix aus analogem Freejazzfunk und dem Philosophieklamauk des Schauspielers, Schriftstellers, Tunichguts und Tausendsassas Robert Gwisdek wie ein Poesiekomet ins Genre krachte. Aber auch die 15 frischen Tracks tarieren es mit vorwiegend kryptischer, sehr schön fließender Lyrik neu aus. Textlich, aber auch stimmlich. Meister und Idiot zum Beispiel ist eine Art Sprechgesangsscratching, Wobwobwob eine Art Sprechgesangsdubstep, π eine Art Sprechgesangsproseminar Mathematik. Stets loten die aberwitzigen Wortkaskaden überm klassischen Bandequipment die Grenzen des Machbaren im HipHop aus und sind dabei fast immer zum Brüllen komisch. Ach, Robert – werd’ bitte nie erwachsen oder sonstwie abgebrüht!
Käptn Peng – Das nullte Kapitel (Kreismusik)
San Cisco
Ach, die Leichtigkeit des Seins am steilen Abgrund der Weltpolitik, dem wir uns gerade allerorten zügigen Schrittes nähern – als kritisches Bildungsbürgergewächs möchte man einfach mal niederknien vor der Naivität einer Band wie San Cisco, den Irrsinn um uns herum mit munterem Trashpop einfach so runterzuspülen wie ein kaltes Getränk am sommerlichen Surfstrand. Gut, vielleicht wirkt die bittere Realität weitab vom sonnig-fernen Australien ein bisschen abstrakter als in den Augen des Sturms von Washington über Paris bis Ankara.
Doch als trieben Josh, Scarlett, Jordi und Nick aus dem freiheitsduftenden Hafenkaff Fremantle den Missmut fern der Heimat vor sich her, durchbricht ihr drittes Album The Water gleich zum Auftakt mit geslappter Gitarre zu irrlichternden Keyboards alle Absperrungen und proklamiert, Erwartungen mal nicht entsprechen zu wollen, denn Kids, so heißt es im ersten Stück, Are Cool. Punkt. Das ist nicht tiefschürfend, es ist schon gar nicht klug, womöglich ist es sogar ein bisschen ignorant. Vor allem aber ist es in seiner discotauglichen Lebenslust ein prima Ventil, das Licht am Ende des Tunnels doch nicht für einen herannahenden Zug zu halten. Für 30 Minuten wirkt das wirklich erholsam.
San Cisco – The Water (Embassy of Music)
Kasabian
Wer Britpop sagt, muss auch … nein – aus Sicht vieler nicht unbedingt Kasabian sagen. Seit ihrem Debüt vor 13 Jahren stand zwar jede der vier Platten ewig auf Platz 1 der englischen Charts und nicht nur deshalb in mancher Liste der besten 100 Platten ever. Trotzdem wird das Werk der vier Schulfreunde aus Leicester meist von jenem artverwandter Bands wie Franz Ferdinand überschattet. Dabei sind Kasabian kreativer, vielschichtiger, mutiger, ergo: besser als vieles, was ihnen als Referenzgröße dient. Nach dem dezidiert digitalen 48:13 zum Beispiel tritt Gitarrist Sergio Pizzorno für For Crying Out Loud nun wieder aus dem Hintergrund zurück an die Bühnenkante.
Dort macht er aus dem rasend erfolgreichen Electroclash von 2014 einen rasend erfolgversprechenden Mix aus Melodyrock der Achtziger und Glampop von heute. Da hallen die Shallalla-Choräle über breit verzerrte Nostalgie-Riffs, dass die Funken nur so sprühen, da peitschen Straßenköterparolen durch profane Liebeslyrik, bis es knallt. Gleich zu Beginn etwa zapppelt ein feingliedriger Funk durch den Hochgeschwindigkeitstrash von Ill Ray, bevor You’re In Love With A Psycho exakt klingt, wie es heißt: nach einer Liaison exzellenten Songwritings mit dem Wahnsinn, dem im Seventies-Revival Comeback Kid noch Bläser untergejubelt werden. Irre. Gut.
Kasabian – For Crying Out Loud (Sony)
Julia Koschitz: Schönheit & Bedeutung
Posted: May 17, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a comment
Ich lass mich gern mal belehren
Julia Koschitz (Foto: diwafilm/BR) ist viel zu hübsch um variabel zu sein? Falsch! Die österreichische Schauspielerin schafft es am süßen Lächeln vorbei immer wieder, fiktive Figuren so wahrhaftig zu machen wie ihre Interpol-Agentin Juliette, die heute Abend im ARD-Drama Gift wirkungslosen Arzneimitteln nachspürt, mit denen Pharmakonzerne skrupellos Profit machen. Dass der Film so real wirkt, liegt aber auch an Daniel Harrich. Nach Oktoberfest-Attentat und Waffenhandel macht der Regisseur nun Medikamentenbetrug zu großer Fiktion. Ein Interview mit seiner Hauptdarstellerin über Enthüllungsfernsehen, Frauenrollen und was sie privat für etwas Großes opfern würde.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Koschitz, mögen Sie eigentlich Happyends?
Julia Koschitz: Im Leben ja, unbedingt sogar (lacht).
Und im Film?
Im Film nur, wenn sie zur Geschichte passen und mir als Zuschauer nicht das Gefühl vermitteln, betrogen worden zu sein. Das Leben ist ja selten schwarz oder weiß. Deshalb finde ich die bittersüßen Schlüsse einer Geschichte meist ehrlicher; ganz unsentimentale Happyends im Dienste der Handlung können toll sein!
Ohne zu viel verraten zu wollen: Bei Gift ahnt man von der ersten Sekunde an, dass er nicht mal dieses unsentimentale Happyend bereithält.
Das wäre bei dem Thema auch schwierig. Aber das Positive am Ende dieses Films ist, dass es zum Nachdenken und hoffentlich auch zum Handeln anregt. Darum geht es dem Regisseur Daniel Harrich. Er weist mit seinem Film auf das Problem gefälschter, wirkungsloser, in manchen Fällen sogar tödlicher Medikamente hin und darauf, dass dieser Missstand veränderbar wäre.
Und das Medium Film ist dazu in der Lage, dies zu bewerkstelligen?
Die Frage stelle ich mir als Schauspielerin immer wieder. Können Filme was bewirken? Ich bin da nicht hoffnungslos. Bei mir als Konsumentin lösen Filme durchaus mal Lerneffekte aus. Ich lasse mich gerne in Frage stellen und auch mal belehren, wenn ich was Neues erfahre, eine andere Perspektive kennenlerne und die Geschichte gut erzählt ist. Ich glaube dass die Bereitschaft etwas zu lernen am größten ist, wenn man auch emotional berührt wird.
Hat es da bei Ihnen da gleich geklingelt, als Daniel Harrich überm Drehbuch stand, der große Aufklärer des deutschen Spielfilms?
(lacht) So konkret hatte ich ihn zwar vorher nicht im Kopf. Aber er war mir natürlich ein Begriff, schon weil Der blinde Fleck dazu beigetragen hat, den Fall des Oktoberfest-Attentats neu aufzurollen. Nach dem ersten Kennenlernen war mir aber klar, wie wichtig es ihm ist, mit seinen Filmen gesellschaftlich etwas zu bewegen. Das ist natürlich auch die Hoffnung bei Gift schon weil er Dinge thematisiert, die der Öffentlichkeit bislang unbekannt sind. Das Thema war für mich ausschlaggebend, mitzumachen. Dass meine Figur widersprüchlich ist, hat auch geholfen.
Aber im Umfeld gewissenlosen Geschäftemacher ist Ihre Juliette Pribeau neben der altruistischen Entwicklungshelferin Katrin doch die philanthropische Konstante des Guten?
Weil sie in ihrem Kampf für die gute Sache nicht korrumpierbar ist, stimmt. Aber dafür opfert sie gewissermaßen die Beziehung zur eigenen Tochter. Diese Konsequenz und Strenge im Privaten ist ein Widerspruch zu ihrer Selbstlosigkeit im Beruf.
Wobei der nur bei Frauen auch kritikwürdig erscheint, während Männern in gleicher Position die Vernachlässigung der Kindeserziehung in der Regel nicht mal vorgehalten wird.
Das würde wahrscheinlich nicht groß thematisiert werden, stimmt. Aber wie es Männern in derselben Situation erginge, ändert ja nichts daran, wie strittig das Verhalten von Juliette ist. Sie nimmt einen Job in Kauf, der sie die meiste Zeit über von ihrer Tochter trennt. Gerade weil es sich dabei um eine Frau handelt, fand ich das schauspielerisch interessant.
Haben Sie selbst Kinder?
Nein.
Wären Sie andernfalls bereit, Ihr Familienleben für etwas Größeres zu opfern?
Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich in meinem Leben Größeres vollbringe, auch nicht, mich fürs Allgemeinwohl aufzuopfern. Trotzdem glaube ich, dass man auch im Kleinen Dinge bewegen kann und dafür bin ich bereit, mein Ego hintan zu stellen. Zumindest versuche ich es. Aber das Gefühl, viel Zeit und Energie in seinen Beruf zu investieren und damit ein Opfer auf der privaten Seite zu bringen, das kenne ich schon. Denn natürlich fehlt mir diese Zeit dann für meine Freunde und für mich. Ich verzichte manchmal auf Freizeit, weil ich meinen Beruf liebe.
Ist es da eine Art Ausgleich, wenn Sie zwischen extrem harten Stoffen wie Das Wunder von Kärnten und Der letzte schöne Tag immer mal was Leichtes spielen, etwa Doctor’s Diary oder Das Sacher?
Weniger ein Ausgleich, als eine Abwechslung – die ist mir wichtig. Ich versuche Filme zu machen, die ich mir im besten Fall selber anschauen würde, und da sind Komödien auf jeden Fall dabei. Sie mögen leicht daherkommen, sind in der Machart aber oftmals schwerer als so manches Drama. Das wichtigste für mich, für jeden Schauspieler…
Ist das Drehbuch.
Genau. Und meine bisherige Erfahrung war: Man kann aus einem schlechten Drehbuch keinen guten Film machen, aber aus einem guten Drehbuch einen schlechten Film. Die Qualität eines Buchs liegt aber nicht in der Härte des Stoffs. Man kann auch aus leichten Geschichten hilfreiche Erkenntnisse fürs Leben schöpfen. Ich muss nicht zwingend leiden, um was Neues zu lernen. Umso toller finde ich es, wie Daniel Harrich es immer wieder schafft, gesellschaftskritische Themen doch auch spannend zu erzählen. Ich verstehe jeden, der sich nach einem anstrengenden Tag abends vor allem gut unterhalten lassen will. Ich hoffe, dass wir diese Zuschauer auch kriegen.
Ist das nächste, was wir von Ihnen zu sehen kriegen, daher wieder leichterer, unproblematischerer Natur?
Was ins Kino kommt, definitiv: Happy Burnout, eine Tragikomödie. Danach Hanni und Nanni und auch im Fernsehen kommt als nächstes ein tragikomischer Stoff, Am Ruder, wo ich mich als Bankräubern ausprobieren durfte. In der Zwischenzeit drehe ich einen Krimi. Es fühlt sich grad schön bunt an bei mir.
Läuft gut aus bei Julia Koschitz…
Danke, ich kann nicht klagen.
Gegenwartszukunft & Kommissar Goster
Posted: May 15, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
8. – 14. Mai
Schwer zu sagen, bei welcher digitalen Ziffer unserer Gegenwartszukunft wir uns zurzeit befinden – 4.0? 15.6? 172.X? Der Wert ändert sich ja längst fast wöchentlich… Die ARD indes hat sich zur Interaktivität 3.0 für Zuschauer 0.3 entschieden: Seit ein paar Tagen können Fans unter www.lindenstrasse.de im Rahmen der Themenwoche Woran glaubst du? abstimmen, ob sich die TV-Tochter von Momo und Iffi konfirmieren lässt. Angesichts der globalen Relevanz dieser Debatte dürfte die Beteiligung oberhalb etwaiger Präsidentenswahlen liegen, die zeitgleich zum Start des Votings das Mediengeschehen dominiert haben.
Wenn das älteste Serienformat des deutschen Fernsehens diskutiert wird, heißt das allerdings auch: Bis auf Reinhold Beckmanns Abschied von der Sportschau, die Meldung einer Fortsetzung vom Denver-Clan und dem deutschen Desaster beim ESC nicht allzu viel los gerade. Was man allerdings ruhig mal als gute Nachricht auffassen darf. Ebenso wie die Nachricht, dass Pro Sieben, genauer: dessen Videoportal Maxdome die 2. Staffel von Jerks in Auftrag gegeben hat. Trotz besserer Kritiken als Abrufzahlen und Einschaltquoten bei der Zweitverwertung im Regelprogramm dürfen Christian Ulmen und Fahri Yardim ab Sommer wieder die Verzögerung ihrer Adoleszenz inszenieren und damit mal peinliche, mal grandiose TV-Momente schaffen.
Ob das ZDF die Übertragungsrechte der Champions League behält, bleibt derweil offen. Da die Mittel begrenzt sind, scheint es angesichts des irren Bieterwahns privater Konkurrenten aber wahrscheinlich, dass die Königsklasse nur noch im Pay-TV gezeigt wird. Kann man beklagen, kann man bejubeln, kann man auch ignorieren und zum Tagesgeschäft übergehen, also was die öffentlich-rechtlichen Gebührengeldempfänger anders als UEFA-Fußball per Staatsvertrag zu liefern haben: anspruchsvolle, abwechslungsreiche, außergewöhnliche Fiktion.
Nicht nur zu der findet ja schon seit Jahren eine teils hitzig geführte die Debatte darüber statt, ob das Gegenteil von alledem nicht längst alle guten Sendeplätze blockiert. Ein Beispiel vom Dienstag allerdings zeigt, dass das gelegentlich angebracht ist – obwohl es sich dabei um einen ARD-Krimi ohne Sexorgien oder Gewaltexzesse handelt.
Die Frischwoche
15. – 21. Mai
Goster heißt das gute Stück und ist nach den Tagesthemen um 23 Uhr sehr gut aufgehoben. Die Titelrolle spielt ein Schweizer namens Bruno Cathomas, der so ziemlich die absurdeste Ausgabe eines Kommissars ist, den es im mordsüchtigen Fernsehland seit Inspektor Kottan gegeben hat.
Er spricht mit sich selbst und gern in Reimen. Er sieht aus wie ein Teddy, der die Frauen betört. Er tanzt minutenlang ungeschnitten durchs Haus oder erschießt den Mond. Didi Danquart hat Markus Buschs Buchs über eine selbsttötende Waffe mit Splitscreens und Comicsequenzen so irre über-, unter-, ineinander geschachtelt, dass Krimi ohne sozialpolitischen Background zwar nie bekiffter war, aber auch selten faszinierender. Das teilt der Film mit einer BR-Serie, die knapp drei Stunden früher startet. Sie spielt im fiktiven Hindafing, das Maximilian Brückner als drogensüchtiger Bürgermeister am Rande des Wahnsinns regiert, bis die düstere Alpenatmosphäre Stück für Stück implodiert. Derart bissigen Aberwitz liefert sonst allenfalls David Schalko aus Österreich, weshalb die drei Doppelfolgen auch nicht im Ersten, sondern Dritten laufen.
Dorthin gehört naturgemäß Daniel Harrich, der bereits den Waffenhandel und das Oktoberfest-Attentat zu grandiosen Thrillern verarbeitet hat. Am ARD-Mittwoch widmet sich der Fiktionalreporter gefälschten Medikamenten, mit denen Pharmakonzerne in der Dritten Welt Menschenleben für den Profit riskieren. Leider hat Gift mit Heiner Lauterbach als (anfangs) skrupelloser Unternehmer und Julia Koschitz als (durchweg) gewissenhafte Interpol-Ermittlerin nicht die gleiche dramaturgische Wucht; sehenswert ist es trotzdem. Und passt ein bisschen zu Die Viagra-Tagebücher, mit denen 3sat am Montag um 22.25 Uhr 90 Minuten der kommerziell erfolgreichen Arznei auf den Grund geht.
Zwei bemerkenswerte Neustarts werden ab Freitag gestreamt: Die Real-Crime-Doku The Keepers, in der Netflix dem mysteriösen Mord an einer Nonne im katholischen Baltimore nachspürt. Und auf Sky beginnt David Lynchs Fortsetzung von Twin Peaks, worüber man leider nichts berichten kann, weil der Sender den Inhalt unter Verschluss hält als sei es der Zugangscode des US-Atomwaffenarsenals. So verschlossen ist RTL natürlich nicht und zeigt uns am Mittwoch (21.35 Uhr) Stars, Storys & Geheimnisse rund aus 25 Jahren GZSZ. Futter für echte Fans. Denen von Franz Liszt über The Beatles bis Justin Bieber setzt der Arte-Film Mit dem Feuer der Begierde am Freitag um 21.45 Uhr ein dokumentarisches Denkmal.
Und vor den Wiederholungen der Woche noch ein besonderer Tipp: Wie immer um diese Jahreszeit zeigt 3sat Dienstag und Mittwoch gegen Mitternacht einige Beispiele der Kurzfilmtage Oberhausen. In voller Länge zeigt 3sat am Donnerstag (23.55 Uhr) May Spils‘ schwarzweißes Schwabing-Porträt Zur Sache Schätzchen mit ihrem Mann Werner Enke von 1967. In Farbe gibt es am Mittwoch auf Kabel1 ein Wiedersehen mit Ridley Scotts Alien (22.45 Uhr). Und den Alt-Tatort gibt’s beim NDR, der die Kommissare Stoever und Brockmöller am Samstag um 20.15 Uhr im 310. Fall namens Tödliche Freundschaft von 1995 zum Leben erweckt.
Club-Mausoleum: Marquee
Posted: May 13, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 6 wochenendreportage | 1 Comment
Kiezgötter im Rockolymp
Von Jan Freitag
Die Erinnerung treibt mitunter seltsame Kapriolen. Selbst Dinge, die früher einmal zum eigenen Alltag zählten, ändern bisweilen ihre Gestalt, das Wesen, manchmal sogar den Ort. Das Marquee zum Beispiel, eine der Legenden hanseatischer Clubkultur besserer Zeiten, liegt selbst im Gedenken einstiger Stammgäste oftmals nicht dort, wo es sich bis Ende der neunziger Jahre tatsächlich befand: gegenüber von der eichenrustikalen Spelunke Nordlicht. Sie sind der festen Überzeugung, dass der Musikclub von der Ecke Friedrichstraße/Balduinstraße aus betrachtet 30 Meter landeinwärts lag.
Nun, in diesem Fall gibt es eine einfache Erklärung für die Erinnerungslücke. Denn 30 Meter Richtung Reeperbahn lag ein weiterer Liveclub; die Tanzhalle St. Pauli, die dem Marquee auf den ersten Blick sehr ähnelte. Sie befand sich ebenfalls in exponierter Ecklage, war von außen verziert mit Graffitis und beklebt mit Plakaten. Und auch in ihr war es schon bei halber Befüllung unfassbar eng, das Raumklima bereits Minuten nach Einlass zum Schneiden und die Bühne selbst schwer einsehbar, wenn man direkt davor stand.
Und doch ist es ein großer Fehler, das Marquee mit der Tanzhalle zu verwechseln. Das Marquee verdient seinen eigenen Platz in der Erinnerung. Allein schon musikalisch hob es sich von seinem Club-Nachbarn ab: Gegenüber vom Nordlicht wurde nur wenig elektronische Musik gespielt, sondern überwiegend Rock der härtesten Gangart. Der Sound war bisweilen so einzigartig mies, dass der Frontmann Alec Empire dem Publikum bei einem Konzert mit seiner Band Atari Teenage Riot angeboten haben soll, doch besser in seinem Wagen vor der Tür weiterzufeiern. Da könne man die Anlage nämlich lauter drehen. Punkrock eben. Nicht schön, eher schön scheiße.
Das also war der Geist des Marquee. Ein Club mit einer tief sitzenden Abneigung gegen alles Perfekte. Gerade dieses Laissez Faire konnte eine grandiose Ernergie erzeugen. Auf vielleicht dreifacher Wohnzimmergröße reichten sich schließlich nicht nur die Granden von Hardcore bis hin zu Drum’n’Bass das Mikrofon in die Hand; es gab auch Platz genug für eines der gewaltigsten Konzerte des Post-Beatles-Kiezes. Im Juni 1992, um genau zu sein: Faith No More! Gerade als die Posterboys der Grunge-Ära jede Arena des Erdballs füllten, gaben sie vor ihrem Konzert in der ausverkauften Sporthalle einen Geheimgig im Marquee. Wobei – geheim…
Schon Stunden vorher stauten sich bis zum Hans-Albers-Platz die Menschen. Es war unsagbar voll, unsagbar stickig, unsagbar laut und doch verstand man Mike Patton bestens. Der total dehydrierte Sänger flüsterte vom Bühnenrand, dass er sich in Clubs wie diesem fühle wie damals, als ihm seine Mama morgens im Winter unter der Bettdecke die Socken angezogen habe, damit er nicht friere. Sein Auftritt zeigte einmal mehr: Anders als das berühmte Londoner Clubvorbild, in dem 1962 die Karriere einer blutjungen Nachwuchsband namens Rolling Stones ihren Anfang nahm, war das Marquee zu Hamburg nicht vordringlich eine Talentschmiede. Im Gegenteil. Zwar statteten Genregrößen wie Queens of the Stone Age dem Laden schon lang vor ihrem Durchbruch eindrückliche Besuche ab. Und als Jungle im allgemeinen Sprachgebrauch noch eher für verregneten Urwald und nicht für eine besonders hitzige Spielart der Breakbeats stand, wurde im Marquee bereits regelmäßig dazu gezappelt.
Mehr noch aber atmeten gestandene Stadionrocker, die sich kurz hinter dem Zenit ihrer Weltkarrieren befanden, noch mal geschnittene Clubluft im Marquee. Die Stoner-Stars Kyuss etwa, die um dem Massenandrang gerecht zu werden, ein paar Boxen vor die Tür stellten. Mitte der längst grungemüden Neunziger dann machte besonders der heutige Hafenklang-Kopf Thomas Lengefeld das Marquee als Booker zur deutschen Herzkammer von allem, was Krach machte. Integrity, Turmoil, Turbonegro – es schepperte gehörig in den vier lückenlos vollgeschmierten Wänden. Besinnlich wurde es nur, wenn die linksalternativen Glaubensbrüder der Jesus Freaks ihre gottesfürchtigen Rockmessen abhielten.
Bis, ja bis Ende der Neunziger die Abrissbirne kam. Denn dort, wo ein Flachbau ein Jahrzehnt lang Hamburgs Independent-Szene prägte, wie sonst allenfalls das Grünspan oder das Molotow, steht nun ein Wohnungsblock im ortsüblichen Schuhkartondesign. Das Nordlicht-Publikum gegenüber kann sich schon gar nicht mehr ans Marquee erinnern. “Da”, kriegt man von dort nur zu hören, “hingen immer so Langhaarige rum und ha’m gekifft”.
Der Text ist vorab auf ZEIT
L. A. Takedown, A. Schrader, Mogli, Fayzen
Posted: May 12, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a comment
L. A. Takedown
Wenn etwas klingt wie Thin Lizzy oder Joe Satriani, dann muss das nicht zwingend nur Schlechtes bedeuten. Wenn etwas klingt wie Air oder Jean-Michel Jarre schon gar nicht. Wenn allerdings etwas klingt, als würden sich all die genannten Künstler auf verschiedenen Drogen zum Instrumenten-Tausch treffen, darf man da ruhig ein bisschen skeptischer sein. Ganz kurz zumindest. Bis einem das zweite Album des Filmkomponisten und Popproduzenten Aaron M. Olsen mit dem sinnigen Titel II vor den Latz gekannt wird. Es klingt exakt so, als hätte seine siebenköpfige Band einen Übungsraum gefunden, der groß genug für so viel geballten Crossover mit so viel geballtem Aberwitz. Und es klingt fantastisch.
Trotz und wegen der vielen Gitarrensoli, die eigentlich gar keine Gitarrensoli sind, weil sie im Grunde nie ganz verstummen. Über alle, wirklich alle zwölf Tracks fegen unablässig gepickte Ricky-King-Gedächtnis-Riffs hinweg, die vermutlich jedes vergleichbare Werk bis zum Würgereiz verunstalten würden. Im Umfeld der oft karibisch angehauchten Instrumentals im Lo-Fi-Tempo jedoch wirkt der Dauerbeschuss des kalifornischen Kleinorchesters irgendwie mitfühlend, fast liebevoll. Als sprächen die entfesselten Krautrocksaiten mit dem Flitterpop ringsum.
L. A. Takedown – II (Domino)
Albrecht Schrader
Was zu tun ist, wenn man den Schlager hasst und den Pop liebt, wenn das Bouquet süffig sein darf, im Abgang jedoch herb, wenn sich das Leben der Realität entziehen will, ohne ihr zu entfliehen – dann gibt es von Voodoo Jürgens über Friedrich Sunlight bis Malakoff Kowalski bereits ein Angebot, das allerdings kaum genug erweitert werden kann. Im erlauchten Kreis des kritischen Eskapismus heißen wir daher Albrecht Schrader herzlich willkommen. Auf seinem Debütalbum Nichtsdestotrotzdem wärmt er den Diskurspop seiner Heimat Hamburg mit einer Tatsachenlyrik, der Flucht ebenso fremd ist wie Zynismus.
„Fremde Wörter in der Sprache/andere Sitten am Tisch/junge Türken in der SPD/harte Drogen auf der Straße/zu viel Gräten im Fisch/zwei Männer küssen sich am See“ erzählt er mit nasalem Caféhaus-Singsang, fügt zur tragikomischen Jammerorgel im Kammertonmoll hinzu, „es wäre nicht anders ohne dich“, und überhaupt komme es darauf an, „dass du sagst – ist mir egal“. Sanfter wurde ein zeitgemäßer Grundzweifel an der eigenen Relevanz im grassierenden Individualismus selten zu Alltagsprosa verarbeitet. Ein famoses Album für die innere Immigration, ohne den Mainstream ganz hinter sich zu lassen.
Albrecht Schrader – Nichtsdestotrotzdem (Sony)
Mogli
Wenn sich ein Sound wirklich glaubhaft ins Schneckenhaus eigener Befindlichkeiten zurückzieht, dann ist es fraglos die blumenumrankte Trailerparksiedlung des Folk und noch fragloser deren neue Bewohnerin: Mogli. Bewehrt, fast gepanzert mit der tröpfelnen Emotionalität ihrer Gitarre und ein paar flatternden Pianoeinsprengseln singt das Feenwesen so zart, so fragil von der Zerbrechlichkeit ihrer Seele im Sturm der Realität, dass man intuitiv nur mit größter Vorsicht am Lautstärkeregler dreht. Kein Jahr nach dem vielbeachteten Plattendebüt Bird streut es auf Wanderer zwar mehr echte, teils computergenerierte Beats ins analoge Songwriting; Stücke wie Waterfall oder Milky Eyes klingen da beinahe schon wavig.
Und wenn Mogli in Walls den inneren Hippie kurz mal Hippie sein lässt, dann entfaltet ihr entrückter Gesang fast schon eine Art von Soul. Ansonsten aber wirkt das musikalische Ergebnis einer Reise im ausgebauten Schulbus von – so lautet die Legendenbildung – Alaska die Westküste runter Richtung Mexiko jedoch erneut, als hätten sich die Cranberries mit The XX vereinigt, um einen Trampelpfad zwischen Folk und Pop zu finden, der noch nicht ganz ausgetreten ist. Es ist ihr ziemlich gut gelungen.
Mogli – Wanderer (H‘Art)
Fayzen
Poppoeten sind seit Jan Böhmermanns Poppoeten-Bashing im Neo Magazin ein wenig mehr in Verruf geraten als sie es zuvor bereits verdient hatten. Wenn der Poppoet Fayzen Poppoeten-Schweiß wie “Ich sehne mich nach Halt” oder “Mein Herz ist traurig” oder “Ich hab Blumen im Kopf” oder “Yeah Yeah Yeah” absondert, darf er sich also nicht wundern, in die Poppoeten-Ecke gedrängelt zu werden. Nur: Da gehört er zwar durchaus hin, aber an dieser Stelle muss man das mit den Poppoeten kurz mal relativieren. Statt einer telefonbuchlangen Liste chartsgestählter Geisterkomponisten hat der Sohn eines persischen Einwanderers nämlich 14 befreundete Musiker im Rücken. Und statt Poppoesie machen sie gemeinsam poetischen Pop, was ein Unterschied ist.
Wie die 15 handgemachten, emotional schwer angefassten Stücke über Kindheit, Leben, Liebe von Fayzen Zoroofchi erzählen, das geht trotz alöer Gefühlsduselei schon auch schwer zu Herzen. Mitverantwortlich dafür ist seine Sozialisation als Rapper auf den Straßen seiner Heimatstadt Hamburg, von deren autobiografisch bedeutsamen Ecken er mehr erzählt als singt. Sein Flow ist dabei angenehm weich, aber nicht schwulstig, die Musik im Hintergrund vielschichtig und doch aufs Wesentliche des urbanen Folk beschränkt. Es schimmert demnach deutlich mehr Moritz Krämer oder Freundeskreis aus den Harmonien als Max Giesinger und Philipp Poisel. Willkommen, liebe Poppoeten zurück auf dem Planeten Respekt!
Fayzen – Gerne Allein (Vertigo)
Reichsbürgernaidoo & Polizeimodel
Posted: May 8, 2017 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a comment
Die Gebrauchtwoche
1. – 7. Mai
Die Innovationsmaschine RTL, sie läuft seit einiger Zeit schwer auf Hochtouren. Nachdem ihr Programm zusehends an die 80er erinnert, hat der Barrikadenstürmer des Fernsehens von gestern nun den nächsten Barrikadensturm des Fernsehens von heute angekündigt und wiederholt auf seinem Ableger mit dem Zusatz „Plus“ im Juni selbsternannte „Kultklassiker“ wie Ein Schloss am Wörthersee oder RTL Samstag Nacht. Für den Ex-Marktführer reicht es jetzt also nicht mal mehr zur Neuauflage. Wobei Wiederholung keineswegs gleich Wiederholung ist.
Dass der BR zurzeit samstags Graf Yoster gibt sich die Ehre aus der schwarzweißen Mottenkiste holt und mit der seltsam religiösen Vorsilbe „Kult“ versieht, weckt nämlich fürwahr nostalgische Erinnerungen an eine Zeit, da sich innovative Kreativität im Fernsehen nicht auf Jan Böhmermann beschränkt hat, der sich am Donnerstag mal die Soul des Reichsbürgertums Xavier Naidoo zur Brust genommen hat. Und es beweist den Spürsinn der Programmplaner. Denn kaum sind die ersten Folgen zum 50. Geburtstag des adeligen Hobbydetektivs gelaufen, ist dessen Darsteller Lukas Ammann im biblischen Alter von 104 Jahren gestorben, der interessanterweise im selben Jahr seinen Durchbruch in der Literaturverfilmung Bel Ami feierte, als der ESC unterm sehr deutschen Titel „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ Premiere feierte.
1956 galt der Musikwettbewerb als Element der europäischen Einigung, bei dem echte Menschen richtig gesungen haben. Die 62. Ausgabe in Kiew dagegen glich schon bei der Vorbereitung vergangene Woche eher einem Hochsicherheitstrakt im Kriegszustand als dem Slogan „Celebrate Diversity“ – was angesichts des Boykotts von Russland und der Türkei ohnehin ziemlich schal klingt. Immerhin bildet Peter Urban als deutscher Moderator seit 1997 eine Konstante aus jener Zeit, als Deutschland von Helmut Kohl regiert wurde, beim ESC sogar Punkte erhielt und Fernsehen Fernsehen war, weil alle fernsahen, vornehmlich das gleiche, also meist Krimis.
Die Frischwoche
8. – 14. Mai
Witzigerweise sahen sie schon damals ungefähr so aus wie jene der italienischen Reihe Die Toten von Turin. In sechs Doppelfolgen wird darin ab Donnerstag auf Arte je ein Mordfall gezeigt, was ästhetisch sogar überzeugen kann. Doch Regisseur Guiseppe Gagliardi hat bei aller Liebe zur schönen Kamerafahrt durch düster dekorierte Kulissen oft vergessen, dass Serien längst horizontal erzählt werden, also etwas mehr thematischen Überhang aufweisen sollten als das – hoppela! – dunkle Geheimnis von Ermittlerin Valerio Ferro, deren Mutter wegen Mordes an ihrem Mann im Gefängnis sitzt.
Damit nicht genug, wird sie von Miriam Leone verkörpert, die zwar keine Schauspielerin ist, aber klasse aussieht. Miss Italia 2008 müht sich im Auftaktfall um ein getötetes Mädchen zwar redlich, an ihrer Optik vorbei zu wirken. Doch ein 30-jähriges Model in leitender Polizeifunktion – da könnte einem glatt die Idee kommen, es gehe der Serie eher ums Äußere als Inhalt. Dabei ist das doch die Spezialität von RTL… Das nächste Woche wie so viele Sender übrigens wenig Innovatives zu bieten hat.
Einmal mehr überlässt es das Regelprogramm daher den Streamingdiensten, echt televisionär zu sein. TNT und Sky strahlen Montag den deutschen Sechsteiler 4 Blocks über einen arabischen Clan in Berlin-Neukölln aus, der visuell, ästhetisch, dramaturgisch drastischer, aber eben auch authentischer und horizontaler ist als alles, was ARZDLPRO1 je zustände brächten. In abgeschwächter Form gilt das auch für gleich drei Netflix-Serien, die ab Freitag abrufbar sind. Allen voran die zweite Staffel des hinreißenden Migrationshipsterporträts Master of None, dicht gefolgt von der Doku-Reihe Get me Roger Stone, die einen der einflussreichsten Spin-Doctors der US-Politik auf der Spur ist. Und dann wäre da noch Anne with an E, was das vielschichtig schöne Coming-of-Age-Thema endlich mal aus der erweiterten Gegenwart um gut 100 Jahre zurückverlagert.
Linear gibt es dann aber doch auch was Sehenswertes: Den wahrhaft gelungenen ARD-Mittwochsfilm About a Girl mit Heike Makatsch als heillos überforderte Mutter von Jasna Fritzi Bauer als düstere Außenseiterin – herrlich morbide. Interessant ist hingegen die Doku Verbotene Filme (Dienstag, 21 Uhr, Phoenix), in der Das Erbe des Nazi-Kinos skizziert wird, zu dem unter anderem mehr als 40 NS-Werke wie Jud Süß gehören, die bis heute unter Verschluss stehen. Frei verfügbar sind die Wiederholungen der Woche wie Robert Thalheims Familiendrama „Eltern“ (Dienstag, 20.15 Uhr, 3sat), in dem Charlie Hübner und Christiane Paul 2013 die klassische Rollenverteilung unfassbar glaubhaft umgedreht haben. In Schwarzweiß ratsam: Die Hoffnungslosen (Mittwoch, 23 Uhr, Arte), ein verstörend düsteres Knastdrama aus dem Ungarn des Jahres 1966. Und der Tatort-Tipp lautet diesmal Salzleiche (Montag, 22.05 Uhr, RBB), bei dem Charlotte Lindholm 2008 im Atomklo Gorleben ermittelt hat.