In der permanenten Krisenberichterstattung geht derzeit unter, dass es parallel dazu noch einen anderen Informationsoverkill gibt: Wintersport. Die öffentlich-rechtliche Druckbetankung damit war schon am Startwochenende so ergiebig, dass vier Monate vorm Finale bereits alle Kanister des guten Geschmacks gefüllt sind. Und beim Bemühen, auch ja das hinterletzte Rodelrennen zu übertragen, ist zudem ein irrer Wettstreit entbrannt: Wer bietet das subjektivste Paar moderierender Jubelperser?
Nach Punkten vorn – nein, nicht Günther Jauch, dessen chronischer Mangel an journalistischer Tiefe und Kompetenz zum gestrigen ARD-Abschied sogar vom zuständigen WDR bestätigt wurde. Sondern der patriotisch betäubte Matthias Opdenhövel und sein dauergrinsender Grüßaugust Dieter Thoma, die gemeinsam noch jede Sprungschanze zur Comedybühne maximaler Schlichtheit machen. Dicht gefolgt von Alexander Ruda und Fritz Fischer, bei denen ein deutscher Biathlon-Sieg weit vor Klimawandel, Terrorismus und Flüchtlingskrise atmosphärisch zur wichtigsten Sache der Welt hochgefaselt wird. Da haben es kritisch-kompetente Kommentatoren wie Tom Bartels oder Aris Donzelli schwer, den Nebel der Dummheit zu durchdringen.
Ein Nebel übrigens, der grad nirgends dicker ist als in Hamburg, wo die dummdreiste Olympiabesoffenheit von Politik und Wirtschaft längst auf ortsansässige Medien übergegriffen hat. Nachdem die lokale Bild unlängst eine Sonderausgabe ohne jeden Missklang veröffentlicht hatte und die einst objektive Mopo ohnehin in subjektiver Euphorie ersäuft, feierte nun das altehrwürdig konservative Abendblatt die Spiele in einer Science-Fiction-Ausgabe vom Sommer 2024 als beste aller Zeiten, deren Kosten – erstmals in der neueren olympischen Geschichte – vollends gedeckt gewesen sein werden, was – kein Scherz! – „Bundeskanzler Olaf Scholz“ mit Stolz erfüllen wird. Ach Medienhauptstadt, was bist du dörflich geworden…
Die Frischwoche
30. November – 6. Dezember
Aprops: Das bekannteste Dorf der TV-Republik feiert am Sonntag mit einer verlängerten Live-Sendung 30. Geburtstag, wobei die Lindenstraße dramaturgisch in München steht und baulich in Köln, aber egal – der Mikrokosmos rings ums Wohnhaus von Familie Beimer hat sich auch im digitalen Zeitalter seinen provinziellen Charme erhalten. Und genau das stellt für viele Fans trotz all der tagesaktuellen Themen ein Stück Geborgenheit im aufgewühlten Umfeld wirkmächtiger Weltpolitik dar.
Was die im Stillen für Schweinereien betreibt, wissen wir alle oft erst, seit sie von WikiLeaks ausgeplaudert werden. Zurzeit übt sich die Enthüllungsplattform von Julian Assange zwar gern mal in obskuren Verschwörungstheorien über die Anschläge von Paris; welche Bedeutung WikiLeaks für die globale Transparenz hat, kann man aber dennoch in der erhellenden US-Doku We Steal Secrets sehen, die das ZDF Donnerstagfrüh um 0.10 Uhr zeigt. Ganze fünf Minuten früher läuft heute Nacht auf gleichem Kanal Komm schon!, eine Sitcom, deren Thema den unfreundlichen Sendeplatz sogar rechtfertigen könnte; doch das komplizierte Liebes- und Berufsleben einer Sexualtherapeutin mit allerlei eigenen Baustellen im Bett, kommt fast ohne Körpereinsatz aus, vor allem aber ohne Zoten, Peinlichkeit, Lacher vom Band.
Auch darum ist der Vierteiler von Esther Bialas eine echte Programperle zur Geisterstunde, die man unbedingt zur publikumsfreundlicheren Zeit sehen sollte: in der Mediathek. Die Primetime großer Kanäle dagegen ist ja gewohnt knitterfrei. Obwohl: manchmal heißt glattgebügelt nicht unbedingt faltenfrei. Etwa in der opulenten Räuberpistole Mordkommission Berlin 1. Am Beispiel des real existierenden Ernst Gennat, der in den Goldenen Zwanzigern die Polizeiarbeit forensisch revolutionierte, kriegt es Friedrich Mücke Dienstag auf Sat1 mit einer heillos überfrachteten Filmmuseumsunterwelt zu tun, die so herrlich ans Technikolorkino der Jahrhundertmitte erinnert, dass man ihr den ästhetischen Mainstream durchaus verzeiht.
Als Gennat noch selbst nach Mördern suchte, erschien übrigens ein Buch, das ebenfalls Geschichte schrieb und die kurze Phase der Freizügigkeit rabiat terminieren half: Mein Kampf. Am 1. Januar endet das Urheberrecht an Hitlers Machwerk, weshalb es – kommentiert – wiederveröffentlicht werden kann. Was das in Zeiten von Pegida und AfD bedeutet, die sich zusehends als leidlich ziviliserte SA gerieren, erkundet Manfred Oldenburg am Donnerstag auf Arte (20.15 Uhr) in seiner Doku Das gefährliche Buch.
Wer das zu schwer, zu belastend findet, aber den Sender nicht wechseln will, kann sich heute ab 20.15 Uhr einen Themenabend lang mit Woody Allen entspannen, angefangen mit seinem Stadtneurotiker von 1977. Womit es nahtlos zu den Wiederholungen der Woche geht. In Farbe: 28 Days Later, Danny Boyles furioser Zombie-Pop von 2002 (Montag, 23.15 Uhr, Kabel1) oder Mittwoch auf Arte (20.15 Uhr) M – eine Stadt sucht einen Mörder mit Peter Lorre als schwarzweißer Triebtäter, den die Unterwelt durch Berlin jagt. Parallel dazu von dokumentarischer Bedeutung: Geschichte der RAF (18.45-23.15 Uhr), nicht immer neutral, aber voll bemerkenswerter Archivbilder.
Nach kaum mehr als vier Jahren beendet der König des belanglosen Plauderns an diesem Sonntag seine sündhaft teure ARD-Talkshow – und damit ein großes Missverständnis: Günther Jauch (Foto: ARD) ist weder Journalist noch Anwalt des kleinen Mannes. Sondern einfach ein sehr, sehr guter Geschäftsmann mit gewissen Entertainerqualitäten.
Von Jan Freitag
Irrtümer können ganz schön hartnäckig sein. Derjenige zum Beispiel, nach drei Bierchen könne man problemlos Auto fahren, hält sich bekanntlich selbst unter bayrischen Spitzenpolitikern beharrlich. Auch, dass Hunde den Mond anheulen, Jugendliche immer gewalttätiger werden oder Erkältungen durch Kälte entstehen, wird nicht dadurch richtiger, dass man es dauernd wiederholt. Da könnte man ja gleich dem denkbar größten Irrtum unserer Tage Glauben schenken: Bei einer Direktwahl durchs Volk bekäme Günther Jauch die Mehrheit.
Wer das glaubt, glaubt womöglich auch, Deutschlands beliebtester Fernsehmoderator sei auch ein guter Talkshowmaster oder noch ein bisschen verrückter: Journalist. Aber gut – jetzt ist mit diesem Märchen ja Schluss. Diesen Sonntag hört Günther Jauch auf, zu sein, wofür er einfach nicht bestimmt ist und doch Abermillionen sinnlos vergeudete Euro kriegt: Günther Jauch. Dann wechselt das RTL-Gesicht letztmals zum Wochenendfinale vom privaten Biotop rüber ins öffentlich-rechtliche Exil und begrüßt seine Gäste bei der ARD. Dann ist seine Gesprächsrunde nach vier Jahren auf Sendung trotz konstanter Einschaltquoten überm Senderschnitt Geschichte. Ein Irrtum weniger auf dem Feld beharrlicher urban legends.
Denn Günther Jauch war, er ist alle Mögliche: Ein Kaiser arglosen Entertainments, der König des belanglosen Plauderns, Edelmann diverser Unterhaltungsshows für Bürger, Bauern Bettelleute. Er kann profane Alltagsquizrunden ebenso wie übersteuerte Samstagabendsausen zum heiteren Hochamt gesamtdeutscher Abendgestaltung weihen und dem Altmedium Fernsehen somit eine Art nonchalanter Relevanz suggerieren. Noch besser aber kann Jauch den Hochadel seriöser TV-Dispute so profanisieren, dass sie intellektuell belanglos werden, äußerlich mitunter wärmend, innerlich bedeutungslos und leer.
Dafür muss man nur ein paar Monate zurückwandern auf der Zeitachse linearen Fernsehens. Im April war es, da ertranken im Mittelmeer zwar auch nicht mehr Flüchtlinge als üblich, aber die Medien waren durch ein paar besonders verlustreiche Schlepperhavarien aufgeschreckt. Aus diesem Grund nun lud der nette Herr Jauch nicht nur den rassistischen Brachialpublizisten Roger Köppel aus der Schweiz zum Disput, sondern auch einen freundlichen Philanthropen, der auf eigene Faust Schiffbrüchige rettet und plötzlich etwas tat, das den Moderator an den Rande der Zurechnungsfähigkeit brachte: Er forderte Schweigeminute für die Opfer von Europas Abschottungspolitik.
Und was tat Jauch? Er sträubte sich, stammelte, winkte ab, rang sichtbar um Regelhoheit und gewährte doch eine Audienz der Stille im Quasselforum, nur dass sie keine 60 Sekunden währen durfte, sondern rund die Hälfte – dann brach er den erhabenen Moment ab, ging zur Tagesordnung über und riss sich somit endgültig die Maske vom Gesicht. Günther Jauch, 1958 in Münster geboren, als dort noch Priester statt Grüne den Ton angaben, gilt nämlich im Medium der Machtinteressen als Stimme des kleinen Mannes – obwohl er sich wie kein zweiter Promi seines Ranges den Fangarmen der Springerkrake entzieht.
Er ist also wie gemacht fürs Unterschichtenfernsehen von RTL mit seiner verantwortungslosen Ballermannbespaßung, das die Lüge strukturell zum Faktum verdreht und Sachlichkeit allenfalls homöopathisch dosiert. Hier spielt das sportaffine BR-Gewächs seit 1999 für gut fünf Millionen Zuschauer den vertrauenswürdigen Ratepaten mit lausbübischer Empathie für den rätselnden Pöbel. Spätestens die Flüchtlingssendung vom April aber legt nahe, wie viel Pose darin steckt und wie wenig Wahrhaftigkeit.
Dafür spricht nicht zuletzt der Geschäftsmann im Moderator, dem das mitfühlende Image seit Jahren das Konto bläht, seit 2011 mit geschätzt zehn Gebührenmillionen im Jahr für eine Stunde Wochenarbeitszeit plus Vor- und Nachbereitung, die er zudem von seiner eigenen Firma i&u TV produzieren lässt. Dafür hat der Elitenzögling mit herrschaftlichem Anwesen in der reichen Residenzstadt Potsdam nicht nur die bessere Anne Will vom wichtigen „Tatort“-Anschluss auf den Aschenputtelplatz am Mittwoch verdrängt, sondern die „Gremlins“ der ARD auch sonst am Nasenring durch die Arena des Kampfs um unerreichbare Zielgruppen gezogen.
Selbst Vater Ernst-Alfred, er immerhin tatsächlich Journalist, soll mal über seinen Sohn gesagt haben, „was Günther macht, verstehe ich zwar nicht, aber es wird wohl gut bezahlt“, um hinzufügen: „Kein Mensch weiß, warum.“ Dem kann man, auch wenn es dem beruflichen Standesdünkel eines alten Printreporters vor Wer wird Millionär entsprungen sein mag, nur beipflichten. Jauch Junior ist zwar überaus nett, aber erschreckend beliebig; bildungsstark, aber meinungsschwach; unterhaltsam, aber trivial. Alles Relationen, die einer lukrativen Karriere im Kommerzfunk zuträglich sind. Fürs staatsvertraglich grundierte Hauptabendprogramm des Grundversorgers ARD taugen sie deutlich weniger.
Dass er mit kaum 60 Jahren nun – aus privaten und beruflichen Gründen, wie er mitteilen ließ – die Reißleine zieht und zum morgigen Finale allein mit Wolfgang Schäuble über Terror, Flucht und Pegida spricht, ist somit ein Schlag ins Kontor des verlängerungswilligen NDR als Auftraggeber. Bedauern sollte sie es dort nur solange, wie sich ein seriöserer Host am wichtigsten Talkshowplatz der Medienrepublik findet. Irgendjemand, der nicht nur über hohe Sympathiewerte beim anspruchsloseren Publikum verfügt, sondern über ein paar andere Dinge, die politischem Fernsehjournalismus dienlich sind: Kompetenz, Informiertheit, Augenhöhe. Irrtum ade.
Kinder sind bekanntlich bis zur Besinnungslosigkeit begeisterungsfähig. Selbst die schlichteste Kindergartenmusik zum Beispiel trifft in der Zielgruppe auf größtmöglichen Zuspruch; schließlich mangelt es jenseits von Rolfs Freunden seit jeher an erträglichen Alternativen für die lieben Kleinen. Bis sie kamen: Deine Freunde. Ihre ersten zwei Alben haben den verschütteten Geschmack vorm Teenageralter nicht nur aufgegriffen und verarbeitet; das Trio aus Hamburg hat ihn förmlich dekodiert. Seine Mischung aus hüpftauglichem HipHop zu fetten Beats hat dem Genre Niveau verpasst, Spaß und große Ernsthaftigkeit ohne erhobenen Zeigefinger. Von daher ist die Forderung auf Platte 3 völlig überflüssig. Gebt uns eure Kinder! singen Flo, Markus und Pauli gleich zu Beginn. Das hätten sie sich schön sparen können!
Deine Freunde haben sie ja schon, die Kinder. Alle! Und daran wird auch Kindsköpfe nichts ändern. Im Gegenteil Wer nämlich dachte, Ausm Häuschen und Heile Welt hätten längst alle Themen zwischen Familie, Spielplatz und Schule erschöpfend in lebenskluge Hymnen des vorpubertären Alltags verwandelt, wird eines Besseren belehrt. Musikalisch etwas discoaffiner als zuvor, strotzt das neue Album vor Bedeutsamkeiten kindlicher Lebenswelten, die auch Erwachsene betreffen. Heimweh und Redeverbote, Hausaufgaben und Tobsucht, gute Eltern und schlimme Eltern – all dies wird bei aller Heiterkeit inhaltlich so empathisch und musikalisch so anspruchsvoll verarbeitet, dass aus jedem der 17 Stücke Respekt für den Nachwuchs perlt. Nie zuvor war der raketenartige Aufstieg einer Band angebrachter als dieser.
Deine Freunde – Kindsköpfe (Universal)
Josefin Öhrn + The Liberation
Eine größer angelegte Karriere auf welcher Festivalgrundlage auch immer scheint für Josefin Öhrn hingegen unwahrscheinlich. Auch die Schwedin sieht super aus, hat eine höchst kompetente Kapelle zur Seite und mit einer ersten EP im Vorjahr zumindest daheim für eine Vorstufe von Aufmerksamkeit gesorgt. Ihr psychedelischer Alternativerock ist jedoch viel zu verschroben für Hörgewohnheiten abseits dunkler Kellerclubs und Roskilder Randbühnen. Herrlich verschroben, muss man hinzufügen; das Debütalbum Horse Dance strotzt ja nur so von Ideen, wie man die pathetische Grundstimmung des elaborierten Trübsinns ihres Metiers ein wenig aufhellt.
Sei es Öhrns hoffnungsfroh verhallender Gesang übers vertrackte Dasein im Ungewissen, aber Aussichtsreichen; sei es das hintergründig schwungvolle Schlagzeug, das dem Ganzen Tempo und Tiefsinn verleiht; seien es sorgsam gepickte Gitarrensprengsel im umgebenden Flächenbrei – alles vereint in der Videoauskopplung Take Me Beyond, die angenehm zwischen Hawkwind und Familiy of the Year, Psychedelic und Americana, Überfluss und dem Wesentlichen mäandert. Nichts für die ganz große Karriere, aber sehr viel fürs Gemüt.
Josefin Öhrn + The Liberation – Horse Dance (Rocket Recordings)
Barbara Dennerlein
Ach, die Seele, unser amorphes Zentralorgan, das zur Weihnachtszeit so niederträchtig im Fokus der Unterhaltungsindustrie steht, weshalb sie uns Jahr für Jahr vermeintlich leise klingende Arzneien verschreibt, die es salben sollen und heilen. Doch leider landen zur Adventszeit bloß profitorientierte Generika unterm Baum, verabreicht durch gewissenlose Quacksalber(innen) wie Helene Fischer und Kylie Minogue, die ihr bestens gefülltes Konto auch dieses Jahre mit Recyclingschrott von Stille Nacht bis White Christmals mästen und mästen und mästen. Ab und zu jedoch findet sich selbst auf dieser stinkenden Müllkippe etwas Altgold. Diesmal: Barbara Dennerlein.
Das Münchner Jazz-Kindl hat ihrem Genre Mitte der Achtziger die Hammond-Orgel untergejubelt, was es nun im ausgedudelten Weihnachtsfach versucht und siehe da – Christmals Soul ist ein bemerkenswertes Stück Festtagsuntermalung, das schon darum über Heiligabend hinaus von Belang ist, weil man bei vielen der 13 Stücke mehrfach hinhören muss, um die Tradition herauszuhören. Mit pittoresker Querflöte wird Sleigh Ride tanzbar, mit elegantem Sax Oh Tannenbaum existenzialistenclubtauglich, mit viel Hingabe die ganze weihrauchvernebelte Konsumzeit erträglicher. Und das – versprochen! – war‘s dann auch schon an dieser Stelle für mindestens fünf Jahre mit Weihnachtsmusik.
Barbara Dennerlein – Christmas Soul (MPS)
Zwei der drei Platten wurden vorab auf ZEIT-Online vorgestellt
Die Agentenserie Deutschland 83 gilt schon vor ihrer heutigen Premiere bei RTL als Missning Link zur internationalen Güte. Kein Wunder – wurde sie doch von Anna Winger (mit ihrem Mann Jörg; Foto@Ufa Fiction), amerikanische Autorin mit Wohnsitz Berlin, konzipiert. Ein Interview über History-Helden ohne Hakenkreuz und Judenstern, Musik als Ansporn und was unser Fernsehen in den USA mit Kakao zu tun hat.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Anna Winger, nach Jonathan Franzen erklärt uns in diesem Jahr schon zum zweiten Mal ein Autor aus den USA, was die DDR mit dem vereinten Deutschland zu tun. Wie kommt es zu diesem fremden Blick aufs Vertraute?
Anna Winger: Ach, so fremd fühle ich mich schon längst nicht mehr. Ich lebe hier seit 2002 und zahle brav Steuern, mein Mann und meine zwei Kinder sind Deutsche, ich schreibe also nicht über einen zufälligen Ort, der mich neugierig macht, sondern meine eigene Welt, die ich mein halbes erwachsenes Leben bewohne.
Das erklärt ihr Interesse am Deutschland der Gegenwart. Aber woher rührt das am historischen, 30 Jahre zuvor?
Ich bin generell an Geschichte interessiert, aber diese hier interessiert ich schon deshalb, um meinen Kindern erklären zu können, dass vor gar nicht langer Zeit eine Mauer im Weg war, wenn man von Kreuzberg nach Mitte wollte. Daran interessiert mich auch, wie es ist, seine Heimat zu verlieren, ohne sie zu verlassen. Andererseits ist meine Begeisterung für Deutschland 83 gar nicht unbedingt historisch, weil ich zu jener Zeit 13 Jahre alt war. Für mich ist diese Handlung also Teil meiner bewussten Gegenwart. Living history.
An der im zeitgeschichtssüchtigen Fernsehen hierzulande eigentlich kein Mangel besteht oder?
So wenig wie an großen amerikanischen Gesellschaftserzählungen. Deshalb wollte ich ja eine mit deutschen Protagonisten machen, in der weder Hakenkreuze noch Judensterne vorkommen.
Und warum das Jahr 1983?
Wegen der Musik! Damals habe ich eine echte Beziehung zu ihr aufgebaut. Und als Jörg und ich mal mit Hans-Otto Bräutigam geredet haben, damals [auf Deutsch] Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, sagte er, wegen der Milliardenkredite und der Friedensbewegung deutete sich in dem Jahr erstmals die theoretische Möglichkeit einer Wiedervereinigung an. Außerdem war es für mich als Amerikanerin leichter als für einen Ost- oder Westdeutschen, so eine Geschichte zu schreiben.
Warum?
Weil sie einen Ost- oder Westblick einnehmen würden. Meine Perspektive ist neutraler.
Warum haben Sie da ausgerechnet eine Agentenstory gewählt?
Weil ich fish-out-of-water-Storys liebe, die ihre Helden in feindliche Umgebungen schickt. Dennoch ist Deutschland 83 mehr eine coming-of-age– als Agentengeschichte. Es geht hier eher um Martin als Deutschland, der wie Dorothy im Wizzard of Oz in eine bizarre Welt eindringt, aus der er unbeschadet heimkehren will. Es geht um Heimat, Identität, Herausforderungen.
Die auch darin besteht, innerhalb weniger Wochen vom NVA-Soldaten zum 007 trainiert zu werden, der unter Druck nicht mal schwitzt. Ist das Realität oder Märchen?
Weil er eben doch schwitzt und oft scheitert, ist es keines; zumal die DDR in den 80ern wirtschaftlich schon so danieder lag, dass sie mit geringsten Mitteln Erfolge erzielen wollte. Ich frage mal zurück: Würde ein spießiger Chemielehrer Chrystal Meth kochen? Im Rahmen der Wirklichkeit ist vieles möglich und Martins Job ist dabei nur ein Tor in die Handlung, kein Wesensmerkmal. Man findet es in jeder amerikanischen Serie, die abgefeiert wird. Haben Sie die Sopranos gesehen?
Natürlich!
Und glauben Sie, ein Mafiaboss würde zur Psychiaterin gehen, um ihr sein Innerstes zu öffnen? Auch das ist ein wenig realistisches, aber theoretisch denkbares Setup für eine grandiose Serie. Wir erhoffen uns das Gleiche mit dem Spionagethema.
Sorgt das für Anschlussfähigkeit auf dem amerikanischen, actionaffineren Markt?
Schon, Amerikaner haben deutsche Geschichte nicht nur im Kalten Krieg stets auch als eigene empfunden und dazu gehört sicher auch die Geheimdiensttätigkeit. Dennoch wurde die Serie eindeutig für den deutschen Markt konzipiert – schon weil sie so viel visuell und sprachlich vermitteltes Insiderwissen über beide Deutschlands vor 30 Jahren aufweist.
Welchen Ruf hat deutsches Fernsehen denn in den USA?
Im Grunde hat es überhaupt keinen Ruf. Viele haben bislang abgesehen von Deutschland 83 noch nie etwas aus Deutschland gesehen. Einzige Ausnahme ist vielleicht Wetten, dass…?, aber auch nur, weil es von amerikanischen Gästen der Show publikumswirksam durch den Kakao gezogen wurde. Ansonsten habe ich noch nie was übers deutsche Fernsehen in amerikanischen Medien gehört.
Umso erstaunlicher, dass Deutschland 83 erfolgreich beim Kabelkanal Sundance Channel lief…
Und zwar untertitelt, was amerikanische Zuschauer nur selten akzeptieren. Das lag zum einen daran, dass er auf der Berlinale lief und dort von den richtigen Leuten gesehen wurde. Und an der Hauptfigur: Martin ist ein normaler Junge mit normalem Leben, der plötzlich in ein Abenteuer gerät, wo er weder auf der guten noch der bösen, sondern der eigenen Seite steht, die er zur bestmöglichen machen will. Amerikaner lieben solche Charaktere. Wir denken ja immer, Geschichte sei eine schicksalhafte Intelligenz über unseren Köpfen; tatsächlich wird sie von Individuen gemacht. Das Gewöhnliche im aufrechten Kampf mit dem Außergewöhnlichen – so funktionieren Fernsehserien.
Von denen es hierzulande noch immer zu wenig gibt.
Weil sie ihren Charakteren nicht erlauben, sich zu entfalten; weil Handlung oft bloß Beiwerk der Dialoge ist und umgekehrt; weil man sich für Action oder Drama oder Leidenschaft oder Historie entscheidet, anstatt alles miteinander zu verbinden, wie wir es versuchen. Deshalb wurde die Storylines, die Jörg und ich entwickelt hatte, von uns einer Art Writers’ Room mit vier Autoren weiter ausgearbeitet. Der kollektive Teil der Arbeit war immens wichtig.
Will die uns denn vornehmlich unterhalten oder geschichtlich aufklären?
Beides, auch um damit die Gegenwart besser zu verstehen. Die Zeit vorm Fall der Mauer ist ja nicht nur für Jüngere noch immer abstrakt, gerade im Osten. Dennoch sind wir ein Unterhaltungs-, kein Bildungsformat. Deutschland 83 ist also weniger Infotainment als Alice in Wonderland mit viel Politik.
Seit Monaten schon schwärmt alle Welt von der Agentenserie Deutschland 83 (Doppelfolgen ab 26. November, donnerstags, 20.15 Uhr, RTL). Dass deutsches Fernsehen damit zukunftstauglich wird, ist zwar ein bisschen arg euphorisch – Träumerei ist es nicht.
Von Jan Freitag
Deutsche Serien, so geht seit langem die Klage, sind banal, bieder, billig, kurz: furchtbar. Ein Urteil, dass man noch erweitern muss: Im Grunde gibt es sie gar nicht – weder in den Feuilletons noch Köpfen oder Herzen, geschweige denn im Ausland. Abgesehen von einigen Hollywoodstars, die über ihren Besuch auf Lanz‘ Wettcouch gelästert haben, hat Anna Winger in den Medien ihrer Heimat „nie was übers deutsche Fernsehen gehört“. Das könnte zwar daran liegen, dass die Autorin aus Chicago seit 2002 in Berlin lebt, aber es stimmt schon: Während Fernsehen made in germany hierzulande immerhin belächelt wird, hat es in Amerika, „überhaupt keinen Ruf.“ Das könnte sich nun ändern.
Dank Anna Winger.
Mit ihrem (deutschen) Mann Jörg hat sie ein (deutsches) Format auf den (internationalen) Markt gebracht, das die Karten im Serienspiel neu mischt: Deutschland 83. Der Achtteiler läuft fortan donnerstags in Doppelfolgen bei einem Sender, der eigentlich für renditefinanzierte Publikumsverachtung steht. Daran dürfte auch die opulente Agentengeschichte um einen NVA-Soldaten, den der Geheimdienst Ost sechs Jahre vorm Ende des Kalten Kriegs in die Bundeswehrführung schleust, um einen angeblichen NATO-Erstschlag zu enttarnen, wenig ändern. Dennoch schreibt RTL grad TV-Geschichte.
Schließlich ist vieles an „Deutschland 83“ auf einem Niveau, das den „Spiegel“ von „Homeland DDR“ faseln lässt. Rund 22.000 Euro Herstellungskosten pro Minute, mehr als jeder Tatort ohne Til Schweiger, liegt ja auch weit oberhalb üblicher Serienetats und finanziert nicht nur die exquisite Ausstattung, sondern auch Schauspielstars, die sich allenfalls für Mehrteiler zur Verfügung stellen. Vor allem sie machen die Story um den farblosen Martin (Jonas Nay), den die eigene Tante (Maria Schrader) ins Vorzimmer von General Edel (Ulrich Noethen) lotst, wo er nicht nur die Pläne des Feinds auskundschaftet, sondern auch noch allerlei Liebes- und andere Abenteuer erlebt, so sehenswert.
Gut, auch das ist voll fernsehtypischer Überdramatisierungen, die sich ein Sender wie RTL nicht verkneifen kann. Der nachrichtendienstliche Anfänger Martin wird in gefühlt zwei Wochen zum 007 trainiert, der selbst in Extremsituationen nicht mal schwitzt und in alltäglichen mit allem dekoriert wird, was die Achtziger im kollektiven Gedächtnis verankert: Musik, Dekors, Kleidung, Habitus – Garnitur aus dem popkulturellen Mainstreambaukasten.
Doch trotzdem zieht sich etwas durch die erste Staffel, das handelsüblichen Produkten deutscher Herkunft meist fehlt: Exzellente Drehbücher mehrerer Edelfedern, deren intensives Teamwork unter Wingers Leitung nahe am viel gerühmten Writer’s Room amerikanischer Art ist. Dazu ein kommissarloses Zeitgeschichtsthema „ohne Hakenkreuz und Judenstern“, wie die Erfinderin, Entwicklerin, Produzentin in Personalunion betont. Und nicht zuletzt eine Liebe zur Figurenentwicklung, die dem Helden allen Ernstes dunkle Seiten erlaubt.
Als Martin darf der gefeierte Jungstar Nay (Homevideo) im Auftrag des künftigen Systemverlierers (DDR) ja allerlei Herzen brechen, dabei manchmal richtig verschlagen sein, sogar skrupellos und dennoch zum Sympathieträger beider Seiten taugen. Deshalb, sagt Anna Winger, sei Deutschland 83 auch gar kein krachender Agentenbumms fürs leicht erregbare RTL-Publikum, sondern das „Coming-of-Age-Drama“ mit viel Politik einer Figur, die sich wie „Alice im Wunderland“ plötzlich in einer völlig fremden Welt befindet und dort zu behaupten versucht. Jenseits der unterhaltsamen Mixtur aus Action, Sex, Kulissenschieberei gehe es abseits der weltgeschichtlichen Bedeutung also vornehmlich „um Heimat, Identität, Herausforderung“.
Das wissen selbst US-Zuschauer zu schätzen, die dem Sundance Channel im Sommer – wider alle Sehgewohnheiten – trotz Untertiteln Topquoten bescherten und der Serie geradezu hymnische Kritiken. „Seriös, krass, lustig und frisch“, urteilte das Time Magazine, was die ehrbare New York Times um „aufregend und faszinierend“ ergänzte. Der internationale Ruf des deutschen Fernsehens, das Hollywood-Stars in Tierkostümen auf Wettcouches quält – dank Deutschland 83 beginnt es zu bröckeln.
Die aktuelle Nachrichtenlage zerstört grad drei liebgewonnene Gewissheiten: Dass Aggression ein zielgerichteter Akt ist zum Beispiel. Dass man demnach zum Opfer wird, weil es – wie vage auch immer – Gründe dafür gibt. Dass die Zivilisation auf dem Weg fort von der Barbarei also stets vorwärts strebt. Mit derlei frommen Wünschen räumen stundenlange Sondersendungen seit zehn Tagen bei gigantischen Einschaltquoten täglich auf. Gut, als Dienstag ein Fußballländerspiel abgesagt wurde, räumte das ZDF zwischen zwei Krimis nur den Gegenwert einer Halbzeit für die breaking news. Ansonsten aber wirft der Zivilisationsbruch von Paris alle Programmplanungen unbürokratisch über den Haufen.
Da entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass ihm ausgerechnet der atavistische Modernitätsverweigerer Til Schweiger, dem eine geballte Faust allemal lieber ist als Argumente, zum Opfer fiel: Aus „Respekt vor den Opfern grausamer Anschläge“, wie der NDR mitteilen ließ, wich sein gestriger Anti-Terror-Kombattant Nick Tschiller der sanften Maria Furtwängler, was seinerseits erstaunlich war – ermittelte sie doch (dramaturgisch schlicht, aber immerhin mit Bild-Chef Diekmann als Leiche) im Milieu der Bundeswehr, die bald im heißen Einsatz sein könnte, wenn sich die Lage nicht normalisiert und der anhaltende Flüchtlingsstrom nebst rechtem Mob zurück in die Tagesschau kehrt.
Ob darin jedoch in absehbarer Zeit weiche Meldungen – also ohne Krieg, Terror und Krise – Platz finden, darf bezweifelt werden angesichts der endlosen Verwerfungen unserer Gegenwart. Deshalb künden wir an dieser Stelle mal von etwas, das in seiner Harmlosigkeit fast banal ist und doch berichtenswert: Nach dem Nullpunktefiasko von Wien wollte der NDR fürs nächstjährige ESC-Finale in Stockholm nicht verschiedene, hüstel, Künstler gegeneinander antreten lassen, sondern Xavier Naidoo gegen Xavier Naidoo und einen gewissen Xavier Naidoo, was allerdings einen so umfassenden Shitstorm nach sich zog, dass der zuständige Sender flugs wieder abrückte vom verschwörungstheoretischen Fundamentalchristen mit Schwarzrotgold-Fimmel. Ach Herr, falls es dich gibt: lass Niveau regnen, auf dieses Fernsehland!
Die Frischwoche
23. – 29. November
Ein wenig davon wässert allerdings schon diesen Sonntag. Und zwar nicht nur, weil die Testosteron-Gießkanne Schweiger verschoben wird, sondern mehr noch, da Günther Jauch – der Gott des Talkens hatte ein Einsehen! – endlich die ARD verlässt. Danke für gar nichts, Günni! Und bitte, bitte bleib bis zur Rente bei RTL; da gehörst du hin, der gehört zu dir und dort gibt es mittlerweile ja durchaus auch mal so was wie sehenswertes Fernsehen.
Deutschland 83 nämlich, ein Agententhriller in (vorerst) acht Teilen, der den Graben zur internationalen Serie von Format nicht nur provisorisch, sondern recht solide überbrückt. Der ungewöhnlich begabte Jonas Nay wird darin vom Event-Schmied Nico Hofmann als argloser NVA-Soldat Martin in die BRD geschickt, um als Bundeswehrsoldat getarnt einen befürchteten NATO-Angriff zu verifizieren. Doch was wie üppig kostümiertes Zeitgeschichtsepos daherkommt, ist hinter der weltpolitischen Fassade die Coming-of-age-Story eines Jungerwachsenen, der seine Persönlichkeit zwischen zwei Systemen findet – also ungewohnt vielschichtig.
Gut, Borgen oder Homeland spielen noch immer in einer höheren Liga; Deutschland 83 ist dennoch besser als das meiste, was hier sonst in Reihe geht. Und wird interessanterweise vom ARD-Mittwochsfilm eingeleitet, der das Spionagethema etwas anders personalisiert: Mit der hinreißenden Julia Koschitz als westdeutsche Studentin, die in den Siebzigern von der Stasi angeworben wird, was ihre Bea in Unsichtbare Jahre noch mehr zerreißt als ihren Ost-Kollegen Martin. Spionage ganz anderer Art verarbeitet die exzellente Doku Citizenfour an gleicher Stelle Montag zuvor (22.45 Uhr): Auf Basis seiner Begegnungen mit den Reportern Laura Poitras und Gleen Greenwald porträtiert sie den Whistleblower Edward Snowdon so umfassend, dass es dafür einen Oscar gab.
Den Grimme-Preis hätte hingegen Christian Redls achter Spreewald-Einsatz am Montag im ZDF verdient. Als Kommissar Krüger den Laptop dreier Filmemacher findet, die auf der Suche nach einem legendären Wassergeist im Moor verschwunden sind, führt ihn ein gespeichertes Video auf die Spur zweier Frauen, die 15 Jahre zuvor das gleiche Schicksal ereilte. Blair Witch in Brandenburg – fabelhaft gespielt, grandios fotografiert, oft echt gruselig. Also irgendwie nicht sonderlich weit weg von der Wiederholung der Woche in Farbe: Ridley Scotts Alien (Mittwoch, Kabel1), zeitlos schockierend, wenngleich die ganz krassen Szenen der Sendezeit um 20.15 Uhr zum Opfer fallen oder von 37 Minuten Werbung zerhackt werden dürften. Letzeres bleibt dem schwarzweißen Tipp Regeneration erspart. Das Exit-Drama im Gangstermilieu von 1915 läuft heute um 23.35 Uhr auf Arte. Ebenso wie die Doku der Woche: um 22.45 startet am Samstag der Dreiteiler Von DADA bis GAGA über die Faszination der Performancekunst in den vergangenen 100 Jahren.
Jazz. Gewöhnliche Menschen unter 65 kriegen bei dem Begriff schnell ein Grummeln aus Mitgefühl, Klassenbewusstsein, Langeweile im Magen. Jazz, das ist ja oft die Musik kultivierter Senioren mit Hang zur Selbstgerechtigkeit, die nie, niemals etwas anderes (außer Deutschlandradio) hören. Jazz ist demnach selten was für ein gedanklich wie körperlich jüngeres Publikum. Obwohl: Stephanie Nilles ist es doch. Aber die Pianistin macht ja auch keinen Jazz, sondern Jazz – als Ausdrucksform spontaner Leidenschaft, aber eben nicht als Alterungsbegleitung. Sie selbst nennt es Loungepunk. Und da sind wir der Sache nah und fern zugleich.
Ihr neues Album atmet den Rauch existenzialistischer Keller rings um den Krieg. Einerseits. Andererseits ist Murder Ballads so spürbar von Epigonen wie Tom Waits und Ani DiFranco inspiriert, dass es nicht nur dank der Texte um Drogen und Prostitution, Cyberkriminalität und Waffenfetischismus gegenwärtig wirkt. Studioplatte Nr. 4 der jungen Songwriterin aus Chicago, die über New York nach New Orleans, also an ihren Bestimmungsort zog, saugt alles auf, was die Enkel dem elaborierten Sound ihrer Großeltern verpasst haben: Folk, Alternative, Postpunk – fertig ist ein zwölfteiliges Stück Nostalgie mit Kontrabass und Schlagzeug, das dank der dunkel überdrehten Stimme unfassbar modern klingt. Selten hat jemand mit kaum 30 die Befindlichkeiten ihrer Generation gediegener und zugleich spannend zum Ausdruck gebracht.
Zumal sich Musik generell bestens eignet, Befindlichkeiten jeder Art auszudrücken. Klug betextet geht sie spielend zu Herzen und wirkt selbst beim saftigsten Pop wie ein Code zum Geheimfach des Geistes. Bei Manfred Groove jedoch ist zu bezweifeln, ob der Wortschwall des Debütalbums irgendetwas Bedeutsames vermitteln will. “Ich mach‘ mein Ding, auch wenn es scheiße ist / und achte dabei peinlich genau darauf, dass es nicht scheiße ist / warum ich das eigentlich mache, weiß ich nicht / wahrscheinlich weil ich muss / wie das halt beim Scheißen so ist” – in diesem Duktus rappt Milf Anderson zum Beatgewitter seines Berliner Kumpels Yellowcookie und tanzt dazu, “als hätt‘ ich Senf in der Kimme”.
Da breitet sich in 18 Stücken eine so gehaltvolle Redundanz aus, als passe die Welt tatsächlich “in eine Binsenweisheit”, wie es im wunderbar nöligen Stück Goldstaub heißt, der sich auch sonst daumendick über die hinreißenden Tonkaskaden legt wie K.I.Z. mit mehr Niveau oder wahlweise Bushido ohne den Hass. Ob Manfred Groove damit wirklich die Welt erklären, ändern, veräppeln oder bloß gut entertainenwollen, ist dabei Auslegungssache; aber nie wurde man beim Auslegen von Hip-Hop besser unterhalten.
Manfred Groove – Ton, Steine Sterben (Rummelplatzmusik)
Charles Pasi
Auslegungssache ist fraglos auch das Werk von Charles Pasi. Sein urbaner Soul brachte dem Songwriter aus Paris zwar schon mit Anfang 20 allerlei Vorschusslorbeeren; eine schwulstige Schicht Blues darüber verhinderte in den Jahren darauf allerdings, dass der Mundharmoniker auch unter Altersgenossen Anklang fand. Dafür könnte auf seinem dritten Album nun ausgerechnet ein Genre sorgen, das ihm zuvor bloß als Accessoire diente: Jazz. Zusammen mit Anklängen von Klassik verleiht er gleich dem zweiten Stück No Company eine Sperrigkeit, die Pasis kehligem Gesang filigranen Charakter gibt.
Gut, dem englischen Gefasel von Liebe, Sex und Zärtlichkeit hätte der Franko-Italiener in seiner Muttersprache sicherlich ein paar klügere Noten entlockt. Doch musikalisch ist Sometimes Awakeauch dank der exzellenten Band unterhaltsamer als alle Vorgänger: experimenteller, funkiger, verspielter, kreativer, jünger, mit Off- oder Afrobeat zur rechten Zeit auch lebendiger. Weil der Thirtysomething noch dazu immer schöner wird, könnte es also klappen, mit der Karriere über die Festivals grauer Männer hinaus.
Charles Pasi – Sometimes Awake (Believe Recordings)
Zwei der Texte sind zuvor bei ZEIT-Online erschienen, wo es noch mehr Sound’n’Pics gibt
Tobias Moretti hat schon öfter Nazis gespielt, auch Hitler. Im ARD-Film verkörpert der Österreicher nun eine der bizarrsten Figuren des NS: Luis Trenker (Foto: BR/Roxy/Christian Hartmann), der sich an der Seite von Brigitte Hobmeier als Leni Riefenstahl zwischen Persiflage und Porträt von Goebbels selbstbewusstem Liebling zum gebrochenen Bittsteller wandelt. Ein Gespräch über den Bergsteigerfilmstar und was er mit seinem Landsmann gemeinsam hat.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Moretti, kann es sein dass Ihr Luis Trenker die erste NS-Figur abseits der Führungsclique ist, die das Fernsehen nicht mit Samthandschuhen anfasst?
Tobias Moretti: Das mag vielleicht so erscheinen, wenn man diese Entschuldigungs-Epen der letzten Fernsehjahre betrachtet, aber Trenker ist nicht nur und unbedingt eine Figur des Nationalsozialismus. Trenker ist nicht Ferdinand Marian.
Einer von Goebbels‘ „gottbegnadeten“ Schauspielern, der in Veit Harlans Propagandafilm Jud Süß 1940 die Titelrolle gespielt hatte.
Dennoch ist er als Prototyp jemand, der mindestens fünf, sechs Epochen durchschwommen hat und am Schluss trocken aus dem Wasser gestiegen ist.
Spricht die Tatsache, dass so einer nun wirklich ungeschönt im Fernsehen porträtiert wird, für einen Gesinnungswandel des angeblich von Hitler bloß verführten Volkes?
Wer behauptet denn heute noch im Ernst, das Volk sei bloß verführt worden? Aber Trenker war auch nicht das Volk, er war immer ein Macher, eine leading person, also jemand, der das System benutzt und zeitgleich in seiner Eitelkeit nicht gemerkt hat, dass es ihn benutzt.
Wie Sie ihn darstellen, wirkt das manchmal wie eine Persiflage…
Ja, manchmal ist mir die Figur in ihrer Peinlichkeit direkt entglitten, so dass ich beim Anschauen das Gefühl hatte, die Figur steht teilweise neben mir.
Etwa, als Leni Riefenstahl vorm Sex mit ihm ausdruckstanzt?
Ach, da gibt es noch ganz andere Szenen. So was kann man ironische Distanz oder Fremdschämen nennen, wie man will.
Spielen Sie Trenkers seltsam entrücktes Selbstbewusstsein bewusst ein bisschen drüber oder war der wirklich so?
Ich glaube, der war wirklich so, und zwar sowohl im Selbstverständnis seiner Rolle als Mann als auch in seiner ästhetischen Überheblichkeit. Er greift zum Beispiel stilistisch die Moderne auf und packt sie dann doch in sein starres Weltbild. Ich glaube ebenso, dass der naive Trenker klüger war, als er gewirkt hat, kein unreflektierter Intuitionsmensch oder -künstler. Aber mit dem Naturell in der Tasche gehört dir die Welt.
Was am Film und Trenkers Darstellung darin ist historisch verbrieft?
Das meiste.
Auch die Liaison mit Leni Riefenstahl, von der sich im Internet wenig finden lässt?
Doch, sie kommt ja auch in Riefenstahl-Biographien vor. Ich weiß nicht, ob Zeit und Ort immer stimmen; aber vom Hauptstrang um Trenkers Versuch, mithilfe des US-Produzenten Paul Kohner Eva Brauns Tagebücher zu verfilmen, über den Sinneswandel von Goebbels in Bezug auf Trenker bis ins familiäre Umfeld ist alles belegt. Das Drehbuch ist hier sehr genau.
Wo hat es sich denn künstlerische Freiheit genehmigt?
Reine Fiktion war eigentlich nur sein Auto; das war natürlich ein Mercedes, kein Alfa Romeo. Das hatte bei uns aber weniger einen politischen Grund als einen budgetären.
Haben Sie Luis Trenker zu Lebzeiten je getroffen?
Ich hab ihn als Student einmal in Bozen vorbeigehen sehen und hab gedacht, das ist also der Trenker. Ein stattlich alter Herr.
War das vor Drehbeginn ihr Bild von ihm?
Bei uns in Tirol war er als Fernsehfigur nicht so gegenwärtig wie in Deutschland. Wir waren ja als Buben auch mit dem Alpinismus eng verbunden, und später hat sich herauskristallisiert, welches gesellschaftspolitische und alpinistische Chamäleon er war, also auch zwischen Pioniertum und Dampfplauderei. Und sein Erscheinungsbild als Fernsehonkel war mir sowieso befremdlich. Daher war für mich diese kritische Distanz der Erzählung notwendig, um ihn so spielen zu können, dass ich ihn dann selber mag und eine Schnittmenge erarbeiten kann. Jetzt ist er eben auch ein Teil von mir.
Aus einer neuen oder der alten Perspektive?
Also ich habe jetzt keine Erkenntnisse gewonnen, die nach dem Film andere wären als vorher, bin aber froh, dass es mir gelungen ist, Trenker als schillerndes Kaleidoskop in seiner Widersprüchlichkeit zu mögen.
Nur mal hypothetisch gefragt: Wenn Sie seinerzeit für Entnazifizierung zuständig gewesen wären – hätten Sie Trenker und Riefenstahl ungeschoren davonkommen lassen?
Ein Thema des Films war ja, dass Trenker als Italiener keine Entnazifizierung brauchte. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass er je der Ideologie verfallen wäre. Das macht seinen Opportunismus nicht besser, aber vielleicht anders. Leni Riefenstahl hingegen hat ihre Ästhetik nicht bloß in den Dienst der NS-Ideologie gestellt, ihre Ästhetik war NS-Ideologie. Dennoch kenne ich genug hochstehende Persönlichkeiten, und zwar auch der entgegengesetzten politischen Couleur, die ihr begegnet sind und die ihr eine unglaubliche Faszination attestieren, und zwar bis ins hohe Alter.
Sie selbst spielen häufiger Nazis und deren Helfershelfer, darunter Hitler selbst, Ferdinand Marian, den Gestapo-Chef Rudolf Diels – was qualifiziert Sie bloß dafür?
Jetzt bringen Sie mich wirklich zum Nachdenken. Naja, diese Figuren sind wahrscheinlich in unserer Medienkultur auch dramaturgisch viel gegenwärtiger als die kommunistischen Weltschlächter und ihre Helfershelfer. Aber vielleicht sollte ich mich ja mal um Honecker bewerben. Eine Herausforderung, auch für den Friseur.
Was war denn im Falle Trenkers für Ihre Besetzung wichtiger: Optik oder Ihre Gabe, männlich übersteigertes Selbstwertgefühl in einem Blick zerbröseln zu lassen?
Diese Herausforderung hat in der Tat meine spielerische Lust provoziert. Optisch würde ich geeignetere kennen.
Haben Sie selber eine eher brüchige oder unverbrüchliche Männlichkeit?
Ich habe beides, gleichermaßen und im Übermaß. Und das ist keine rhetorische Antwort
Gibt es irgendwas Bemerkenswertes, das Trenker und Sie teilen?
Da gibt es einiges: Die leidenschaftliche Beheimatung in meinen Bergen, die mein Wesen geprägt haben und es noch immer tun. Sie sind meine Sehnsucht, meine Begrenzung und damit auch ein Motor meines ständigen Aufbruchs, vielleicht auch meiner Überschätzung. Und die Neigung zu schnellen Frauen und leidenschaftlichen Autos auch, natürlich.
Der Film ist noch eine Woche in der ARD-Mediathek zu sehen
Wenn die ARD ein Biopic über Luis Trenker (Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD; Foto: BR/Roxy Film/Christian Hartmann) sendet, liegt der Verdacht nahe, da werde mal wieder ein Mitläufer reingewaschen. Dagegen spricht allerdings schon der Darsteller: Tobias Moretti macht den Film zu einer Abrechnung mit dem Bergfilmstar – und Männern insgesamt.
Von Jan Freitag
Der Wendehals gilt als hochmobiles Wesen. Seine Biegsamkeit ist legendär, das Zugverhalten ausgeprägt, die Verbreitung enorm. Nur seine Lebenserwartung scheint nicht der Rede wert: mit vier Jahren ist für den „Vogel des Jahres 1988“ meist Schluss. Das unterscheidet ihn fast noch grundlegender von seinem menschlichen Gegenstück gleicher Zuschreibung als Federkleid und Flugvermögen. Gerade im kulturellen Fach nämlich schafft es der humane Wendehals oft in biblische Sphären.
Johannes Heesters zum Beispiel: 108 Jahre. Oder Leni Riefenstahl: nur sieben weniger, also im Bereich eines besonders mobilen, biegsamen, zugkräftigen Kollegen: Luis Trenker. Ältere Zuschauer werden den Südtiroler noch leibhaftig am Röhrenapparat erlebt haben – als Märchenonkel etwa, der das Publikum des braun befleckten BR mit Luis Trenker erzählt noch bis zum Beginn der Ölkrise in Heimatliebe tunkte. Oder als Gelegenheitsschauspielder erst zweit-, bald drittklassiger Formate, wo er weißhaarig, lederhäutig, felsenstolz den putzigen Alpenopa gab.
Was dort jedoch sorgsam verschwiegen wurde, was generell selten zur Sprache kam in der formatierten Nachkriegsgesellschaft: Luis Trenker war ein alpinistisches Vorzeigemodell nationalsozialistischer Kinoästhetik, Berge erobernder Ufa-Star von Goebbels Gnaden und als solcher Teilstück diverser Menschheitsverbrechen. Doch weil er als NS-Regisseur ein hochgeachteter Pionier naturalistischer Bergfilmfotografie war und sich damit reibungslos ins Unterhaltungsfach der Bundesrepublik einzuordnen vermochte, ist Skepsis angebracht, wenn ihm das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein Biopic schenkt; zu oft schon kamen die Täter und Mitläufer, die Rommels und Stauffenbergs, die Dresdner im Bombenhagel und Gräfinnen auf der Flucht fiktional besser weg als die Realität geböte.
Wie gut, dass es Tobias Moretti gibt. Schließlich ist es besonders dem österreichischen Burgschauspieler zu verdanken, dass Wolfgang Murnbergers sehenswertes Filmporträt Luis Trenker seinen Untertitel verdient: Ein schmaler Grat der Wahrheit. Den beschreitet Moretti mit der gebotenen Ambivalenz eines Künstlers von bizarrer Geschmeidigkeit. Kurz nach Kriegsende, so hat es Peter Probst ins Drehbuch geschrieben, sitzt Trenker vorm heimischen Bergpanorama und fälscht beim Fußbad Eva Brauns Tagebücher, die er dem Hollywoodagenten Paul Kohner (Anatole Taubman) auf dem Filmfestival Venedig 1948 zur Umsetzung anbietet, was keine Geringere als Leni Riefenstahl (Brigitte Hobmeier) zu verhindern sucht, weil sich die schöne Reichsparteitagsregisseurin darin als Hitlers Geliebte verunglimpft sieht, wo sie doch allenfalls mit dem eigenen Steigbügelhalter namens Trenker im Bett war.
Dem verleiht Tobias Moretti eine brüchige Männlichkeit, die das Y-Chromosom bis tief in unsere Gegenwart zur Bürde macht. Gefangen zwischen Kleingeist und Größenwahn, Profilneurose und Geltungsdrang, Brüllen und Schweigen flattert Morettis skeptisch entrückter Blick von fadenscheinigem Erfolg zu folgenloser Niederlage und zurück, immer wieder. Ob sich die aufstrebende Leni vorm älteren Luis nach skurrilem Ausdruckstanz in die Titelrolle vögelt; ob der absteigende Trenker vom jüngeren Goebbels für seine italienische Staatsbürgerschaft gemaßregelt wird; ob das Tagebuchprojekt des uneinsichtigen Mittfünfzigers nach dessen Ende den Bach runtergeht – stets verpasst Moretti seiner gleichalten Figur eine Aura des Schaumschlägers mit fataler Wirkung, die bis ins kleinste Detail belegt sein soll. „Reine Fiktion“, sagt Tobias Moretti, „war eigentlich nur sein Auto“, also jener Alfa Romeo, in dem sein Trenker gern windschnittig viril durchs Alpenpanorama rast.
Wie es sich eben gehört für ein „gesellschaftspolitisches Chamäleon“, das „fünf, sechs Epochen durchschwommen hat und am Schluss trocken aus dem Wasser gestiegen ist“. Morettis Distanz zum Alter Ego auf Zeit, mit dem er die Liebe zum Gebirge als „Sehnsucht, Begrenzung, Motor meines ständigen Aufbruchs, aber auch meiner Überschätzung“ nebst der „Neigung zu schnellen Frauen und leidenschaftlichen Autos“ teilt, ist offenkundig. Dennoch will er dessen Schuld nicht überbewerten. Als leading person habe Trenker „das System benutzt und zeitgleich in seiner Eitelkeit nicht gemerkt hat, dass es ihn benutzt.“ Eher Mit- als Haupttäter also, die Moretti beide oft spielt: vom Jud Süß Ferdinand Marian über Gestapo-Chef Rudolf Diels bis zum Führer selbst.
„Jetzt bringen Sie mich wirklich zum Nachdenken“, sagt er auf die Frage, was ihn denn bloß so zum Nazi qualifiziere und schlägt vor, sich ersatzweise mal um Honecker zu bewerben. „Eine Herausforderung, auch für den Friseur.“ Tobias Moretti dürfte auch die meistern; männliche Abgründe sind sein Metier. Und Wendehälse.
Der Tod kommt oft unsagbar überraschend, wie am vorigen Freitag, als das Sammelbecken gottloser Loser namens IS ihren unheiligen Krieg gegen die Intelligenz erstmals nach Europa getragen hat, wo er seither ganztägig die Nachrichten dominiert, als gäbe es keine Programmstrukturen mehr. Der Tod kommt allerdings selbst dann oft unvermittelt, wenn es sich so lang ankündigt, wie im Falle Helmut Schmidts. Mit 96 Jahren ist der ewige Altkanzler vorigen Dienstag gestorben und hat dennoch das halbe Land und fast seine ganze Stadt in Schockstarre versetzt. Nur die Medien, die schockstarrten nicht, sie feuerten aus allen Rohren, was längst Teil der Berichtskultur ist: Nekrologe in Echtzeit, auf Halde produziert, im Giftschrank gelagert, bei Gelegenheit abrufbar. Keine pietätvolle Praxis, aber eine praktikable im verzugsfreien Internetzeitalter.
Doch was da vorige Woche an sorgsam geplantem Spontangedenken aufs Publikum niederging, war schon von grundlegend neuer Qualität. Zig Seiten lang waren die Nachrufe selbst außerhalb von Schmidts Heimathafen, riesige Bilderstrecken inklusive, nicht alle distanzlos lobhudelnd wie Hamburgs Bild und die baugleiche Morgenpost, aber nahezu durchweg von kritikloser Hochachtung durchdrungen, die sogar den Brennpunkt der Tagesschau ergriff, dessen gewohnter Umfang kurzerhand verdreifacht wurde, als käme das Ableben eines Kettenrauchers im methusalemischen Alter irgendwie unerwartet. Aber das sind Windmühlenkämpfe im Informationszeitalter.
Denn der Medienrepublik ist ein polarisierender, gleichwohl brillanter Gesellschaftsanalyst von selten gewordener Schärfe abhanden gekommen, der seinem Metier – der Publizistik, der Politik – fehlen wird. Das wird man eines Tages von Donald Trump eher nicht sagen müssen. Seine Moderation der legendären NBC-Show Saturday Night Livejedenfalls war zwar ungewöhnlich, aber alles andere als witzig, weshalb die Chance, US-Präsident zu werden immerhin nicht noch größer geworden ist.
Die Chance, ein seriöser Sender zu werden hat hingegen der Kabelkanal Vox ergriffen. Sein erstes eigenes Serienprodukt Club der roten Bänder war nicht nur qualitativ hochwertiger als vieles, das ernstzunehmendere Sender seriell zuwege bringen, sondern mit 2,5 Millionen Zuschauern auch verhältnismäßig erfolgreich.
Die Frischwoche
15. – 22. November
Sollte die Zahl bei den heutigen Folgen 2 und 3 auch nur annähernd bestätigt werden, könnte die Konkurrenz jeder Couleur vielleicht wirklich mal begreifen, dass man dem Publikum ruhig sperriges Fernsehen vorsetzen darf… Dinge, die bislang aus anderen Ländern kommen und online laufen. Das Hacker-Epos Mr. Robot zum Beispiel, dessen Nerds so glaubhaft sind, dass ihnen sogar Edward Snowdon Respekt zollt. Oder die pseudohistorische Dystopie The Man in the High Castle, in der die Nazis doch gesiegt haben und Mitte der Sechziger Amerika regieren. Beides läuft ab Donnerstag bei Amazon Prime, das mit solchen Formaten (und einer gigantischen Vertriebskampagne) den Streaming-Markt überrannt hat. Ebenso ungewöhnlich und auch noch umsonst ist die Arte-Serie Occupied, in der Norwegen am gleichen Tag um 20.15 Uhr von Russland besetzt wird, weil es seine Ölproduktion herunterfährt. Witzig, wie undenkbar dieses Szenario noch vor ein, zwei Jahren geklungen hätte…
Ähnlich undenkbar übrigens wie Motorsport beim sonst so ansehnlichen ZDFinfo, das am gleichen Tag ab 15.30 Uhr allen Ernstes das sprithungrige, testosteronsatte Race of Champions überträgt. Ähnlich undenkbar auch wie ein Tatort mit Til Schweiger, der am Sonntag zum dritten Mal unverwundbar um sich schießen darf. Da ist es beruhigend, dass Mario Barth Mittwoch letztmals so tut, als decke er irgendwas auf. Weil die leibhaftige Lachnummer seinem Sender mit diesem Datenmüll allenfalls seinen Kontostand aufdeckt, damit RLT ihn hebe und hebe, kann man getrost umschalten zu Tobias Moretti, der dem ARD-Mittwochsfilm einen Louis Trenker von grandioser Ambivalenz zwischen Größenwahn und Kleinbürgertum verpasst.
Blieben noch ein paar nette Nischentipps. Im RBB liefern zehn Nachwuchsregisseure am Dienstag (22.30 Uhr) Zehn kurze Filme über ein Gefühl namens Heimat, was wirklich mal neue Blickwinkel verspricht. Am Totensonntag gedenken Christine Westermann und Götz Alsmann am Totensonntag um 22.15 Uhr der verstorbenen Gäste ihres WDR-Kleinods Zimmer frei! von Dieter Krebs bis Hans Meiser. In der farbigen Wiederholung der Woche rast Flash Gordon sodann bei 1Plus (Mittwoch, 22.15 Uhr) zum Titellied von Queen (1980) über den Bildschirm. Arte zeigt in der Nacht zu Dienstag um 0.45 Uhr Josef von Sternbergs 90 Jahre altes Spielfilmdebüt The Salvation Hunters über die Suche nach dem amerikanischen Traum. Und auf gleichem Kanal treffen sich Hitchcock – Truffaut um 20.15 Uhr und diskutieren anno 1962 über den Zustand ihres Gewerbes.