Zoon Politikon ist ein philosophischer Begriff fürs soziale Tier Mensch, übersetzbar mit Gemeinschaftswesen, dem das Kollektiv wichtiger ist als die individuellen Teile. Ein schöner Gedanke, aber irgendwie außer Mode in unserer hyperindividualisierten Zeit, der schon Hamburgs Diskursschule zu politisch ist und andernorts egoistische Angsthasen von AfD bis Pegida gebiert. Mit beidem will auch eine Band aus Hannover nichts zu tun haben, weshalb sich deren Mitglieder im Interview seltsam bereitwillig “Popper” nennen. Ein Begriff, der besonders optisch prima zu den vier hübschen Hipsterpunks passt, denen die Wahlheimat Berlin weiter das Stilbewusstsein schärft.
Dieser Hang zur Hülle ist auch musikalisch Programm. Ihr Debütalbum ist so vollgestopft mit glamourösem Mashup der digitalen Soundkultur, als wäre jeder der kompromisslos gut gelaunten Tracks ein Bekenntnis zum Hedonismus. Klingt für Feuilleton-Ansprüch grausam? Ist es auch! Aber eben auch einfach nur so herrlich verspielt und lustvoll redundant, dass schlichter Textmüll wie Mädchen, tanz mit mir nicht discosexistisch ist, sondern aus der Laune raus in den Sommer geträllert, also irgendwie, nun ja: nett. Manchmal ist es halt angenehm, wenn nicht dauernd politische Herdentiere durch die Boxen stromern, sondern – sagen wir: Primaten, die einfach mal den Tag genießen.
U3000 – Wir haben euch belogen (Freundehaus Recordings)
The Mighty Stef
Durchs neue Album von The Mighty Stef stromern hingegen keine Primaten, sondern Pferde. Viele Pferde. Ständig. Schon das wunderber depperte Cover von Year of the Horse zeigt ein Kunstexemplar in 3 D, dahinter hetzen zwei Vollblüter mit Jockeys über den Turf, die Titel lauten schon mal Horse Tranquilizers – es scheint, als verströmten die zwölf Stücke Westernaura. Doch von Country kann keine Rede sein. Die Dubliner klingen zehn Jahre nach ihrem Debüt, wie Editors und Libertines wohl gern noch klängen: pathetisch, nicht larmoyant, brennend statt ausgebrannt.
Das Quartett um Songwriter Stefan Murphy gewinnt dem Britrock abermals jene Kraft ab, die mit Pete Dohertys erstem Drogenentzug versiegte, berserkern aber nicht so wüst in die Harmonien, dass alle Eleganz verlorenginge. Gut, zuweilen verirrt sich das Album wie so oft im Genre zwischen Ohohoh-Chorälen und Liebesgefasel. Abseits solcher Standards jedoch wirkt das Ganze wie eine grandiose Clubnacht auf Absinth. Da jene Pferde, die sie gar nicht reiten, dabei ständig mit ihnen durchgehen, verordnen sie sich das Beruhigungsmittel übrigens selbst.
The Mighty Stef – Year of the Horse (Burning Sands Records)
The Phantom Sound
Wer von wem genau jetzt wie durch The Phantom Sound beruhigt werden muss, ist da schon ein bisschen schwerer einzuordnen. Musikalisch nahe am distinguierten New Wave der frühen Roxy Music, verpasst Marisa Schlussels Stimme diesem bemerkenswerten Debüt zuweilen Debbie Harrys leicht gelangweilten, hinreißend schnodderigen Grundton und wirkt dabei ebenso aufgekratzt wie tiefenentspannt. Ein unvergleichlicher Spagat, den vor und nach Blondie kaum eine Band zuwege gebracht hat.
Auch The Phantom Band nähern sich dem nur mit etwas Abstand an. Ihr digital aufgemöbelter Spätpunk klingt bei aller Lässigkeit allerdings oft so herrlich beschwingt und sachlich zugleich, wie es der Pop nur in seiner kreativen Ausdifferenzierungsphase zwischen Flower Power und Techno gelegentlich geschafft hat. Vornehmlich psychedelische, gern mal electroclashige Rock-‘n’-Roll-Riffs im Rücken, erzählt die Kalifornierin mit Wohnsitz London aus dem Hallraum des Studios so beiläufig von Beziehungsbelangen, dass man gar nicht recht merkt, wie einem vieles davon in die Glieder fährt. Also doch eher ein Upper als Downer.
The Phantom Sound – The Phantom Sound (Eigenlabel)
Sie ist halt so und kann nicht anders: In Einfach Rosa sucht die GZSZ-geschulte Wanderhure Alexandra Neldel (Foto: Iltze Kitshoff/ARD) mal wieder das kleine Glück für sich und andere. Dabei könnte sie mehr – das zeigt präzises Timing gepaart mit authentischer Ausstrahlung im Pilotfilm der ARD-Reihe (30. Oktober, 20.15 Uhr). Wenn die 39-jährige Berlinerin doch nur das Süßliche ließe. Nur: das will sie gar nicht.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Neldel, ich muss zu Beginn mal ein Lob loswerden.
Alexandra Neldel: Oh!
In Einfach Rosa stimmt Ihr Timing, das Wechselspiel zwischen Gestik und Mimik, der Ausdruck, fast alles. Kann es sein, dass die ungelernte Filmhilfskraft Alexandra Neldel mittlerweile eine echte Schauspielerin ist?
Vielen Dank. Das lassen wir doch einfach mal so stehen. Danke für das tolle Gespräch, bis zum nächsten Mal (lacht laut). Nein im Ernst, vielleicht hat man mich hier einfach mal so machen lassen, dass es authentisch wirkt. Vielleicht liegt mir auch die Rolle besonders. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur besser geworden.
Sie sind also seit ihrer GZSZ-Zeit gereift.
Das hoffe ich doch!
Dann stellt sich die Frage, warum Ihre Filme nicht mit gereift sind?
Finden Sie? Ich nicht! Wenn man bedenkt, wo ich herkomme, aus der Daily Soap über Pro7-Filme und Verliebt in Berlin bis Wanderhure, Der Minister oder Unschuldig, eine echt anspruchsvolle Serie, sehr düster, für die das Fernsehen damals nur einfach noch nicht bereit war – ich hatte doch echt fast alles dabei.
Aber ist eine Hochzeitsplanerin da kein Rückfall in alte Romanzenrollenmuster einer Zeit, als gerade ein paar Wedding-Planer aus Hollywood kamen, Anfang der Nullerjahre?
Überhaupt nicht. Geheiratet wird immer. Und eine Frau, die den gleichen Typen gleich dreimal vorm Altar sitzen lässt und danach beim Arbeitsamt um einen Gründungszuschuss für eine Hochzeitsplanerin bittet – das ist doch kein gewöhnlicher Ansatz dieses Genres. Außerdem heißt sie nicht wegen der Farbe, wie sie heißt, sondern wegen Rosa Luxemburg.
Ah ja.
Das Dramatische wird mit jedem Fall ausgeprägter, glauben Sie’s mir.
Trotzdem – dachten Sie nicht, als das Drehbuch auf Ihrem Tisch lag, jetzt bieten die mir schon wieder so was Seifiges an, ich will keine Hochzeitsplanerin, ich will eine Totschlägerin?
Warum? Zum einen wurde ich ohne Drehbuch angefragt und fand die Idee sofort toll. Zum anderen hab ich noch massig Zeit, um auf Totschlägerinnen zu warten. Außerdem hab ich fürs ZDF gerade Das Mädchen aus dem Moor gedreht, auch so ein düsterer Krimi. Ich weiß ja, die Leute erwarten von einer seriösen Schauspielerin, dass sie ständig auf der Suche nach großem Anspruch ist. Aber ich habe weder mein Leben noch meine Karriere je so geplant, dass ich ständig Häkchen hinter irgendwas machen musste. Wenn ich auf etwas Bock habe, mach ich es, auch wenn andere etwas anderes von mir verlangen.
Was verlangen Sie denn selbst von sich?
Dass ich mich immer weiter entwickele.
Auch in Richtung harte Kante, weg vom dauernden Lächeln?
Nein, mein Lächeln gehört zu mir, so wie eine gewisse Leichtigkeit, die mir offenbar auch ein bisschen zu liegen scheint. Und wenn die Leute mich so sehen wollen, wie ich spiele – warum sollte ich dann auf Krampf dagegen angehen – damit ich’s allen Mal recht mache? Was hab ich von der megaharten Rolle in einem megakrassen Film, wenn meine Figur darin unglaubhaft wirkt? Ich möchte die Zuschauer gut unterhalten, aber mehr noch, dass sie mir meine Charaktere auch abnehmen.
Machen Sie sich damit nicht vom handelnden Subjekt zum Objekt fremder Ansprüche?
Um das zu beantworten, müsste ich erst mal genau wissen, was genau ich denn wirklich spielen wollen würde! Aber mit so viel Kalkül gehe ich da nicht ran. Wer weiß, was im Januar passiert…
Wurden Sie schon mal davon überrascht, wie viel man Ihnen zutraut, haben es aber dennoch abgelehnt, weil Sie sich darin nicht glaubhaft gefühlt hätten?
Warten Sie mal… Nee, in letzter Zeit nicht. Bei Unschuldig war ich überrascht, da durfte ich ja auch nicht lächeln. Dafür wollten es die Leute auch nicht sehen und ich dachte eine Zeitlang, das läge an mir.
Was die Leute offenbar unheimlich gern sehen, sind Menschen beim Heiraten in weiß. Sonst gäbe es das nicht so oft auf den Freitags- bis Sonntagssendeplätzen. Wie kommt das?
(lacht) Weil eine Hochzeit in Weiß am Ende für Romantik steht und ein Happyend symbolisiert. Ist doch schön!
Aber ist es auch realistisch oder nicht doch die schöne alte Märchenwelt des Schnulzenfernsehens?
Das hängt vom Einzelfall ab, aber bei uns wird gar nicht immer am Ende in Weiß geheiratet. Schon der zweite Film ist da komplizierter. Aber vielleicht macht ja gerade die Tatsache, dass nicht mehr so viel kirchlich geheiratet wird, dessen Reiz beim Publikum aus. Die tauchen in eine schöne Welt ein, die so nicht mehr besteht. Das ist doch legitim, so nach Feierabend.
Wenn Sie die Kontrolle über diesen Film gehabt hätten, sähe ihre Rolle darin so aus wie sie sich jetzt darstellt?
Rosa ist bindungsunfähig, hat ein schlecht laufendes Unternehmen, das ist so wenig happy, dass ich da voll hinter stehen kann.
Sind Sie eigentlich selber verheiratet?
Dazu werde ich Ihnen nichts sagen.
Es gibt von Ihnen ohnehin kaum Klatscherkenntnisse.
Und das wird auch nach unserem Gespräch so bleiben.
Na dann mal rein hypothetisch gefragt: Wenn Sie heiraten würden, wäre dann etwas Weißes dabei?
Ich glaube schon, aber es wäre bestimmt kein Sahnebaiser-Kleid, obwohl – man weiß nie, was kommt…
Die herausragende Arte-Doku Rammstein in Amerika (Foto@Guido Karp/ZDF) zeigt den unwahrscheinlichen Siegeszug der erfolgreichsten deutschen Band auf dem schwierigsten Markt für ausländische Künstler und lässt dabei offen, wer da eigentlich wen genau benutzt.
Von Jan Freitag
Chad Smith zählt fraglos zu den Superstars im Milliardenbusiness Rock’n‘Roll. Als Schlagzeuger der rasend erfolgreichen Red Hot Chili Peppers dürfte ihn nach bald drei Jahrzehnten auf den größten Bühnen der Welt also nichts mehr überraschen. Außer vielleicht: Till Lindemann. Den, erzählt dieser Chad Smith, habe er mal gefragt, was es mit all dem Feuer auf sich habe, und drei Antworten erhalten. Erstens, zitiert er den Rammstein-Sänger mit teutonischem Akzent, das des Geistes. Zweitens, sein Lächeln gerät fast spöttisch, das des Herzens. Und drittens, der abgebrühte Profi imitiert das Ganzkörperlachen des Pyromanen aus Ostdeutschland mit der Innbrunst eines bekennenden Fans, „einfach Feuer“. Einfach Feuer?
Am Sehnsuchtsort allen Entertainments, der die Hülle notorisch zum Wesenskern des Inhalts erhebt, ist Feuer nie bloß Feuer, sondern Teil einer Show, von deren Lichtstrahl auch das Sextett realsozialistisch sozialisierter Ex-Punks angesaugt wurde wie Jünger vom Demagogen. Hannes Rossachers Arte-Dokumentation Rammstein in Amerika skizziert daher nicht nur den Weg einer neudeutschen Band mit altdeutschem Gestus zu urdeutscher Sprache dorthin, wo fremde Bands mit fremdem Gestus zu fremder Sprache inakzeptabler sind als Klingonen auf der Enterprise. Rammstein in Amerika ist demnach die Muskelfleisch gewordene Synthese des Unvereinbaren, das zusammenwächst, weil es zusammengehört.
Kollege Smith weiß davon ein Lied zu singen. Iggy Pop übrigens auch, zudem Marilyn Manson, Steven Tyler, Gene Simmons, Moby, Slipknot und wie die erlesenen Platzhalter der Popkultur vor Rossachers Kamera so heißen. Zwischen kindlicher Verblüffung und adulter Hochachtung feiern sie 90 klingende Minuten lang ein Phänomen, das unerklärlich scheint und doch so naheliegend wie der Titel des Films.
Nach Amerika nämlich bricht er 1993 in grobkörnigen Archivbildern auf, als sechs befreite Zonenkinder ein Jahr vor Rammsteins Gründung zufällig zeitgleich die USA bereisen. Als Freiheitstest ins land of the free geplant, geriet der Besuch zur Pilgerfahrt ins Land der Ungläubigen, die bekehrt werden wollten, davon aber noch nichts wussten. In „Rammstein“, erklärt Iggy Pop euphorisch wie ein Junge beim Entdecken der Schokoladenschublade, stecke ja nicht nur das aggressive ram plus steinerner Härte, sondern eine US-Militärbasis, die 1988 in Flammen aufging. „Unser wunder Punkt“, meint der Berlin-Exilant aus Bowies Kreuzberger Tagen. Die Träger des Namens steckten genüsslich die Finger rein. Besser: die Lunte.
Kaum nämlich, dass ihre „Neue Deutsche Härte“ dem amerikanischen Nu Metal Mitter der Neunziger ein teutonisches „R“ über die Riffs gerollt hatte, eroberten die Mecklenburger ihren Bestimmungsort – nein, nicht grad im Sturm. Doch nach dem ersten Auftritt in New York vor 15 Gästen ging es schnell mit dem Auswärtserfolg. Gründe dafür entlockt Regisseur Rosslacher den weltweit erfolgreichsten Popstars aus Deutschland beim entspannten Plaudern auf schwarzen Sofas, wo die angegrauten Veteranen kaum zu sehen sind, so martialisch kleiden sie sich noch als sorgsame Familienväter.
Wobei es ja drei Gründe waren: Feuer (Kopf), Feuer (Herz), Feuer (Feuer). Gepaart mit dem wagnerianisch überfrachtetem Thrill von Sex, Gewalt und Nazikitsch war das Flammeninferno Rammstein besonders live „so extrem, so real“, dass ihr künftiger Agent schon früh gewusst haben will: „Amerika wird das fressen! Und wie. Streng chronologisch macht der Film deutlich, was diesen Appetit westlich des Atlantiks erzeugt, befriedigt und neu entfacht hat. Vom Soundtrack zu David Lynchs Lost Highway über den Kampf der Pyromanen mit örtlichen Brandschutzregeln und einem publikumswirksamen Prozess wegen pornografischer Showelemente bis hin zur US-Tour mit eingeborenen Genre-Göttern wie KoЯn ging es einzig bergauf – bis Rammstein nach 9/11 Zweifel am Land der Träume kamen, das sich nun fast so unfrei anfühlte wie das eigene hinterm Eisernen Vorhang, weshalb die Band ihre zweite Heimat wieder verließ. Für zehn Jahre.
Aber nicht nur dort kühlte der Draht zwischen Publikum und Band merklich ab. Noch immer eine Ikone artifiziellen Kommerzes, hatte das Feuilleton zwei Jahre zuvor erstmals mit der rechter Umtriebe nie unverdächtigen Band gefremdelt, als das Video zum Depeche-Mode-Cover Stripped Leni Riefenstahls Herrenmenschenbilder nutzte. Nach der dritten Platte Mutter schien sich auch ihr Sound abzunutzen, worunter auch die bandinterne Stimmung litt. Das Feuer brannte – zumal auf der Bühne – weiter, doch es wärmte weit weniger. Bis der explizite Porno zur Single Pussy 2009 den Erregungsregler auf Anschlag drehte und Rammstein ein Jahr drauf heim ins Reich des Pop zurückkehrten.
Der Gig im Madison Square Garden, nach 20 Minuten ausverkauft, bildet die dramatische Klammer von Rossachers Film, den Hollywood nicht besser scripten könnte: Aufstieg & Fall, Zweifel & Einsicht, Katharsis & Auferstehung von Helden, deren Heroismus brüchig ist wie im Serienfernsehen dieser Tage – so geht Musikdokumentation für Kinoansprüche. Trotz allen Erfolgs türmt der Regisseur seine Objekte ja nicht nur zu Denkmälern auf, er stutzt sie zwischendurch auf die Größe von Avataren der Aufmerksamkeitsindustrie. Sechs provokante Feuerteufel zum Amüsement einer sittenstrengen, dauererregten, konsumgeilen Gesellschaft. Wie Rammstein, meint Scott Ian von der Metal-Legende Anthrax und lächelt wie zu Beginn Chad Smith, stelle sich Amerika halt Deutschland vor: „Eine gut geölte Maschine.“ Gut, dass Hannes Rossacher offen lässt, wer sie führt.
Der Film ist noch bis Samstag in der Arte-Mediathek zu sehen
So, der 21. Oktober ist vorüber, ohne dass in Hill Valley oder sonstwo ein De Lorean aus der vergangenen Zukunft mit Michael J. Fox gelandet wäre, wie es sein Sportwagen im Zeitreiseklassiker angezeigt hatte. Noch folgenloser ging tags drauf das zweite Jubiläum der Vorwoche an uns vorbei: Die Schwarzwaldklinik wurde 30, was nicht mal beim ZDF zu programmatischer Würdigung führte, obwohl der Sender damals kollektiv auf dem Grab gehaltvoller TV-Unterhaltung getanzt hatte, wenn die Einschaltquote mal wieder Rekordniveau erreichte.
Seit Wolfgang Rademanns keimfreier Halbgötterserie in 73 Teilen ist das Leitmedium ein anderes – banaler, seniler, völkischer, dümmer, der digitalen Konkurrenz schutzlos ausgeliefert, also nicht mehr zu retten. Das belegt wenig besser als der hektische Kampf gegen die dramaturgische Vormachtstellung importierter Produkte, denen hierzulande selten mehr als Krimikost oder Zeitgeschichte entgegengesetzt wird, gern beides in einem wie zuletzt Blochin, bald Deutschland 83 oder Mitte 2016 Tom Tykwers monumentale ARD-Serie um die Goldenen Zwanziger Jahre in Babylon Berlin.
Das angeblich ehrgeizigste Fernsehprojekt soll jedoch auf der Kippe stehen. Vordergründig, weil die immensen Kosten nicht abschließend gedeckt sind, was hintergründig aufs Dilemma hiesiger Fiktion insgesamt verweist: Wichtiger als gute Bücher für motivierte Darsteller sind Blut, Tränen, Kulisse und die Hauptstadt als Spielort. Während der andernorts auch mal Baltimore, Albuquerque oder New Jersey heißen darf, ist es hierzulande selbst bei ansehnlichen Formaten von KDD bis Weissensee zwingend Berlin. Könnte ja jemand denken, Deutschland bohre dünne Bretter…
Die Frischwoche
26. Oktober – 1. November
Dass eher Geschichten und Dialoge statt Gerechtigkeitsdenken und Schauwert für globalen Erfolg sorgen, ist halt noch immer nicht angekommen im Land des ängstlichen Fernsehens für besorgte Bürger, die der Historiker Norbert Frey in den Tagesthemen gerade erfrischend klug als „Bürger“ bezeichnet hat, die uns eher „Sorgen machen sollten“, doch das nur am Rande einer Rückschau, die den Irrsinn von Dresden und anderswo nicht einfach rechts liegen lassen kann.
Wo der hinführen kann, zeigen auch diese Woche nicht nur frische Bilder hartrechter Montagsmärsche besorgniserregender Bürger oder offene Gewalt gegen Volksverräter jeder Art, sondern eine ARD-Doku zum Wochenauftakt: Um 23.45 Uhr stellt Felix Moeller Nazifilme aus dem Giftschrank vor, die der Öffentlichkeit bis heute vorenthalten werden – was sie weit interessanter für Pegida-Fans macht als kommentierte Ausgaben, die das Klima entgiften könnten. Wie leicht es kippt, will Dienstag und Mittwoch um 21.45 Uhr das Social-Factual-ExperimentPlötzlich Krieg? ergründen. Unter zwei Gruppen verschiedener Menschen sät ZDFneo solange Zwietracht, bis es knallt, und zeigt damit, wie zersetzend ungefilterte Propaganda wirkt.
Bei so viel rauer Wirklichkeit ist es erleichternd, mal kurz ins Wolkenkuckucksheim harmloser Unterhaltung abzutauchen. Eigentlich böte sich da mittlerweile der Freitagabend im Ersten an, wo zwar seit einiger Zeit gelegentlich ein zuvor undenkbarer Realitätssinn Platz findet, der aber immer mal wieder zurückfällt ins Schnulzenschema der Neubauer-Ära. Etwa mit der süßlichen Alexandra Neldel, die in Alles Rosa allen Ernstes eine liebeskranke Wedding-Planerin spielt und im lachhaft sülzigen Pilotfilm der geplanten Reihe gleich mal alles einreißt, was sie sich mühsam an Renommee aufgebaut hat.
Das ist von so präkambrischer Schleimigkeit, dass es eigentlich ins Bahnhofskino gehört. Zur Erinnerung an die sterbenden „BaLis“ voll Monster, Mumien, Mutationen zeigt Arte Samstag (22 Uhr) Oliver Schwehms hinreißende Hommage Cinema Perverso, die mehr ist als ein Kuriositätenkabinett des Trash. Vor ihrem Niedergang im Zuge von VHS & RTL wäre melancholischer Werwolf-Horror wie When Animals Dream aus Dänemark vermutlich dort gelaufen, statt an einem Montag um 23.15 Uhr im NDR. Und auch die farbige Wiederholung der Woche war 1976 ein Kandidat fürs Bahnhofslichtspielhaus: Scorceses Taxi Driver (heute, 20.15 Uhr, Arte), mit dem jungen Robert De Niro und der jüngeren Jodie Foster im New Yorker Rotlichtsumpf. Der schwarzweiße Tipp begibt sich ins Winnipeg von 1933, wobei The Saddest Music in the World (Dienstag, 20.15 Uhr, ZDFkultur) die fiebrige Suche nach dem traurigsten Lied der Erde 2003 in Szene gesetzt hat. Aktueller ist da die Doku der Woche, diesmal ein Samstagabend auf 3sat, der bis morgens früh Stücke der Wiener Staatsoper zeig, darunter Schwanensee und Werther. Warum nicht mal bisschen Hochkultur…
Cocktails kippen, Italo-Pop hören, Frauen anbaggern: Das Club-Mausoleum holt diesmal das Posemuckel aus der Gruft, ein Kneipenkonglomerat nahe der Alster, das in den Achtzigern erstaunlich viele Hamburger nicht gekannt haben wollen, obwohl es immer brechend voll war.
Von Jan Freitag
Die Achtziger, ein diffuses Jahrzehnt. Viel ambivalenter jedenfalls, als es das 36. Revival seit 1990 gemeinhin suggeriert. Die Achtziger, das war ja eine Ära der aseptisch distanzierten Wave-Disco ebenso wie des septisch biederen Emailleschilderwald-Ambientes. Neonlichtdurchzuckte Einzeltanzfabriken koexistierten vergleichsweise harmonisch neben heillos überfrachteten Schankstuben in Gelsenkirchener Barock. Es gab die ersten Technokeller, die letzten Rockschuppen, die lässigen Discos am Übergang. Es gab Läden für Goths oder Popper, Hippies und Punker, Soul-Kids oder Rocker. Und es gab das Posemuckel.
Falls es das wirklich gab.
Mit dem Posemuckel verhielt es sich nämlich wie mit dem westfälischen Festland-Atlantis Bielefeld: Über die Existenz des Kneipendorfes am Binnenalsterfleet konnte letztlich nur gemutmaßt werden. Kaum jemand wollte schließlich je dort gewesen sein. Im Posemuckel waren allenfalls Freunde von Freunden entfernter Bekannter, die dann auch noch schamlos leugneten, je dort gewesen zu sein. Was den Zweifel daran nährte, dass sich unter Hamburgs teuerster Konsumzone etwas anderes als gut gefüllte Warenlager umliegender Edelboutiquen befänden, die ab 1980 wie Schulterpolster aus den Einkaufspassagen jener Jahre wuchsen. Posemuckel, das war zur These menschenleerer Innenstädte nach Einbruch der Dunkelheit die Antithese eines vitalen Nachtlebens, deren Synthese ausgerechnet nach einem polnischen Dorf benannt wurde, das hierzulande rasch zum Synonym für Pampa wie Kleinkleckersdorf oder JottWeDe geriet: Podmokle Małe, zu deutsch: Klein Posemuckel.
Doch um jedweder Verschwörungstheorie das Brackwasser abzugraben: So wie es das 458-Seelen-Nest nahe der alten DDR-Grenze gibt, gab es auch den hanseatischen Kneipenkomplex in Rathausnähe. Mehr noch: es war gigantisch, weiträumig, verwinkelt wie das Tunnelsystem der Vietkong, fast ebenso dunkel, nur weitaus bevölkerter. Die unterirdische Gaststättenlandschaft nämlich, deren Vorkommen so gern dementiert wurde, war besonders am Wochenende derart brechend voll, dass die Menschentraube davor selbst im Winter, der seinen Namen damals noch wirklich verdient hatte, bis weit über die angrenzende Bleichenbrücke hing.
Und ich weiß, wovon ich rede, auch ich stand einmal darin und begehrte Einlass in Hamburgs meistgehasster, meistgeliebter Partylocation eines Jahrzehnts, das zusehends unangenehm wurde: selbstgefällig, schlageresk, überfönt, die Rick-Astley-Achtziger halt. Doch wie jeder Bundfaltenhosenträger wurde auch ich irgendwann, es muss etwa 1987 gewesen sein, vom Lord Voldemort der erwachenden Eventkultur angesaugt wie durch blutige Kriegsbilder oder fiese Autounfälle. Einmal mit eigenen Augen sehen, was alle Welt so hassliebt. Gut, detailliertere Erinnerungen hat mein halbwissenschaftlicher Eigenversuch nicht ins Langzeitgedächtnis kodiert. Aber ein bisschen ist dennoch hängengeblieben.
Die Unübersichtlichkeit vor allem, das unfassliche Durcheinander, ein Chaos aus 13 vorwiegend bürgerlichen Bierschenken mit Discocharakter, verteilt aufs tiefgaragengroße Untergeschoss vom „Kaufmannshaus“ genannten Altbau drüber, den zahllose Säulen auf Abstand hielten, um die sich Unmengen eher stinknormaler Leute scharten, als sei oben gerade jener 3. Weltkrieg ausgebrochen, der den bierseligen Hedonismus des anwesenden Mainstreams im Zeitalter der Ostermärsche und Hausbesetzungen noch zu rechtfertigen hatte. Deren Stammpersonal war hier allerdings so rar wie Stil und Geschmack.
Innenarchitektonisch gestaltete sich das Posemuckel rings um den zentralen Bierbrunnen ja irgendwo zwischen Hafen-Pinte, Pupasch und Peepshow. Musikalisch wurde es mit den zeitgenössischen Mittelschichtscheußlichkeiten von Italo-Disco über Chart-Sülze bis Schweine-Rock und den wiedererblühenden Schlager beschallt, zu denen auf mehreren Dancefloors weniger getanzt als bemüht rhythmisch gedrängelt, besser: gebaggert wurde. Denn unterm Einfluss des Hitti Hitti genannten Longdrinks unbekannter Zusammensetzung (Jägermeister war wohl drin) galt das Posemuckel eingangs der Technoepoche als analoger Aufreißschuppen schlechthin, der nicht nur über eine eigene Währung namens Posemuckel-Taler verfügte, sondern über Straßennamen, Regierungsmitglieder, eine Zeitung. So weit der vernebelte Volksglaube.
Die Realität entzauberte ihn jedoch an einem einzigen Samstagabend als das, was seien Ruf bis zur kollektiven Verleugnung seiner bloßen Existenz ruiniert hatte: Ins Posemuckel ging, wer fürs Madhouse zu gesittet daherkam, fürs Trinity zu schnauzbärtig, fürs Mojo zu banal, fürs Top Ten zu alt, fürs Café Keese zu jung und für die frische Konkurrenz von Tempelhof bis Subito zu konservativ. In den Ecken fern des zentralen Ballermann-Pultes spielten die DJs zwischen den notorischen Mikro-Texten zwar schon mal Soul, als er noch nicht ausnahmslos auf Vinylsingles ohne Coverbedruck verabreicht wurde, doch das waren elaborierte Ausnahmen vom Abschleppservice Posemuckel, der die Partystadt um nicht mehr als einen fahlen Mythos bereicherte, die Innenstadt sei auch nach Ladenschluss noch lebenswert.
Das ist sie nicht, sie ist täglich ab zehn Uhr abends zum Sterben verurteilt, wie nicht nur die architektonisch verunstaltete Bleichenbrücke belegt, wo die Stadt vor 35 Jahren begann, echtes Leben durch überdachte Passagen zu ersetzen. Mit einem tageslichtlosen Omakneipen-Konglomerat als Feigenblatt vermeintlicher Vitalität. Falls es denn existierte.
Barotti, lehrt uns das allwissende Online-Lexikon Wikipedia, war mal ein Gewichtsmaß für Nelken auf den Molukken. Als Künstlername ist diese Adaption daher ziemlich, nun ja, speziell; das Gewürz ist ja irgendwie noch abseitiger als jene indonesische Inselgruppe, wo man es in Barotti wiegt. Da könnte man natürlich viel mutmaßen, warum sich ein Berliner Elektrofrickler namens Marco ebenfalls Barotti nennt, aber der heißt einfach so, stammt also vermutlich von Italienern ab, was allerdings ziemlich egal ist – aus dem unendlichen Studioarchipel der Hauptstadt steigt sein Debütalbum auf wie ein vulkanisches Eiland aus dem Meer: langsam, heiß, zischend und überhaupt nicht mediterran. So in etwa fühlt sich Rising an, wenn es entspannt den Boxen entschwingt.
Es ist ein digitales Flächenarrangement von so großer Breite, Tiefe und Höhe, dass Barottis Hauptstadtnachbarin Peaches völlig zu recht urteilt: “This ist not Techno, this is an opera.” Gut, am Ende ist es allein schon deshalb beides, weil kaum ein Ton der neun Stücke abseits der samtenen Vocals analog erzeugt sein dürfte. Doch das reduziert Bombastische ist schon unverkennbar, wenn man sich von Never Talk Again in einem Bond-Streifen der Sechziger katapultieren lässt, während uns About To Change gleich darauf in den New Wave der Achtziger zieht. Rising ist eine technoide Rundreise an die verschiedenen Pulse der Zeit, deren Sound hier frei flottieren darf.
Barotti – Rising (Gomma)
Jean-Michel Jarre
Dennoch hat natürlich jede Musik – das gilt für Buddy Holly, Beethoven oder Bon Jovi im Besonderen ebenso wie für Beat, Wave, Punk ganz allgemein – doch irgendwie ihre Zeit. Vor 20 Jahren etwa glitzerte der gefällige Synthiepop von Air so belanglos schön, wie es nur die späten Neunziger ins wund geravete Partypublikum tröpfeln konnten. Kein Wunder, dass die zwei Franzosen nie an ihr Frühwerk anknüpfen konnten. Trotzdem versuchen sie es jetzt mit Electronica 1, das … Moment! Die Platte ist ja gar nicht von Air, sie ist von Jean Michel Jarre, der seine Zeit weitere zwei Jahrzehnte zuvor hatte, als ihm nicht weniger gelang, als den Pop vollsynthetisch zu revolutionieren.
Wie würdelos wirkt es da, wenn der Veteran mit 67 andere reproduziert, auch wenn er es Kollaboration nennt, für die er neben seinen jüngeren Landsleuten allerlei Künstler von Moby über Tangerine Dream bis Lang Lang gewonnen hat, die mit ihm zusammen angeblich Reminiszenzen an die Stile aller Beteiligten kompiliert haben. Und auch, wenn hartgesottene Fans hier bestens mit klassischem JMJ versorgt werden: Das Ergebnis klingt in den besseren Passagen wie Gebrauchtware mit etwas frischem Lack drüber, in den mieseren verklebt JMJ das zeitgemäße Pathos von Oxygène mit Kirmespop aus dem Hitbaukasten und macht damit nicht nur ein Stündchen unserer Lebenszeit zunichte, sondern auch ein Stück Erinnerung an alte Zeiten. Es waren nicht die schlechtesten. Bis jetzt.
Jean-Michel Jarre – Electronica 1 (Sony)
St. Germain
Um wie viel respektabler kehrt da ein Landsmann nach 15 Jahren Studiopause zurück, dessen Künstlername zwischen Jarre und Air zur Chiffre dafür geriet, was als French House gefeiert wurde: St. Germain. Mit seiner kongenialen Bläsercombo im Rücken ist Ludovic Navarre ein Weltreisender des Electropop, der auf seinen Streifzügen gern achtlos am Wegesrand herumliegendes Zeugs aufliest und aktualisiert. Blues, Jazz, Chanson und nun also, auf dem vierten Album, die Rhythmen Afrikas. Das machen St. Germain zwar ebenso wenig als erste wie als beste, aber sie machen es mit einer tanzbaren Nonchalance, die vielen ethnografischen Jägern & Sammlern fehlt.
Ein Jahrzehnt hat der experimentierfreudige Kauz des Clubsounds in Ghana, Mali, Nigeria nach anschlussfähigem Material gesucht und ein elegant groovendes Afrobeatkompendium gefunden, das schon im zweiten Stück ziemlich gut klarmacht, wo es letztlich hinwill: Dank der kratzenden Stimme von Mahawa Doumbia mäandert Sittin‘ Here mit einer Lässigkeit den Äquator westwärts über die bruttigen Südstaaten ins abgewrackte Motown, dass kein wildes Getier mehr durch die gute alte Weltmusik stromert, sondern wunderbare Beats.
St Germain – St. Germain (Warner)
Zwei der drei Reviews sind vorab bei ZEIT-Online erschienen
Mit ihrem eindringlichen Spiel hat sich Ina Weisse (Foto: WDR/Conny Klein) zu einer der großen Charakterdarstellerinnen des deutschen Films gemausert. Im ARD-Drama Ich will dich spielt die 47-Jährige heute Abend eine Architektin, die von der Liebe einer Freundin aus dem heterosexuellen Idyll ihrer Ehe mit zwei Kindern und Villa-Projekt gerissen wird. Ein Interview über die Macht des Begehrens, Küssen vor der Kamera, die Brüchigkeit stabiler Lebensverhältnisse und wie es ist, unterm eigenen Mann zu drehen.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Frau Weisse, so leid es mir tut – das Thema ihres neuen Filmes ums lesbische Coming-Out einer glücklich verheirateten Frau macht ein paar Regenbogen-Fragen fast unumgänglich…
Ina Weisse: Aha….
Wie oft haben Sie in 20 Jahren vor der Kamera Männer geküsst?
Oft.
Und waren darunter auch richtig handfeste Bettszenen?
Natürlich. Aber eigentlich reichen Andeutungen aus, das ist viel interessanter. Man muss im Film nicht immer alles auserzählen. Obwohl es manchmal natürlich wichtig sein kann.
In Ich will Dich scheint es wichtig gewesen zu sein…
Ja, schon. Hier musste man weiter gehen, physisch und psychisch. Die Liebesszenen haben wir am Ende noch mal nachgedreht, damit sie intensiver werden. Wir mussten da erst mal rausfinden, wie weit man gehen kann. Und dann ist es eine Gradwanderung, dass es nicht pornographisch erscheint, sondern wirklich aus einer inneren Notwendigkeit heraus erzählt wird. Wir haben zusammen mit dem Regisseur Rainer Kaufmann eine Art Choreografie entwickelt, die man beim Spielen im Hinterkopf hatte und dann auch wieder vergessen musste. Aber Liebesszenen sind natürlich immer heikel, nicht nur weil da fünf Leute mit einer Kamera um das Bett herumstehen und einen beobachten.
Heikel im Sinne einer besonders großen Hemmschwelle, die zu überwinden ist?
Ja. Die Überwindung der Scham ist manchmal schon schwierig. Letztlich ist es aber immer eine Frage der Konzentration auf die Figur.
Wächst diese Konzentrationsfähigkeit mit zunehmender Erfahrung?
Das würde ich so sagen.
Tritt irgendwann Gewöhnung ein?
Nein. Das wäre auch schade. Sonst ist ja keine Offenheit und Neugierde für anderes mehr da.
War diese Situation denn anders oder haben Sie zuvor schon mal im Film eine Frau geküsst?
Ich glaube nicht. Aber das weiß ich jetzt gar nicht genau. Ehrlich gesagt, finde ich das jetzt auch nicht so ein großes Thema, wenn sich zwei Frauen küssen. Für mich geht es in dem Film weniger darum, dass sich eine Frau in eine andere Frau verliebt; es handelt sich nicht explizit um ein homosexuelles Thema.
Sondern?
Mich interessiert die Obsession. Das Psychogramm einer Leidenschaft. Ob Mann oder Frau ist erst einmal sekundär. Dass eine Person, die in einem festen Umfeld lebt, mit Ehe und Kindern und einem Beruf, die eigentlich ganz froh zu sein scheint, plötzlich einer anderen Person über den Weg läuft und ihr verfällt, alles über Bord wirft, gar nicht anders kann als dieser Leidenschaft nachzugehen, das finde ich interessant. Die Beschreibung, wie Marie es erst nicht wahrhaben will, dass sie sich verliebt hat, wie sie zögert, sich zurückzieht, dann wieder abwägt – dieses Hin und Her der Gefühle empfand ich als sehr nachvollziehbar.
Bezeichnet Rainer Kaufmann seinen Film deshalb als einen über die Macht des Begehrens?
Begehren trifft es viel besser als Liebe. Begehren ist hier wie eine Krankheit. Es kann jedem passieren.
Ihnen also auch?
Natürlich.
Ist Ihre Existenz schon mal so radikal auf die Probe gestellt worden, wie die Ihrer Filmfigur Marie?
Vielleicht. Und weil so ein Zustand im Grunde jeden treffen kann, ist es auch gut, dass die Geschichte nicht in einer kaputten, sondern in einer äußerlich intakten Beziehung spielt.
Selbst wenn sie im Falle von Marie eine Bilderbuchbeziehung zu sein scheint mit gutem Ehemann, wohlgeratenen Kindern, tollem Beruf und künftiger Traumvilla?
Alles kann Risse bekommen. Wobei das natürlich die Frage aufwirft, wie intakt die Beziehung wirklich ist. Das stellt sich erst am Ende raus. Nachdem der Film zu Ende ist.
In den vergangenen Jahren haben Sie häufiger unter der Regie Ihres Mannes Matti Geschonneck gearbeitet. Ist das ein anderes Arbeiten als mit Kollegen, die Ihnen weniger vertraut sind?
Ja, schon. Der Weg der Verständigung ist kürzer. Trotzdem sind wir bei der Arbeit nicht ein Paar, sondern Regisseur und Schauspielerin; wer nicht weiß, dass wir zusammen sind, würde es bei der Arbeit nicht vermuten. Ich könnte es mir anders auch nicht vorstellen.
Sie führen selbst seit einiger Zeit Regie und haben 2008 mit Der Architekt einen vielbeachteten Film gedreht. Hätten Sie dieses Drehbuch hier genauso umgesetzt, wie es nun zu sehen ist?
Jeder entwickelt seine eigene Bildsprache nach einer Vorlage. Bei jedem Regisseur sähe der Film anders aus. So, wie der Film jetzt da ist, finde ich ihn sehr schön.
Wenn Sie es doch kurz täten – hätten Sie es zum Beispiel auch im Milieu der kreativen Oberschicht angesiedelt?
Warum nicht?
Weil es etwas irritiert, dass Beziehungsgeschichten im deutschen Film meist von Reichen verkörpert werden und für die Unterschicht nur Sozialdramen um Gewalt und Armut übrigbleiben.
Grundsätzlich hätte dieser Stoff natürlich genauso gut in einem anderen Milieu funktioniert, er könnte überall stattfinden, zumindest da, wo die gesellschaftlichen Werte nicht vollkommen anders sind.
Hätten Sie sich unter eigener Regie denn auch dafür besetzt?
Nein. Beim Spielen denke ich in die Figur hinein. Und bei der Regiearbeit schaue ich mir das von außen an. Der ständige Wechsel von innen nach außen wäre ziemlich aufreibend.
Das Leben besteht nicht nur aus Action, sondern auch aus reichlich Alltag. Die Notdurft zum Beispiel. Komisch, dass sie am Bildschirm dennoch so selten verrichtet wird.
Ob Vince Vega Schuld ist, dass die gemeine Notdurft in Film & Fernsehen so selten zu sehen ist? Profaner Stuhlgang war fiktional jedenfalls selten zuvor (und danach) so fatal wie für den sympathischen Killer, den Quentin Tarantino in Pulp Fiction einst beim „Kacken“, wie John Travolta gesagt hätte, vom Klo schießen ließ. Fast scheint es, als sei sein erbärmlicher Abort-Abgang eine Art self fulfilling profecy für fiktionale Formate insgesamt, wie böse es enden kann, wenn man Stuhlgang und ähnliche Ausscheidungsprozesse nicht wie üblich dezent von Bildschirm und Leinwand verbannt.
Dass dies bis auf Ausnahmen ansonsten der Fall ist, hat viel mit Rücksichtnahme aufs zivilisationsbedingte Tabu sichtbarer Exkremente zu tun, die als Requisite selbst im sittengelassenen Sexshop nur verstohlene Ecken ausstatten. Schließlich bedarf es bei so anrüchigen Szenen nicht mal des viel gepriesenen Geruchsfernsehens, um förmlich aus dem Flatscreen zu stinken, und wer will so was schon haben im Wohnzimmer. Dass Darsteller ihr Geschäft eher abseits der Kamera verrichten, ist aber auch – kein Scherz – eine Frage der Technik. Selbst geräumige Bäder sind nämlich schlichtweg meist zu klein für vielköpfige Drehteams und ihr Equipment.
Das ist auch der Grund, warum weit weniger pikantes Toilettengebaren von Zahn- bis Bartpflege im Verhältnis zu jener Zeit, die täglich darauf verwendet wird, fiktional strukturell unsichtbar bleibt. Und es ist der Grund, warum Vince Vegas elendiger Tod aus der Flucht eines langen Flurs gefilmt wurde. Wie ein Fanal: Zu eng hier drin, war nur ein Versucht, bitte nicht wiederholen!
Man kann es beklatschen, man kann es beklagen, ändern kann man es nicht: Mit den letzten zwei Platzhirschen Gottschalk und Raab wird der Unterhaltungswald so arm an Zwölfendern, dass nur noch Kleinvieh vom Schlage Silbereisens herum hüpft. Und nun verlässt ihn auch noch einer, der das Lagerfeuer der Republik seit 25 Jahren schürt: Gregor Gysi. Gut, im Nebenhaupterwerb ist der haupthaupterwerbliche Jurist Politiker; erinnerlich bleibt er jedoch vor allem als Inventar diverser Talkshows, wo er gestern sehr hilfreich gewesen wäre, um dem präfaschistoiden Amoklauf des AfD-Hetzers Höcke etwas mehr entgegenzusetzen als Günther Jauchs Kuschelkurs. Ein Tagesschauberker, der die Debattenkultur bei aller Kritik um etwas bereicherte, das Gysis Kollegen so fremd ist der AfD Gehirn: Selbstironie.
Die ist schon lang keine Kernkompetenz nachwachsender TV-Pflanzen mehr – was im Herbst 2016 kaum besser werden dürfte, wenn der Kulturkanal von ARZDF online geht. Eigentlich keine schlechte Idee, würde zum Ausgleich neben Eins Plus nicht auch ZDFkultur vom Bildschirm verschwinden, der letzte frei empfangbare Kanal mit Musik abseits von Oper und Schlager. Es wird ein schwarzer Tag für die Popkultur mit mehr Anspruch als Volks- und Hochkultur, wenn die öffentlich-rechtliche Zielgruppe unter 50 vollständig ins Netz wandert.
Dorthin also, wo sich Erstaunliches ereignet: Bild.de blockt bald Ad-Blocker genannte Programme zur automatischen Reklameausblendung mit Ad-Block-Blockern, denen die ewige Aufrüstungsspirale menschlicher Konflikte fraglos Ad-Block-Blocker-Blocker entgegensetzt, wogegen einem Konzern wie Springer schon was einfallen wird; vielleicht ja gemeinsam mit seinem Fuckbuddy RTL, dessen anspruchsvollstes Format Bauer sucht Frau dank Springers Dauerberichterstattung mal wieder sechs Millionen Zuschauer erreichte.
Die Frischwoche
19. – 25. Oktober
Ganz so viele dürften es bei der versauten kleinen Senderschwester nicht sein, wenn sie am Mittwoch Filmgeschichte bebildert: Pünktlich zum 21. Oktober 2015, an dem Marty McFly vor 26 Jahren Zurück in die Zukunft flog, zeigt RTL2 den zweiten Teil der rasend erfolgreichen Saga, die eigentlich Spaceman from Pluto oder so heißen sollte. Kabel 1 hingegen sollte besser Kabel 1888 heißen, angesichts des reaktionären Entertainmentmülls, der dem Privatsender zeitgemäß erscheint: Die Heimwerker-Dokusoap Mein Mann macht das! feiert die Geschlechtermuster von vorvorgestern ab Montag so hingebungsvoll, dass als Fortsetzung nur noch Mein Mann schlägt mich, aber ich hab’s auch verdient fehlt. Die CSU sähe gewiss kollektiv zu…
Mittwoch dagegen dürfte sie geschlossen abschalten, wenn ein lesbisches Abenteuer Ina Weisse als Mutter des ARD-Films Ich will dich aus ihrer bürgerlichen Architektenidylle reißt. Noch realistischer als das sehenswerte, aber leicht artifizielle Familiendrama ist die 3sat-Doku zu einem Thema, mit dem sich die Protagonisten reicher Wattewelten nie plagen müssen: Der Mietreport, Freitag (20.15 Uhr), Untertitel Wenn Wohnen unbezahlbar wird. Ein bisschen betroffener dürfte sich die Oberschicht da von Todschick (Dienstag, 20.17 Uhr) fühlen, worin Arte Die Schattenseiten der Mode, vor allem deren Produktionsbedingungen beleuchtet, und zwar nicht nur bei KiK, sondern auch bei Edelmarken.
Mittig zwischen Fiktion und Wirklichkeit steht die Fake-Doku Öl (Mittwoch, 22.45 Uhr, ARD), wo sich zwei Reporter auf die Spur der geheimen DDR-Förderung begeben – was während des Drehens von der Wirklichkeit eingeholt wurde, als Regisseur Niki Stein an Mecklenburgs Ostsee auf echte Öl-Sucher des US-Konzerns Halliburton stieß. Was Dichtung, was Wahrheit ist, wird aber nirgends lustiger ad absurdum geführt als bei Bernd Stromberg. Zum Serienfinale feiert die Belegschaft des selbstgerechten Versicherungsvertreters in Kinolänge auf Pro7 Firmenjubiläum, was so verstörend echt wirkt, wie die fünf Staffeln zuvor.
Warum serielle Juwelen dieser Güte partout nicht im Ersten Programm zu finden sind, darüber können Netz und Publikum am Montag um 21 Uhr debattieren, wo sich der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor und WDR-Intendant Tom Buhrow 90 Minuten lang – moderiert von Sandra Maischberger – der Kritik stellen. Bis sich was ändert, müssen wir uns aber wohl doch mit den Wiederholungen der Woche begnügen, in schwarzweiß Professor Mamlock, ein jüdischer Arzt, der erst stillhält und dann untergeht, mit dem die DDR der BRD kurz vorm Mauerbau bewies, wie man den Faschismus im Film (Montag, 23.40 Uhr, MDR) klug verarbeitet. Ebenso klug, weniger zeitgeschichtlich, dafür in Farbe: Hexenkessel von 1973 mit Robert de Niro und Harvey Keitel als Mafia-Zöglinge in New York (Montag, 22.25 Uhr, Arte). Und der Dokutipp zum Schluss: Die Arte-Reportage Rammstein in Amerika (Samstag, 21.45 Uhr) gefolgt von ihrem umjubelten Konzert im Madison Square Garden.
Als Klaus Marschall (Foto: Augsburger Puppenkiste) noch auf allen Vieren durchs Marionettentheater seiner Eltern krabbelte, kannte jedes Kind im Land die Augsburger Puppenkiste. Seit er sie leitet, sind die Holzpuppen zwar zusehends vom Bildschirm verschwunden, aber längst lukrative Global Player des Guten, Schönen, Wahren im digitalen Zeitalter. Porträt eines echten Überzeugungstäters.
Von Jan Freitag
Falls der Himmel ein Dachgeschoss hat – so könnte es aussehen. Durchs Heiliggeist-Kloster im Augsburger Stadtkern geht man rauf ins kollektive Gedächtnis aller Nachkriegsgenerationen: Ein schummrig beleuchteter Schaukasten beherbergt das Sams samt Taschenbier. Ein paar Schritte weiter reitet Lord Schmetterhemd durch die Wüste. Don Blech, Kater Mikesch, Urmel – hier hängen sie an ihren Fäden, als komme das Fernsehen weiter aus Röhren. Und da drüben, in voller Pappmachépracht: Lummerland, Lukas, Jim Knopf. Kindheitsträume hinter Glas, ein Stockwerk voller Erinnerungen.
Klaus Marschall ist schon oft hinaufgegangen, ins hauseigene Museum des berühmtesten Puppentheaters der Republik. Er kennt jeden Holzkopf, jede Requisite, jedes noch so kleine Detail. Und doch kriegt auch der Theaterdirektor hier oben das Kinderstrahlen kaum aus seinem grauen Fünftagebart. „Des ist ja ned nur die Geschichte unseres Hauses“, schwärmt er im bauchigen Ton seiner Heimatstadt, „es ist auch meine eigene“.
Schließlich kennt niemand die Augsburger Puppenkiste besser als ihr Geschäftsführer mit den hellwachen Augen. Und das will was heißen, bei einer Bühne, deren handgeschnitztes Personal mehr Bürger über 40 vor Augen haben dürften als so manchen Bundesminister. Deren Kollegen waren 1961 noch von Konrad Adenauer ernannt worden, als Klaus Marschall hineingeboren wurde ins aufstrebende Provinztheater, das 13 Jahre nach der Zerstörung im Krieg gerade mit der Muminfamilie den Durchbruch im Fernsehen gefeiert hatte. Es war der Beginn eines goldenen Zeitalters für beide – die Puppenkiste und ihren späteren Chef.
Denn parallel zur Geburt des Erben produzierte die Puppenkiste Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Die nachproduzierte Farbversion von 1976 fegte nicht nur bei der Erstausstrahlung die Straßen leer, sie gilt bis heute als Meilenstein zeitloser Familienunterhaltung. Wer Emma nie im Frischhaltefolienmeer gesehen hat, ist entweder im Funkloch aufgewachsen oder bei Technikhassern. Noch heute verkauft sich die Marionettenversion von Michael Endes Bestseller gut, das Fernsehen spart nicht an Wiederholungen. Nur an einem Ort hat sie keiner je gesehen: In der Augsburger Puppenkiste.
Die nämlich trennt Bühne und Kamera seit schwarzweißen Zeiten strikt. Da das pittoreske Kreuzgewölbe im Herzen der nordbayrischen Stadt fürs raumgreifende TV-Format ungeeignet war, wurde schon das weit simplere Peter und der Wolf 1953 aus einem Hamburger Luftschutzbunker gesendet. Umgekehrt taugen die üppig ausstaffierten Serien nicht für den Saal. „Statt 40 verschiedener Kulissen wie am Bildschirm, müsste Jim Knopf live mit drei bis vier auskommen“, meint Klaus Marschall, „da wären die Zuschauer zu Recht enttäuscht“. Dramaturgisch lassen sich Film und Theater also kaum vereinbaren. Wirtschaftlich sieht das ein wenig anders aus.
Nicht zuletzt dank jahrzehntelanger Präsenz im Hessischen Rundfunk ist aus dem berühmten, aber winzigen Bretterverschlag eine Großbühne globaler Kleinkunst geworden. Und auch, seit nicht mehr jedes Jahr ein neues Holzensemble zu nationaler Bekanntheit kommt, sprudeln solide Einnahmen aus Ticketverkauf, Merchandising, Gastronomie ins denkmalgeschützte Haus. Wie Brunnenbach und Brunnenlech, die sich direkt unter Marschalls verwinkeltem Büro im grandiosen Renaissance-Bau vereinen, rauschten sie jedoch meist auch gleich wieder hindurch. Heute wie damals. „Wenn mein Vater Anschaffungen machte“, erinnert er an die Zeit des Generationenwechsels, „ging er zur Sekretärin und fragte, ob noch Geld da ist“. Beschauliche Zeiten. Ohne Spielkonsolen und Privatfernsehkonkurrenz.
Heute dagegen – ein Internet, 200 Kanäle und Milliarden Touchscreens später – könne sich ein rentabler Kulturbetrieb mit 26 Vollzeitkräften und zwei Millionen Umsatz so kreative Buchhaltung nicht mehr leisten. Deshalb hat der gelernte Dekorateur ohne betriebswirtschaftliche Ausbildung schon als einfacher Mitarbeiter „nächtelang Vierjahrespläne erstellt“. 1992 dann, frisch mit der Leitung betraut, hat er dann rasch Abläufe gestrafft, Investitionen strukturiert, Löhne erhöht, also auch am Arbeitsmarkt für Konkurrenzfähigkeit gesorgt und zudem Tourneen organisiert, „um die Marke international bekannt zu machen und Kapazitäten auszulasten“.
Gab es bei Vater Hanns-Joachim 350 Vorstellungen im Jahr, inszeniert der Filius ein Drittel mehr – 120 Gastspiele von Japan über Amerika bis in Arabiens Wüste inklusive. Die Zahl der Sitzplätze ist auf 212 gestiegen und damit Einnahmen, Personalgröße, Sponsorengelder, Fördermittel. Dafür arbeitet Klaus Marschall sechs, manchmal sieben Tage, oft bis in die Nacht. Wenn er danach mal mit seiner Frau essen gehe, „besprechen wir geschäftliche Dinge, für die vorher keine Zeit war“. Ganze zwei Sommerwochen, wenn sich das Paar in ein italienisches Bergdorf zurückzieht, ist er mal unerreichbar.
Mit dem Eifer eines Nachlassnehmers, der sich des Erbes wert erweisen will, kniet er somit in einer Aufgabe, die so alt ist wie der Chef selbst. Oma Oehmichen nahm das Wickelkind bereits mit in die hauseigene Werkstatt, wo sie wie später ihre Tochter im Akkord Puppen schnitzte. Kaum groß genug zum Rechnen half er später an Tür und Kasse aus, um mit zwölf das erste Mal von den Hausaufgaben ins Theater gerufen zu werden. „Als ein Puppenspieler krank wurde“, erinnert er sich in seinem museumsartigen Büro voller Rundbögen und Krimskrams aus aller Welt ans Jahr 1973, „bin ich ins Taxi gestiegen und eingesprungen“.
Wenngleich nicht grad ins eiskalte Wasser. „Ich hatte ja schon mein eigenes Theater“, er zeigt auf den historischen Dielenboden: „Aus Opas Keller.“ In Altenheimen und Kindergärten führte er damals Geschichten seines Bücherregals auf, aus Spaß, aber auch Veranlagung. Da war also kein Zwang, nur Überzeugung – die ersterem allerdings rasch nahe kommt, wenn daraus Existenzen erwachsen, Verpflichtungen. Zum 25. Firmenjubiläum hatte er seine erste Sprechrolle, Der gestiefelte Kater, als Küchenjunge, klein, doch unersetzbar. Von da an war Marschall aus dem Familienbetrieb nicht wegzudenken. Dass er nach der Bundeswehr fest einstieg und zehn Jahre später an die Spitze auf, schien genetisch kodiert. Und als er kurz darauf seinen älteren Bruder Jürgen als Schnitzer ins Team holte, war das Generationenprojekt vollendet. Vorerst: Bald arbeiteten neben seiner Frau auch zwei der drei Kinder mit.
Nach dem Willen des Intendanten, Geschäftsführers, Aushilfspuppenspielers, Ersatzschreiners, „oft Mädchen für alles“ helfen sie dabei, die Puppenkiste als das zu erhalten, was sie ist: ein familiärer Mittelständler, untadelig kreditbelastet, staatlich bezuschusst, nicht defizitfinanziert, also solide wie immer, seit Klaus Marschall die Fäden führt. Eine halbe Million stecken Land und Kommune jährlich in die Puppenkiste. Doch angesichts der gut 70 Euro, mit denen jedes Ticket der 700 deutschen Sprechbühnen im Schnitt subventioniert wird, sind Marschalls 5,32 pro Karte nicht nur bescheiden, sondern eine glänzende Investition.
Augsburg ohne Puppenkiste, das wäre ja wie Bayern ohne München, und weil sie ohne den obersten Strippenzieher ähnlich undenkbar scheint, schwärmt der Oberbürgermeister vom „wunderbaren und verdienten Botschafter“ seiner Stadt, fast so bekannt wie die Fugger, nur weniger elitär. „Immer wenn wir uns begegnen“, fügt Kurt Gribl hinzu, „erlebe ich Klaus Marschall als bodenständigen, heimatverbundenen Menschen“, kompetent, zuverlässig, „immer gut drauf“. Ein bisschen wie der örtliche FCA, dessen Team jede Saison im Theater des leidenschaftlichen Clubfans vorstellig wird und zurzeit mit bodenständigen, heimatverbundenen Fußballern jene Liga stürmt, die etwas höher von echten Großkonzernen dominiert wird.
Bayern, Wolfsburg, Leverkusen – abseits des Sports hießen ihre Unterhaltungsäquivalente Apple, Pixar, PS5. Namen, bei denen die Frohnatur erstmals aus der Haut fährt. Die milliardenschweren Player globalen Hochglanzentertainments, klagt Marschall im abgewetzten Sofa aus Zeiten dreier Fernsehprogramme, „ersticken alle Phantasie mit keimfreier Perfektion“. Seine bis zu 40 Mitarbeiter hingegen „erwecken lebloses Holz zum Leben“. Das verlange dem Publikum bei allem Spaß auch was ab, statt es mit Megapixxeln zu sedieren. Und keinesfalls nur Kindern.
Vor zehn Jahren, meint er mit wedelnden Händen, „haben Eltern ihren Nachwuchs oft nur als Alibi mitgebracht“. Nun zählt sein Theater auch für Erwachsene zur Hochkultur. Gerade am Abend, wenn Marschall wie sein Großvater normale Stücke aufführen lässt, nur eben mit Marionetten. Ein paar Hundert von knapp 5000 hängen hinter der Bühne. In Jeans klettert der Mittfünfziger behände auf ein Spielpodest und holt einige vom Haken: Steinalte wie Kasperl, bei dem sein Herz spürbar aufgeht. Brandneue wie Gregor Gysi, Teil eines Kabarettstücks mit 120 Puppen. Protagonisten allesamt, die Grimms Märchen ebenso mit Leben füllen wie Wagners Nibelungenring, von dem Klaus Marschall derzeit träumt.
Im Hof läuten die Glocken der Spitalskirche, als er seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, das Theater werde auch auf Bildschirm und Leinwand wieder präsenter. Schließlich ging Ende der Neunziger eine Million Zuschauer in die Kinoversion von Monty Spinnenratz. Mit den Rundfunkanstalten der Umgebung sei man längst in Verhandlungen. Marschalls Stimme hebt sich abermals leicht: „Die Menschen sehnen sich nach was Echtem, Greifbarem“. Auch darum ist seine Puppenkiste so unverwüstlich wie die Figuren im Museum. Gut, es gebe Wellen, sagt Marschall. Privat, geschäftlich. Sein Salär bemesse sich am Schuldendienst. „Und unser Etat ist immer auf Kante genäht“, besonders, wenn wie jüngst die Tonanlage Ersatz braucht.
Dann aber springen wie so oft lokale Sponsoren ein. Die Platzauslastung liegt unverdrossen nahe 100 Prozent. Zwei Jahre in Folge warfen jüngst Gewinn ab. Und Pacht verlange Augsburg auch künftig nicht für ihre Räume aus dem 17. Jahrhundert. Die Puppenkiste mag den Himmel im Obergeschoss haben – weil ihr alle wohlgesonnen sind, ist sie auch auf Erden erfolgreich.