Posted: July 31, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Geiler Reim auf Hammer
Mit Scootershouter H.P.Baxxter moderiert gerade einer den grandiosen Summer of the 90s, der so überhaupt nicht zu Arte passt. Das war vor einem Jahr ähnlich. Damals präsentierte der Conscious-Rapper Samy Deluxe den Summer of Soul – und es war die reine Freude. Ebenso wie das Interview mit dem HipHopper made in Hamburg
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Samy Deluxe, ich wette, Sie werden gern zu ganz bestimmten Themen gefragt.
Samy Deluxe: Oh ja, Integration, Rassismus, solche Sachen.
Dann handeln wir das doch gleich zu Beginn in Stichworten ab und kommen dann zum Wesentlichen für heute – zur Musik.
Gern, nur zu.
Also: Migrationshintergrund?
Ein leeres Wort, gerade in einem Einwanderungsland wie diesen. Aber ich hab ihn, keine Frage.
Rassismus?
Gibt es komischerweise immer noch alltäglich, auch wenn Medien vor allem dann darüber berichten, falls irgendwo irgendwas oder irgendwer brennt. Wenn Thomas R. verhaftet wird, steht dahinter das Alter, wenn Mehmet R. verhaftet wird, auch dass er Türke ist. So zeigt sich Rassismus auch institutionell ständig.
Eigene Erfahrungen als schwarzer Deutscher?
Ich hatte zum Glück nie 20 Naziskins vor mir, daher eher verbaler Art. Das aber immer wieder. Ich beschäftige mich aber auch anders mit dem Thema als potenziell Betroffene sonst, da ich mich offen gegen Rassismus engagiere und mein eigenes Sprachrohr bin. Wie viel noch zu tun ist, zeigte sich ja eben bei der Vorstellung vom Summer of Soul. Da war ich der einzig dunkelhäutige Mensch unter zig Leuten im Raum, obwohl es um schwarze Musik geht.
Dienen Sie der bei Arte als Moderator, weil sie dieselbe Hautfarbe haben oder aus künstlerischen Gründen?
Ich hoffe eher letzteres, aber auch ersteres ist ja durchaus nachvollziehbar. Die hätten auch einen wie Jan Delay nehmen können, der mindestens genauso viel Ahnung von schwarzer Musik hat wie ich. Aber diese Art Minderheitenmusik von einem aus der Mehrheitsgesellschaft moderieren zu lassen – da passt einer wie ich vielleicht besser. Weiße machen doch schon alles andere in der Welt.
Was qualifiziert Sie denn inhaltlich zur Moderation?
Ich kenne jeden der Künstler, die vorkommen, und fast jeden Film, hab alle Folgen von Soul Train auf DVD, bin mit Ayo, die den Titelsong gemacht hat, befreundet und auch sonst ziemlich bewandert in diesem Genre. Da war es leicht, zuzusagen.
Zumal Sie schon Moderationserfahrung haben.
Absolut. Ich mach so was schon ewig. Auf ZDFkultur hatte ich mal eine eigene Sendung, Wo ich herkomme, ansonsten oft als Gastmoderator, zu Themen, die mich persönlich betreffen. Ansonsten steht Moderation in Deutschland ja für gar nichts mehr, die werden alle gecastet und moderieren das Zeug weg, das ihnen vorgesetzt wird.
Sie stehen hinter allem, was Sie moderieren?
Unbedingt! Ich will ja was verständlich machen, auch mir selbst. Schon bei der ersten Einarbeitung und dem kleinen Rap zur Sendung hab ich gemerkt, wie viel Spaß ich an dem Thema habe. Für eine Heimwerkersendung hätte ich bestimmt einen geilen Reim auf „Hammer“ gefunden, aber das wäre nicht ich. Außerdem finde ich es toll, dass Arte hier nicht nur ein Stück alter Kultur für neue Generationen wiederbelebt, sondern mir die Möglichkeit gegeben hat, es zu vermitteln.
Wie sind die denn auf Samy Deluxe gekommen, der ja doch eher Rapper als Souler ist?
Die haben meine One-Take-Wonders zum letzten Album gesehen: 60, 70 Zeilen live aus dem Kopf direkt in die Kamera gerappt, die Beats selbst beigesteuert und dazu noch einigermaßen cool aussehen. Das macht sonst kein Rapper der Welt und passt gut zu diesem Format.
Aber steckt bei allem Nutzen für Arte nicht auch ein wenig Selbstvermarktung da drin?
Natürlich, aber auf niedrigem Niveau. Denn Arte ist von allen Sendern, die mir so was angeboten haben, der kleinste, und dennoch der einzige, dem ich zugesagt habe. Ich hätte da die Chance zu weit größeren Selbstvermarktungsplattformen, aber die machen halt alle Bullshit.
Zum Beispiel?
Ach – Dschungelcamp, The Voice, Popstars, all so was. Aber ich stehe am Ende eben doch lieber auf der Bühne als in TV-Studios rum.
Sehen Sie denn selber fern?
Gar nicht, höchstens DVDs. Ich hab zwar einen Fernseher, der aber nicht angeschlossen ist.
Können Sie trotzdem was zum Zustand des Musikfernsehens in Deutschland sagen?
Ich weiß zumindest, dass da keine Musik mehr läuft. In Belgien, wo ich auch noch wohne, seh ich manchmal die französische Sendung Trace Urban. In Deutschland dagegen gibt’s nur Deluxe Music, wo noch richtige Clipstrecken laufen.
Den gibt’s leider nicht mehr.
Ah, sehen Sie. Deutsches Musikfernsehen ist tot.
Ist das beklagenswert?
Absolut. Es gab mal einen gemeinsamen Nenner und der hieß MTV; das haben alle Fans von Rock über HipHop bis Pop oder Techno gehört. Ohne eigene Recherche von Leuten mit echter Musikkenntnis grundversorgt zu werden, kann das Internet heute eben nicht kompensieren. Und dass man für einen Einblick ins Geschehen jetzt so sehr auf Eigeninitiative angewiesen ist, führt dazu, dass mir manche Leute auf der Straße sagen, wie geil das und das ist, von dem sie in der MTV-Zeit vielleicht gar nichts mitgekriegt hätten. Aber ebenso viele sagen: krass, ich hab seit Ewigkeiten nichts mehr von dir gehört. Machst du überhaupt noch Musik? Wo ich dann sagen müsste, Digger, ich hatte letztes Jahr ein Nummer-1-Album! Es fehlt das genreübergreifende Bindeglied der gesamten Musiklandschaft. Da geht viel Interessantes an einem vorbei. Alter, ich als Rapper hab bei MTV Heavy Metal geguckt!
Wenn das alte MTV heute einen Moderator suchen würde – wäre das was für Sie?
Na klar! Ich bin mit Yo MTV raps groß geworden, das war noch echte Subkutur. Andererseits ist auch dank MTV das Spektrum des HipHop in den Medien permanent geschrumpft, obwohl es auf der Straße zugleich ständig angewachsen ist. Gerade Fernsehen ist viel mehr Selektion als früher, alles muss in Formate passen; deshalb gibt es für Subkulturen kaum eigene Plattformen.
Sind Sie selbst nach 15 Jahren im Geschäft und vier Top-3-Alben noch Subkultur oder Ihrerseits Mainstream?
(lacht) Fiese Frage. Meine musikalische Herangehensweise ist strikt subkulturell, also nicht auf den Erfolg bedacht. Aber wenn 50.000 Leute das Ergebnis kaufen, ist das eben definitiv kein Underground.
Wie reagiert die Szene darauf, wenn einer von denen bei KiKa mitmischt oder jetzt auf Arte moderiert?
Ach, ich hör mir ja nicht alles an, was so an Blödsinn gelabert wird, und bin auch nicht der einzige Rapper, der den vielen Angeboten mal nachgeht, was anderes als HipHop zu machen. Aber es gibt natürlich gegenüber der ersten Generation deutscher Rapper mit Hintersinn ein romantisches Gefühl der ersten Stunde. Das können wir leider nicht dauerhaft bedienen. Ich entwickle mich halt genauso wie die Hörer weiter. Wenn ich bloß Dienstleister der Bedürfnisse meiner Fans wäre, kann ich auch gleich bei Penny an der Kasse stehen. Ehrlich – ich kann machen, was ich will: Heute HipHop, morgen Malen, übermorgen ein Buch, danach vielleicht was mit Film.
Kommt das alles noch?
Wer weiß, ich finde da vieles spannend. Selbst Fernsehen ist als Verbreitungsplattform grundsätzlich toll. Deshalb hätte ich auch große Lust, mal eine Talkshow zu machen. Dafür gab es sogar schon Gespräche. Und bei ZDFkultur hab ich als Finale einer fünfteiligen Deutschlandreise hier auf dem Kiez die zugehörige Talkrunde moderiert. Allerdings fehlte den Verantwortlichen dann doch der Mut, das den Revoluzzer alleine machen zu lassen. Deshalb haben sie mir noch was Öffentlich-Rechtliches zur Seite gesetzt. Die Frau war zwar ganz cool, hat aber alles verwässert. Fernsehen sollte prozesshaft entstehen, am besten nach einer Testphase im Internet. Ich find’s jedenfalls gut, dass Arte mich da jetzt mal machen lässt. Danach sehen wir mal weiter
Um dann so wie Ihr Kollege Ferris MC richtiger Schauspieler zu werden?
Hab ich von gehört. Ist davon denn mal was gelaufen?
Erfolgreich sogar. Zuletzt hat er sogar eine tragende Rolle im Tatort gespielt.
Das haben die mir auch mal angeboten. Aber als deutscher Schwarzer kriegt man eigentlich nur Drogendealer. Auf Klischees hab ich keinen Bock.
Posted: July 30, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Diese Augen
Matthias Brandt ist ein Phänomen: Der schauspielernde Kanzlersohn füllt jeden Bildschirm mit Leben – und bleibt dabei doch merkwürdig hintergründig. Wie auch im famosen Politdrama Männertreu beweist, wo er heute (20.15 Uhr) einen Verleger spielt, der zum Bundespräsidenten gemacht werden soll.
Von Jan Freitag
Wie man mit diesen Augen Ruhm erringen kann, ist ein kleines Rätsel. Ihre verquollene Faltigkeit erinnert zwar unweigerlich an den weltberühmten Stephan Derrick. Doch die melancholische Starre reduziert das Gesicht auf so wenige Ausdrücke, dass es ziemlich unscheinbar daherkommt. Schönheit, Glamour, Spannung darin zu entdecken, fällt daher schwer. Und man muss den Namen beim Betrachten schon mal kurz aussprechen, um darin, ja – ihn zu sehen: Willy, den anderen, den größeren, wohl größten Brandt überhaupt. Es ist sein Vater. Und diese Herkunft mag Garant für eine gewisse Eleganz im Umgang mit Bekanntheit sein; für eine große Schauspielerkarriere eher weniger. Nicht im Fernsehen.
Da ist es fürs Publikum ein Segen, dass der Sohn für den Exkanzler „eine große Enttäuschung“ war, wie Matthias Brandt seine Abstinenz von aller Politik beschreibt. So konnte er das verfeinern, was ihm trotz allem in die Wiege gelegt wurde: die Charakterrolle. Fein justiert, ohne Trara expressiv, frei von Imponiergehabe so präsent, dass der Bildschirm voll von ihm ist, obwohl er darauf oftmals völlig abwesend wirkt. So viel Bescheidenheit gestatten sich nur wenige in diesem Business. Welch ein Mann! Was für ein Talent!
Seines berühmten Namens hat es also nie bedurft, um erst im Theater, dann vor der Kamera die höchsten Weihen zu erhalten, Engagements an den renommiertesten Bühnen, TV-Preise in Reihe etwa und eine schier explodierende Zahl an Rollen, über drei Dutzend allein in den vergangenen drei Jahren. Umso mehr ist es eine Ironie der Geschichte, dass Matthias Brandt den Durchbruch im Fernsehen am Ende doch seinem Vater zu verdanken hatte. Besser noch: dessen Verräter. 2004, als der Nachwuchsfilmschauspieler mit über 40 Jahren im ARD-Zweiteiler Im Schatten der Macht ausgerechnet Günter Guillaume darstellte, jenen Mann, über den Papa Willy einst stürzte.
Eine Ironie des Mediums, seiner ganzen aufgeregten Oberflächlichkeit ist es hingegen, dass sich jemand mit derart unschillernder Ausstrahlung darin derart beharrlich festsetzt. Wobei es natürlich ein Wink des Schicksals ist, dabei immer wieder mal den Politikbetrieb verkörpern zu dürfen. So wie heute in Hermine Huntgeburths furiosen Drama Männertreu. Brandt spielt darin einen Frankfurter Verleger, der von seinem machtbewussten Umfeld zum Bundespräsidenten aufgebaut wird. Und wie er dabei scheitert und zugleich reüssiert, wie dieser PR-Profi namens Sahl jede Niederlage in einen Sieg verwandelt, jede Untiefe zum Aufstieg macht, wie er stets die Kontrolle im Aberwitz der repräsentativen Demokratie behält – das kann niemand spielen wie Brandt.
Dabei zeigt er seine wahre Güte eigentlich ein paar Erregungsstufen niedriger, in leichten Melodramen etwa wie Ein Sommer mit Paul, wo Brandt den Zauberer Raimund Balsam, dem der Tod seiner Frau neben dem Zaubern gleich den Rest des Lebens verleidet, bis das Verhältnis zu seinem assistierendem Sohn Paul (Max Schmuckert) darunter zu zerbrechen droht. Keine weltbewegende Geschichte. Und gezaubert wird auch nicht allzu viel. Doch wie Matthias Brandt die Traurigkeit seines Kurzsichtigen-Blicks darin tanzen lässt, wie er die Tristesse eines Gestrauchelten permanent mit Hoffnung versieht und selbst einem trinkenden, arbeitsscheuen, ausgelaugten, zynischen und partiell (auto)aggressiven Verlierertypen Restbestände von Humor entlockt, macht den Film zur eindrücklichen Studie unserer Zeit. In einer Spaßgesellschaft, die sich so hektisch amüsieren zu müssen glaubt, dass ihr ganzes aufgestautes Selbstmitleid darunter nur eruptiv entweichen kann. Oder eben stecken bleibt. Wie in Matthias Brandt. Seinen Augen. Und jeder seiner Fasern.
Dabei hat er schon mehrfach bewiesen, wie man seine Figuren fast ohne Mimik zum Leben erweckt. An der Seite Katja Flints verlieh er dem Single-Thema der Patchwork-Komödie Wie krieg ich meine Mutter groß 2004 so viel trübe Zuversicht, dass eine Fortsetzung (Väter, Mütter, Kinder) folgte. In Der Stich des Skorpions vermaß er einen früheren Stasi-Offizier mit der perfekten Mixtur aus Zerrüttung, Ballast und Stolz. Als Episodenpart von Tatort bis Nachtschicht macht er das, was ihm auch in seinen vielen Hauptrollen am besten gelingt: Aus dem Hintergrund nach vorn drängen, ohne dass es jemand merkt. Und zwar nicht selten im Dunstkreis bildschöner Frauen, die er auf subtile Art verzaubert, ohne dass es vom Drehbuch konstruiert wirkt.
Er verkörpert darin schließlich dass, was zeitgemäße Männer heutzutage auszeichnet: eine gewisse Selbstreduktion, die Bereitschaft, sich nicht wichtiger zu nehmen, als man ist. Zugleich aber jene flatterhafte Adoleszenzverweigerung, die eine ganze Generation männlicher Spielkinder auf der Flucht vor Verantwortung zwischen dreißig und fünfzig produziert hat. Als Vater seines Filmkindes Paul ist es Raimunds Magie, die seinen Unernst im Umgang mit Zukunftsfragen, Bürokratie oder Liebe definiert. Dass Kinder in Ein Sommer mit Paul allzu oft Dialoge vertonen müssen, die offenbar für Erwachsene verfasst waren, sei dem Film verziehen und Drehbuchautor Sebastian Schubert empfohlen, Kinderrollen künftig lieber für Kinderfilme zu schreiben, als seine Darsteller mit altklugen Aphorismen der Unglaubwürdigkeit preiszugeben. Aber auch hier ist es Matthias Brandt, der die Kohlen aus dem Feuer holt.
Und zwar ganz nebenbei, aus dem Hintergrund quasi, mit kleinen Gesten oder deren Unterschlagung. Wem sonst als dem Berliner von 52 Jahren könnte man fast zwei Minuten dabei zusehen, wie er an der Kamera vorbei ins Nichts blickt, um dem Brief seines Sohnes an die tote Mutter zu lauschen, ohne dabei einzuschläfern. Da darf er wie zuletzt ruhig mal ein paar anspruchslosere Rollen in seichteren Stoffen übernehmen – mit Matthias Brandt wird jede Hauptrolle zur Nebenrolle. Und umgekehrt. Das liegt nicht nur an den Augen.
Posted: July 28, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
21.-27. Juli
Wenn die Nachrichten partout nichts Positives vermelden, wenn Katastrophen durchs Sachfernsehen rauschen wie Banalitäten durchs private, wenn das Sommerloch nur mit Grauen und Gewalt gefüllt wird – hilft oft nur Humor, um unsere Spezies zu ertragen. Also hat der Postillion den Nahostkonflikt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt, und was angesichts des Leids, das die „Tagesschau“ täglich von dort vermeldet, geschmacklos klingen mag, verdeutlicht den Irrsinn dieser Welt einfach besser als manch ernste Reportage.
Schließlich reißen die bad news allenthalben auch medienintern nicht ab. Nach Karl-Heinz Böhm sind vorige Woche auch Dietmar Schönherr, Manfred Sexauer und James Garner gestorben. Am Übergang vom schwarzweißen zum Farbfernsehen haben sie ihr Medium ungeheuer bereichert – Schönherr ums Raumschiff Orion und die Talkshow, Sexauer um Pop’n‘Rock’n‘Roll und Garner um den Siebzigerjahre-Schnüffler Rockford. Im Rückblick bezeugen alle, dass früher eben doch manches ein bisschen besser war.
Passenderweise löste das ZDF seine Redaktion „Event und Show“ auf, weil es ihm mit dem Frisieren unliebsamer Zuschauervoten zu bunt wurde. Und dann verkündet die ARD auch noch das Ende von Verbotene Liebe. Für anspruchsvolle Zuschauer mag das beklagenswert klingen wie ein globales Verbot sämtlicher Schnellfeuerwaffen. Für die anspruchsvolle Literaturkritikerin Elke Heidenreich stellt das Ende ihrer Lieblingssoap Anfang 2015 hingegen nicht weniger als eine Katastrophe dar. „Nirgends gibt es Vergleichbares“, schrieb sie in der Süddeutschen. Begründung: „Die Schauspieler sind durchweg gut“ und machen ihre Sache – angeblich wie die Autoren – „mit Leidenschaft ganz fabelhaft“.
Da dürfte es zwar durchaus abweichende Meinungen geben; doch die Tatsache, dass eine bewusst überdrehte Adelssaga mit solider Fanbasis und gewaltigem Online-Zugriff aus Quotengründen abgesetzt wird, lässt die Kabarettistin zu recht fragen: „Kann man Fernsehdirektoren abwählen?“ Kann man nicht. Auch wenn die „Bild“ das gerne würde und dafür eins ihrer beliebten Lügenkonstrukte unter die schafsgleiche Leserherde streut. Diesmal über vermeintliche Kürzungen beim Tatort, die das Springerblatt mit dem erstaunlichen Paradoxon garniert, gegen Fernsehgebühren und deren sparsame Verwendung gleichermaßen zu agitieren.
Die Frischwoche
28. Juli – 3. August
Wie zum Beweis gibt es Sonntag anders als geplant keinen neuen Tatort, sondern einen alten. Aus Köln. Von 2011. Was die Bild abermals auf die Palme bringen dürfte. Von wegen: Nix als Wiederholungen für unser GEZ-Geld. Wobei die naturgemäß das Karma der Sommermonate sind. Und wenn es mal bemerkenswerte Erstausstrahlungen gibt, dann eher auf den abseitigen Plätzen. Bei Arte zum Beispiel, wo heute der Dildo sein filmisches Denkmal erhält. Die britische Komödie In guten Händen schildert den Ursprung des Vibrators nämlich nicht voyeuristisch, sondern mit viel Gefühl für den Umgang mit weiblicher Sexualität vor 134 Jahren.
Weniger Humor, dafür noch mehr Realismus zeigt dagegen der ARD-Mittwochsfilm Männertreu. Ein Verleger (Matthias Brandt) wird darin von einer ehrgeizigen Politikerin (Margarita Broich) zum Bundespräsidenten aufgebaut. Das sorgsame Schlittern in private wie berufliche Katastrophen, hebt das Politdrama geradezu auf skandinavisches Niveau. Weniger Realismus, dafür viel mehr Humor hat die Romanze Offroad, in der das ZDF am Donnerstag neben Nora Tschirner und Elyas M’Barek auch sonst viel Bezug zur nachwachsenden Zuschauerschicht aufbaut. Passend dazu startet dort morgen Nacht mit Shooting Stars eine weitere Plattform für junge Regisseure – wenngleich Alex Schmidts Auftakt „Du hast es versprochen“ um zwei Schulfreundinnen, die am Ort ihrer Kindheit Abstand von der Realität gewinnen wollen, zwar atmosphärisch beginnt, aber banal endet.
Dennoch: so viel Platz für Neues räumen die Platzhirsche sonst nur auf ihren Spartenkanälen frei. ZDFneo zum Beispiel, wo ab Samstag der Gewinner des TV-Labs läuft. Er heißt Tohuwabohu und macht den öffentich-rechtlichen Endlosversuch, junge Zuschauer zu gewinnen, zum Inhalt einer Sendung, in der Promis eine Kinder-Jury überzeugen sollen, wer sie besser unterhält. Das ist zwar auch nicht der Stein der Entertainmentweisen, hat aber im ersten Ton der Auftaktmelodie mehr Esprit als Sat1 in 60 Minuten Neuauflage der schlichtesten Show aller Zeiten: Deal or no Deal. Ab Mittwoch moderiert Wayne Carpendale Guido Cantz’ abgenudelten Versuch, Boxen mit viel Geld unter Boxen mit wenig Geld ziehen zu lassen.
Dagegen könnte RTLs Reanimierung von Thomas Gottschalk als Moderator von 60 Jahre Rock & Pop am Freitag glatt unterhaltsam werden. Da selbst Populärkultur beim Kulturkanal besser aufgehoben wäre, sei aber doch lieber der nächste Teil vom Summer oft the 90s auf Arte empfohlen, der sich Sonnabend Boy- und Girlgroups widmet (22.05 Uhr) und tags drauf dem Aufstieg und Fall von MTV (21.55). Total Entertainment heißt die Klammer. Sie gilt quasi auch dafür, was Arte Mittwoch zuvor liefert, das wahre Highlight der Woche nämlich: Monty Python live (mostly), die umjubelte Rückkehr der Anarchokomiker nach 32 Jahren Bühnenabstinenz. Kein Feuilleton, das davon nicht geschwärmt hatte.
So wie 1955 über den Tipp der Woche geschwärmt wurde: Die Ratten, Mittwoch, 1.55 Uhr, ARD), Robert Siodmak Verlegung von Gerhard Hauptmanns wilhelminischen Sittengemälde über Reichtum und Armut in die 50er Jahre.
Posted: July 26, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 6 wochenendreportage |
Au
f dünnen Beinen
Jedes Jahr ereignet sich die ungemein alpine Seiser Alm ein sportlicher Stilbruch. Dann veranstaltet die kenianische Langlaufelite ein Trainingslager in Südtirol. Und Amateure dürfen mitmachen.
Von Jan Freitag
Diese Waden, eher Striche in der Landschaft als das, was darin steckt. Fragil wie fleischarme Auberginen und beinahe so schwarz fliegen die Ausdauermaschinen förmlich über die Alm, 36 im Ganzen, 18 Paar, eines dürrer als das andere. Wer die zugehörigen Körper aus der Nähe betrachtet, könnte denken, gleich zerbrächen sie unterm Druck ihrer langen Schritte. Doch so richtig nah kommt ohnehin keiner ran, wenn diese Beine mal ins Rennen geraten. Und das tun sie eigentlich ständig.
Es ist ein bizarres Bild, das sich den Besuchern der Alpe di Siusi zur Wanderjahreszeit bietet. Seit vier Jahren trifft sich Kenias Laufelite für drei Wochen im Juli zum Trainingslager auf Europas größter Hochalm unweit von, aber doch ein Stück über Bozen. Die besten Langstreckler also – Goldmedaillengewinner, Weltmeister, Zeitminimalisten – aus dem westlichen Afrika, wo die Haut besonders dunkel ist und die Menschen besonders hager, sie bereiten sich ausgerechnet da auf die Saison vor, wo das Gebirge besonders alpin ist und deren Bewohner besonders volkstümlich, Trachtenträger mit Traditionsbewusstsein, die den Nachnamen zuerst nennen und zum Abschied Gott grüßen. Man muss kein Freund von Klischees sein, um darin einen Widerspruch zu erkennen.
Morgens um halb acht etwa, wenn sich die Gruppe auf dem Weg ins Tal begibt, 20 Kilometer moderates Tempo am Fuß der Dolomiten. Wie sie vor der ersten Mahlzeit so von Seis am Schlern aus durch Südtirol federn, bleibt den wenigen Frühaufstehern, die man jetzt auf den Straßen des betulichen Ferienorts trifft, der Mund offen. „Ist auch ein seltsamer Anblick“, staunt selbst Ulrich Banholzer. Dieser Kontrast, schwäbelt der Deutsche, den alle Uli nennen: so viele Afrikaner auf einen Haufen, in dieser Umgebung, „des isch scho ungewohnt“. Obwohl er genau dafür sogar bezahlt hat, wenn man so will.
Uli Banholzer gehört zur anderen Trainingseinheit, die dieser Tage vor Ort das Laufen übt, und sie hat unmittelbar mit dem Spitzenteam eines Sportartikelherstellers zu tun. Acht Tage wird der Hobbyathlet mit einer Handvoll Gleichgesinnter von zwei Trainern „der Unerreichbaren“, wie Banholzer die Kenianer nennt, geschult. Die Ausbilder derjenigen also, die auf jeder Distanz ein normalsterbliches Sprinttempo hinlegen und danach locker austraben. Ebenso wie das Proficamp ist auch dieses ein Mix aus Laufevent und Sightseeing, PR-Aktion und seriösem Sport. „Höhe, Klima, Leute, Versorgung, die Trainingsstrecken“, listet Olympiasieger Samuel Wanjiru auf – „hier ist alles perfekt“. Es klingt pflichtschuldig; trotzdem möchte man dem Marathonchamp seine Lobeshymne aufs Umfeld, die Unterkunft, den Spaß glauben. Trainingslager sind teuer, Tauschgeschäfte folglich unerlässlich. Hier ist es Präsenz gegen Preisnachlässe. Es ist also eine win-win-Situation für alle: Profis, Gäste, Anwohner, Amateure, besonders die.
Für Uli, den spindeldürren Single aus Rottweil zum Beispiel, der seinen ersten Marathon noch vor dem 35. Geburtstag, also bald, ins Auge fasst. Für Ursula, die 46-jährige Wirtschaftstrainerin aus Sachsen, der das Laufen als erschöpfender Prozess erst ab Kilometer 20 bewusst wird, langsam. Für Paolo, den italienischen Diabetiker von 44 Jahren, der auch aus therapeutischen Gründen seine fünfte Königsstrecke anpeilt und über die Distanzen seiner Schuhe Buch führt. Oder für Alexandra, die halb so alte Spaßjoggerin aus Guatemala, deren Tempo beim anstehenden Marathondebüt im Frühjahr deutlich anziehen muss, um nicht vom Besenwagen aufgekehrt zu werden.
Es ist ein bunter Haufen auf verschiedenen Leistungsstufen. Doch sie alle träumen den gleichen Traum jener 42,195 Kilometer, auf die sie hier in einer Systematik getrimmt werden, die daheim unerreichbar wäre. Durch einen Trainerstab, der sonst Topleute trainiert. Mit einer Infrastruktur jenseits jeden Freizeitsports: medizinische Versorgung, technisches Equipment, Sportlernahrung, Expertentipps, dazu die physische Nähe zu den Unerreichbaren, Tür an Tür, Massagebank an Massagebank, abschließender Wettkampf inklusive – „das motiviert zusätzlich“, sagt Uli Banholzer. Als er abends von einer freiwilligen Extrarunde zurückkehrt, hängen die schlaksigen Kenianern im winzigen Ortskern herum, zwischen einem futuristischen Kirchenneubau und den zwei Cafés der einzigen Ladenzeile im Dorf. Zwei junge Talente hören kenianische Musik aus dem Handy, James Kwambei, zweitschnellster Marathon-Läufer überhaupt, albert mit dem Seriensieger von Bosten Robert Cheruiyot herum, während Goldmann Wanjiru ein paar Jugendliche beim BMX-Tricksen fotografiert.
Nach dem Tagespensum, wenn sich die Dämmerung wie ein Vorhang von den Gipfeln in die grüne Hochebene senkt, herrscht ein entspanntes Nebeneinander auf der geräuscharmen Alm, lässig. Auch einladend? Wer mit den Stars ins Gespräch kommen will, erntet zwar stets ein Lächeln, aber auch Wortkargheit. Ein Foto? Gern. Aber bitte kein Smalltalk. Man trainiert hier, genießt die Ruhe, eine geschlossene Gesellschaft mit gelegentlichem Außenkontakt. Fertig. Der einzige Parkplatz hier oben hat alle Tagestouristen zurück ins Tal gespuckt, spärlich trudeln die Übernachtungsgäste von den verschlungenen Wanderwegen ein, da bittet ein grauhaariger Herr klatschend zu Tisch: Gabriele Rosa, „il Dottore“, Finanzier des Teams. Es ist keine Nobelherberge, in die der Sportarzt aus Brescia seine Läufer ruft, keine, die deren Preis- und Sponsorengelder gestatten, nicht das Fünfsternehaus an der Liftstation ums Eck, sondern Mittelklasse, familiengeführt, mit Vollpension. Mehr lässt das Budget offenbar nicht zu, bei einem 25-köpfigen Team. Mehr braucht es aber auch nicht beim Höhentraining. Und die Kenianer, so heißt es, sind nicht auf Luxus aus.
Dabei sei die Höhe unerlässlich, aber nicht entscheidend, sagt Claudio Berardelli. „In Kenia ist Regenzeit“, erklärt der italienische Chef-Trainer von nur 30 Jahren die Flucht seiner Klientel. „Außerdem sind die Läufer zuhause prominent wie bei uns Fußballer“. Ohne Menschentraube im Nacken sei am Viktoriasee kein Schritt denkbar. Das Alpenklima dagegen biete perfekte Witterungsverhältnisse, die niedrige Luftfeuchtigkeit fördere Heilungsprozesse, vor allem aber herrsche „ablenkungsfreie Ruhe“. Ruhe? „Sie genießen diese Abgeschiedenheit.“ Abgeschiedenheit? Das Lager muss mehr mit günstigen Konditionen zu tun haben, als die Macher zugeben, denn auch in Südtirol sind die dunkelhäutigen Spitzensportler selten allein. Überall hellhäutige Gesichter zwischen Erstaunen und Ehrfurcht, wenn sich das Läuferknäuel nachmittags über die Hochalm schiebt. An die 20 Kilometer zum Abschluss, bei sengender Hitze. Ins Schwitzen gerät dennoch keiner so recht. Ganz anders die Amateure. Sie gehen meist ans Limit und schnaufen auch so, angetrieben von Huber Rossi, einem Trainer wie aus dem Laufmodelkatalog, dessen rehbraune Augen mit seiner Unerbittlichkeit kontrastieren wie die ganze Rennerei mit der Beschaulichkeit des Bergidylls.
Rossi ist das Bindeglied zu den Kenianern, denn die bleiben letztlich unter sich. Morgens, mittags, abends etwa, wenn die Berufssportler mit den Fingern ihr Nationalgericht Ugali essen, landesüblich steinhartes Couscous zu Huhn und Gemüse, sitzt die Hobbyfraktion dicht, aber doch distanziert am Katzentisch, während sich die Profis um einen runden Tisch scharen und der Trainerstab um den nächsten. Die Atmosphäre ist gelöst, es wird gelacht, eine verlockende Stimmung. Ihr Brötchen zum Kaffee frühstückt Ursula Heil dennoch unter ihresgleichen. „Wir könnten Kontakt aufnehmen.“ Doch das Lächeln der dreifachen Mutter einer laufverrückten Familie aus Radebeul verrät: sie traut sich nicht. Was schüchtern wirkt, ist auch eine Geste des Respekts. Es geht um Ruhe, Abgeschiedenheit, wie gesagt.
Da ist eine kurze Trainingsunion am Freitag vorm Rennen das höchste der Kontaktgefühle. „Aber allein das ist es wert“. Uli Banholzer begutachtet die Dehnübungen der sehnigen Profis, die seine Trainer auf Anfänger wie ihn übertragen, nicht eins zu eins, also abgespeckt, aber immer noch erschöpfend. Dafür hat der Volkswirt eine Woche frei genommen, 800 Euro gezahlt und vorab sein tägliches Pensum gesteigert. Er nimmt viel auf sich für eine Ahnung echter Professionalität, für einen Schnupperkurs in Sachen guter Vorbereitung. Für etwas Theorie und viel Praxis, drei Gratis-Trikots und einen abschließenden Trainingsplan. Alles für seinen ersten Marathon. Für die Fitness. Und den Schmerz.
Langläufer sind eine eigentümliche Spezies. Sie leiden nicht, um zu laufen, sie laufen auch fürs Leid, auf dem Weg zum Runner’s High, dem hormongefluteten Hochgefühl, wenn bei Kilometer 36 die Strecke zum Fließband wird und alles plötzlich ganz leicht. No pain, no gain, so denken auch Ursula Heil, Uli Banholzer, die anderen. Es ist das Mantra der Ausdauer und hier, in der dünnen Almluft, ist beides, die Qual wie die Früchte, gewiss. Auch wenn letztere für Außenstehende diffus bleiben.
Das Thermometer zeigt 32 Grad, als Huber Rossi zum Training bittet. Drei Kilometer schattenlose Straße, leicht, aber stetig bergauf. Zum Warmwerden. Warmwerden! Es herrscht Schweigen. Nur Paolos „Macchina“ bricht es bisweilen, wenn er vor einem der seltenen Lieferwagen auf der autofreien Alm warnt. Nach kurzem Stretching die Steigerung: gleiche Distanz durch den Wald, über Stock und Stein zur nächsten Almhütte, einer von Hunderten auf knapp 60 Quadratkilometern Fläche, für jeden Tag eine, wie man hier sagt. Doch für keine hat man einen Blick übrig, wenn nach den ersten 200 Höhenmetern die Oberschenkel brennen, wenn bei 100 weiteren die Lunge lodert und zwei Kilometer überm Meer das Ziel erscheint, ohne Erleichterung zu bringen. Bei 20 Prozent Steigung. „Dass Beine so schwer werden können…“ sagt Uli Banholzer keuchend. Und lächelt.
Doch selbst jetzt sieht er nicht wie 34 aus. Und bei der braun gebrannten Ursula Heil liegt schon mal um ein Drittel daneben, wer ihr Alter schätzt. Laufen hält jung. Besser: Körperfett macht alt. Und davon haben sie wenig in der Haut, im Blut. Das wurde zu Wochenbeginn gemessen. Dazu Herzfrequenzen, Laktatwerte, „anthropomedizinische Parameter“, mit denen man im Alltag wenig anfangen kann, bei Steigerungsläufen auf Höhe zäher Schneereste dafür umso mehr. Auf der Seiser Alm erfahren die Laien, was Intervall-Training ist, der effiziente Wechsel aus Steigern und Entspannung. Es sind neue, hilfreiche Erfahrungen und doch reden Amateure heute ganz selbstverständlich von anaerober Schwelle und Hypoxie. Sie kontrollieren Herzfrequenz und Position, ihre Handgelenke tragen schwer an GPS-Ortungssystem und Pulsmesser.
Auch beim Finale, dem „Seiser Alm Running“, sind sie allgegenwärtig. Die Kenianer machen mit beim schwierigen Rundkurs, mehr zu Showzwecken als auf Sieg, aber immerhin; auch wenn sie statt Startnummern ihre Bestzeiten auf den Rücken tragen. Beim Straßenmarathon würde so ein Starterfeld locker eine Million Euro kosten, sagen die Veranstalter, allein an Startgeld. „Einmalig.“ Das Beste der globalen Szene beim Berglauf in einem Ort namens Compatsch, ohne Supermarkt, ohne Post oder Arbeit abseits vom Tourismus. Nur zahllose Tagestouristen, 20 beschilderte Rundkurse des brandneuen „Running-Parks“ und dieser Lauf.
Uli Banholzer hängt sich Silas Rutto, dem Nachwuchsmann, an die Fersen. Seine Zeit ist solide wie sein Zustand im Ziel, der erste Marathon kann kommen. „Desch mach ich wieder“, sagt er noch, als die Unerreichbaren ringsum Trikots signieren. Dann verliert er sich im Feld der 250 Teilnehmer, wirkt aber nicht halb so verloren wie sechs chinesische Marathonjuniorinnen, der wahrhaft exotische Teil vom Laufzirkus des Dottore. Und von irgendwo ertönen Alphörner.
Posted: July 24, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Nachdenken? Weitermachen!
Es gibt Lebewesen, die umgibt ein Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann. Einhörnern zum Beispiel, Nelson Mandela – und natürlich H.P. Baxxter. Wer ihm begegnet, geht irgendwie gereinigt aus dem Gespräch heraus. Die freitagsmedien haben ihn nun schon zum dritten Mal getroffen und sind jedesmal aufs Neue begeistert vom Scooter-Shouter – zumal er nun auch noch bei Arte den Schwerpunkt Summer of the 90s moderieren darf.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: H.P. Baxxter, Sie waren bis zu Ihrem 30. Geburtstag im eher analogen Rock oder Wave zuhause, sind dann aber radikal in den elektronischen Bereich zum Techno gewechselt. Sind Sie ein Kinder der Achtziger oder Neunziger?
P.Baxxter: Da ich mich schon mehr als 20 Jahre intensiv mit der Musik aus dem Jahrzehnt auseinandersetze, bin ich ganz klar ein Kind der Neunziger. So lange war ich sonst noch in keiner Stilrichtung zuhause. Und es fiel mir auch nie schwer, im Techno oder wie man das auch immer nennen will, beheimatet zu sein, weil er in einem ständigen Wandlungsprozess begriffen ist und nie so starr wie etwa die Rockmusik.
Da dürfte es durchaus gegenteilige Meinungen geben…
Mag sein, aber verglichen mit dem Rock und seiner ewigen Festlegung auf Bass, Gitarre, Schlagzeug und Gesang, gibt es in der elektronischen Tanzmusik praktisch keine Begrenzung. Zumal man im Grunde jedes Instrument digital generieren kann. Alles geht. Das ist auch ein bisschen das Motto der Neunziger, wie ich finde.
Haben Sie ein durchweg positives Gefühl, wenn Sie an die denken?
Für mich persönlich auf jeden Fall. Das war ja die Zeit, in der ich musikalisch gewachsen bin. Darüber hinaus war sie aber auch wunderbar unbefangen, fast naiv. Und man kann damit musikalisch wirklich noch etwas verbinden, was in den Nullern und der Gegenwart schon schwerer fällt. Heute wird nur noch weiterentwickelt, was es vorher bereits in verschiedenen Ausprägungen gab.
Aber auch die Neunziger haben auf dem aufgebaut, was schon vorhanden war.
Haben aber etwas erkennbar Eigenes hervorgebracht. Siebziger-, Achtziger-, Neunziger-Partys haben jeweils einen ganz eigenen Klang. Wenn es in ein paar Jahren Nullerparys gibt, wäre ich mir da nicht so sicher.
Was haben denn die Neunziger wirklich Eigenes hervorgebracht?
Etwas ganz Entscheidendes: Die Achtziger waren das Jahrzehnt der coolen Distanz. In den Neunzigern dagegen ist das positive Gemeinschaftsgefühl früherer Jahrzehnte zurückgekehrt.
Zurückgekehrt, also nicht neu entstanden.
Aber kombiniert mit den modernen Unterhaltungstechnologien, die ja radikal auf Digitalität und Synthetik setzen, war das förmlich eine Revolution. Und symbolisiert wird sie durch die Figur des DJs, der damals den Frontmann der Rockmusik als Superstar populärer Musik nicht abgelöst hat, aber mit ihm gleichgezogen ist. Dass David Guetta oder Avicii heute Weltstars sind, ist in den Neunzigern entstanden.
Nähert sich ein hochkultureller Sender wie Arte diesem Phänomen denn dann ironisch oder respektvoll?
Ich glaube letzteres. Ich habe die anderen „Summer ofs“ auf Arte immer gern gesehen, weil das großen Tiefgang und Informationswert besaß. Ich hatte nie das Gefühl, da wurde je etwas durch den Kakao gezogen. Ich komme ja selber aus dem Underground und habe Techno in einer Zeit für mich entdeckt, als es bis auf Marusha keine Stars gab. Und Subkultur wird im Fernsehen nirgends ernster genommen als bei Arte.
Steckt denn wenigstens ein leichtes Augenzwinkern dahinter, den Hyper-Shouter für einen Kulturkanal zu verpflichten?
Womöglich. Aber so wie ich das verstanden habe, passe ich einfach gut ins Jahrzehnt und helfe dem Sender, neue Zielgruppen zu erschließen. Das ist ein reines Rechenexempel: Wie viel vom Stammpublikum schalten ab, wenn sie mich sehen, und wie viele kommen neu hinzu? Wenn der Saldo stimmt, hat sich das für alle Beteiligten gelohnt.
Vor allem für Sie. Empfinden Sie es auch ein wenig als Genugtuung, mit dem Alter ein bisschen im kulturellen Establishment angekommen zu sein?
Ein bisschen, ja. Ich hatte mich allerdings schon fast dran gewöhnt, ständig verrissen zu werden; das fehlt mir jetzt manchmal beinahe.
Auch der Begriff Kirmes-Techno?
Der nun nicht, aber auch mit dem kann ich leben. Ganz am Anfang hat mich das schon ein bisschen getroffen, weil wir immer das gemacht haben, was wir selbst toll finden, nie das, wovon wir dachten, dass es anderen gefällt. Aber mal ehrlich: Am Autoscooter lief schon immer das, was gerade in den Discos läuft, was angesagt ist. Von daher würde sich manch anspruchsvoller Künstler wundern, wie viel Kirmes in ihm steckt. Bei uns klebte da allerdings ein richtiger Stempel drauf – aber vielleicht ändert sich das dank Arte ja ein bisschen.
Sie machen überhaupt mehr Fernsehen mittlerweile. ESC, X-Factor, jetzt das hier – ist das reiner Spaß oder ein neues Standbein?
Ich finde es immer interessant, Dinge auszuprobieren, die ich eigentlich nicht kann. Das fing schon 1997 an mit „Alarm für Cobra 11“, wo ich zum Glück nur mich selbst spielen musste und entführt wurde, weil ich irgendwem einen Song geklaut hatte.
Und dann zwischen zwei Autoexplosionen befreit wurden.
So ungefähr (lacht). Alles fast wie im wahren Leben (lacht noch lauter). Ich hab da schon gemerkt, dass das nicht so meins ist, würde aber jetzt auch nicht sagen, dass ich das nie wieder mache. Das hängt davon ab, ob ich Zeit und Bock habe. Wichtig ist, nicht jeden Mist mitzumachen, sondern das, wo man ein bisschen Leidenschaft reinstecken kann.
Und künstlerisch sind Sie mittlerweile vermutlich so unabhängig, nach Lust und Laune entscheiden zu können, wo Sie Ihre Energie investieren.
Unabhängiger als vor 20 Jahren schon. Aber ich habe auch Deadlines einzuhalten, wenn eine neue Platte oder Tour ansteht. Da setzt man sich schon selber unter Druck. Aber ein bisschen davon ist gut, sonst würden wir wahrscheinlich drei Jahre pro Album brauchen. X-Factor war dafür zu zeitaufwändig, das könnte ich so nicht jedes Jahr machen.
Aber so einen Sommersendung für Arte schon?
Das wird sich zeigen. Für mich ist es zusehends wichtig, nie zu einseitig zu sein. Von meiner Persönlichkeitsstruktur fühle ich mich je nach Laune mit Strohhalm am Ballermann genauso wohl wie in der Oper. Ganz viele Menschen – auch in der Technoszene – sind dagegen völlig in ihrem kulturellen Kosmos gefangen; da fehlen mir oft die Toleranz und der Blick über den Tellerrand. Ich will mich immer selbst neu ausloten.
Um dann irgendwann die Antwort auf die Frage Ihres ersten Solo-Songs im vorigen Jahr zu finden?
Who the fuck is X.P. Baxxter? (lacht) Das könnte man so sehen. Denn wer mich in eine Schublade packt, kennt mich nicht. Und will mich auch gar nicht kennenlernen.
Sind Sie derselbe wie 1993, als aus Hans-Peter Geerdes endgültig H.P. Baxxter wurde?
Natürlich nicht, das wäre ja schrecklich. Man wird ja mit dem Alter gelassener und reifer. Trotzdem arbeite ich immer daran, nicht bequem zu werden. Bequemlichkeit ist der Tod der Kreativität. Ich muss auch immer wieder mal ausbrechen. Wenn ich es mal ein paar Wochen ruhiger angehen lasse, mit Freunden bloß grille und rumhänge, muss ich auch mal wieder in eine andere Stadt, ein anderes Land, mit anderen Clubs.
Auch mit 50?
Auch mit 50!
Hat der Geburtstag im März da was verändert?
Eigentlich nicht. Ich habe natürlich viel über diese Zäsur nachgedacht. Vor zehn Jahren war 40 gerade die neue 30, das war sogar ganz cool. Jetzt hab ich schon gegrübelt, was ich noch alles machen kann in dem Alter.
Und die Antwort lautet?
Nicht drüber nachdenken! Einfach weitermachen!
Und wie lange geht das bei dem Energieaufwand auf der Bühne und auf Tour noch gut?
Nur, solange ich noch 100 Prozent geben kann. Wenn ich nicht mehr so rumspringen kann wie jetzt, sollte ich das neu überdenken. Mit 65 bringe ich das nicht mehr glaubhaft rüber.
Posted: July 23, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Gewichtsverhandlung
Frauen werden alt, Männer interessant – dank dieser Filmregel schlagen sich weibliche Figuren noch vor der 40 vor allem mit Verfallsproblemen rum. Zwei BBC-Serien zeigen derzeit dienstags bei ZDFneo, mit welch unterschiedlichen Folgen.
Von Jan Freitag
Die Kamera ist zuweilen gnadenlos. Geht es zum Beispiel um die Spuren des Alters, bleibt ihr trotz Schminke, Schnitt und Postproduction wenig verborgen im Gesicht der Menschen davor. Linien werden dort zu Falten, Falten zu Tälern, Täler zu Schluchten, ganze Körper zu Topografien zerklüfteter Planeten ohne schützende Atmosphäre vor den Einschlägen der Jahre. Es ist ein Drama – zumindest für den weiblichen Teil der Schauspielzunft. Denn während Männer angeblich „wie Wein“ altern, was aus dem Mund der würdevoll gereiften Katja Riemann gleich noch bissiger klingt, altern Frauen aus ihrer Sicht „wie Milch“. Und das Mindesthaltbarkeitsdatum liegt ungefähr bei Mitte 30.
Dann nämlich, so lehren uns Film und Fernsehen, dominieren altersbedingte Zerfallsprozesse alles, was Trägerinnen des Y-Chromosoms am Bildschirm betrifft. Das ist bei Frankie und Martha nicht anders. Erstere, Nachname Maddox, ist eine Gemeindeschwester von 36 Jahren, die sich zwischen Leidenschaft und Resignation erstaunlich lässig durchs Pflegedesaster ihrer englischen Vorstadt kämpft und dabei auch wegen ihrer fröhlichen Rundungen ungemein sympathisch wirkt. Letztere, Nachname Costello, ist eine Spitzenanwältin ähnlichen Alters, die sich zwischen Leidenschaft und Resignation erstaunlich verkrampft durchs britische Rechtssystem ackert und dabei auch wegen ihrer knochigen Stiefmütterlichkeit ständig am Rande der Unsympathin wandelt. Frankie und Martha sind also ziemlich verschieden – und doch ganz schön wesensverwandt.
Als Hauptfiguren zweier BBC-Serien, die heute nacheinander auf ZDFneo starten, bilden sie nämlich jene zwei Medaillenseiten weiblicher Figurenzeichnung, die ihren Protagonistinnen gemeinhin übrig bleiben, wenn das Alter erbarmungslos auf ihre Besetzbarkeit einprügelt. In der bierernsten Justizserie Silk will Maxine Peake als aufstrebende Strafverteidigerin unbedingt die seidene Robe einer privilegierten Kronanwältin erringen. Dafür gewinnt sie ihre Fälle zwar mit nüchterner Opportunität unter der barocken Puderperücke. Doch abends, wenn Martha heimkehrt, zahlt sie den fiktionalen Preis erfolgreicher Frauen und weint bittere Tränen der Einsamkeit. Im heiter bis wolkigen Sozialdrama Frankie dagegen versorgt Eve Myles als Titelfigur die hilfsbedürftigsten Bewohner ihres verarmten Bezirks bei den menschlichsten Verrichtungen und denkt dabei an alles Mögliche – nur selten an sich selbst. Geschweige denn an ihren zuckersüßen Dauerfreund, dem sie sogar die Überraschungsverlobung durch Überstunden in einem Notfall vermasselt.
Es sind also höchst unvergleichliche Ausgangslagen zweier unvergleichlicher Protagonistinnen, die allerdings zweierlei eint: Dass Alter dieser leicht spröden Schönheiten muss permanent thematisiert werden, als sei die heran rauschende 40 bei Frauen ein Menetekel des nahenden Todes, während sie bei den männlichen Begleithauptrollen nicht die geringste Rolle spielen. Und dann wäre da noch die Sache mit der Multifunktionalität. Wie bei erfolgreichen Frauen dieser Jahrgänge üblich, müssen beide ständig alles in einem sein. Im Falle von Martha: kompetent und verletzlich, häuslich und sexy, pragmatisch und impulsiv, lebensklug und empathisch. Im Falle von Frankie dazu noch witzig, tänzerisch, rasend nett.
Viel zu tun für Menschen in einem Lebensabschnitt, der auch hier mehr als Heimsuchung denn Lebensphase präsentiert wird. Zu viel. Weshalb beide immer dann die Fähigkeit zum Gegenteil ihrer Handlungen beweisen müssen, sobald sie den Herren der Schöpfung an ihrer Seite zeigen, dass deren Überlegenheit eine ziemlich fragile Konstruktion herrschender Machtverhältnisse ist. Dann sieht man Frankie, wie sie sich nach einem Tag voller Ausnahmezustände bis hin zur Messerattacke eines dementen Patienten für ihren Lover mit knallroten Klamotten von der Heiligen zur Hure verkleidet. Dann sieht man Martha, wie sie dem Angeklagten einer Vergewaltigung unter den Tränen des Opfers zum Freispruch verhilft und die Empfindsamkeit ihres Geschlechts hinterher mit eine saftigen Feierabenddepression zu sühnen hat. Dann wird deutlich, dass es selbst den Autoren der seriösen BBC ein bisschen unheimlich wird, wenn Frauen einfach so ihren Mann stehen in Männerwelten.
Dabei ist Frankie allerdings immerhin eine sehr charmante, oft erstaunlich glaubhafte, also überwiegend realistische Studie eines Milieus geworden, dass seriell selten zuvor so intensiv ausgeleuchtet wurde. Silk dagegen kann sich nie ganz entscheiden, ob es ein klassisches Anwaltsdrama mit ein, zwei Prozessen im Mittelpunkt sein möchte oder ein frauenaffines Midlifecrisis-Porträt mit beigestellter Justizgeschichte. Ganz gleich ob Gewichtsverhandlung in der Gerichtsverhandlung: Frauen um die 40 haben es auch weit schwerer als Männer.
Posted: July 16, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
7. – 13. Juli
Man bekommt als vernunftbegabtes Wesen nicht allzu oft die Chance, der Bild-Zeitung beizupflichten, aber Mittwoch war es doch mal so weit: „Ohne Worte!“ stand in gar nicht so furchtbar dicken Lettern über einer Jubelszene deutscher Nationalspieler und man hätte es dem Drecksblatt aus der Reichshauptstadt nicht nur am Tag nach dem Halbfinale, sondern in alle Ewigkeit gewünscht: wortlos zu bleiben. Blieb es natürlich nicht. Und so beschrieb auch Bild weiter wortreich WM-Superlative mit Traumquoten, die sich in 36 Millionen Tweets ausdrücken, mit denen das 7:1 gegen Brasilien zum meistgetwitterten Sportevent seit Erfindung wurde. Aller Zeiten, versteht sich. So ist das in den Tagen des Fifa-Premiumprodukt-Overkills.
Mit dem ist es nun also endlich vorbei. Und nach dem Rausch, das ist hinlänglich bekannt, kommt dummerweise der Kater! Wenn ARZDF fortan ganzabendlich was anderes als Fußball zeigen muss, droht somit ein kollektiver Phantomschmerz. Deshalb wollen wir ihn an dieser Stelle kurz mal mit jenen WM-Highlights lindern, die wirklich im Gedächtnis haften bleiben. Platz 3: Scholls „Nein“ auf Opdenhövels Frage, ob er noch was zum Spiel Irans gegen irgendwen sagen wolle. Platz 2: Jogi Löw am Strand, vom Ersten rund um die Uhr aus 23 Kameras gefilmt, vom Zweiten aus 41 weiteren, die offenbar allesamt am Körper Kathrin Müller-Hohensteins versteckt waren. Und der Siege, Gold, Tuschtatataaa: eine Szene im Viertelfinale, als Mitte der 2. Hälfte allen Ernstes eine Schar französischer Fans im Bild war, die nicht reflexartig ins Objektiv schrie. Offenbar haben die allen Ernstes auf dem Feld statt der Videoleinwand Deutschlands beste Fußballer verfolgt.
Die standen übrigens auch bei Johannes B. Kerner zur Wahl, als er Deutschlands Beste insgesamt vom Publikum suchen ließ. Wobei das ZDF doch lieber aufs interaktive Zuschauervotum verzichtete, weil einfach zu viele Fangruppen von Helene Fischer und so mitgestimmt haben sollen, was den Verdacht nahe legt, das ZDF kriege es nicht richtig hin mit der jüngeren Zielgruppe, was jetzt aber auch keine so große Überraschung ist, weshalb wir lieber zu dem kommen, was uns den Fußballkater sonst so am Bildschirm vertreiben soll.
Die Frischwoche
13. – 20. Juli
Da gibt‘s gleich zu Wochenbeginn ein Feuerwerk der Innovation. Kai Pflaume etwa ersann für den NDR, vier Promis krasse Erlebnisse gewöhnlicher Leute raten zu lassen. Kaum zu glauben! heißt der Testlauf fürs Erste. Kaum zu glauben auch, dass Robert Lemke, Harald Schmidt oder Hugo Egon Balder damit nichts zu tun haben. Leicht zu glauben ist dagegen, dass RTL Steffen Henssler heute hinter Gittern kochen lässt. Und ab Herbst steht er dann womöglich im Flüchtlingslager am Herd, Anfang 2015 vielleicht unterm Packeis und nächsten Sommer, sagen wir: im UN-Sicherheitsrat. Der RTL-Phantasie sind da ja keine Grenzen gesetzt – solange Köche oder Castingprodukte dabei sind.
Daher kocht Henssler ab Freitag erneut, nur wie gewohnt mit Promis (Hensslers Challenge). Daher wiederholt RTL übermorgen den Versuch, das Prinzip Bachelor mit „ette“ hintendran publikumswirksam zu verweiblichen, wofür zehn Jahre nach dem Debütdesaster Alfredo, Andreas, Anil, Antonio, Aurelio und 15 weitere Kandidaten mit anderen Anfangsbuchstaben und begehrenswerten Qualitäten von Geilheit über Pokerface bis Spitzensixpacks um irgendein sexy Langbein wetteifern.
Trash as Trash can.
Womit wir seltsamerweise bei Arte sind. Der Kulturkanal widmet sich ab Samstag nämlich dem Summer oft the 90s, ein so niveauarmes Jahrzehnt, dass der Moderator wie die Faust aufs Auge passt: H.P.Baxxter. Das ist mutig. Und es könnte beiden Seiten neue Zielgruppen zuführen, wenn der Scooter-Shouter zum Auftakt Die Mode der 90er ankündigt oder ein Porträt Kurt Cobains. Auch vorher gibt es aber ungewohnte Angebote mit Anspruch. Verräterkinder (heute, 23.20 Uhr) etwa, ein verstörender ARD-Film über Nachkommen verurteilter Widerständler, denen in der jungen BRD fast der gleiche Hass zuteil wurde wie zuvor im NS-Staat. Tags drauf dann belegt Anke (trifft) Engelke um 22.30 Uhr im WDR ihr Talent zum Interview, aber auch ihre Zugkraft – kriegt sie darin doch niemand geringeren als Julian Assange im Londoner Exil vors Mikrofon. ZDFneo dagegen versucht es ab morgen mit zwei britischen Serien um weibliche Hauptfiguren, von denen die bessere leider nach der besseren läuft, die biedere Justizgeschichte Silk um eine karrieristische, aber zerbrechliche Strafverteidigerin also vor der sechsteiligen Tragikomödie Frankie über eine Pflegerin, die Benachteiligten ihres Viertels ohne verlogenes Pathos beim (Über-)Leben hilft.
Solch unterhaltsamer Realismus ist selten im deutschen Fernsehen. Es sei denn, ein Dokumentarfilmer wie Andreas Veiel versucht sich mal auf dem Spielfilmfeld. Sein Debüt Wer wenn nicht wir über den Werdegang der Provinzkinder Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) und Bernward Vesper (August Diehl) zu RAF-Terroristen ist heute um 22.45 Uhr in der ARD jedenfalls ebenso sehenswert wie tags drauf der Arte-Krimi Für immer ein Mörder, der das Sujet ostdeutscher Mordfälle, die nach der Wende aufgerollt werden, mit einem gewohnt großartigen Hinnerk Schönemann als Ermittler variiert. Das ist so gut wie der Tipp der Woche, heute auf Arte: Der große Stau, eine asphaltschwarze Komödie mit Depardieu bis Mastroianni aus einer Zeit (1979), als der Straßenverkehr eigentlich noch überschaubar war.
Posted: July 10, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Kein großer Deutschland-Fan
Tom Bartels aus Celle gilt vielen als bester deutscher Fußballkommentator. Kein Wunder, dass er nach dem EM-Finale von 2012 am Sonntag nun auch das der WM live aus Rio de Janeiro begleiten darf. Ein Gespräch über Vorbereitung, Sportpatriotismus, Neutralität und wie er in ein Spiel mit Nordkorea ginge.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Tom Bartels, was macht einen guten Fußball-Reporter mehr aus – Leidenschaft oder Kenntnis?
Tom Bartels: Eine gute Mischung, wobei letzteres nur aus ersterem entstehen kann. Wenn ich mich für etwas nicht begeistern kann, wird daraus selten Kompetenz entstehen. Ohne echtes Interesse keine Authentizität. Ich bin mit Fußball groß geworden, hab von klein auf jede frei Minute gekickt, deswegen war die Leidenschaft – mit kleinen Dellen – immer da, auch wenn das Fan-Sein in der Jugend sicher größer war. Das ist die Grundlage aller Theorie. In dieser Sportart hierzulande ohne ausreichendes Fachwissen zu kommentieren, geht garantiert schief.
Schließlich kommentiert man für zig Millionen Fußballexperten, die ohnehin alles ein bisschen besser wissen. Wenn die eh alles wissen – wollen die nicht vor allem Ihre Anteilnahme?
Das hängt auch davon ab, was ich kommentiere. Bei Bundesligaspielen ist absolute Neutralität Voraussetzung, weil ja Fanlager beider Mannschaften zusehen. Bei internationalen Spielen ist diese Distanz nicht nötig. Dort sollte man bei aller sachlichen Situationsbewertung eher für das deutsche Team sein. Ich fordere nicht bei jedem gegnerischen Foul die rote Karte, begeistere mich aber sicher bei einem Tor fürs heimische Team.
Und dann können die Pferde auch schon mal mit Ihnen durchgehen.
Absolut. Bei einem deutschen Siegtor im WM-Finale kurz vor Schluss gebe ich natürlich richtig Gas, das wird auch verlangt. Aber ein Spiel, das so vor sich hinsuppt, durch meine Begeisterung hochzujubeln – darin sehe ich meine Aufgabe nun nicht Und ich bin gar kein so großer Deutschland-Fan.
Gerade bei internationalen Spielen kippt Fußballpatriotismus bisweilen in einen Fußballnationalismus. Wie vermeidet man den?
Da muss ich mich nicht zwingen. Wenn ich sehe, dass ein deutscher Gegner besser ist, hab ich überhaupt keine Probleme das anzusprechen. Großer Fußball begeistert mich manchmal mehr als mein Zugehörigkeitsgefühl. So wie der FC Barcelona derzeit spielt, bin ich so fasziniert, dass ich schon mal meine Freundin anrufe und sage, guck mal Tina, wie da der Ball läuft. Unfassbar!
Und das interessiert sie?
Schon. Sie ist ja auch Journalistin und weiß, was ich meine. Was Barcelona zurzeit spielt, ist halt in der Bundesliga eher selten, das ziehe ich manchem Bayern-Spiel vor. Deshalb muss ich mich manchmal fast zwingen, deutlicher für Deutschland zu sein. Ich bin einfach nicht so patriotisch veranlagt. Auf allen Ebenen.
Ihnen eilt ohnehin der Ruf voraus, ein vergleichsweise nüchterner Kommentator zu sein, der seine Leidenschaft zugunsten großer Faktensicherheit zurückschraubt. Ist das der gelernte Bankkaufmann aus Celle in Ihnen?
Den Bankkaufmann in mir gibt’s gar nicht. Das war damals die falsche Wahl. Obwohl mir jeder davon abgeraten hatte, hab ich es gemacht, weil meine Freundin nahe der Bank lebte.
Aber sie haben es durchgezogen.
Bis zum Ende, ja. Meine Bereitschaft zur akribischen Vorbereitung rührt trotzdem woanders her, aber sie ist unerlässlich. Das Geschäft überholt sich jeden Tag selbst. Die Mannschaften ändern sich, die Philosophien des Trainers ändern sich, es passiert so viel in den Clubs, in den Ligen, man muss alles verfolgen. Zudem kann man viele Spielsituationen beim heutigen Tempo oft nicht mal nach der vierten Zeitlupe zweifelsfrei bewerten. Da müssen wir dem Publikum Hilfestellungen geben, das Spielgeschehen trotzdem richtig einzuordnen oder dem zumindest nahe zu kommen. Der Anspruch ist da hoch. Ohne Vorbereitung – keine Chance.
Sie sind also keine wandelnde Datenbank?
Nein, aber ich habe mal gehört, dass es leichter ist, nach sechs Fremdsprachen noch die siebte zu lernen, als mit der zweiten zu beginnen. Jedes Wissen baut auf anderem auf. Wenn ich einem Fußballkenner sage, dass Ballack von Chelsea zu Tottenham wechselt, gehen bei dem die Signallampen an: Londoner Stadtrivale, kleinerer Club, sportlicher Abstieg, all so was. Wer nur deutsche Länderspiele sieht, hat das morgen schon wieder vergessen. Weil ich schon als Kind Kicker gelesen habe, bleiben solche Informationen bei mir allerdings eher hängen, da meine Rezeptoren für sie geeignet sind. Trotzdem: internationalen Fußball zu verfolgen ist auch für mich richtig Arbeit.
Wenn sich ein Reporterkollege auf dem Weg ins Studio das Bein bricht – könnten Sie ohne Vorbereitung einspringen?
Für die WM auf jedem Fall. Ich bereits mich für meine neun Spiele sowieso auf 14, 15 Mannschaften vor. Und ich bin mal an einem Dienstagabend beim Bundesligaspiel in Stuttgart angerufen worden, ob ich Mittwochfrüh das WM-Halbfinale der Frauen USA gegen Brasilien kommentieren könnte. Da hab ich dann die Nacht quasi durchgearbeitet. Wenn ich nun überraschend ein Spiel der Nordkoreaner machen müsste, kenn’ ich da erst mal auch niemanden, würde mich aber bei genügend Vorlauf noch mal zu denen ins Schweizer Trainingslager begeben, DVDs gucken, Kollegen fragen. Ansonsten bin ich bereit.
Nachdem Sie das EM-Finale gegen Spanien kommentiert haben, hieß es, sie seien der beste Deutsche auf dem Platz gewesen. Ist es nicht besser, als Kommentator gar nicht aufzufallen?
Ich habe mich über das Lob gefreut, aber um mich muss es nicht gehen. Schon vorher gab es ja unzählige Interviewanfragen. An mich! Da musste ich irgendwann einen Riegel vorschieben, aus Angst, mich zu verzetteln und meine eigenen Hausaufgaben nicht zu machen. Und dann fühle ich mich sicher.
Die Bühne scheint Ihnen ohnehin ein bisschen unangenehm. Vorhin beim Fototermin mit dem gesamten ARD-Team wirkte ihr Lächeln eher gezwungen.
Da könnten Sie richtig liegen. Ich muss mich gewissen Mechanismen beugen, es gehört dazu und ich stelle mich letztlich auch gerne zur Verfügung. Aber es bleibt ein Zwiespalt, der meinem realen Leben nicht entspricht. Ich nehme mich nicht so wichtig.
Das Interview entstand 2010 im Vorfeld der damaligen Fußball-WM in Südafrika
Posted: July 7, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
30. Juni – 6. Juli
Jetzt ist es amtlich: Deutschlands Beste sind mit Y-Chromosom Helmut Schmidt, gefolgt von zwei weiteren Politikern a.D. (Genscher, Weizsäcker), ohne dagegen: Angela Merkel, die wie Hannelore Kraft (Platz 4) und Ursula von der Leyen (6) des Landes Geschicke aktiv betreibt. Für solche Rankings braucht das ZDF übrigens nicht mal Meinungsforschungsinstitute oder akademische Begleitung; öffentlich-rechtlich reicht da ein Johannes B. Kerner zur besten Sendezeit dicke. Kein Wunder, dass die weiblichen Top 10 neben dem Polittrio nur Entertainerinnen von Steffi G. bis Helene F. enthalten, während unter den ersten acht Kerlen allein Günther Jauch leidlich unterhaltsam ist. Und dann folgt auf dem Höhepunkt des WM-Fiebers der erste aktive Fußballer auch noch spät auf Rang 17. Er heißt übrigens weder Neuer (32) noch Lahm (46), sondern wie immer: Uwe Seeler.
Per Mertesacker stand übrigens nicht zur Wahl. Dabei hätte er gute Chancen gehabt, zwischen Schumi und Gröni im Mittelfeld zu landen, nachdem er im Interview mit dem gewohnt schlicht (nicht dämlich) fragenden Boris Büchler deutlich aggressiver zu Werke ging als im Achtelfinalspiel gegen Algerien zuvor. Was folgte, war ein statticherShitstorm – nein, nicht gegen die putzige Volte des Verteidigers („ich leg mich jetzt erstmal drei Tage in die Eistonne“), sondern die Vertreter von Büchlers Branche, die Sportlerinterviews wahlweise mit serviler Huldigung oder scheinheiliger Kritik füllen und Inhalt durch Begriffe wie „Wow-Effekt“ ersetzen.
Den erzeugte bis jetzt praktisch jede Übertragung jedes abseitigen WM-Spiels. Der unfassbare Zuschauerzuspruch gipfelte in 85,1% Sehbeteiligung beim erwähnten Achtelfinale, was jedoch auch am eklatanten Mangel an Alternativen auf anderen Kanälen lag. Zumal noch nicht lief, womit demnächst auf Quotenjagd gegangen werden soll. Zum Beispiel die neue Charmeattacke der RTL-Allzweckwaffe Guido Maria Kretschmer, der demnächst Deutschlands schönste Frau auf dem Ableger Nitro sucht. Oder der Vorabendableger des ARD-Produktes In aller Freundschaft, dem ab Herbst Die jungen Ärzte angehängt wird. Und da ist noch gar nicht von den 20 Samstagsshows die Rede, mit denen Pro7 im zweiten Halbjahr Wetten, dass…? vergessen machen will. Was konkret heißt: viel Raab, viel Joko, viel Klaas, wenig Neues.
Die Frischwoche
7. – 13. Juli
Trotzdem Geiiiiiil, würde die Fechterin Britta Heidemann jubeln. Feiert sie doch im ARD-Morgenmagazin von Brasilien aus alles, was irgendwie deutsch ist. Umso erfrischender ist es, dass mit der WM am Sonntag auch die Sendezeit einsilbig überdrehter Gastmoderatoren à la Salihamdzic endet, dessen journalistischer Mehrwert trotz aller Nähe zu seinen früheren Kollegen unter dem einer besoffenen Büttenrede liegt.
Weit höher liegt er Donnerstag bei Der Rassist in uns, was dem Publikum dummerweise schon im Titel etwas zu viel Selbstkritik abverlangt, um es zu erreichen. Und wie zur Bestätigung verpasst das ZDF der Selbsterfahrungsreportage die alberne Relevanz-Chiffre „Social-Factual-Format“ und versendet sie nicht nur im Spartensender neo, sondern nach 22 Uhr, was eine Einschaltquote gen Null garantiert. Dabei mag das Experiment, drei Dutzend Probanden in ein rassistisches System vermeintlich minderwertiger Blau- und überlegener Braunäugiger einzuteilen, wissenschaftliche Schwächen haben; im Ergebnis veranschaulicht der dreistündige Versuch erschreckend, wie fix willkürliche Ausgrenzung entsteht. Und es ist nur eine Simulation.
Wie das, was RTL dem 2. WM-Halbfinale entgegensetzt, wenn dort angeblich echt Ausgegrenzte Mittwoch von den Zwegats und Poschs des Hilfsfernsehens kommerzieller Art beigestanden wird. Aber was die anderen Sender in Konkurrenz zu den vier Finalspielen bis Sonntag auch bringen – ist eh völlig egal, bei Quoten nah an den 100 Prozent. Da können wir uns gleich den Randlagen des Programms widmen, die auch ohne Weltsport chronisch unterfrequentiert wären. Eine Retrospektive des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn zum Beispiel, der es in Sachen Suspense zum legitimen Erben Alfred Hitchcocks bringt. Ab Mittwoch zeigt 3sat einige seiner Filme, erst Walhalla Rising um Mitternacht mit Mats Mikkelsen als sturmumtoster Wikinger, tags drauf das Drama FearX, in dem ein Wachmann den Tod seiner Frau nachspürt und Abgründe ihrer Existenz entdeckt, die besser unentdeckt geblieben wären.
Spürnasen anderer Art kommen dagegen ab heute auf ZDFneo zum Einsatz, genauer: abermals. Täglich um 16.45 Uhr laufen digital sanierte Doppelfolgen von Drei Engel für Charly, ein Feuerwerk zu großer Kragen und zu breiter Schläge. Stünde das Wort nicht auf dem Index des Kultivierten, man müsste es mit dessen erster Silbe umschreiben. Daher zu einem anderen „K“, dem Deutschen Kleinkunstpreis, und weil gut ist, was alliteriert: Kategorie Kabarett. Die wird heute um 21.45 Uhr bei 3sat verliehen. Und der bedeutsame Medientitel Tipp der Woche? Geht heute (ARD) an die TV-Premiere von Ziemlich beste Freunde.
Posted: July 5, 2014 | Author: Jan Freitag | Filed under: 6 wochenendreportage |
Vernarbte Marke
Der Golden Pudel (Foto: Tobias Johanning/ZEIT) ist das Aushängeschild Hamburger Clubkultur, hat ein Problem: Wohin mit der eigenen Bedeutung für den Standort, wenn ihn die Betreibenden eigentlich untergraben wollen? Begegnung mit einer Musikinstitution zwischen Politik und PR.
Von Jan Freitag
Philosophie, philosophierte einst Platon, sei das Streben nach dem Guten, Wahren, Schönen. Kein schlechtes Ansinnen also für all jene, die die Welt ein wenig besser machen wollen und das Leben darin freier. Die Philosophie des Golden Pudel Clubs zu erfragen, scheint daher nicht vollends illegitim. Doch so leicht mag es ein Schorsch Kamerun keinem machen. „Die Frage ist unzulässig“, antwortet er auf die nach der Philosophie seiner Idee räumlich gebundenen Entertainments. „Philosophie klingt mir zu sehr nach Konzept.“ Also irgendwie bürgerlich, also angepasst, also falsch. „Wir sind bestenfalls gegenkulturell.“
Nach dieser Belehrung singt Schorsch Kamerun, der eigentlich Thomas Sehl heißt und als Sprachrohr der Goldenen Zitronen zu den Köpfen deutschen Diskurspops zählt, etwas Unverständliches vor sich hin und es wird deutlich: Dieses Epizentrum der Spaßkultur (die man hier natürlich nicht so nennen darf) zwischen Landungsbrücken und Fischmarkt 20 Jahre nach der Eröffnung zu verstehen, bedarf mehr als plakativer Begriffe. Dennoch ist Vokabelsicherheit vonnöten, Abstraktionsvermögen. Und ein dickes Fell.
Denn Kamerun kommt nicht allein, um zu erklären, was er im Grunde gar nicht erklären will, weil es sich ja von selbst erklären soll. Ralf Köster ist auch da, Charlotte Knothe und Viktor Marek: der Booker, die Geschäftsführerin und ihr Kollege. Wenn es um ihren gemeinsamen Club geht, treten die Macher des Pudel gern zu viert auf, dann fehlt eigentlich nur noch Rocko Schamoni – Mitbesitzer, Mitanarcho, Mitgesamtkunstwerk. Aber auch das anwesende Führungsquartett dieses Kollektivs Gleichberechtigter ist nicht darauf aus, PR zu machen für ihren Laden. PR gilt hier als schlecht, falsch und hässlich, das merkt man vom ersten Satz an. Nur: was gut, wahr und schön ist am Pudel, wird auch bei tieferer Betrachtung nie ganz klar.
Als er 1988 gegründet wurde, zunächst an anderer Stelle, sechs Jahre darauf dann in einem zweigeschossigen Schmugglergefängnis von Achtzehnirgendwas mit Spitzgiebel und Elbblick, gab es ja zunächst kaum Dafürs. Nur Dagegens. Gegen Mainstream, Effizienzdenken, die ganze Eventkultur am Kiez. Genauer: „Gegen das Türstehergehabe“, meint Expunk Kamerun. „Gegen nur Männer an den Plattentellern“, ergänzt Journalistin Knothe. „Gegen abtörnende Coolness“, fügt Elektromusiker Marek hinzu und macht einen Atemzug später deutlich, welches Dafür grad noch geduldet wird: „Bescheuerter Charme.“
Bescheuert heißt hier: Schiefgehkultur, Lust am Scheitern, Ziellosigkeit. Gestern Pathospop, morgen Gabbatechno, zwischendrin Dichterlesung. Bescheuert sind auch Mareks Opaschuhe zum Goldkettchen, Knothes Omakleid zur Omafrisur, Kameruns Unfrisur über beigen Bermudas – alles gewollt abtörnend im Geiste der „Anti-Optimierung“, wie man hier sagt. Alles allerdings stets auf dem Sprung, selbst Hipsteroutfit zu werden. Jeder noch so bescheuerte Charme bleibt schließlich nur solange uncool, bis Instagram und Vice daraus heißen Scheiß machen. Der graue Kiezzausel Köster meint es somit nur halb im Spaß, als er über die Klamotten seiner jüngeren Mitstreiter befindet: „Ihr seid doch Mitschuld am Schlagermove.“
So wie der Pudel längst Teil jener Gentrifizierung ist, die seine Betreiber so verachten. Es begann schon 1994. Zur Eröffnung sollte ein Dr. Schnabel irgendwas aufführen, was dann doch nicht geschah. Mehr Philosophie, Konzept, was auch immer gab es nicht im historischen Café Elbterassen. Doch die Drohung ägyptischer Flüche bei Nichterscheinen hatte das kulturell ausgehungerte Publikum links des Mainstreams erstmals ins Brachland unter der Reeperbahn gelockt. „Hier gab es ja nur tote Industrie, Nutten, Verfall“, erinnert sich Kamerun an die Umgebung. 20 Jahre nach dem nihilistischen Auftakt im Schrottgebäude füllt sie Nacht für Nacht feuchte Investorenträume.
Und mittendrin der letzte Hamburger Club von Weltruf neben dem Mojo. Bier unter zwei Euro, Eintritt nur unwesentlich höher, kaum Hartalk in der Auslage, dafür Staub aus Dr. Schnabels Zeiten. Als Gegenpol zur Generation Flatrate lässt sich das Disparate trotz Hotspot im Lonely Planet auf jedem Quadratzentimeter des wohnungswinzigen Clubs ablesen. Dass er getagt ist, greift dabei zu kurz: der Pudel ist ein einziges Tag, lückenlos bekritzelt, Charlotte Knothe sagt: „vernarbt.“ Und dann sagt die unfreiwillig hippe Frau mit Omaoutfit noch etwas viel anderes, viel Wichtigeres: „Wir alle empfinden ganz große Liebe für diesen Laden.“
Das muss man kurz zwischen Antioptimierungsformeln und der feinen Arroganz renditeferner Alternativszenen verhallen lassen: Liebe. Bei allem was der Club keinesfalls sein will und gerade dadurch unentrinnbar wird, ist das philosophische Konzept Golden Pudel vor allem ein leidenschaftsgetriebenes. Eines, das trotz Markierung auf den Touristenrouten „große Privatheit“ besitzt, wie es Viktor Marek ausdrückt, der schon Schnauzbart trug, als Hipster noch wie Babynahrung klang. Am Wochenende ist wieder Gartenfest mit Grillen, Tanzen, Rumhocken, Touris begaffen, von Touris begafft werden, wie es eben ist, wenn man heimisch ist, wo andere Pardy machen.
Schorsch heißt dort wohl wieder Thomas und Rocko Tobias. Der Aberwitz der Aufwertungsmaschine ringsum wird für ein paar Stunden vergessen und die Marke Hamburg kann alle ebenso kreuzweise wie ein Café namens Oberstübchen, das dem Club vor ein paar Jahren ungefragt aufs Dach gesetzt wurde. Lockt das pittoreske Ensemble im Landhausstil eben noch mehr Hornbrillenträger auf die Treppen mit Elbblick. Was soll’s? „Uns kriegt man hier so schnell nicht raus“, sagt Kamerun angesichts eines Pachtvertrags bis 2028. Und wenn die Stadt bis dahin doch mal aufräumen will im Filetstück? Zieht der Club weiter, zum vierten Standort. Das Leben, hieß es mal in einem Film um ausgestorbene, aber wiederbelebte Dinosaurier, findet einen Weg. Das gute, wahre, schöne sowieso.
Der Artikel ist erschienen bei Zeit-Online: http://www.zeit.de/hamburg/kultur/2014-06/golden-pudel-club-hamburg