freitagsmedien-Serie: 75 Jahre TV-Musik

Aufstieg & Fall – das Millennium

Als MTV ab 1997 auf Deutsch zu sehen war, schien das Fernsehen auf dem Weg zur Disco mit Bildschirm. Dabei stand es schon beim deutschen Neustart vor 65 Jahren im Zeichen der Musik und sollte fortan nie mehr ganz aufhören zu singen, swingen, rocken, jingeln. Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme des TV-Sounds im Laufe der ersten sechs Jahrzehnte, als die Bilder nicht nur zuhause laufen, sondern musizieren lernten. Heute: das Millennium.

Von Jan Freitag

Ein frischer Herbstwind weht durch Köln, als das Musikfernsehen ist, was es mal gewesen sein wird, bevor eine schwüler Sommersturm das Musikfernsehen, wie es niemals mehr sein darf, endgültig zu Grabe trägt. Am 1. Dezember 1993 nämlich erblickt ein rotzfrecher Emporkömmling das Licht der deutschen Fernsehwelt, um einem noch immer ebenso vorlauten Platzhirsch die Stirn zu bieten, der sich am 1. Juli 2011 selbst beerdigt. Im Rückblick könnte man also sagen: Kaum war das Musikfernsehen, wie wir es kannten, der Pubertät entwachsen, da saß es schon wie ein lüsterner Greis im Rollstuhl, pfiff jungen Dingern nach und nervte Nachgeborene mit der ewig gleiche Erzählung, wie toll es doch zuging, als er noch jung war.

Als MTViva noch lebte.

Musik ist Trumpf, da lehrt Music Television made in USA sein Medium, dass Fernsehen auch im Land von Karl Moiks Musikantenstadl über Schlager im Marschgewand hinaus gehen kann. Auf dem Umweg der Londoner Filiale ist Mitte der Neunziger auch hierzulande unübersehbar, wie der ungelernte Moderator Ray Cokes in seiner radikal improvisierten Live-Show MTV Most Wanted den Begriff „Konzept“ pulverisiert, Robbie Williams animiert, vor laufender Kamera blank zu ziehen, bei aller Aufmüpfigkeit vor einem aber nie den Respekt verliert: der Musik. Nirvana und Steve Blame, Kristiane Backer und Ganstarap, Jackass, Music Awards, Beavis and Butt-Head – all dies justiert die Vorstellung vom zweidimensionalen Sound so grundlegend neu, dass vier deutsche Majorlabels vor 24 Jahren in seltener Eintracht ein Konkurrenzprodukt für hiesige Ansprüche entwarfen.

Viva ist im Sog von Boygroups und Grrlies so einflussreich, dass die Media AG 1995 einen zweiten Kanal fürs alternativere Publikum über 25 auf Sendung schickt und der Kreditkartenkonzern American Express zwei Jahre drauf MTV Germany durchs Kabelnetz schickt. Vier Stunden deutsches Programm gibt es zum Auftakt – inhaltlich kaum der Rede wert, atmosphärisch ein Urknall. Beide rasen die Spirale der Aufmerksamkeitsindustrie empor und sorgen trotz Quoten im Promillebereich für zweierlei: Vollprogramme von ARD bis RTL begehen durch die vorauseilende Reduzierung ihres musischen Angebot auf Marianne & Michael künstlerischen Selbstmord. Und die Verantwortlichen dieser Todessehnsucht stehen rasch an der gleichen Klippe.

So bedeutsam das Musikvideo als kreatives Massenprodukt auch ist, so nachhaltig es die vorerst letzte Innovation zeitgenössischer Musik (HipHop) zum Milliardenbusiness bläht, so groß MTViva in der Nische geraten: die Revolution wird ihre Kinder schneller fressen als jede zuvor. Zu geil für diese Welt von den Fantastischen Vier, mit dem Viva einst on air ging, gilt bald auch fürs Musikfernsehen. Schon Ende des Jahrzehnts sind Videostrecken so selten, dass zwischen Real Life und Datingshow oft nur Werbung erklingt. Die mühsame Arbeit popkultureller Innovationsauslese erledigen daher ausgerechnet andere: das Viva-Gewächs Stefan Raab zum Beispiel in TV total oder das Arte-Magazin Tracks. Und während Viva dank Nerds wie Markus Kavka oder Sarah Kuttner zunächst in der Indie-Ecke gewichtig war, moderiert Collien Fernandes ab 2003 die Ringtone Charts. Ein Schicksal, dem ihr späterer Mann Christian Ulmen bei MTV bereits 1999 durch Kündigung entgangen war.

Fünf Jahre, nachdem der Medienmulti Viacom nach MTV auch den Konkurrenten Viva kauft, steuert das stilbildende Boom-Genre früherer Tage auf jenen Tiefpunkt zu, der am 1. Juli 2011 nicht nur hör-, sondern sichtbar wird: MTV streicht in Deutschland das „Music Television“ aus dem Senderlogo. Kein Wunder: der Videoclip, mit dem spätere Regiestars von Michel Gondry bis Anton Corbijn zu Ikonografen ihrer Epoche wurden, ist überwiegend aus dem linearen Programmschema verschwunden. Und mehr noch: MTV ist kostenpflichtig, der deutsche Ableger geschlossen, Viva nur vormittags auf Sendung und RTL verwechselt Imitate ausgenudelter Hitmaschinen mit Superstars. Selbst als sich die Plattform Youtube Mitte des vorigen Jahrzehnts anschickt, die Lücke zu füllen, sehen viele Kritiker Schwarz fürs prägendste Kunstprodukt des Fin de Siècle. Das Musikvideo, heißt es, sei tot. Welch ein Irrtum!

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Konkurrenzkäufe & Kaiserfälle

Die Gebrauchtwoche

11. – 17. Dezember

Die Übernahme von 21. Century Fox durch Disney ist weit mehr als bloß konkurrierende Marktwirtschaft. Dass der Kinokonzern noch tiefer im Fernsehfach wildert, belegt auch die Nervosität der Platzhirsche. Der Kauf von Marken wie Simpsons oder X-Men wird ja explizit damit erklärt, den Frischlingen Paroli zu bieten, vor allem Amazon und Netflix. Digital ist besser, lautet die Erkenntnis der alten Player. Sie stellt indes auch eine Form Respektsbekundung dar, die zu noch mehr Investitionen in zugkräftiges, aber eben anspruchsvolleres Fernsehen führen dürfte.

Fernsehen wie die Serie Wormwood. Der Begriff Dokudrama mag scheußliche Erinnerungen an Guido Knopp wecken, der uns mit diesem Genre einst das Tätervolk deutscher Diktaturen romantisieren half. Doch wenn Netflix aus dem dubiosen Tod des amerikanischen Bakteriologen Eric Olsen (Peter Sarsgaard) im Jahr 1953 eine Serie bastelt, wird es halt so gut wie Homeland, jedenfalls nicht so mies wie revisionistischer Historienquark von Stalingrad bis Staufenberg. Das gottlob geläuterte öffentlich-rechtliche Programm in Deutschland muss sich derweil mit einer anderen Debatte ärgern.

Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten KEF hat in einem Zwischenbericht ermittelt, dass ARD und ZDF 550 Millionen Euro Überschuss erwirtschaftet haben. Klingt toll, hat auch mit Sparmaßnahmen zu tun, befeuert aber wieder mal die Forderung nach Beitragssenkungen, was im Umkehrschluss nur zu verhindern wäre, wenn die Überschüsse abgebaut, also weniger eingespart würde. Mal sehen, ob FDP und AfD da demnächst ein gemeinsames Papier zur Abschaffung des vermeintlichen Staatsfunks verfassen.

Wogegen sich kein Protest regt, ist, dass ARZDF nun doch satte 230 Stunden von den Olympischen Spielen senden, also kaum weniger als zu jener Zeit, als sie die Übertragungsrechte hierzulande noch vollumfänglich inne hatten. Aber weil deren Inhaber Eurosport keinerlei Anstalten macht, sein Premiumprodukt von Doping oder Korruption trüben zu lassen, sondern lieber die Shownase Marco Schreyl als Sportmoderator verpflichtet, liegt es an den Lizenznehmern, die Fackel des Journalismus von Pjöngjang zurück nach Deutschland zu tragen.

Die Frischwoche

18. – 24. Dezember

Wie so etwas aussehen könnte, zeigt das Erste am Dienstag. Während das DFB-Pokal-Achtelfinale Schalke gegen Köln zur Primetime läuft, gibt es nicht etwa gleich im Anschluss, sondern um 23.30 Uhr die wichtige, aber dank der späten Sendezeit wohl ungesehene Doku über den Fall des Kaisers Franz Beckenbauer. Von daher sei an dieser Stelle ein anderes Sportereignis empfohlen, bei dem die erste von vier Silben per se im Schatten der letzten drei steht: Darts. Sport 1 überträgt die WM täglich ab 20 Uhr, und das eignet sich echt bestens für Nebentätigkeiten auf dem second screen. Netflix zum Beispiel.

Dort startet Freitag die Wahnsinnsserie Dope, in der wie einst bei Sopranos oder Breaking Bad mal wieder am Tabu gerührt wird: Ein Drogendrama nämlich, strikt aus Sicht von Dealern erzählt. Für so viel Eigensinn ist im Ersten vor allem Olli Dittrich zuständig. Im 9. und letzten Teil seines Fernsehfigurenzyklus schlüpft er Donnerstag um 23.25 Uhr in die Rolle der Seriendarstellerin Trixie Dörfel. Ereignis ohne Sport im Ersten. Geht doch. Ein anderes ist anscheinend doch zu jung, frisch, zu digital fürs lineare Programm: Offscreen, eine Mockumentary übers seltsame System des hiesigen Showgeschäfts am Beispiel der scheiternden Daily-Soap-Darstellerin Sila (Sila Sahin).

Sowas läuft dann halt ab Donnerstag um 16 Uhr beim Jugendkanal Funk, während die ARD vier Stunden später einen Kinderbuchautor zum Held eines Biopics macht. Florian David Fitz, der sich in Kästner und der kleine Dienstag mit einem jungen Fan durch die finsterste Zeit Deutschlands schlawinert, ist gutes Erzählfernsehen mit Augenzwinkern, Stil und Klasse. Das Ruder herumreißen Richtung junge Zielgruppen tut man damit sicher nicht. Das schafft eher Sat1 mit dem charmanten Komiker Luke Mockridge, der am Freitag (20.15 Uhr) unter der Klammer LUKE! Das Jahr und ich aufs Jahr zurückblickt. Und für alle, wirklich alle Generationen, Schichten, Sichten empfehlenswert: Ein Dokumentarfilm über die Blaskapelle LaBrassBanda (Donnerstag, 23.45 Uhr, BR) mit anschließendem Konzert.

Bei den Wiederholungen der Woche müsste man nun eigentlich aufs Heiligabendprogramm zu sprechen kommen. Angesichts von Feuerzangenbowle (ARD) über Carmen Nebel (ZDF) bis Santa Clause 2 (RTL) raten wir aber dazu, den Flatscreen kalt zu lassen und stattdessen Donnerstag (23.40 Uhr, RBB) Das Brot der frühen Jahre zu sehen. Herbert Veselys schwarzweiße Böll-Verfilmung übers Kollabieren einer bürgerlichen Existenz führte die Nouvelle Vague 1962 ja in den Neuen Deutschen Film über. Immer wieder farbig schön: Pretty in Pink (Dienstag, 22 Uhr, Neo), Aschenputtel-Highschool-Version von 1985 mit der sehr bunten Molly Ringwald. Immer wieder farbig krass: Apocalypse Now von 1979, am Montag um 0.40 Uhr (HR) in der 40 Minuten längeren Version Redux. Und heute ab 22.15 Uhr im RBB farbig, aber doch unterkühlt – zwei Tatorte des Jahres 1985 mit Volker Brandt und Heinz Drache.


QTY, Beans On Toast, Dialects

QTY

Schnodderschnodder, Schrammelschrammel, Rotzrotz – Gitarrenrock ist genetisch betrachtet keine Sache orchestraler Arrangements und feingliedriger Poesie. Gitarrenrock entstammt dem Gestus der Rebellion auf Turbinenlautstärke bei Zimmertemperatur. Gitarrenrock will die Welt nicht umstürzen, aber in klein wenig aufwühlen. Gitarrenrock will, in wenigen Worten: eigentlich seit jeher klingen wie der von QTY. Und da ist es wirklich überhaupt kein Wunder, dass dieses Duett aus New York stammt, wo der Gitarrenrock von den Talking Heads bis Moldy Peaches, von Ramones bis Strokes, von Velvent Underground bis zu den Beasty Boys immer und immer wieder an seine Wurzeln erinnert.

Das selbstbetitelte Debütalbum der singenden Gitarristin Alex Niemetz mit ihrem singenden Gitarristen Dan Lardner (mit namenlosen Drummer) sortiert sich mit seiner entspannt mäandernden Mischung aus Garage, LoFi und Eastcoast-Americana zu Texten über dieses und jenes, aber nichts Besonderes schön verschroben ein zwischen all den Nachbarn früherer Tage. “Undeniably brilliant” urteilt der NME über die zehn kurzen Tracks und meint das gewiss nicht im Sinne vertrackter Tiefe oder komplizierter Fingerfertigkeiten. Es geht um die Reduktion des Genres aufs Wesentliche: eine gute Zeit mit einfachen Mitteln, um Lebensgefühle auf den Punkt zu bringen, die manchmal eben gar nicht so kompliziert sind wie die Welt ringsum. Ein fantastisches Album für einfach so.

QTY – QTY (Dirty Hit)

Beans on Toast

Jay McAllister sieht schwarz, pechschwarz. Scheißwelt da draußen. Big Data stiehlt uns die Privatsphäre und Massentierhaltung alle Lebensgrundlagen, Populisten lügen, Kapitalisten betrügen, überall Fake, Verfall und Gewalt. „The world is dying/shit is getting serious/everybody’s lying/it’s impossible to tell the truth“, singt er mit zerkratzter Stimme und folgert beweint von einer wimmernden Geige gleich achtfach, wie uns die Angst im Griff hat. Worryworryworryworry… Selbst für Berufsoptimisten wie den Songwriter Beans on Toast aus Sussex, als der er ein Drittel seiner 36 Jahre den Anti-Folk seiner englischen Heimat aufmischt, wirkt die Zeit hoffnungslos. Nur ernst, das ist sie nicht.

Und deshalb steckt sich der Zauselbart zum Auftakt seiner neunten Platte eine Sonnenblume an die Kappe, tanzt durchs Industriegebiet, betont im zugehörigen Video, er sei nun seine eigene Propagandamaschine und glaubt einfach nur noch, was sie ihm einflüstert. Es muss was Schönes sein. Denn so beschwingt, furchtlos und humorvoll, wie Beans on Toast auf Cushty die Untiefen des Lebens feiert, scheint ihn nichts auf Erden je unterkriegen zu können. Nicht mal der Brexit, für den er in The Ignorant Englishman zur Quetschkommode auf Deutsch um „Entschuldigung“ bittet. Der Untergang kann echt unterhaltsam sein!

Beans on Toast – Cushty (Xtra Mile Recordings)

Dialects

Es ist natürlich ein schöner Twist, sich als nahezu wortlose Instrumental-Band Dialects zu nennen. Weil die vier dicken Freunde aus Glasgow bis auf seltene Refrainpeitschen weitestgehend auf Gesang verzichten, sind sprachliche Färbungen ja per se ziemlich ausgeschlossen. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr ihr Debütalbum mit sich und dem Publikum zu reden scheint. Schon die erste Singleauskopplung, das vielschichtig schöne Auftaktstück Superluminal, feilt mitunter hauchzartes Picking ins Gitarrenbrett, als bäte es schüchtern um Gehör. Später dann beginnt die High-Hat von Szyman Ostasz aufgeregt in Sechzehnteln zu flüstern, als zwischendurch mal für einen Moment lang Ruhe herrscht.

Überhaupt – der Drummer. Er firmiert meistens als ordnende Hand, nur um die Soundwände ringsum kurz darauf dekonstruktiv zum Einsturz zu bringen. Wie im Mathcore üblich ist Because Your Path Is Unlike Any Other schließlich Schlagzeugmusik, für ungeübte Ohren völlig unberechenbar, für geübtere oft reine Notenzählerei. Doch anders als beim Mathcore üblich, ergehen sich die Dialects dabei nicht im Wettbewerb der vertracktesten Taktlängen, sondern machen die zehn Stücke zum Gesprächsstoff. Dem schönstes des Genres seit langem.

Dialects – Because Your Path Is Unlike Any Other (Throuhg Love Records)


freitagsmedien-Serie: 75 Jahre TV-Musik

Music Television: duales System

Als MTV ab 1997 auf Deutsch zu sehen war, schien das Fernsehen auf dem Weg zur Disco mit Bildschirm. Dabei stand es schon beim deutschen Neustart vor 65 Jahren im Zeichen der Musik und sollte fortan nie mehr ganz aufhören zu singen, swingen, rocken, jingeln. Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme des TV-Sounds im Laufe der ersten sechs Jahrzehnte, als die Bilder nicht nur zuhause laufen, sondern musizieren lernten. Heute: das duale System.

Von Jan Freitag

Am Anfang der Achtziger war, nein – nicht das Feuer, sondern der Ton. Fernsehen ist auch ohne private Konkurrenz bereits voller Musik. Titelmelodien selbst politischer Formate prägen das kollektive Gedächtnis wie die Jingles von Allianz bis Bärenmarke. Ohne Liveauftritte großer Popstars sind die Straßenfeger von Rudi Carrell, Joachim Fuchsberger, Harald Juhnke unvorstellbar. Aufregende Serienimporte aus Amerika nutzen den Soundtrack als PR-Faktor. Und erste Autorenfilmer merken, dass die sperrigen Dialoge ihrer Dramen ruhig musikalisch garniert werden dürfen. Doch den Hörgenuss beim Glotzen stört ein vermeintlich technisches Detail: Der Mono-Klang.

Als die Empfangsgeräte 1981 serienmäßig den zweiten Tonkanal erhalten, klingt das Angebot endlich weniger wie Opas Volksempfänger als nach jener HiFi-Anlage, die sich seinerzeit daheim gerade durchsetzt. ARD und ZDF gibt‘s von nun an auch – Licht aus, Spot an! – mit echtem Raumklang. Ein Quantensprung fürs Musik-TV. Doch bevor es in einschlägig bekannter Abkürzung sein Genre umwälzen wird, stellt ein junger Blondschopf aus Bayern den Medienkonsum seiner noch jüngeren Zielgruppe auf den Kopf: 1976 übernimmt Thomas Gottschalk die Moderation des ARD-Magazins Szene.

Wie im nachfolgenden Pop-Stop gewährt sein Mix aus Livebands, Chartsnews und Klamauk der faktischen wie gefühlten Jugend mehr noch als Ilja Richters Generationskompromiss disco ein klingendes Asyl am Bildschirm. Und die Resonanz ist so groß, dass der Moderator rasch zu Höherem berufen wird: 1982 kommt Thommys Pop-Show ins Vorabendprogramm des ZDF. Die Primetime wird zwar weiter durch die Antiquariate nostalgischer Hörgewohnheiten wie Musik ist Trumpf verstopft. Manfred Sexauers Musikladen hat sich trotz aller Lässigkeit schon 1972 von der Radikalität des Vorgängers Beat Club verabschiedet. Und als fünf Jahre später die Rockpalast Nacht bis sonntagsfrüh Konzerte aus der Essener Grugahalle überträgt, sorgt das zwar auch international für Aufsehen, bleibt aber leicht prollig. Trotzdem ist die Popkultur fortan so integraler Programmbestandteil, dass der Weg zur nächsten Revolte geebnet ist.

Sie heißt Formel eins und macht ab 1983 abgesehen etwas weitestgehend Unerhörtes, besser: Ungesehenes massentauglich: Videoclips. War die optische Darstellung der Musik zuvor auf Konzertsituationen beschränkt, verabreicht sie der thommyblonde Peter Illmann nun (was die DDR mit Stop!Rock! schnell kopiert) in Form vertonter Kurzfilme. Weitere Sender wie der Tele5-Vorläufer musicbox ziehen bald nach. Es wird zappelig auf dem Bildschirm. Video Killed The Radio Star heißt der passende Hit zum neuen Zeitalter. Mit dem holprigen Clip der Buggles nämlich hatte ein völlig neuartiger Kanal am Fernsehhimmel zwei Jahre zuvor sein Programm eröffnet. Sein Name: MTV.

Was da von den USA aus um 168 Videos in Dauerschleife herum gestrickt wird, widerspricht jedoch nicht nur optisch jeder Norm. Die Moderatoren sind Freaks, ihre Sendungen improvisiert, am Sendeplatz New York herrscht Anarchie wie in London, von wo aus MTV ab 1987 auch das frisch verlegte Kabelnetz in Deutschland versorgt. Die Musik spielt im Privatfernsehen. Und die Platzhirsche? Hecheln ihm von Anfang an hilflos, vor allem aber lieblos hinterher. Doch das gilt bald auch für die Emporkömmlinge im Dualen System. Abgesehen vom abseitigen Tele 5 nämlich nutzen weder RTL noch Sat1 den Sound der Popkultur je grundlegend anders als zur fortwährenden Steigerung des Lärmpegels. So wird er allerorts ausgelagert: Öffentlich-rechtlich an Arte und 3sat, kommerziell an VH1 und VIVA. Obwohl das Musikfernsehen sein Medium ähnlich verändert hat wie Daily Soap und Tutti Frutti, landet es auch schon wieder in der Nische.

Was bleibt also abgesehen von MTV Germany, so kurz vorm Millennium? Nach Peter Frankenfeld mag auch Harald Juhnke die TV-Bühne verlassen haben; da sie allerdings nahtlos durch Marianne & Michael, Karl Moik oder Hansi Hinterseer ersetzt werden, bleibt ARZDF offenbar auf ewig in der Endlosschleife des Schunkelns gefangen, während SatTL7 nichts als Chartshows einfällt und MTViva merkt, dass mit Videos viel, mit Klingeltönen aber noch viel mehr zu verdienen ist. Willkommen im Millennium!


Staatsdoping & Sprachinstitut

Die Gebrauchtwoche

4. – 10. Dezember

Das Jahr 2018 wird ein Sportjahr. So viel ist selbst dann abzusehen, wenn FIFA und IOC irgendwann mal Korruption oder Staatsdoping als Rechtsbrüche behandeln. Beides, die Sache mit dem Sportjahr und die mit der nachlässigen Behandlung schwerster Vergehen durch die verantwortlichen Verbände, sind fürs Fernsehen prima Nachrichten. Da das Publikum schwerfällig, faul und tendenziell hedonistisch ist, wird es sogar dann fleißig einschalten, wenn die ARD das Eröffnungsspiel der (des Staatsdopings verdächtigen) Nationalmannschaft des (der Korruption verdächtigen) Gastgebers Russland überträgt.

Nicht ganz so gute Einschaltquoten beschert dem Ersten hingegen die Deutsche Tourenwagen Meisterschaft, eine Autorennserie der stumpfesten, umweltschädlichsten, chauvinistischsten Art. Dennoch wurde die Übertragung 18 Jahre lang mit Gebührengeldern finanziert. Bis jetzt: die DTM wandert ab 2018 zu Sat1. Das ist eine gute Nachricht. Umso mehr fragen sich Menschen mit Bildung und/oder Verstand, warum ein seriöses Vollprogramm wie die ARD benzinsüchtige Männer überhaupt so lange dabei gefilmt hat, wie sie stinkend im Kreis fahren. Brummbrumm. Herum, herum, herum. Ab und zu Bumm. Wie leicht Menschen doch zu unterhalten sind, sobald ihnen ein X-Chromosom mutiert…

Weil sie, wir, die Männer aber auch sonst ziemlich viel Unsinn machen, der dem Intellekt sogar noch etwas mehr wehtut als die Existenz der DTM, stockt YouTube demnächst die Abteilung zur Löschung jugendgefährdender, gewaltverherrlichender und sonstwie verwerflicher Inhalte auf gut 10.000 Mitarbeiter auf. Klingt viel, ist angesichts von derzeit 65 Jahren Inhalt, die dort jeden Tag hochgeladen werden, aber immer noch viel zu wenig für ein Netz ohne Dummheit. Apropos: RTL Crime, so wurde grad bekannt, gibt seine erste Serie in Auftrag.

Jetzt könnte man meinen, das wird irgendwas mit Männern, die im Kreis Auto fahren. Brummbrumm. Herum, herum, herum. Ab und zu Bumm. Aber Pustekuchen: der Sechsteiler ist ein Remake des schwarzweißen Klassikers M – Eine Stadt suche einen Mörder, und gedreht wird es von David Schalko, der das Fernsehen mit Altes Geld oder Braunschlag für den Aberwitz geöffnet hat. Darauf freuen wir uns also ebenso wie auf Stranger Things, deren Fortsetzung gerade von Netflix verkündet wurde.

Die Frischwoche

11. – 17. Dezember

Schon jetzt freuen dürfen wir uns aufs Serienfinale vom Club der roten Bänder, dessen dritte und letzte Staffel heute Abend auf Vox endet. Auch zwei Kinoadaptionen dürften diese Woche zumindest all jenen Freude bereiten, denen ein Viertel Sendezeit Werbung nichts ausmacht. Mittwoch zeigt Pro7 nämlich Daniel Brühl und Emma Watson im Griff der chilenisch-deutschen Sekte Colognia Dignidad. Und am Sonntag folgt RTL mit der jüngsten Tarantino-Groteske The Hateful Eight, in der Kurt Russell als Kopfgeldjäger viiiel Kunstblut spritzen lässt, das auch so aussehen soll.

Ganz ohne Ekelfaktor kommt hingegen der ARD-Filmmittwoch Hit Mom aus, den das Erste mit Mörderische Weihnachten untertitelt, damit die Geschichte um eine Putzfrau (Anneke Kim Sarnau) als unfreiwillige Auftragskillerin auch ja ein bisschen in der Zielgruppe der Krimifans andockt. Egal – trotzdem sehenswert. Das würde man von Das Institut auch gern behaupten. Aber die Nischenproduktion des BR, der den Achtteiler ab Mittwoch vorab in seine Mediathek stellt, ist weit weniger gelungen als der Plot einer deutschen Bildungseinrichtung am Kundus vermuten ließe. Schade eigentlich – Christina Große als Institutsleiterin müht sich wirklich redlich, der Culture-Clash-Komödie Leben einzuhauchen.

Das Prinzip online first vorgemacht hat zuletzt der Jugendkanal Funk. Dort begann vor gut einem Jahr die Mystery-Serie Wishlist, deren Fortsetzung am Donnerstag ins Netz geht, während das Erste die erste Staffel zwei Tage drauf um 0.10 Uhr wiederholt. Das sollte man sich beides ansehen, wirklich! Ebenso wie die Dokumentationen der nächsten Tage. Angefangen mit Der große Zampano, die am Dienstag um 22.45 Uhr im ZDF fachkundig und ein bisschen verspielt dem Medienmogul Leo Kirch gedenkt. Tags drauf dann beschäftigt sich der Ableger Info ab 20.15 Uhr in gleich vier Filmen am Beispiel von Reichsbürgern, Ökofaschisten oder US-Nazis mit dem Rechtsruck der Weltpolitik. Und irgendwie passend dazu zeigt Arte um 22.10 Uhr den Film Das Ende der Unschuld, in dem Zeitzeugen das Jahr des Epochewechsels in die Barbarei beschreiben. Abgesehen vom 25. Jubiläum des GZSZ-Fieslings Jo Gerner am Freitag blieben da also nur noch die Wiederholungen der Woche.

Zum 100. Geburtstag der UFA erinnert Arte am Montag um 20.15 Uhr an Kurt Gerrons Schwarzweißfilmlegende Der blaue Engel von 1930 mit Marlene Dietrich und Emil Jannings im fatalen Zusammenspiel, gefolgt von Veit Harlans Opfergang (22 Uhr) von 1944, in dem Hitlers Lieblingsregisseur mal nicht zum Durchhalten des Faschismus aufrief. Aus einer antifaschistischen Tradition geboren ist der Farbtipp Die verlorene Ehre der Katharina Blum, die kurz vorm deutschen Herbst unter der Regie von Volker Schlöndorff nur scheinbar fiktiv ins Visier von Staatsschutz und Boulevardpresse gerät. Kein Wunder, dass die Springer-Presse 1975 zum Boykott aufrief. Eher unpolitisch ist dagegen der wiederholte Tatort: Hendrik Handloegtens hessischer Fall Der Tote Chinese (Montag, 22.15 Uhr, RBB) mit dem brillanten Duo Dellwo/Sänger von 2008.


Jim James, Hey Ruin, Miss Li, Fettes Brot

Jim James

Mit Coverversionen ist das so eine Sache, und nur sehr selten eine gute. Neue Bands benutzen sie gern als Erinnerungsanker in eine Vergangenheit, die nicht die ihre ist, um etwas Aufmerksamkeit zu erregen. Schlechte Bands benutzen sie, weil ihnen nichts Neues mehr einfällt, was alten Bands manchmal ähnlich geht. Coverkapellen benutzen sie, weil sie nun mal Coverkapellen sind. Und manchmal, ganz selten, will jemand, der covert, den Gecoverten wirklich Tribut zollen, also die Ehre erweisen. Jim James hängt irgendwo dazwischen, und da hängt er  ziemlich gut. Als Frontman der Rocker My Morning Jacket eher für robustes Zeug verantwortlich, bringt er nun sein zweites Album mit Coverversionen raus und steht damit auf einer Stufe mit der fabelhaften Birdie, die dem Liedgut anderer einst zu neuen Höhen verhalf.

Das tut Jim James auf Tribute To 2 noch nicht mal; die elf Tracks entlocken den Originalen keine unerwarteten Seiten oder setzen sie in ein helleres Licht. Was ihm allerdings gelingt, ist es, mit Stücken von den Bob Dylan über Willie Nelson bis Irving Berlin eine Auswahl zu treffen, die exakt den besten Tonfall zwischen Nostalgie, Interpretation und einem angenehmen Hauch Ironie findet. Mit feinem Gitarren-Picking und seiner leicht quäkenden, aber sehr wandelbaren Stimme macht Jim James selbst aus dem seifigen Lucky Man von Emerson, Lake & Palmer etwas angenehm Zeitgenössisches und erinnert mit dem Opener I Just Wasn’t Made for These Times zwar hinreißend schön an die Pet Sounds der Beach Boys, bleibt aber ganz bei sich.

Jim James – Tribute To Vol. 2

Hey Ruin

Linke Haltung zu zeigen ist leicht dieser Tage. Schön über die AfD lästern, etwas auf Trump schimpfen, bisschen FDP-Bashing – von hart- bis halbrechts bieten sich zurzeit ja reichlich Gegner zur moralischen Selbstvergewisserung an. Wer da nicht den richtigen Tonfall trifft, klingt allerdings leicht mal moralinsauer. Voriges Jahr zum Beispiel, als Hey Ruin ihr Debütalbum veröffentlicht haben, suchten die fünf Punkrocker aus Köln und Trier spürbar verkrampft nach gerechtem Zorn mit poetischer Note. Ihr Indiesound wirkte unreif, der Gesang plakativ, der alternativen Systemkritik fehlte jedes Augenzwinkern, vor allem aber Geist. Nun aber schafft der Nachfolger Poly die Wende.

Es ist keine zur zeitlosen Brillanz, über die man noch in 100 Jahren bewundernd reden wird. Immerhin jedoch eine sehr achtbare zum melodischen Hardcore abseits phrasenhafter Parolen. Damit reiht sich Poly ein zwischen Captain Planet und Fehlfarben, die ihr falsches Leben im Falschen schon immer mit viel Eigensinn und Spielfreude vertonen. Wenn Sebastian Frost das Leid der Bootsflüchtlinge als Mord besingt und im Titeltrack „Feuerfeuerfeuerfeuer“ für die Verantwortlichen fordert, erreicht das zwar noch nicht die metaphorische Wucht der Referenzgrößen von Love A bis Die Nerven. Doch zur linken Haltung zählt auch: Der Weg ist das Ziel. Hey Ruin sind auf einem guten.

Hey Ruin – Poly (This Charming Man)

Miss Li

Vorausgesetzt, Haltung ist jetzt und schon immer ein Gebot der Stunde, fällt sie oft besonders dort auf, wo man es gemeinhin am allerwenigsten erwartet. Im Dancepop etwa, dem Spielplatz von Linda Carlsson. Als Miss Li tummelt sich die schwedische Grammy-Gewinnerin zwar stilsicher im Spannungsfeld von Disco und Trash, Nischentheater und Mehrzweckhalle. Dummerweise ist die Aufmerksamkeitsindustrie allerdings anfällig für ein schwerwiegendes Missverständnis: Wer sich als Frau darin optisch präsentiert wie, sagen wir: Lady Gaga, bedient schnell das Klischee inhaltlicher Leere. Man sollte also dringend an Miss Lis schillernder Fassade vorbeihören. Es lohnt sich. Versprochen!

Wenn der Titeltrack A Woman’s Guide To Survival zu Beginn im dissonanten Synthiegewand erklärt, wie schwer es für Mädchen in einer visuellen Welt ist, Substanz zu zeigen, hat ihr neues Album nicht nur dem Namen nach Rückgrat. Anstatt sich aber in Sack & Asche zu hüllen, gibt Miss Li weiter den Paradiesvogel mit Message. Produziert von denen, die schon Rihannas Grenzgang zwischen emanzipiert und sexy inszeniert haben, entspinnt sich ein Panoptikum aus Trap, Pop, R’n’B und EDM, in dem Songs wie The Day I Die durchaus Chartsappeal ausschwitzen. Doch mit rauer Stimme macht Miss Li daraus eine Demonstration der Selbstermächtigung. Zum Tanzen. Und Krafttanken.

Miss Li – A Woman’s Guide To Survival (Pistol Packin’ Music)

Hype der Woche

Fettes Brot

Fettes Brot mit einem Hype zu umschreiben, ist eigentlich Quatsch. Die Spaßrapper aus Hamburg mögen den Klamauk zwar zur Kunstform des HipHop und bis in die seriöse Oberschicht des Sprechgesangs hinein salonfähig gemacht haben. Aber Hype? Dafür ist Nordisch By Nature einfach schon zu alt. Zu gut. Und zu haltbar. Wie haltbar, zeigen die sicht- und spürbar gealterten Doktor Renz, König Boris und Björn Beton auf ihrer furiosen Live-Platte mit dem gewohnt lustigen, aber leicht kindischen Titel Gebäck in the Days (Fettes Brot Schallplatten) nebst zugehöriger Konzert-DVD und einer kleinen Bandbiografie in Filmform. Die 16 Tracks, aufgeführt in ihrer Heimatstadt, zeigen dabei, was Fettes Brot seit 25 Jahren kennzeichnet: Bedingungsloser Einsatz für den Moshpit mit viel Humor, Tiefgang und schier unerschütterlichem Optimismus. Einziger Makel dieses gelungenen Albums: Schwule Mädchen fehlt. Ansonsten gibt’s wie immer: außen Top-Hits, innen Geschmack.


freitagsmedien-Serie: 75 Jahre TV-Musik

Beatclub – das Wirtschaftswunder

Als MTV ab 1997 auf Deutsch zu sehen war, schien das Fernsehen bereits auf dem Weg zur Disco mit Bildschirm. Dabei stand es schon beim deutschen Neustart vor 65 Jahren im Zeichen der Musik und sollte fortan nie mehr ganz aufhören zu singen, swingen, rocken, jingeln. Zeit also für eine kleine Bestandsaufnahme des TV-Sounds im Laufe der ersten sechs Jahrzehnte, als die Bilder nicht nur zuhause laufen, sondern musizieren lernten. Heute: das Wirtschaftswunder.

Von Jan Freitag

Kochen und Krimikost, Reklameblöcke und Ratespaß, Heimatfilme und Fußballernst, Die Hesselbachs und Das Halstuch, dazu Rotlicht/Blaulicht/Blitzlicht, erste Talk- und viele Familienshows – wer heutzutage ans Fernsehen des Wirtschaftswunders denkt, findet darin bereits reichlich Fernsehen der Dauerkrise von heute. Selbst ein Hauch von Reue weht 1960 kurz durchs Wohnzimmer, als Fritz Umgelters Am grünen Strand der Spree den Holocaust mal nicht sorgsam verdrängt, sondern realistisch schildert. Abgesehen von nackter Haut und blankem Horror in Farbe ist das Angebot schon damals fast komplett. Eines aber fehlt völlig: Die Jugend als Motor der Popkultur.

Falls Teenager vor der Gründung des ZDF 1963 auftauchen, sind sie artig, adrett, aber genötigt, die Musik ihrer Eltern zu hören. Noch während der Rock’n’Roll langsam zum Beat wird, bleibt das Leitmedium zwischen Operette, Schlager, Volkslied stecken. Gut, es gibt die Jugendstunde; doch wie in DDR-Pendents mit fetzigen Titeln à la Junge Pioniere lieben ihre Heimat, entsprang dem Magazin 1954 statt frischer Musik nur ein paternalistischer Singsang, was man zu tun, vor allem aber zu lassen habe. Etwa den Genuss forscherer Töne als Foxtrott, der 1964 die Tanzparty mit dem Ehepaar Fern des WDR eröffnete.

Und sonst?

Regiert die Oligarchie um Peter Alexander oder Anneliese Rothenberger einfach durch und hält es dabei schon für hip, wenn Bill Ramsey beim Playback Hawaiihemd trägt. Insofern gleicht es im Jahr drauf einer kleinen Palastrevolution, als das gewohntermaßen aufsässige Radio Bremen sein Mutterschiff ARD mit dem Beat-Club aufmischt. Nicht genug, dass die monatliche Live-Sause von einer Frau moderiert wird; Uschi Nerke infiltriert das hiesige Paradies sinnfreier Heile-Welt-Gesänge auch noch mit dem Teufel in Gestalt kurzer Röcke, rotziger Sprüche und ausländischer Gäste. Kein Wunder, dass konservative Kräfte sogleich zur Konterrevolution, genauer: Absetzung riefen, um die zarten Seelen der (dummerweise restlos begeisterten) Jugend zu behüten.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Blockwarte des Ordnungsfernsehens damit scheitern. Kein Jahr später nämlich kopiert das ZDF mit 4-3-2-1 – Hot and Sweet von der freizügigen Moderatorin bis zum britischen Importsound praktisch baugleich die ARD-Vorlage. Und da irgendwer den Verantwortlichen der Sendeanstalten zugeflüstert haben muss, dass deren Zielgruppe womöglich das Stammpublikum von morgen ist, geht es plötzlich auch bei den Arrivierten bunt zu, bisweilen psychedelisch. Rainer Holbes Starparade zum Beispiel ist atmosphärisch mit James Last am Taktstock voll und ganz auf die Generation Schwarzwaldmädel zugeschnitten. Stilistisch nähert sich das perfekt orchestrierte ZDF-Produkt bald nach der Premiere im schwarzweißen 1968 nun auch zur besten Sendezeit dem Zeitgeist und lässt das Fernsehballett schon mal bekiffte Tanzeinlagen zum Beatsound vollführen.

Von Ilja Richters fast schon aufdringlich halbstarker disco, mit der das ZDF ab 1971 wirklich mal ein popaffines Publikum anspricht, ist das dann nur noch eine Schlaghosenbreite entfernt. Dennoch blieb der Grundsound des Programms bis Ende der Siebziger eine Art Pfeifen im Walde der aufgewühlten Welt ringsum. Dem reifen Durchschnittsauditorium des musikalischen Regelangebots machte sie jedenfalls zu viel Angst, um etwas anderes als Liebeslieder und Humptattaa am Bildschirm zu verkraften. Während die Studenten vor der Studiotür im Stakkato schreiender Gitarren lautstark gegen Schweigekultur und Schweinesystem rebellieren, empfängt Dieter Thomas Heck 1969 also unverdrossen dieselben Schlagernasen zum Defilee und bekommt dafür 1971 allen Ernstes die Goldene Kamera als „Beste Sendung für junge Leute“ – obwohl von denen die meisten wohl nur zusehen, weil ihre Eltern aus drei Programmen halt dieses eingeschaltet haben.

Mitte der Siebzigerjahre ist der Weg zum Musikfernsehen, das den Namen auch verdient, halt noch annähernd so weit weg wie Ein Kessel Buntes von MTV Unplugged. Aber nicht mehr lange…


Schulz-Ende & Abendgeschichten

Die Gebrauchtwoche

27. November – 3. Dezember

Ach Mainz, du große Provinzhauptstadt, du kleine Hauptstadtprovinz, du Leuchtturm bundesdeutscher Betulichkeit im wilden Meer der Globalisierung, du Hort knuddeliger Comicmännchen und pfälzischer Innereiengerichte – da erschaffst du im mausgrauen Leitmedium der formierten Gesellschaft eine Talkshow ohne Phrasendrescherei, und was tust du in deinem Kleinmut mit Schulz & Böhmermann? Setzt das einzig experimentelle Talkformat der vierten Säule öffentlich-rechtlicher Grundversorgung neben Krimi, Krimi, Krimi und ein paar Nachrichten ab, einfach so. Tschüss.

Das allein wäre schon schlimm genug, würde das Abschiedsargument nicht wie so oft lauten, die Quote sei halt einfach unzureichend gewesen. Leider, leider. Schade. Äh, Quote? Bei ZDFneo? Dem kultiviert gemeinten Kanal für die Generation Discman, auf dem dann aber doch eher Wiederholungen aus der Generation Walkman laufen und nur sehr selten mal was für die Generation iPhone? Als Oli Schulz und Jan Böhmermann gestern letztmals die Regeln des Gesprächsgenres zertrümmert haben, war damit auch eins der letzten Reste Aberwitz mit Eigensinn für Zuschauer diesseits der 40 im linearen Programm Geschichte.

Das ist umso deprimierender, als Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf bei Pro7 einfach immer weitermachen mit der Unterwanderung tradierter Sehgewohnheiten – und das zur besten Sendezeit. Am Samstag zum Beispiel war Die beste Show der Welt zwar bis an den Rand der Unzurechnungsfähigkeit albern, dabei jedoch inspirierter, lustiger, vor allem glaubhaft leidenschaftlicher als alles, was ARD und ZDF fürs jüngere Publikum zustande bringen. Zumal erstere vor ein paar Tagen angekündigt hat, bald das nächste Reisebüro des TV-Kriminalwesens zu eröffnen.

Die Frischwoche

4 – 10. Dezember

Mit Hannes Jaenicke als Holländer. Beim Mörderjagen in Amsterdam. Es ist sooo ermüdend, so wahnsinnig ermüdend. Und diesen Donnerstag geht ja schon der nächste Kommissar auf Butterfahrt ins benachbarte Ausland, genauer: Über die Grenze. Zur besten Sendezeit leitet Thomas Sarbacher fortan eine deutsch-elsässische Polizeieinheit. Zum Auftakt beginnt das gleich mal erwartbar hölzern. Und auch, wenn das Ganze im Laufe der 90 Minuten durchaus Eigensinn entwickelt – das ARD-Motto bleibt adenauerhaft: Keine Experimente.

Dabei gibt es sie doch, die Momente kreativer Herausforderung, die Augenblicke unerwarteter Verstörung. Man muss sie halt nur etwas suchen. In der ARD zum Beispiel, wo Stephan Lamby und Egmont R. Koch heute Abend um 22.45 Uhr mit ihrer Dokumentation Bimbes – Die schwarzen Kassen des Helmut Kohl abermals beweisen, wie viel Kraft investigativer Journalismus entfalten kann. Auch der NDR versteckt seine Perlen lieber zur Geisterstunde. Denn wenn der österreichische Satiriker Dirk Stermann am Freitag zum vierten Mal vier Gäste zur Geschichte eines Abends in ein verschrobenes Mietlokal auf St. Pauli lädt, wird es mit Ulrich Matthes, Karoline Herfurth, Mario Basler, Ina Müller abermals grandios. Grandios versoffen, grandios verraucht, grandios anarchistisch, auch mal grandios schweigsam, ergo: grandios grandios.

Tummeln wir uns also einfach weiter in den Abseiten des Fernsehens. Beim gleichen Sender etwa, wo am Dienstag zur selben Uhrzeit die eindrückliche Dokumentation Deportation Class von Carsten Rau und Hauke Wendler über eine Sammelabschiebung von der Planung über die Festnahme bis zu Ankunft im Fluchtland läuft. Ein artverwandtes Thema, allerdings mit erfrischend optimistischem Tonfall, behandelt der BR in der wunderbaren Reportage Girls Don’t Fly. Auf dem Dokumentarfilmplatz DoX handelt sie am Mittwoch um 22.45 Uhr von einer Gruppe junger Frauen, die im zutiefst chauvinistischen Ghana eine Flugschule besuchen, anstatt den vorgezeichneten Weg als Hausfrauen und Mütter zu beschreiten.

Den emanzipatorischen Sound darf man auf keinem Fall mit dem auf Vox vergleichen, wo sechs prominente Mütter von Ute Lemper bis Verona Pooth ab Dienstag ihr Leben Mit Kind und Karriere schildern. Das ist aus zwei Gründen strikt systemerhaltend: Zum Einen werden Menschen skizziert, die von Alltagssorgen weiter entfernt sind als RTL2 von einem Vollprogramm. Zum anderen müssen mal wieder Frauen erklären, wonach man Männer noch immer nie fragt: wie man Beruf und Brut vereinbart. Das alles manifestiert ein Geschlechterbild jener Epoche, die Netflix ab Freitag mit der 2. Staffel von The Crown beleuchtet: Das Nachkriegszeitalter der englischen Monarchie.

Das Kriegszeitalter des Faschismus koloriert die ursprünglich schwarzweiße Wiederholung der Woche nach. Zum 100. UFA-Geburtstag zeigt Arte heute (23.35 Uhr) Veit Harlans indoktrinierenden Durchhaltefilm über ein deutsches Städtchen namens Kolberg, dessen Bevölkerung sich tapfer Napoleons Truppen entgegenstellt. Ein subtiles Propagandawerk von 1944, das im Licht der Erkenntnis allerdings sehr sehenswert wird. Historisch parallel spielt Peter Weirs Blockbuster Master and Commander von 2003 (Mittwoch, 20.15 Uhr, K1). Augenscheinlich ein typischer Mantel-und-Degen-Film, entspinnt sich unter der Bildgewalt ein brillantes Psychogramm menschlichen Machtstrebens mit Russell Crowe als Kapitän auf Rachefeldzug. Weniger opulent, aber irgendwie auch psychoaktiv ist der Tatort-Tipp: Mittwoch (21 Uhr, HR) kehrt Ulrich Tukur nochmals in Das Dorf zurück, wo sein krebskranker Kommissar Murot 2011 den zweiten Einsatz hatte. Bizarrer geht’s kaum.


Babylon Berlin, Nabihah Iqbal, Cherry Dolls

Babylon Berlin

Filmmusik ohne den zugehörigen Film zu sehen, das gleicht meist einem exzentrischen Drei-Sterne-Menü für Schnupfenkranke, denen man auch getrost Stampfkartoffeln vorsetzen kann – sie kauen zwar, schlucken, verdauen. Schmecken tun sie nix. Und gerade in Zeiten wie dieser, wo vom Blockbuster bis zum Serienevent fast jedes Format mit einer lückenlosen Soundkruste überzuckert wird, wäre der Score ohne visuellen Reiz noch sinnloser als früher. Witzigerweise gibt es nun eine Ausnahme, die dramaturgisch Blockbuster und Serienevent vereinigt, tonal ab der ersten Sekunde vollumfänglich verkleistert wird – und dennoch einen Soundtrack hervorgebracht hat, der auch ohne Bildschirm funktioniert.

Die Serie heißt Babylon Berlin und hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit ihrer 38 Millionen Euro teuren Gangsterballade der Goldenen Zwanzigerjahre mit Hilfe von Sky kürzlich ein klein wenig revolutioniert. Und das liegt auch an einer Musik, die auch ohne Filme fabelhaft wirkt. Zusammengestellt vom Regisseur Tom Tykwer und seinem Tonmeister Johnny Klimek lassen die 34 Tracks der Doppel-CD nämlich nicht nur die Bilder vorm inneren Auge Karussell. Die mal wuchtige, mal feingliedrige, vielfach hypermoderne, aber angemessen nostalgische Arbeit des Leipziger Radio Symphonie Orchesters mithilfe der New Yorker Band Absolute Ensemble schafft es, sich angereichert um Chansons und Charleston jener Zeit vom Werk zu emanzipieren. Allerfeinstes Kopfkino.

Radio Symphonie Orchester Leipzig – Babylon Berlin OST (BMG)

Nabihah Iqbal

Schon klar, Google-Suchen sind wegen der kommerziell gesteuerten Algorithmen vergiftete Recherchen. Aber man kann es ja mal versuchen und den Begriff “Krautrockambient” eingeben. Trefferzahl: 137. Umgedreht ergeben die sphärischen Großklangwelten sogar 17 Hits weniger, darunter ein netter Konzertbericht über den Berliner Auftritt von Denzel + Huhn, was vermutlich eine Band ist. Das Kombi-Genre scheint also bislang eher unbekannt zu sein, aber die Überschrift der titelfreudigen taz macht schon mal ein schönes Angebot: “Wucherndes Klanggestrüpp”. Da nähern wir uns dann mit großen Schritten dem Debütalbum von Nabihah Iqbal, dessen Sound mit Krautrockambient keinesfalls ausreichend, aber doch annähernd beschrieben wird.

Vieles auf Weighing Of The Heart wäre einst wohl gut und gern als Filmsscore von Trainspotting durchgegangen, einiges erinnert an eine Jam-Session von Jean-Michel Jarre mit Tangerine Dream in der Hängematte von Bonobo und Sade. Wie beim unvergleichlichen Label Ninja Tune üblich, hat die Platte einen spürbar elektronischen Background. Schimmernde Synths und Samples grundieren jeden der elf Tracks mit lyrischer Tiefe. Darüber legt die britische Radiomoderatorin mit dem orientalischen Namen allerdings nicht nur ihren durchscheinenden Gesang, sondern auch eine Reihe echter Instrumente vom treibenden Bass bis zur wimmernden Santana-Gitarre. Das macht die Fusion aus Ambient und Krautrock so ergreifend. Vor allem aber: vielschichtig.

Nabihah Iqbal – Weighing Of The Heart (Ninja Tune)

The Cherry Dolls

Fliegersonnenbrille, Motorradlederjacke, Siebzigerjahrematte, dazu dreckig verzerrtes Gitarrengeschrammel, ein paarmal „Come on!“ im Chor und kräftig „Uaaahhh Yeah“ obendrauf: australischer Pubrock hat sich seit den Stadion-Ausgaben von AC/DC bis Rose Tattoo bereits mehrfach gehäutet, aber nie wirklich grundlegend geändert. Obwohl ihr Debütalbum Viva Los Dolls mit Psycho-Grooves und Sixties-Elementen durchsetzt ist, stehen demnach auch The Cherry Dolls in dieser Tradition. Mit stoischen Phil-Rudd-Drums und schlichten Bon-Scott-Vocals rotzt das Quintett aus Melbourne einen Sound zu Boden, der sich nie die Mühe macht, außergewöhnlich, elaboriert, gar intellektuell daherzukommen.

Tausendfach reproduzierte Refrains wie „I’m addicted to love“ führen das Metier eben lieber auf den Kern des Augenblicks zurück. Riffs, Refrain, Bridge darf, muss aber nicht sein, der polternde Bass wie eine Kneipenschlägerei, one-two-three-four ab die Post! Wenn Josh Aubry, Jacob Kagan, Jim Stirton, Brendan West und Thomas van der Vliet die Bühne betreten, tropft Whisky und Schweiß von der Decke, bis alles darunter klebt. Für Außenstehende ist das nichts als ein tausendfach reproduzierter Junggesellenabschied, für alle anderen die Quintessenz der Nacht.

The Cherry Dolls – Viva Los Dolls (Golden Robot Records)