Tangowerk des argentinisch-berlinischen Soundbastlers NHOAH (R.O.T. Records) mag Puristen untanzbar erscheinen, dem geschlossenen System Tango fügt es erstaunliche Nuancen hinzu. Nun erscheint der zweite Teil. Dafür haben die freitagsmedien den ersten Teil mal mit Experten durchgetanzt.
Von Jan Freitag
Wenn auch nur der geringste Zweifel bestehen sollte, wo man gerade ist, wenn es eines Beleges für den tänzerischen Puritanismus dieser piekfeinen Kaste geben könnte, wenn ästhetische Traditionsverhaftung ein Gesicht bräuchte – hier zeigt es seine Kleider. Der samtschwarze Dreiteiler, das Hemd halb offen, den Kragen hoch, unterm Hosenschlag elegante Budapester, was sonst. Dazu ein Moustache wie aus uralten Bogart-Filmen, mitsamt dem passenden Gesichtsausdruck, so distinguiert wie selbstgewiss, mit diesem unwiderstehlichen Anflug von Arroganz: Ivano Bertazzo lebt, atmet, er ist Tango. Und der Mann mit dem Namen wie dieser Tanz selbst, er lebt, atmet, ist die Bewegung gewordene Emotion an einem Ort, der nahezu perfekt scheint für ein kleines Hörexperiment. Denn so wenig, wie man hinter der faden Rotklinkerfassade in Wurfweite von Tabledanceschuppen und Kiezgaudi auf St. Pauli die plüschige Eleganz des Tanzstudios La Yumba erwartet, so wenig erwarten die fünf Tangoversessenen um Ivano von einer Platte, auf der man den Tango erst eine Weile suchen muss, auch wenn sie ihn im Titel trägt: Tangowerk.
Es ist die Kompilation, mehr ein Projekt des Produzenten, Soundtüftlers und Songschreibers NHOAH, der in Berlin und Buenos Aires Künstler jeder Art zur Interpretation der argentinischsten aller Ausdrucksformen gebeten hat, von HipHop über Rock bis Electrotrash oder Pop. Diese Aneignung ausgerechnet von Ivano Bertazzo und fünf Klangkonservativen testhören, testtanzen zu lassen, auf einem improvisierten Tangoabend, in Fachkreisen Milonga genannt, stellt NHOAHs Werk auf eine harte Probe. Sie scheitert, so viel vorweg. Und gelingt, was keinesfalls ein Widerspruch ist. Umgeben von roten Säulen, Salongestühl, einem schweren Piano und noch schwereren Kronleuchtern schweben drei Paare aufs gewachste Parkett, zwischen erfahren und frisch dabei, versiert und ambitioniert. Es geht um Tango Argentino, trotz aller Einflüsse und Mixturen. Die Mutter des Tanzes, seine Keimzelle. Der Rest, sagt Mitbesitzer Kay Schmidt, sei europäischer Standard. Sport mithin. Wettkampf. „Ganz witzig.“ Aber kein Tango.
Und One More Kiss, das erste von 14 Stücken, eine Interpretation des Wiener Jazzcrooners Louie Austen, der noch im Rentenalter alle Mauern einzureißen bereit ist? Die Duos mühen sich sichtbar zum leidlich klassischen Auftaktstück durch den Spiegelsaal. Wir wollen, sendet ihre Gestik, die Mimik; fühlen tun wir nicht. Nichts. „Nett“, meint Kays Tanzpartnerin Constance, die schillerndste, nach dem Ausfaden. „Zu sportlich“, pflichtet Ivanos Tanzpartnerin Angela, die erfahrendste, bei. „Auf einer Milonga steh’ ich dafür nicht auf“, gibt sich Juans Tanzpartnerin Mariana, die jüngste, kritisch.
Da wird klar: Diese Variante des Tango Nuevo, Astor Piazollas Modernisierungsversuch der Fünfziger, bald erweitert auf eine Art Bastard-Tango, der sich drei Jahrzehnte später auch hierzulande eine Rückbesinnung zu den Wurzeln entgegenstellte, sie hat es hier nicht leicht. Noch vorm Refrain von If You Go feat. Headvoice löst sich die lächelnde Toleranz in lachenden Protest. Abbruch! Beim australischen Performance-Künstler ist Tango in der Tat nur Sample, Versatzstück in einem Marsch wie von Frank Farian, eher Derrick-Soundtrack als Bewegungsimpuls. Geht das jetzt so weiter? In seinen Abendgarderoben lässt das Sextett mit 65 Jahren Tanzerfahrung kurz die Schultern sinken.
Und erhebt sie sodann beim ersten Takt von Tuyo Soy, einem Traditional des argentinischen Orchesterleiters Chino Laborde. „Ah, Tango“, haucht Kay und lässt Constanzes blumiges Kleid vor Schwung flattern. Dass Tango umso schneller, versierter, akrobatischer wird, je getragener die Melodie erklingt, ist für Laien eher kryptisch, erfährt im Tangowerk aber ein ums andere Beweiswunder. Denn die HipHop-Varianten Tanto und Amanece En El Oce des Rappers El Topo aus Buenos Aires mögen ihre Würdigung als kreativer Ansatz erfahren, führen aber zur energetischen Stagnation, die beim rockigen Dancing On The Volcano oder dem technoiden Lost In Weltschmerz von MIA-Sängerin Mieze Katz zum Stillstand geraten.
Vieles auf der Platte klingt wie Tango, nutzt ihn aber nur für andere Zwecke, beutet ihn aus. Und das lassen die Leute von La Yumba nicht mit sich machen. Ob Ich Dir Treu Sein Kann von den Berlin Comedian Harmonists erinnert an Max Raabe, Weimarer Republik, alte Zeiten, bleibt aber zu hart, so der Tenor, zu deutsch. „Ist das denn noch Tango?“, fragt Sängerin Ina Viola Blasius in 1-2-3 rhetorisch. Das Parkett antwortet mit Distanz, Einzeltanz, der Höchststrafe im Metier. Bestenfalls als Cortina verwendbar, dem Pausenfüller zwischen zwei Liedern. Und AUA, wieder diese Blasius, wieder Headvoice? Nicht so schlecht, heißt es. Aber der Unernst…
Dem zu widerstehen gilt im Tango als Kardinaltugend. The Waltz mag zwar mit Dreivierteltakt aus der Art fallen – als Intermezzo tauge er für jede Milonga. Und dann Si Te Puedo Ser Fiel von Karina Beorlegui: „Wunderbar“, ist da gar zu hören; kein anderes Lied darf bis zum Ende ausklingen. Ein Desaster? Nein, ein Ausbruchsversuch. NHOAH mag Puristen die Hüfte lähmen, dem Genre fügt es Nuancen hinzu, die es nötig hat, die es verstohlen sucht, die es kräftig durchlüftet. Mit Tango zum Hören. Um die Gemeinde zum Tanzen zu bringen, bedarf es schließlich keiner Neuinterpretationen; der Fundus ist übervoll, sein Bestand unerschöpflich. Gerade deshalb aber braucht Tango Grenzgänger, Grenzgänge. „Nichts für mich“, sagt Ivano Bertazzo und richtet die Hemdsärmel. Aber ungewöhnlich, spannend. Mehr kann man im geschlossenen System Tango nicht erwarten.
Wigald Boning ist eine der skurrilsten Figuren des Fernsehhumors, was er als einer der Doofen an der Seite von Olli Dittrich sogar ziemlich erfolgreich in Blödelschlager übersetzte. Und jetzt macht der 47-jährige Niedersachse auch noch, nun ja, ernsthafte Musik. Auf eigenem Label veröffentlicht er gemeinsam mit dem Multiinstrumentalisten Roberto Di Gioia den zweiten Teil seiner halb ulkigen, halb sachlichen Genre-Exegese Hobby, diesmal zum Thema: New Wave. Ein Gespräch über klingende Bild-Schlagzeilen, die Bürde der Prominenz und warum er französische Poststrukturalisten im Original liest.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Boning, wie viel Ernst steckt im Plattenprojekt Hobby?
Wigald Boning: So ernst, wie es nur ernst gemeint sein kann. Roberto und ich waren uns einig, dass uns die erste Lebenshälften auf diese eine große umfangreiche nie enden wollende Tat vorbereitet hat, eine Art privaten, musikalischen Kölner Dom zu bauen. Das haben wir jetzt begonnen. Als ich vor zehn Jahren ein Flötensolo auf einer von Robertos Platten eingespielt hatte, haben wir schon gemerkt, dass sich da etwas zusammenfügt und das ernst gemeinte Jazzalbum Jet Set Jazz gemacht. Mit allem, was uns danach an Ideen in den Sinn kam, sind wir allerdings bei Plattenfirmen gescheitert.
Trotz des prominenten Namens?
Da darf man Prominenz nicht überschätzen. Wenn ich ein Revival der Doofen machen würde, hätte mein Name vielleicht einen Effekt, aber so nicht. Wir waren am Scheideweg, aufzugeben oder das Projekt auf eigene Rechnung zu machen. Ohne mich als Opfer darstellen zu wollen, sind wir von der kalten Realität quasi dazu gezwungen worden, ins Risiko zu gehen. Dann haben wir per Handschlag beschlossen, 100 Alben zu machen. Als eigene Chefs können wir es uns jetzt erlauben, eine Bilanz erst in zehn Jahren zu ziehen, aber schon jetzt ist eine Flamme spürbar, die uns von Album zu Album tragen wird.
Bei Verwertbarkeit keine Rolle spielt?
Ja. Spaß ist der entscheidende Faktor, ob uns beiden die Musik gefällt. Wir müssen uns überzeugen können. Der Rest ist reine Grundlagenforschung mit der Frage: Wer soll das hören?
Gute Frage…
Die aber nach reiner praktischer Anwendbarkeit klingt, so als würde sich ein theoretischer Physiker fragen, ob seine Forschung mal in einem Haushaltsgerät zum Einsatz kommt. Wenn man am Beginn jedes Gedankens immer an die Praxis denkt, statt der Fantasie freien Lauf zu lassen, gäbe es heute womöglich noch nicht einmal das Rad, geschweige denn Musik.
Spielen Sie bei der alle Instrumente selber oder haben mit fremder, auch digitaler Hilfe?
Ich spiele sämtlich Blasinstrumente, am besten Flöte und Saxofon, am schlechtesten Fagott, aber selbst das reicht für Effekte. Den Rest liefert Roberto.
Selbst die Punkbretter der vertonten Bild-Schlagzeilen?
Da ist nichts gesampelt, sondern von Roberto handgespielt.
Darf man sich das als einen einzigen Spaß vorstellen?
Eher als goldene Momente. Die Kürze ist ein faszinierender Teil der Musik, darüber habe ich sogar eine Abiturarbeit geschrieben, über die kurzen Orchesterstücke von Anton Webern. Ich habe schon als Jugendlicher gerne John Zorn und Arto Lindsay gehört, etwa als Die Tassen in der Bremer Schauburg, ein legendäres Konzert in den Achtzigerjahren, wo kein Stück länger als 30 Sekunden war. Kürze fand ich immer gut, hatte damit aber zuletzt wenig zu tun, auch weil es sich kommerziell in Zeiten von i-Tunes schlecht vermarkten lässt. Der Druck auf dem Ventil war also ebenso groß wie der Spaß, der dabei rausgekommen ist.
Darf ich mir das Berufsleben des Wigald Boning ohnehin als einzigen Spaß vorstellen?
Es gibt in jedem Komikerleben Momente, wo der Spaß in Arbeit mündet. Aber ernsthaft: Bei aller Seriosität, die Humor gerade im Fernsehen erfordert, bin ich stets bemüht, den Spaß nie zu verlieren. Sonst fände es das Publikum nicht lustig. Von Irrwegen, Humor ohne den eigenen Spaß zu erzeugen, habe ich mich gottlob längst abgewandt.
Sind Sie durch und durch Komiker?
Falls durch und durch „immerfort“ heißt, nicht. So wie jeder, der nur ernst ist, bald traurig wirkt, tut es auch jeder, der nur lustig sein will. Ich sehe mich aber gar nicht als Komiker, sondern bin durch Zufall genau dann ins Fernsehen geraten, als die Comedy-Welle gerade durchs Land zu schwappen begann. Selbst da war das Lustige jedoch nur lustig, wenn es mit professionellem Ernst grundiert ist. Bei Hobby zum Beispiel ist es so, dass viele Aspekte daran durchaus humoristisch sind, aber von so großer Sachlichkeit begleitet, dass wir noch gar nicht wussten, wie wir bei unserem Tournee-Auftakt in Offenbach überhaupt auftreten werden.
Wie humoristisch sind Sie als Person?
Da muss auch ich mir vieles erarbeiten. Um lustig falsch Tuba zu spielen, muss man das Instrument richtig gut beherrschen.
Entspricht der Wigald Boning des Fernsehens seiner realen Vorlage?
Ich versuche die Differenz gering zu halten – das ist stressfreier, glaubwürdiger und gesünder. Es ist schließlich schwer, gegen eigene Empfindungen anzuarbeiten, so als würden Sie sich die Hand quetschen und müssten sogleich Heiterkeit verströmen. Das wird nix.
Ist an Ihnen also weniger Inszenierung als man meint?
Ich habe beispielsweise privat eher selten Kunstrasenanzüge getragen, es ist aber auch nicht alles Inszenierung an mir, so wenig, wie mein Privatleben humorfrei ist.
In dem Sie nebenbei Extremsportler sind.
Na ja, Extremsportler… Ich hatte als Zivi mit einem Mann zu tun, der nach einem Schlaganfall mit 86 noch mal gehen lernen wollte. Das ist Extremsport. Ich sehe mich ja auch deshalb nicht als Extremsportler, weil der sich in Grenzsituationen bringt, bei denen die Möglichkeit besteht, sie nicht zu packen. Ich dagegen bin mir bei allem, was ich anpacke, sicher, es auch zu Ende zu bringen. Da regiert das Sicherheitsdenken. Einzig bei Hobby ist das Ende völlig offen, aber es geht ja auch nicht ums Überleben.
Wie beim Sammeln von Einkaufszetteln und Nasenhaarschneidern.
In der Tat. Meine Nasenhaarschneider füllen eine Vitrine, da brauche ich demnächst die zweite. Und über Einkaufszettel hab ich sogar ein Buch mit dem Titel Butter, Brot und Läusespray. Was Einkaufszettel über uns verraten geschrieben, wollte damit schon mal aufhören, ging aber nicht. Deshalb scanne ich weiter Parkplätze und Supermärkte ab.
Und betreiben was – eine Konsumgesellschaftsethnologie?
Gewissermaßen. Es gibt da viele spannende Aspekte. Weil man sie meistens zum einmaligen Eigengebrauch schreibt, ist man anders als beim Tagebuch gänzlich unverstellt, das lässt unendlich viele Interpretationen bis hin zum Familienstand des Einkäufers zu. Richtig spannend wird es aber erst, wenn die Einkaufszettel für andere verfasst sind. Steht da „3 Bier“ und in Klammern „mehr nicht“ mit drei Ausrufezeichen, sagt das eine Menge übers Verhältnis des Verfassers zum eigentlichen Einkäufer aus.
Auch darin steckt aber natürlich wieder ein humoristisches Element.
Schon.
Wurde Ihnen das in die Wiege gelegt?
Na ja, mein Vater war im Hauptberuf Bankkaufmann und als ich klein war, FDP-Politiker. Weil das gar nicht so witzig klingt, hat mich das vielleicht umso mehr humoristisch geprägt.
Waren Sie denn schon in der Klasse der Clown?
Gar nicht. Eher ein ernsthafter junger Mann, der sich bis heute einbildet, ernstlich am Unterrichtsstoff interessiert gewesen zu sein. Mein Traumberuf war ja lange Zeit Lehrer. Später wollte ich sogar mal Philosophie studieren, aber dazu hätte ich ein Latinum gebraucht und ich bin von Natur aus etwas faul und vielleicht am Ende doch nicht ernst genug.
Und warten Sie jetzt, wo Sie als Komiker etabliert sind, auf die große ernste Rolle?
Ich kann das jederzeit machen, wenn ich will. Hobby ist dafür der Beweis, so heiter das bisweilen ist. Aber eine ernste Rolle, ich weiß nicht. Ich bewundere Kollegen, die das geschafft haben, Dieter Hallervorden zum Beispiel. Beneiden tue ich ihn aber nicht. Da suche ich mir lieber meine Nische wie die Einkaufszettel-Sammelei und träume davon, ein Buch zu schreiben, dessen Grundgedanke an die Ernsthaftigkeit der Alltagsmythen von Roland Barthes heranreicht.
Sie lesen französische Poststrukturalisten?
Im Original sogar! Ist aber gar nicht so schwer und ich kannte das Buch vorher auf Deutsch.
Was war der ernsteste Moment Ihres Lebens?
Wirklich schwierig war mein Zivildienst in der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung. Da war ich als 18-Jähriger ernsthaft überfordert. Von den späteren möchte ich lieber schweigen.
Wigald Boning & Roberto Di Gioia – New Wave (Hobby Musik/Good To Go/ Groove Attack)
Mit Kommissar Dupin hat es den deutschen Krimi im April mal wieder ins Ausland gezogen. Heute ermittelt Pasquale Aleardi zum zweiten Mal als Pariser Exilant in der fremdsprachigen Bretagne – und macht das abermals gar nicht mal schlecht.
Von Jan Freitag
Wenn leise die Meereswellen wippen und dazu mal skandinavisches, mal mediterranes Flair durchs Bild weht. Wenn fremdländische Menschen fremdländische Riten pflegen und ihr akzentfreies Deutsch mit „Monsieur le commissaire“, „Merci“ oder „Madame“ begleiten. Wenn also alles exotisch ist und gleichsam nichts – dann dreht das hiesige Fernsehen seine Krimis mal wieder außerhalb der Landesgrenzen. Nach all den Laurentis, Brunettis, LaBréas und zuletzt dem Britischen Jury ermittelt nun also ein gewisser Georges Dupin nach dem Besteller des Jean-Luc Bannalecs in der Bretagne, jenem karstig-schönen Horn Frankreichs im wilden Atlantik. Die Leute rings um den strafversetzten Kommissar aus Paris machen maue Witze, tragen mediokre Kleidung, kochen miefende Fischsuppe, sind insgesamt nur mäßig spannend und tun somit alles, was den hochnäsigen Exilanten auf die Palme bringt. Also auch uns, das Publikum. Es ist zum Davonlaufen. Aber auch zum Abschalten?
Nein! Und das liegt einzig und allein an einem: Pasquale Aleardi. Der Schweizer mit dem hinreißend schönen Äußeren zwischen Latin Lover, Frauenversteher und Finanzjongleur verleiht seiner ersten ernstzunehmenden Serienrolle in zwei Jahrzehnten Schauspielerei eine entspannte Leichtigkeit, die selten ist auf solchen Sendeplätzen. Und das will was heißen. Denn wie so viele Fälle im deutschen Krimi jenseits vom Tatort ist auch dieser hier in seiner dramaturgischen und darstellerischen Schlichtheit fast bemitleidenswert.
Ging es im ersten Fall vor um einen – gähn – Erbstreit, in dem ein – schnarch – reicher Hotelier von – chhhrrr – gierigen Verwandten ums Leben gebracht wurde, weil es da was Tolles zu vererben gibt, diesmal wertvolle Kunst, so handelt Bretonische Brandung von drei angespülten Leichen mit Betäubungsmitteln im Blut, was bald auf irgendwas mit touristischen Großimmobilien im Naturschutzgebiet zu tun hat. Dazu werden auch diesmal allerlei regionale Normklischees verhandelt, die Protagonisten gucken stets, wie es ihrer Verstrickung in den Fall entspricht, und jeder kriegt dazu seinen kleinen Running-Gag: Die Hauptfigur (Dupin) rast dauernd in die Radarfalle und hasst jene Provinz, die er bewohnt. Inspektor Kadeg (Jan Georg Schütte) lacht als einziger über die eigenen Witze. Kollege Riwal (Ludwig Blochberger) ist ein Streber mit Streberbrille. So wird alles brachial auf Serientauglichkeit gebogen.
Dazwischen aber gibt es immer wieder diese kleinen Momente lässiger Nonchalance, mit der Pasquale Aleardi seine Verhöre vornimmt, den Notizblock traktiert, eine Landschaft erkundet, die ihm fremd, aber nicht unsympathisch scheint. Was abermals beweist, wie lieblos dieser talentierte Züricher von 42 Jahren besetzt wird. Gelegentlich darf der Sohn griechisch-italienischer Gastarbeiter zwar sein Gespür für die dezenten Töne im überdrehten Miteinander zeigen; dann spielt er einen glaubhaften Revoluzzer in Stefan Krohmers Dutschke oder ein israelisches Terroropfer in Dror Zahavis München 72. Meist gibt er dann aber doch die leicht exotischen Liebhabertypen in leicht debilen Filmen mit Titeln voller „Herz“ und „Liebe“ und „Männer“, die irgendwie irgendwas sind, meist etwas zu männlich.
Das kann man mal machen; schlechte Filme zu drehen ist für den prekären Beruf des Schauspielers betriebswirtschaftlich ja immer noch besser als gar keine Filme zu drehen. Und mit diesen hier beweist die frühere ARD-Schmalstullenfabrik Degeto, dass ihr Anspruch unter neuer Führung langsam ein bisschen übers sture Versendung dämlicher Liebesschnulzen hinausgeht. Doch bei kaum einem anderen Darsteller dieser Kategorie zwischen A- und B-Promi ist das Dilemma attraktiver Optik spürbarer als bei Kommissar Dupin alias Pasquale Aleardi. Kein Wunder, dass er mit Ermittlerfreundin Esther Zimmering und Annika Blendl als Assistentin Nolwenn zwei Schönheiten zur Seite bekommt, an denen er seinen süßen Dackelblick trainieren darf. Und das gleich in Serie. Seinem Portfolio bekommt das sicher gar nicht so schlecht. Seinem Anspruch, endlich ernster genommen zu werden als seiner Hülle eher weniger.
Nein, die Woche, die war, war nicht grad die Woche der Wahrheit, bekanntlich das erste Opfer des Kriegs. Zunächst stellte das Erste im Rahmen von Günther Jauchs Talkshow zwar allerlei kluge Fragen an Wladimir Putin, der seine eigentümliche Sicht der Weltdinge allerdings nahezu unwidersprochen absondern durfte. Dann ging sein Propagandakanal Russia Today als TD-deutsch online, was der Wahrheitsfindung über humanistisch gesinnte Rotarmisten im Kampf gegen ukrainische Faschisten endlich auch hierzulande Vorschub leistet. Und zwischendurch erschien ein Youtube-Video, das die Rettung eines syrischen Mädchens unter Assads Scharfschützenbeschuss zeigt, was sich jedoch als Fake entpuppte, inszeniert von einem Norweger in Malta, der damit aufs weltweite Los armer Kinder aufmerksam machen wolle.
Na wenigstens beweist das Unterhaltungsprogramm seine unverbrüchliche Liebe zur Wahrhaftigkeit. Das lässt sich wunderbar an der Fernsehwerbung ablesen, wo ungeachtet von Emanzipation, Bildung, Intelligenz und ähnlich lästigen Hindernissen maskuliner Wesensentfaltung unverdrossen Frauen die Wäsche machen, während Männer mit Buddys Bier trinken und rohes Fleisch äsen. Neokonservatismus der Woche: In Spots von Obi über Check 24 bis Media Markt dekorieren sich unansehnliche Kraftprotze mit blutjungen Models, die sich ums Make-up kümmern, während ihre Göttergatten nach der Jagd am Blockhaus zimmern.
Und so einen rückständigen Mist sehen sich dann bis zu 87 Prozent aller Europäer an, die laut einer Studie täglich fernsehen (wenn auch nicht mehr auf Apparaten der Marke Metz, der Mittwoch als letzter deutscher Hersteller nach Grundig oder Nordmende Insolvenz angemeldet hat). Das haben die Vereinten Nationen zu einem wiederkehrenden Ereignis am vorigen Freitag ermittelt: Den Weltfernsehtag, an dem die UNO seit 1996 „eine bessere Welt gestalten“ will.
Frischwoche
24. – 30. November
Das unterscheidet die Weltregierung zwar meist von denen, die diesem Ziel das entsprechende Programm beisteuern. Doch mitunter decken sich Anspruch und Wirklichkeit auf fast gespenstische Weise. Heute zum Bespiel zeigt das ZDF, was es gefühlt tausendmal gezeigt hat: akribisch kostümiertes Historytainment zu irgendwas mit Hitler. Doch die kammerspielartige Sachbuchverfilmung Das Zeugenhaus tut dies auf fabelhafte, vor allem fabelhaft dezente Art. Und das liegt nicht nur an den grandiosen Darstellern von Matthias Brandt über Rosalie Thomass und Iris Berben bis Edgar Selge, sondern daran, wie aberwitzig die Wirklichkeit dahinter ist: In so einer Villa wurden 1945 Zeugen von Anklage und Verteidigung der Nürnberger Prozesse einquartiert, also Opfer wie Täter. Heraus kommt ist ein Glanzstück geschichtlichen Entertainments.
Das gibt es zeitgleich auf Arte gleich mehrfach zu bestaunen. Im Rahmen seines Filmfestivals (das praktisch jeden Abend dieser Woche vorbehaltlos zu empfehlen ist) läuft da um 20.15 Uhr das ukrainische Melodram „Verwundete Erde“ über ein Liebespaar, das die Atomkatastrophe von Tschernobyl schicksalhaft verbindet und trennt. Dicht gefolgt vom deutsch-französischen Drama Captive, das ebenfalls nach realen Motiven die Entführung einer Entwicklungshelferin auf den Philippinen fiktionalisiert. Gänzlich irreal, dafür wunderbar irre ist die TV-Premiere des Horrorfilms Excision (Freitag, 23.05 Uhr, 3sat), der augenscheinlich ein blutiger Vorstadttrip des Außenseiters Pauline ist. Dahinter steckt allerdings ein groteskes, aber kluges Drama übers Pubertieren. Mit Ex-Pornostar Traci Lords als Mutter.
Was sonst in der Woche steckt? Neben dem zweiten Teil der grandiosen Krimireihe München Mord am Samstag im ZDF vor allem: Musik. Weniger ratsame wie bei Markus Lanz, der Grönemeyers neuem Album Dienstag (22.45 Uhr) eine zweistündige Dauerwerbesendung schenkt. Eher ratsame wie Mumford & Sons in Concert, der die Neofolkband auf Tour begleitet und zeigt, woher ihr unfassbarer Erfolg rührt. Sehr ratsame wie Sound of Heimat, der den neuseeländischen Saxofonisten Hayden Chisholm 30 Minuten später im WDR auf skurrile Reise durch Deutschlands Volksklänge schickt. So richtig ratsam ist dann auch der schwarz-weiße Tipp der Woche: 1925 begab sich die US-Dokumentation Moana (heute, 0:00 Uhr, Arte) auf die Spur samoanischer Riten und Gebräuche, was 90 Jahre später wie eine Überdosis psychoaktiver Substanzen wirkt – und damit dem farbigen Wochentipp recht nahe kommt: Sons of Norway (Freitag, 20.15 Uhr, EinsFestival), wo der norwegische Hippiesohn Nikolaj nach erstmaligem Hören der Sex Pistols unbedingt Punk werden will.
Für alle Digital Natives und sonstwie später Geborenen: es gab da mal einen Sender namens MTV, der hat das Fernsehen mit Musikvideos revolutioniert, lange bevor es das Internet gab. Sein berühmtester Moderator hieß Ray Cokes, dessen Sendung Most Wanted von jedem Teenager, der was auf sich hielt, vergöttert wurde. Bis, ja bis seine Karriere mit einem Wutanfall endete. Auf der Reeperbahn. Jetzt hat der englische Ex-VJ seine Autobiografie geschrieben – und spricht ausgerechnet dort darüber, wo er 1996 seinen Job verlor und elf Jahre wieder in die Spur geriet.
Interview: Jan Freitag
Ray Cokes, ein Interview am Rande der Reeperbahn, mit Blick auf den Spielbudenplatz – das ist schon ein besonderer Ort für Sie oder?
Ray Cokes: Absolut, einer der besondersten sogar. Genau hier wurde mein altes Leben, wie es war, beendet. Hier hat aber auch ein neues begonnen. Am Ende hatte ich auf der Reeperbahn mein Happyend, und wissen Sie was? Ich liebe Happyends. Deswegen bin ich trotz allem glücklich, wie alles gelaufen ist.
Wie ist es denn gelaufen?
Als ich hier 1996 auf der Bühne stand und die Toten Hosen nicht wie angekündigt gekommen sind, sondern nur auf der Leinwand zu sehen waren, hab ich mich wie ein Hooligan verhalten. Die Leute waren aufgebracht und ich hatte zu viel Angst vor ihnen, um kontrolliert zu reagieren. Das war das Ende meiner Karriere bei MTV. Aber vor fünf Jahren habe ich exakt an der gleichen Stelle die Chance gekriegt, wieder auf einer deutschen Bühne zu sein, was im Musikgeschäft ein ungemein wichtiger Ort ist. Besonders in einer Stadt wie Hamburg.
Klingt nach dem Stoff eines klassischen Dramas.
Deshalb habe ich auch meine Memoiren so aufgebaut, ein ungeheuer befreiender Akt in drei Akten. Im ersten steigt der Protagonist auf, im zweiten fällt er tief, im dritten rappelt er sich hoch. Die Reeperbahn stand da am Ende des ersten und am Beginn des zweiten Aktes. Denn so tief ich darauf gefallen bin – nach einer Zeit der Verwundung habe ich hier neues Selbstvertrauen gefunden. Ein bisschen wie Hollywood.
Oder Shakespeare.
(lacht) So weit würde ich nicht gehen, aber am gleichen Ort unterzugehen und aus der Asche wieder aufzustehen – das ist doch absolut filmreif. Vielleicht hätte ich dieses Buch auch ohne die Reeperbahn irgendwann geschrieben, aber dann wäre es bloß ein Buch über MTV Most Wanted gewesen, einen spannenden Musiksender und mich mittendrin. So wurde es die Erzählung meines Lebens.
Obwohl die meisten Leser vermutlich vor allem der MTV-Teil darin interessiert.
Das stimmt. Musiker sagen ja immer wieder: Mein Song gehört nicht mir…
Sondern der Plattenfirma.
(Lacht) Das ist das zynische Besitzverhältnis, damn it. Nein: dem Publikum! Die Zuschauer von damals, das erlebe ich auf allen Reisen, sind wirklich berührt von dieser Zeit. Der Sender und alle Leute darin hat ihnen echt was bedeutet, besonders Teenagern. Weil das für eine Autobiografie nicht ausreicht, war jetzt das Problem, die Zeit davor und danach so spannend zu schreiben, wie es sich der MTV-Teil von ganz alleine tut. Das war für den Perfektionisten in mir, der allenfalls mal schlechte Popsongs schreibt, eine Riesenlast. Mein Herausgeber hat mir einen Ghostwriter angeboten, aber den wollte ich nicht. Erster Fehler. Dann fragte er, wie lange ich brauche. Ich: sechs Monate. Zweiter Fehler. Aber nach eineinhalb Jahren habe ich gemerkt, wie befreiend das Schreiben der eigenen Memoiren ist, fast wie eine Therapie.
In der Sie zum Beispiel über so intime Dinge wie Ihre Depression sprechen.
Und dann auch noch vor Wildfremden! Menschen, die eine völlig andere Wahrnehmung von mir haben. Wissen Sie, es kann mir passieren, dass ich mal irgendwo auf einer Party den DJ spiele, also jetzt nicht im Sinne von Mixen, sondern zwei iPods nebeneinander, und es kommt jemand an und sagt, Man, du bist doch Ray Cokes. Ich verkaufe Villen auf Ibiza, die hier kostet fünf Millionen, und weil ich es liebe, was du getan hast, gebe ich sie dir für zwei. Wenn ich ihm dann sage, dass ich kaum 2000 habe, sagt er nur: Ach kommt, zehn Jahre MTV – du musst doch Multimillionär sein! Mein öffentliches Bild passt nicht immer zur Realität.
Trifft das etwa auch auf den fröhlichen, schlagfertigen, anarchischen Moderator zu, ist das gar nicht dieser Ray Cokes?
Doch, doch. Ich hatte nie eine Maske auf, ich war kein Schauspieler, ich bin ein Entertainer, dessen Lautstärke nur auf eine Stufe gestellt wurde, die jenseits der Kamera wohl ein Fall für die Klapsmühle gewesen wäre. Heute, im Alter, muss ich dafür etwas mehr Energie aufwänden; damals kam das voll aus mir selbst, purer Ray Cokes. Sogar der Reeperbahn-Vorfall war ich, das war keine Show, kein Ausbruch.
Trotzdem verändert so ein Leben im Rampenlicht auch den Menschen dahinter oder?
Schon, aber ich mache den Job mehr als die Hälfte meines Lebens, seit ich 27 bin. Diese Zeit lässt sich nicht vom Rest meines Daseins abkoppeln. Um ihn machen zu können, braucht man ein gewisses Ego, sonst kommst du im Showbiz unter die Räder. Aber wenn ich nachdenke – und ich denke viel nach –, spüre ich mittlerweile Ängste und Sorgen, die ich früher nicht hatte. Es sind die Sorgen eines Mannes, der oft antriebslos war und zu viel Zeit mit Videospielen verbrachte. So gesehen entspreche ich nicht mehr ganz den Stereotypen echter Bühnenstars.
Meinen Sie damit die gesamte Zeit von 1996 bis 2009?
Nein, ich hatte zwischendurch sechs erfolgreiche Jahre im französischen Fernsehen, aber zwei Jahre nach der Sache mit der Reeperbahn und ein Jahr vorm Neubeginn steckte ich in einem ziemlichen Loch. Ich musste mich mit PR-Moderationen über Wasser halten, die in der Krise zudem immer schlechter bezahlt wurden. Aber solche Zeiten machen dich ja auch stärker, ich hätte sie mir nicht gewünscht, möchte sie aber auch nicht missen. Man lernt zum Beispiel, dass die guten Freunde auch bei dir sind, wenn du nicht mehr auf tollen Partys bist. Und man lernt, sich aufs Wesentliche zu besinnen. Bei mir ist das sicher keine Jury eines Tanzwettbewerbs im Privatfernsehen, die man mir schon angeboten hat. Ich will etwas mitteilen: echte, relevante Musik präsentieren wie auf dem Reeperbahnfestival oder meine Biografie schreiben, das erste greifbare Produkt, das ich in meinem Leben zustande gebracht habe.
War MTV Most Wanted nicht Ihr Produkt?
Doch, schon. Aber ein flüchtigeres als ein Buch. Dennoch: MTV gab uns damals die Macht, 60 Millionen Haushalte in Europa zu erreichen, ohne irgendwelche Formatvorgaben zu machen. Bis auf mich waren alle VJs jung, jedenfalls zehn Jahre jünger als ich, es gab kaum ein Budget – so wird man kreativ und interessant. Wir hatten wirklich Narrenfreiheit, haben sie genutzt und die Kollegen aus Amerika, die dort schon fünf Jahre MTV gemacht haben, fragten verwundert: Was ist denn das für ein Typ da bei euch? Zu alt, zu wenig Musik, er macht alles nur kaputt, schmeißt ihn raus! Da hatte ich Glück, dass mein Boss uns machen ließ, solange wir nicht sexistisch, rassistisch oder beleidigend waren. Dennoch gab es ständig Briefe der Regierung, wann künstlerische Freiheit angeblich in Respektlosigkeit umgeschlagen sei. Diese Linie haben wir öfter mal berührt.
Auch überschritten?
Nein, dafür bin ich auch nicht der Typ. Und mir war bewusst, dass das Überschreiten 50.000 Pfund gekostet hätte, im Wiederholungsfall gar die Lizenz. Da war ich sehr wachsam. Und die Fans gaben uns ja das Gefühl, alles richtig zu machen – das konnte man an den Abertausenden Briefen und Faxen sehen.
Faxen?
Ja, diese futuristischen Telefone mit Papier. Sehen Sie – das waren echt unglaubliche Zeiten! Vielleicht die letzten, wo Fernsehen noch den Zuschauern gehörte und denen, die sie unterhalten haben. Keinen Shareholdern. Das hat MTV so besonders gemacht. Und genau deshalb war mir so wichtig, mit meinem Buch nichts zu zerstören. Das einzige, was ich je bewusst zerstört habe, war meine eigene Karriere, als ich auf der Reeperbahn durchgedreht bin. Trotzdem finde ich es unfair, wenn man zehn erfolgreiche Jahre auf fünf schwache Minuten reduziert.
Wie erklären Sie sich eigentlich, dass da ein Ottonormalverbraucher mit wenig Haar, gebügelten Hemden und ein paar Jahren zu viel auf dem Buckel so ein Teenystar werden konnte?
Schwer zu sagen, aber ich war wohl sowas wie ein dreister Onkel auf dem Familienfest, eine Art schwarzes Schaf, das anders ist, aber lustig und dabei nett, statt gehässig. Man muss sich das mal vorstellen: Hinter MTV stand damals einer der größten Sender und seine erfolgreichste Sendung wird von einem Haufen Idioten gemacht. Das schafft, selbst wenn man älter und weniger hip ist als andere, eine Verbindung mit normalen Menschen da draußen. Denen ich – abgesehen davon – Radiohead, Arnold Schwarzenegger, Take That ins Studio geholt hab. Ich war ein Sonderling, aber ein unterhaltsamer.
Heute ist MTV kostenpflichtig, Viva musikfrei, VH1 tot – gibt es etwas zu beklagen oder ist es einfach der Lauf der Dinge, dass Musikfernsehen ins Internet emigriert ist?
Ach wissen Sie, wenn ich meinen 16-jährigen Nichten und Neffen erzähle, dass man früher eine Woche auf seine Lieblingssendung im Fernsehen warten musste, erklären sie das doch für verrückt. Für die ist Fernsehen Vergangenheit. Mir selbst ist es egal, auf welchem Bildschirm gute Musik läuft, solange man den Menschen dahinter wirklich begegnen kann, statt nur ihr Produkt zu konsumieren. Dafür kämpfe ich, aber es ist ein Kampf für meine Generation, nicht für die Teenager von heute. Für die habe ich in den Neunzigern gekämpft. Und zehn Jahre lang nicht verloren.
Ray Cokes – My Most Wanted Life (432 Seiten, bebildert, deutsch/englisch, handsignierte Erstauflage, Schwarzkopf & Schwarzkopf)
Seit Sonntag wirbt die ARD-Themenwoche auf allen Kanälen für Erdulden statt Akzeptanz. Das ist oft gönnerhaft – außer im fabelhaften Biopic Das Ende der Geduld mit Martina Gedeck als Jugendrichterin Kirsten Heisig. Heute Abend im Ersten wird Toleranz darin nicht verlogen gepredigt, sondern wirklich debattiert. Auch wenn die echte Juristin zuweilen besser wegkommt, als sie in der Realität womöglich war.
Von Jan Freitag
Toleranz ist das Gebot der Integrationsstunde. Wer sich modern geben will, liberal und empathisch, betont zwanghaft seine Toleranz für alles, was irgendwie von der Norm abweicht: Behinderte, Homosexuelle, Andersgläubige, Ausländer, die vor allem. Wer tolerant ist, meint es ja gut. Dummerweise ist gut gemeint allzu oft das genaue Gegenteil von gut – weshalb die ARD in ihrer Themenwoche Toleranz selten das Gute feiert. Sondern die hässliche kleine Schwester der Akzeptanz. Wer tolerant ist, nimmt etwas mehr zähneknirschend hin, statt es aufrichtig als gleichwertig anzunehmen. Toleranz trägt den Keim der Verlogenheit weit tiefer in sich als vorgebliche Anteilnahme. Auch deshalb hätte sich Kirsten Heisig sicher mit Stolz als intolerant bezeichnet. Als sie 2008 am Amtsgericht Tiergarten tätig wurde, wollte die Jugendrichterin den herrschenden Umgang mit jungen Kriminellen am Berliner Brennpunkt nicht mehr hinnehmen und wendete die Gesetze daher strikter an als ihre wohlmeinend nachsichtigen Kollegen.
Die ortsübliche Toleranz mit straffälligen Jugendlichen aus Erschöpfung und Personalmangel nebst liberaler Rechtsauffassung ersetzte sie durch Zügigkeit, Härte und viel persönlichem Einsatz. Die erzieherische Wirkung schneller Urteile legte später den Grundstein ihres „Neuköllner Modells“, das bundesweit rasch Vorbildfunktion erlangte. Vom Umfeld allerdings brachte es derlei Rigidität viel Gegenwind, vom Boulevard den Titel „Richterin Gnadenlos“. Und von der ARD nun sogar ein Biopic. Das Ende der Geduld, benannt nach Kirsten Heisigs biografischem Sachbuch, schildert die letzten Wochen im Leben der streitbaren Juristin, die sich im Sommer 2010 inmitten des schwarzrotgoldduseligen Weltmeisterschaftstrubels das Leben nahm. Weniger gnadenlos als pädagogisch setzt sie sich als Corinna Kleist vor allem mit einem arabischen Clan ihres Kiezes auseinander, sucht stets die juristische Konfrontation, bietet kleine Deals für geringere Strafen an, urteilt hart, aber gerecht und gerät somit zu einer Art Lichtblick im trüben Wasser toleranter Verlogenheit. Was wiederum an Martina Gedeck liegt.
Denn wie sie die reale Richterin mit Wahrhaftigkeit füllt, ist – vorsichtig formuliert – eine Sensation. Ihr Gesichtsausdruck vermag es, Nähe und Distanz in einem einzigen Halblächeln zu vereinen. Allein Martina Gedecks Mimik kündet somit ausdrucksstark vom Dilemma zwischen dem tiefen Glauben an den Rechtstaat und dessen Hilflosigkeit im Angesicht anarchistisch entfesselter Bandenkriminalität zu verkünden. Wenn dann noch ihre sonore Stimme hinzukommt, glaubt man als Zuschauer, die echte Richterin zu begleiten, nicht bloß eine Schauspielerin.
Wie sie das haspelnd vorgetragene Gedicht eines abermals verurteilten Punkmädchens ausdruckslos mit „Mach’s gut, ich vertrau dir, komm nicht wieder, ja?“ statt schwülem Pilcher-Gesäusel kommentiert; wie sie der handelsüblichen Kindergeldtirade des Polizisten auf Viertelrundfahrt, „die übernehmen uns durch ihre Fruchtbarkeit“, ein trockenes „Neidisch?“ entgegnet; wie sie einer solchen Vielfachmutter auf die Klage in holpernden Deutsch, „wir brauchen Geld für Turnschuhe“, vors Kopftuch knallt, „Sie brauchen kein Geld, Frau Wahid, Sie brauchen einen Deutschkurs“; wie sie also tolerant bloß im Sinne der rechtlichen Schranken ist und ansonsten ihren Geist sprechen lässt – all dies macht Das Ende der Geduld zu einem bemerkenswerten Film über die Fallstricke der Realität. Trotz allem.
Trotz einiger Klischees liberaler Gutmenschen also, die wie der fabelhafte Jörg Hartmann als Jugendrichter Wachowiak unterm Talar zottelige Geisteskiffer sind, aber bei Konferenzen teuren Wein im Edelrestaurant verkosten. Trotz der Zeichnung libanesischer Gangs als quasi genetisch bedingte Unmenschen vor allem. Und ob Kirsten Heisig wirklich eine derart makellos moralgetriebene Superjuristin wie Corinna Kleist im Film ist, deren angebliche Depression als mögliche Suizidursache einfach mal komplett ausgespart wird, sei mal – schon aus Gründen der Pietät – dahingestellt. Dennoch ist Christian Wagners leiser, aber lautstarker Film eine famose Entzauberung der Scheinidylle bürgerlicher Toleranz zum Wohle von etwas, das dieser Kirsten Heisig zumindest in Form von Corinna Kleist abzunehmen ist: Akzeptanz menschlicher Unterschiede. Ein wenig mehr davon täte auch der ARD-Themenwoche gut.
Tatatatusch! Mit viel Glamour, reichlich Helene Fischer und einem Höchstmaß an Gefühlsduselei wurde Donnerstag live im Ersten der Bunte, pardon: Bambi verliehen und die Gewinner sind … längst schon wieder egal. Irgendwie bedeutsam waren sie schließlich ohnehin nur im Moment des Überreichens, wenn ergriffen Überreichende den Wert des künftigen Staubfängers auf Friedensnobelpreisniveau hochgejazzt haben. Interessanter als der Umstand, dass ein Schmierseifenvertreter wie Francis Fulton-Smith für die Trophäe nur einmal in seiner Karriere irgendetwas (nämlich Franz-Josef Strauß in Die Spiegel-Affäre) einigermaßen anständig machen musste, ist also weniger, wer das äußerlich vergoldete, innerlich wertlose Waldtier für was auch immer künftig in die Vitrine stellen darf, sondern dass Die Bergretter parallel im ZDF mehr ältere Zuschauer fanden als die Werbeshow fürs Klatschmagazin aus dem Hause Burda. Von jüngeren ganz zu schweigen, die sich lieber ein Casting auf Pro7 ansahen als Entertainment ihrer Urgroßeltern.
Aber vielleicht sollten wir mal Toleranz walten lassen. Toleranz mit dem Anspruch Anspruchsarmer ans Leitmedium. Toleranz mit deren Bedürfnis, nach Feierabend daheim oder Kaffee im Seniorenstift, Dinge regelprogrammiert zu kriegen, die den kriselnden Erdball für zwei Stündchen vor der Rüschengardine lassen. Toleranz, dieses spießbürgerliche Wort zähneknirschenden Erduldens statt vorbehaltlos Akzeptierens wird schließlich größer geschrieben als sonst dieser Tage. Die ARD feiert ja samt ihrer Nebenkanäle Woche der Toleranz.
Darin könnte sie nun Toleranz für eine zugehörige Plakatkampagne einfordern, die alles, was es im Sinne des Schwerpunkts zu Tolerieren gilt, erst recht der Ignoranz Intoleranter aussetzt. Was der Blogger Teilzeitnerd wunderbar persifliert, indem er fragt, ob man da nicht auch um Toleranz für Holocaust-Leugner bitten könnte. Oder sagen wir: Wladimir Putin, dessen Pressegesetze so pressefeindlich sind, dass sich CNN nach 34 Jahren bald aus Russland zurückzieht. Aber egal, ob man Schwarze nun als „Belastung oder Bereicherung?“ empfindet und Schwule als „normal oder nicht normal?“ – an sich bereichert die Woche seit Samstag durchaus die Debattenkultur.
Frischwoche
17. – 23. November
Wäre das, was zu den Topsendezeiten gezeigt wird, nur nicht oft so piefig. Etwa wenn Christiane Hörbiger Montagabend den verhassten Roma nebenan im ARD-Film Bis ans Ende der Welt erst dann leidlich akzeptiert, als er sein musikalisches Talent offenbar und somit belegt, dass man sich Toleranz in diesem Land mit Leistung erarbeiten muss. Oder wenn uns zwei (selbst)betrügerische Freundinnen am Freitag im ARD-Melodram Die Sache mit der Wahrheit per Holzhammer einbimsen, dass ehrlich doch am längsten währt. Dazwischen gibt es zwar durchaus erhellende Dokus wie Jenseits der Toleranz über entlassene Kapitalverbrecher und ihre Isolation in Freiheit. Allerdings meist zu später Stunde, in diesem Fall Montag um 23.15 Uhr (ARD). Den Höhepunkt gibt es dann aber wieder zur Primetime: Das Ende der Geduld, wo Martina Gedeck am Mittwoch die echte Jugendrichterin Kirsten Heisig bis zum Selbstmord so wahrhaftig spielt, dass über Toleranz wirklich neu gedacht werden muss.
Das hat auch Adnan Maral (bekannt als Vater aus Türkisch für Anfänger) getan, als er für seine ARD-Reportage auf die Suche nach Gewalt im Namen Gottes ging, wobei damit Sonntag vor der Sportschau natürlich islamistische gemeint ist. Doch wie der türkisch-deutsche Schauspieler das umsetzt, ist auch jenseits der Toleranzwoche sehenswert. Wie das, was Arte seit Sonntag im jährlichen Filmfestival zeigt. Alles Sehenswerte aufzulisten, würde den Rahmen sprengen. Hervorzuheben ist aber die deutsch-französische Comic-Verfilmung Huhn mit Pflaumen (Dienstag, 20.15 Uhr) über einen rasend lustigen Iraner, der sich nach dem Verlust von Frau und Geige noch sieben irrwitzige Tage zum Leben gibt.
Wobei Irrwitz ein guter Übergang zum irrwitzigsten Film der hiesigen Filmhistorie ist: Fraktus, der Samstag (21.35 Uhr) als Teil des Arte-Schwerpunkts Godfathers of Techno läuft, zwei Stunden später ergänzt um die Reportage Sound of Belgium, die das Land als Keimzelle repititiver Musik zeigt. Und Donnerstag widmet 3sat dem Irrsinnigen Quentin Tarantino ab 22.35 Uhr unterm Kennwort Kino ein Porträt, gefolgt von seinem Meisterwerk Jackie Brown.
Stichwort Meisterwerk: Den schwarzweißen Tipp der Woche bildet Montagmitternacht Das Blumenwunder, in dem der deutsche Regisseur Max Reichmann 1925 pflanzliches Wachstum in Zeitraffer nachtanzen ließ! Der farbige Wochentipp dagegen ist von 2012: The Deep (Dienstag, 20.15 Uhr, ServusTV), ein isländisches Drama um den realen Fischer Gulli, der vor den Westmännerinseln kentert und überlebt.
Eine Kreuzfahrt mit den Hurtigruten ist weniger eine simple Fahrt zum Nordkap als eine ins Innere seiner Seele. Dass die Schiffe bei aller äußeren Schönheit innerlich eher geschmacklos sind, gehört scheinbar zum Programm: erst an Deck und in den Häfen lernt das Gemüt laufen.
Von Jan Freitag
Mit der Farbe ist das so eine Sache. Was bunt ist, steht für Lebensfreude und Leidenschaft, für Vielfalt, Liebe, solche Sachen. Tristesse dagegen hat keine Farbe; Schwermut ist grau, Einfalt schwarzweiß und der Tod, berichten jene, die ihm mal nah waren, grüße Sterbende mit gleißendem Licht. Soweit die klassische Farbenlehre. Dann aber steht man an Bord der Polarlys und kann kaum genug kriegen von der Ödnis. Dann sieht man in Norwegens winterliche Fjordwelt und sehnt sich auch im Frühling nichts weniger herbei als den Sommer. Denn wenn sich dieses Kreuzfahrschiff, das keines sein will, weil es nur ein Postschiff der Hurtigruten ist, wenn also dieses Arbeitsgerät von 123 Metern die Westküste nordwärts fährt, an jedem Hafen hält, Ladung löscht, Passagiere aufnimmt, normale Norweger zumeist, und weiterfährt Richtung Nordkap, ändert das Auge seine Gewohnheiten.
Und trist wird bunt.
Doch was heißt hier trist, was bunt? Während der Frühling in Deutschland, wo zwei Drittel der Gäste wohnen, gerade alles koloriert, durchmisst die Fähre mit Freizeitabteilung eintönige Landschaften, die noch ihren Winterschlaf halten und gerade deshalb schillernder kaum sein können. Von der Hafenstadt Bergen aus, fast auf dem Breitengrad Islands, startet die Polarlys am Abend eines verhagelten Maitags auf eine der schönsten Seereisen überhaupt. Der regendunkle Mittagshimmel lässt zwar wenig Gutes erahnen für die nächste Woche gen Mitternachtssonne. Doch das ist nur der Schock vorm Ablegen. Und der zweite folgt an Bord.
Im Gegensatz zu dem, was außerhalb der sieben Decks bald folgt, ist das Interieur des Schiffes ein Inferno der Neunziger, als es entstand. Alles daran wirkt ästhetisch überladen wie seinerzeit die Leggings an Frauenbeinen. Bizarre Muster – gern mit Muscheln – fluten jede Faser Teppich, der sich die Bordwand empor zu fressen scheint. Jede Applikation wiederholt sich unablässig wie der stupideste Technobeat jener Jahre. Das ganze Ambiente erinnert an ein Schulterpolster im Blumenblazer. Baujahr 1996 eben, offenbar um Funktionalität bemüht, leider im Zeitgeist gefangen.
Und doch hat das Fegefeuer innenarchitektonischer Geschmacklosigkeit einen höheren Zweck, fast eine Mission: Es liefert den nötigen Kontrast zur Welt da draußen, die sich von Fjord zu Fjord und Ort zu Ort weiter öffnet. Hätte die Einrichtung der Polarlys einen Sound, er läge mittig zwischen Eurodance und Volksmusik. Kaum aber, dass stählerne Deckstüren zentimeterdick verpackte Kreuzfahrer ins Freie entlassen, weicht der kakophonische Lärm einer Symphonie der Stille. Bis aufs leise Tuckern des Schiffsdiesels, der den Ohren anders als auf den schwimmenden Hotelclubs à la Aida den Eindruck vermittelt, wirklich auf dem Wasser zu reisen, herrscht hier völlige Stille. Und sie erzeugt eine innere Ruhe, die man wohl nirgends sonst erlebt.
Das hat viele Gründe. Das Spektakel einer verschrobenen Umwelt, die Norwegens Westrand in Jahrmillionen ausgefranst hat wie eine alte Fahne im Orkan dieser Gegend. Das klärende Licht des immerwährenden Tages, der mit jeder Meile nordwärts tiefer in die Nacht ragt. Dazu völlig unberührter Schnee auf dem steil ansteigenden Festlandschelf, der nicht nur an den Golfstrom leckt, sondern auch an den Seelen der Passagiere. Seltsam geschrumpfte Menschen also, die hier von einer Demut ergriffen werden, als läse der Fels die heilige Messe. „Natur pur“ preisen Reiseführer flankiert von PR-Worten wie faszinierend, traumhaft, einzigartig. Alles korrekt und doch nur die halbe Wahrheit. Das Wesen der schwarzrotweißen Postschiffflotte, die das Leben der Bewohner seit 1893 auf 2700 Küstenkilometern verbindet, es beinhaltet weit mehr als zwei entspannte Wochen bei maritimer Kost und netten Ausflügen zu Sehenswürdigkeiten wie dem spektakulären Geirangerfjord oder Kurztrios mit dem Jetski, Rentierkontakt garantiert. Mehr auch als die dauernde Vorbeifahrt an aberwitzig Schauspielen der Natur. Denn mindestens ebenso bedeutend ist Ørnes, ein Fischerdorf voll emsiger Hafenarbeiter, das nichts mit den betonierten Glasstahlthäfen fernab touristisch verwertbarer Ortskerne zu tun hat, in denen Kreuzfahrer andernorts gern in Reisebusse gekippt werden.
Hier steigt kaum jemand aus, hier steigt Harald zu. Mit Anfang 30 ist er kaum halb so alt wie das Gros der Feriengäste und unterscheidet sich auch dadurch vom Durchschnitt, dass er nicht ständig eine roten Becher für Gratiskaffee in der Hand hält, den die Kreuzfahrer zu Beginn der Reise für 40 Euro kaufen, um im sündteuren Konsumangebot wenigstens diesen Posten zu minimieren. Der wortkarge Industriemechaniker bevorzugt nach Schichtende zwei Dosen Bier, während ihm die Polarlys 200 Kilometer Heimweg nach Bodø spart, von wo aus das Schiff zu den Lofoten übersetzt. Auch die Inselgruppe mag im diffusen Glanz der nächtlichen Sonne verzaubern mit Plakatschönheiten wie dem Trollfjord, der selbst die drei demutsfreien Amerikanerinnen am Panoramafenster kurz zum Schweigen bringen – ihren echten Geist atmet die Reise woanders. In Svolvær etwa, der größten Inselstadt und doch ein Nest mit Dönerbude auf dem Platz, aber sonst praktisch nichts. Außer einer Atmosphäre zum Niederknien. Wie in Tromsø, kurz vorm Ziel. In dieser Mischung aus Bullerbü-Syndrom und Alltagsrealität kann man sich mental gut vorbereiten auf den nördlichsten Punkt europäischen Festlandes tags drauf.
Beeindruckende Steilküste. 2000 Kilometer zum Pol. Schickes Museum. Nördlichster Supermarkt. Nördlichstes Kino. Nördlichste Toilette, Siedlung, Cafeteria. Alles der Welt. Abgehakt, denn selten war der Weg mehr das Ziel: Eine Reise, bei der selbst grauer Himmel über grauem Meer kunterbunt wird, weil hier nichts künstlich bemalt ist, sondern so ist wie es ist. Eine Reise, auf der mehr weniger wäre.
Um aus Geräuschen Musik zu machen, Bedarf es eines gewissen Abstraktionsvermögens. Um aus Abstraktionsvermögen Musik zu machen, bedarf es der strukturierenden Metrik. Um aus Metrik Musik zu machen, bedarf es eines Gefühls für Rhythmus. Um aus Rhythmusgefühl Musik zu machen, bedarf es das Bedürfnis, überhaupt Musik machen zu wollen. Vor allem die ersten drei Schritte bildeten bislang verlässlich jene Grundlage, auf der die Einstürzenden Neubauten Klangkosmen erzeugten, deren Geräuschteppiche zu wahren Symphonien gerinnen konnten. Und weil dem postindustriellen Experimental-Kollektiv schon zu Beginn seines Bestehens vor 35 Jahren auch Schritt 4 am Herzen lag, hat es den Begriff des Musikalischen stetig erweitert, bis mit Silence is Sexy anno 2000 ein Zustand erreicht wurde, der sich eher an Bach misst als am Pop. Seither aber geht der Weg scheinbar Schritt für Schritt zurück. Bis jetzt. Bis LAMENT.
So heißt das neue, nach inoffizieller Schätzung ungefähr 35. Album. Und dafür die Klammer Musik zu benutzen, bedarf schon etwas mehr Abstraktionsvermögen als purer Metrik. Verfolgten Blixa Bargeld, Alexander Hacke und N. U. Unruh seit 1980 spürbar den Ansatz, noch den verwirrendsten Geräuschkaskaden einen Rest von Metrik, Struktur, ja: Melodie zu entlocken, so beschränkt sich LAMENT vollends auf den einzelnen Ton in scheinbar willkürlicher Aneinanderreihung. LAMENT ist so gesehen eher Stockhausen als Punk, eher Cage als Noise, eher Fabrik als Industrial, also nach musiktheoretischem Ermessen immer noch anspruchsvoll; hörbar ist es nicht. Nicht zuhause jedenfalls oder unterwegs. Höchstens live, wenn Einstürzende Neubauten das klanglichen Nichts zur Kunstform erheben. Denn nichts anderes ist LAMENT: Kunst. Musik geht anders.
Einstürzende Neubauten – LAMENT (Mute)
Funny van Dannen
Alles easy, alles gut – wenn man Funny van Dannen wie im Titeltrack seiner neuen Platte Geile Welt beim Singen zuhört, wird all die Schwere ringsum ein wenig leichter. Krisen, Kriege, Magenprobleme – hinfortgepustet wie ein blauer Fleck auf Kinderbeinchen. Funny van Dannen vom westlichsten Rand der Republik braucht nur ein paar Akkorde, um dem Bösen da draußen eins zu Husten, mit Texten, die den Ernst der Welt verlachen, ohne ihn zu negieren. Mit Humor und Gefühl und unglaublich präziser Beobachtungsgabe, die selbst politisch unkorrekte Zeilen wie Auch schwarze lesbische Behinderte können ätzend sein sonderbar statthaft machen. Wichtigste Voraussetzung für dieses Grundverständnis zwischen Sender und Rezipient war allerdings: diese Ruhe. Funny allein auf der Bühne, bei ihm seine Gitarre und dieser Kopf voll kluger Flausen. Geile Welt jedoch ist ein Bandalbum. Und das ist ein kleines Problem.
Denn noch immer sind die Texte darauf von einer lebenssatten Erhabenheit, die das Publikum aufwühlt und beruhigt zugleich. Mit echter Begleitband allerdings, die in Stücken wie Losgehen oder Geld sogar richtig abgeht, wird das lustig-besinnliche Singer/Songerwriting des Wahlberliners irgendwie erdrückt, fast negiert. Gut – Geile Welt hat unverdrossen Funnyeske Preziosen wie Lebensbejahend, in denen er lebensbejahend Fleisch kocht, während ihm seine Kinder gegenüber sitzen und fragen, ob er nicht mal lebensbejahend Hamburger machen könne. Darüber hinaus aber stört das Instrumentelle eher, als dass es die Platte voran brächte. Trotzdem ist auch dieses Album purer van Dannen, sprachlich grandios und auch sonst ziemlich schön. In aller Unruhe.
Hans-Jochen Wagner ist der vielleicht erfolgreichste Unbekannte im hiesigen Film und Fernsehen. Seit der 45-Jährige 2003 in Stefan Krohmers Sie haben Knut seine erste Hauptrolle hatte, waren grandiose Figuren in tragender Funktion dabei – dennoch verbinden wohl die wenigsten einen Namen mit dem Gesicht des Schwaben. Vielleicht liegt das am hintergründigen Spiel, vielleicht daran, dass seine zweite Heimat noch immer das Theater ist, vielleicht reichen sperrige Filme wie Maren Ades Alle anderen und Episodenfiguren beim Tatort doch nicht für echten Ruhm. Damit kann Wagner allerdings gut leben, wie er im Interview zu seiner ersten Reihenhauptrolle als Ermittler im ZDF-Krimi Kommissarin Heller erzählt, die Samstag endlich in die zweite Runde geht.
Interview: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Wagner, im Dortmunder Tatort haben Sie zuletzt als pädophiler Familienvater die Gegenseite des Gesetzes gespielt, in Kommissarin Heller stehen sie auf der Guten. Macht das als Schauspieler einen Unterschied?
Hans-Jochen Wagner: Auf welcher Seite des Gesetzes eine Figur steht, ist gar nicht so von Belang. Was eine Figur ausmacht, sind ihre Konflikte. Und bei einem pädophilen Familienvater wie im Tatort liegen die auf der Hand, bei meinem Kommissar Verhoeven muss man die erst suchen. Das ist also im Grunde die spannendere Aufgabe – für mich ebenso wie für die Zuschauer. Handwerklich gibt es – solange ich als Ermittler nicht bloß danach fragen muss, wo der Verdächtige gestern Abend zwischen acht und halb neun war – kaum Unterschiede.
Bleiben Pädophile und Serienkommissare eigentlich noch immer am Darsteller kleben wie einst der Kindermörder Schrott an Fröbe oder Derrick an Tappert?
Nein, denn das hing stark mit einer Zeit zusammen, als Fernsehkommissare noch völlig anderes Gewicht hatten; schon weil sie mangels Alternativprogramm von viel mehr Menschen gesehen wurden. Damals war das Thema von Es geschah am hellichten Tag zudem neu, während Kinderschänder im heutigen Krimi fast schon inflationär gebraucht werden. Es nimmt der einzelnen Tat am Bildschirm ihre Singularität und damit den Schrecken, wenn in jedem zweiten Fernsehfall dadurch Suspense erzeugt wird, dass die Opfer Kinder sind.
Nun – wie in der ersten Folge von Kommissarin Heller ja auch…
Natürlich sind wir da keine Ausnahme, allerdings muss man hier hinzufügen, dass diese Situation schon in dem Roman von Sylvia Roth angelegt war, auf dessen Grundlage diese Folge geschrieben wurde.
Sie haben also nicht das Gefühl, das Format könnte an Ihnen haften bleiben?
Beim Tatort hätte ich die vielleicht, weil da eine ganz andere PR-Maschinerie dranhängt. Unser Format heißt zudem Kommissarin Heller, nicht Verhoeven. Was mir gut gefällt. Aber man sieht ja auch an unserer Besetzung, dass es eher um Geschichten als Gesichter geht. Der Tatort dagegen setzt mittlerweile sehr auf Köpfe.
Til Schweiger hätte es vor zehn Jahren dort nicht gegeben?
Never ever! Lisa und ich funktionieren voll übers Erzählen, nicht über unsere Namen. Ich kriege nun mal keine Homestory in der Bunte, das ist einfach so.
Aber warum ist das überhaupt so? Seit Sie haben Knut vor elf Jahren haben Sie doch regelmäßig Hauptrollen.
Schwer zu sagen. Auch wenn ich eine Weile lang relativ oft Familienväter gespielt habe, bin ich doch so ein wenig als Spezialwaffe ohne festgelegtes Rollenprofil bekannt. Ich würde mich als Schauspieler wandlungsfähig nennen und als Mensch nicht sonderlich exaltiert. Das sorgt für einen vergleichsweise geringeren Wiedererkennungswert, der für echte Stars unerlässlich ist. Mir geht’s um meine Arbeit, die glücklicherweise anerkannt wird.
Rote Teppiche sind eher nichts für Sie?
Doch, nur wissen halt viele Fotografen, wenn ich drauf stehe, nicht meinen Namen. Aber, das lässt sich ja ändern.
Außerdem ist das halt das Schicksal des Schauspielers, der oft an erster Stelle nach den Hauptdarstellern steht wie in Maren Ades Alle anderen.
Das stimmt wohl.
Suchen Sie diese Position auf der Besetzungsliste gezielt?
Ich lehne jetzt nicht aus lauter Bescheidenheit Titelhelden für tragende Nebenrollen ab. Aber als Typ kommt einer wie ich eben eher hintergründig rüber, und zwar selbst dann, wenn ich die Hauptrolle spiele. Andererseits sind Randfiguren zwar wichtig und oft besonders präzise zu spielen, aber der Einfluss, den man mit Hauptfiguren nimmt, ist ungleich größer. Und den möchte fast jeder Schauspieler ausüben, da geht es nicht um Eitelkeit. Besonders am Theater.
Wo Sie scheinbar mindestens genauso zuhause sind wie vor der Kamera.
Ach, das nimmt sich nichts. Beides zu verbinden, ist terminlich nur oft nicht einfach, da gerade Theater ein Höchstmaß an Planung erfordert. Aber es gibt ebenso tolle wie Scheiß-Filme, so wie es tolle wie Scheiß-Inszenierungen gibt. Das Schöne am Film ist allerdings, dass er nach dem Drehen weg ist und fertig. Wenn du ein Theaterstück nicht magst, musst du trotzdem am nächsten Tag wieder damit auf der Bühne stehen. Und dann gute Nacht! Andererseits ist die unmittelbare Resonanz aus dem Publikum unersetzlich, selbst im Kino gibt es Premieren mit Zuschauerdebatte; nach einem Fernsehfilm ruft vielleicht Oma an und sagt, wie’s war.
Tut sie das wirklich?
Nee, Oma lebt nicht mehr. Aber es kann schon mal Verwandtschaft anrufen.
Von der man wenig weiß. Ihr Wikipedia-Eintrag umfasst abseits der Rollen ganze vier Zeilen. Ist das bewusste Informationskontrolle oder Mangel an Berichtenswertem?
Weder noch. Vielleicht muss ich da mal selber nachbessern.
Zum Beispiel wo Sie geboren sind.
Ah, das liefer’ ich nach. Ich bin Schwabe. Wenn mich jemand fragt, rede ich auch über mein Elternhaus, kein Problem.
Nur zu! War das ein künstlerisches?
Nein, schwäbisches Bildungsbürgertum. Mein Vater lebt nicht mehr, war aber Lehrer wie meine Mutter, die jetzt allerdings Kunsttherapeutin ist. Dennoch hat mir nie jemand davon abgeraten, Schauspieler zu werden. Ich selber wollte bei der Ausbildung zunächst mal in die Regie und war auch in der Schule zuvor nie so der Klassenclown. Aber als ich mich für Schauspiel entschieden habe, hat mir niemand Steine in den Weg gelegt. Außer ich mir selbst vielleicht – denn zu Beginn hatte ich Probleme mit dem Angeglotztwerden, später dann damit, mich vor Gefallsucht zu bewahren. Es müssen nicht alle sagen, ich sei grandios gewesen.
Sind Sie etwa nicht Schauspieler geworden, um populär zu werden?
Natürlich steckt in jedem von uns das Bedürfnis, geliebt zu werden. Aber ganz gleich, ob man daran scheitert oder es schafft, kommt fast jedem irgendwann die Erkenntnis, dass dies weniger der Person gilt als der Figur. Berufliche Anerkennung ist mir durchaus wichtig, aber Liebe sollte man besser aus seinem Privatleben schöpfen.
Gibt es nach 20 Jahren als Schauspieler Momente, ein Star sein zu wollen?
Absolut, sonst würde ich lügen. Das hat aber nichts mit Eitelkeit zu tun, denn dadurch würden sich einfach meine Arbeitsmöglichkeiten enorm verbessern. Je höher der Status, desto höher der Einfluss. In einem Job, bei dem man von anderen nicht nur dirigiert, sondern sogar angezogen wird, ist das Gold wert.
Gab es bei Ihnen mal die abschätzige Sicht des Theatermimen aufs profane Fernsehen?
Die gab es schon, aber sie hatte nicht unbedingt mit dem Medium zu tun, sondern mit den Texten, an denen man sich abarbeitet. Am Theater sind das Sachen von Shakespeare bis Jellinek, also meist große Kunst nach dem Eisbergprinzip, wo sechs Siebtel der Geschichte unter der Oberfläche liegen. Beim Fernsehen dagegen steht schon öfter im Drehbuch: Klaus – in Klammern: wütend: ich hasse dich! Darauf Gaby – in Klammern: verzweifelt: verlass mich nicht! So was schafft einen ganz anderen Umgang mit Texten. Das sind eher Schockmomente als Vorbehalte.
Gibt es die trotzdem noch?
Ab und zu, aber das ist kein Dünkel, der Fernsehen als etwas Niederes abstempelt, sondern die Erkenntnis, dass dort die Zwänge größer sind und stärker in Zielgruppen gedacht wird. Mal ehrlich: das Theater hängt auch nicht mehr so am Puls der Zeit. Vorbehalte habe ich also keine.
Hatten Sie die denn mal gegenüber einer Serienfigur?
Nö. Die gab es höchstens für den Vorabend, wo einen die Arbeitsbedingungen wirklich auslutschen. Ich respektiere jeden, der das durchsteht, aber solange ich noch keine Familie zu versorgen habe, kann es mir einzig auf die Qualität ankommen.
Und wenn die bei Kommissarin Heller stimmt, kann man das auch zehn Jahre machen?
Absolut. Gegen Verbindlichkeiten hab ich nichts.
Kommissarin Heller – Der Beutegänger (Samstag, 20.15 Uhr, ZDF)