Garagenfriday: Diagrams, Menace Beach

Diagrams

Was war das für eine Platte, vor drei Jahren, als der Tunng-Kopf Sam Genders auf Solopfaden zu Black Light wandelte und eins der schönsten Alben 2012 hinlegte. Ein Meilenstein des tiefenspannten Indiepops, gesalbt von Genders samtener Stimme, beseelt von dissonanten Harmonien voller Brüche, getragen von einer wunderbaren Eleganz, die bis heute ihresgleichen sucht. Dieses Niveau, seien wir fair, war schlichtweg nicht zu halten. Der Nachfolger Chromatics ist demnach, seien wir ehrlich, ein bisschen bruchloser als sein Vorgänger, zuweilen fast gefällig. Schöne Momente hat er trotzdem.

Wenn durchs tiefenentspannte Gentle Morning Song eine überstürzte Snaredrum trabt. Wenn eine Welle chromatischer Orgeln durchs anschließende Desolation fährt. Wenn wavige Synths Dirty Broken Bliss durchzucken. Wenn also viele der elf Stücke die Schrägheit von Black Light hinüberretten in Chromatics. Dann freut man sich einfach, dass die Diagrams es wieder gemacht haben. Zum Üben quasi, um uns beim dritten Album wieder von den Sitzen zu hauen. Könnte klappen.

Diagrams – Chromatics (Full Time Hobby)

Menace Beach

So wie das erste Album von Menace Beach. Die fünf ostentativ miesepetrigen Röhrenhosenstrickjackenhalbschuhslacker aus Leeds haben ihre fantastische EP Lowtalker vom Vorjahr zu einer veritablen LP aufgeblasen, die mit das Bezauberndste ist, was im Bereich von Surfpunk und Garagenbeat dieser Tage erscheint. Gut, das sind nun auch Genres, die nur noch am Rande bespielt werden. Am Rande der Aufmerksamkeitsspanne effektversauter Durchschnittskonsumenten vor allem. Doch was die zwei singenden Songwriter Ryan Needham und Liza Violet samt Begleitung da aus trüben Hipstergestalten pusten, ist so was von erfrischend, dass sogar die Verantwortlichen irgendwann mal zu lächeln beginnen könnten. Nachts versteht sich. Oder im Keller. Vielleicht.

Auf Ratworld tanzen die Fuzz-Gitarren schließlich so aufgekratzt und heiter durchs psychedelisch angehauchte Sixties-Ambiente ihrer 12 Songs, dass das pseudowinterliche Schmuddeletwas draußen vor der Tür zur Strandparty gerät, die überhaupt nicht so bedrohlich ist, wie der Bandname suggeriert. Menace Beach machen einfach ungeheuren Spaß und tun mit klassischem Rockinstrumentarium plus Violets verschrobenen Keyboards auch nirgends so, als seien sie im Herzen eigentlich digital und nutzen die Analogie nur als reales Sample.

Menace Beach – Ratworld (Memphis Industries)

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Unter Gaunern: gut gemeint & schlecht geklaut

Heiter bis Heulen

Mit Unter Gaunern (ab Dienstag, 18.50 Uhr) bleibt der ARD-Vorabend weiter im Würgegriff billiger Scherze übers Verbrechen. Dabei hat die Geschichte der kriminellen Sippe Schulz durchaus Potenzial und ist auch bei weitem nicht so schlimm wie die üblichen Schmunzelkrimis auf diesem Sendeplatz, verliert sich aber in Kalauern.

Von Jan Freitag

Seit das Fernsehen Leitmedium ist, hat jede neue Zeit ihre ganz eigenen Serien. Sie handeln von den Straßen einer kriminellen Stadt und einfachen Farmern am Ackersaum der Weltwirtschaftskrise, von texanischen Ölbaronen der Ära Reagan oder Chemielehrern, die ein zerrüttetes Land mit Chrystal Meth versorgen. Heute zum Beispiel, im Würgegriff wechselnder Katastrophen, wandern bisexuelle Managerinnen wegen Geldwäsche in den Knast und Ostküstenmafiosi ins norwegische Exil, während Zombiehorden durch verwaiste Häuserschluchten staksen und machtgeile Politiker unter noch machtgeileren Kollegen um ein Maximum an Macht ringen. Es sind traurige, triste, oft deprimierende und dennoch manchmal federleichte Serien, die das Fernsehen aus aller Welt grad erzählt. Vor allem aber sind es vielschichtige, tiefgründige, hinreißende Serien, über die man mal lachen, mal weinen, aber immer staunen kann.

Außer vielleicht in Deutschland.

Dieser dicht bevölkerte Flecken Erde im Herzen Europas mag gesegnet sein mit dem reichsten öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt, geschaut von einem Publikum, das seinem linearen Programmangebot unverdrossen die Treue hält – wenn hierzulande Fiktion in Reihe entsteht, ist sie meist nur dann zum Weinen, wenn eigentlich gelacht werden soll und umgekehrt. Man kann das wunderbar an einem gewöhnlichen Dienstag im Frühjahr begutachten, wenn auf die bieder-bräsige Klerusserie Um Himmels Willen die bieder-bräsige Arztserie In aller Freundschaft folgt, was beides fortan im Anschluss einer neuen Krimiserie zu sehen ist, die mit bieder-bräsig noch milde umschrieben wäre.

Sie heißt Unter Gaunern und läuft fortan dort, wo deren Produzent Michael Polle die „Todeszone“ des Tages verortet: am Vorabend. Jenem Zeitraum also vor der „Tagesschau“, in dem das Erste einen Großteil seiner Werbeeinnahmen erzielt. Um dies endlich mal mit etwas mehr Niveau als bei den üblichen Schmunzelkrimis auf diesem Sendeplatz zu tun, wollte Polle wie gewohnt Heiterkeit liefern, dabei aber „was Schönes, Eigenes“ machen. Das wäre dann allerdings schon der beste Witz der acht Folgen. Denn Unter Gaunern, so viel vorweg, ist schlicht zum Heulen. Dabei ist die Geschichte im Grunde ganz apart. Anders als im mordlüsternen Gesamtangebot zwischen Heiter bis tödlich und dem 1000. Tatort stehen hier mal keine Ermittler im Mittelpunkt, sondern die Täter: Familie Schulz aus Bremen, vier Kleinkriminelle mit großem Berufsethos (keine Waffen, keine Drogen) und einem Problem: Tochter Betty schlägt aus der Art und wird Polizistin. Heimlich. Klänge nett, käme es denn aus, sagen wir: Dänemark.

In Deutschland indes ist alles, wirklich alles daran so bräsig und betulich, so halbherzig, fast feige, dass die nachfolgenden Nonnen vom Kloster Kaltenthal geradezu unterhaltsam sind – machen die doch wenigstens keinen Hehl daraus, Zielgruppenbespaßung fürs Stammpublikum über 66 zu machen. „Unter Gaunern“ hingegen soll nicht nur „erfrischend frech und herrlich unkorrekt“ sein, sondern auch noch junge Zuschauer in die Todeszone locken. Und zwar mit folgenden Methoden: Betty, bemüht, doch überdreht gespielt von Pastewkas Filmnichte Cristina do Rego, hat einen Raben als Haustier und spricht aus dem Off zu uns Opfern dieser Billigkopie von allem, was sich anspruchsvolle Produzenten gar nicht erst zu drehen trauen. Für Doofe erklärt sie also andauernd die Story vom weißen Schaf unter den schwarzen ihrer Sippe, in der sich Vater Bruno (Jophi Ries) als Schmuggler betätigt, Opa Frans (Peter Franke) Kunstwerke kopiert, Enkel Moritz mit Steroiden handelt und Mutter Jette den Verbrecherladen zusammenhält. Dazu gibt es putzige Bullen wie die kettenrauchende Kommissarin Wolff (Barbara-Magdalena Ahren), geklaute Witze à la Hasch auf Lieferpizza (Lammbock) oder Frettchen in der Hose (The Big Lebowski), hineingestopft von Russenmafiosi, die untereinander Deutsch mit russischem Akzent reden, während die Bremer breitestes Hamburger Idiom pflegen, weil das wohl irgendwie ruppiger klingt. Was es jedoch nicht gibt, ist die kleinste Prise Mut, das Dauerthema Kriminalität mal abseits handelsüblicher Kalauer einzusetzen. Als Vehikel zum Beispiel, der Gesellschaft aufrichtig in tiefere Schichten zu folgen.

Stattdessen wird das Verbrechen permanent banalisiert, um es vorabendtauglich zu machen, ohne gleich ganz darauf zu verzichten. „Die Bullen damals“, erinnert sich Opa Frans an seine kriminelle Frühphase, „Das waren noch andere Kaliber“. Die hätten noch scharf geschossen, „nicht so schwule Gummigeschosse wie heute“. Das ist zwar nicht halb so schlimm wie die sprechenden Namen von Fuchs bis Gans der Schmunzelkrimis an gleicher Stelle, aber doch weit schlimmer als öffentlich-rechtliches Fernsehen sein müsste, würde man sich und anderen mal was zumuten. Und sei es, ganz ohne Krimi.


Hugo Egon Balder: Der Ernst des Witzbolds

Also bin ich auch Jude

Man kennt Hugo Egon Balder eigentlich nur aus dem kommerziellen Ulkfernsehen von Tutti Frutti bis Genial daneben. Wie ernst er jedoch sein kann, zeigt der 64-Jährige als Moderator der ZDF-Dokumentation Mit dem Mut der Verzweiflung, wo er am 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung (27. Januar, 22.15 Uhr) auch übers Schicksal seiner jüdischen Familie im Holocaust berichtet.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Balder, die meisten Zuschauer haben Sie sicher noch nie so ernsthaft erlebt wie in Mit dem Mut der Verzweiflung, wo Sie auch von ihrer jüdischen Verwandtschaft während des Holocausts berichten. Ist das eine neue oder nur unbekannte Facette?

Hugo Egon Balder: Es ist eine unbekanntere, sofern man mich nur aus dem Fernsehen kennt. Wie die meisten Menschen habe auch ich allerdings ein privates und ein öffentliches Gesicht. Und so ernst ich im Alltag sein kann, ist es hier wohl wirklich fast das erste Mal, dass ich beruflich nichts Lustiges mache.

War dies der Grund, warum das ZDF ausgerechnet den Komödianten zum Erzähler einer Sendung zum 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gewählt hat?

Ich vermute schon. Die Fallhöhe, dass ein lustiger Vogel wie ich so bittere Dinge aus unserer Vergangenheit schildert, fanden die zuständigen Redakteure wohl interessant.

Und woher wussten die das? Mir war Ihre Biografie in diesem Punkt völlig unklar.

Vermutlich haben sie die einzige Sendung gesehen, bei der ich doch mal richtig ernst war: „Vorfahren gesucht“ im WDR, wo ich vor ein paar Jahren mit erfahrenen Rechercheuren auf die Suche nach meiner Verwandtschaft im Holocaust gegangen bin. Dabei habe auch ich vieles erfahren, was mir bis dahin nicht bewusst war. Vor allem über meine Mutter, die ja Theresienstadt überlebt hat.

Bei Ihnen zuhause war das kein Thema?

Nie! Ich wusste zwar schon als Kind, dass meine Oma, meine Mutter und mein Bruder im KZ saßen, aber darüber hat keiner offen gesprochen, im Gegenteil. Wenn mein Vater über den Krieg erzählt hat, klang das immer wie ein großes Abenteuer.

Die typische Realitätsblockade der Nachkriegsgesellschaft.

Ganz genau. Bis zur WDR-Dokumentation hatte ich zum Beispiel keine Ahnung, dass mein Vater, dessen Schilderung jener Jahre immer so lustig war, zwölfmal in Gestapo-Haft war und mein Bruder siebenmal. Oder unter welchen Umständen es meiner Mutter gelungen ist, die Lagerhaft zu überstehen. Ein Grund dafür war anscheinend, dass sie gelernte Kindergärtnerin ist, denn die wurden im Vorzeige-KZ Theresienstadt dringend benötigt, um für die Alliierten den Anschein der Humanität zu erwecken. Und das war nur die Spitze des Eisberges jener Dinge, die mir zuvor nicht klar waren.

Was machen die mit einem Spätgeborenen wie Ihnen?

Genau diese Frage hat sich auch das ZDF gestellt, dem es mit der Sendung eben nicht darum geht, zum 5000. Mal die Schicksale der Nazi-Zeit nachzuerzählen, so wichtig das ist. Wichtiger war in dem Fall darzustellen, wie diese Schicksale und ihre Erzählung das Leben nachgeborener Generationen geprägt haben. Und da fängt man wirklich nochmal ganz neu an, über sich nachzudenken, und erlangt im Idealfall sogar Erkenntnisse, warum man so geworden ist, wie man ist.

Welche sind das in Ihrem Fall?

Das ist insofern schwer zu beantworten, da ich ja nicht weiß, wie ich mit diesen Erkenntnissen geworden wäre. Tatsache ist jedoch, dass ich ein sehr pragmatischer, nüchterner Mensch bin, der viel mit sich selbst ausmacht und wenig nach außen trägt. Diese Eigenschaften, die mir von außen gern als Oberflächlichkeit, gar Arroganz ausgelegt werden, habe ich ohne Frage von meiner Mutter, die ihre Vergangenheit auch mit sich selbst ausgemacht hat. Sie hatte halt einen Strich unter ihre Vergangenheit gezogen. Hätte sie sich dagegen von Anfang an geöffnet, wäre ich womöglich ein anderer. Vielleicht hätte ich sogar einen anderen Beruf als Komiker.

Waren Ihre Eltern denn humorbegabt?

Absolut, ich hatte sogar eine richtig heitere Kindheit. Mein Vater etwa hatte, wie der WDR im jüdischen Archiv in Berlin herausgefunden hat, neben seinem eigentliche als Textilhändler noch rund 25 weitere Berufe bis hin zum Film- und Theaterkritiker. Deshalb kannte er zum Beispiel Leute wie Werner Fink.

Den regimekritischen Kabarettisten, der sich auch von den Nazis nie den Mund verbieten ließ?

Genau. Und er ging regelmäßig ins Kabarett der Komiker, das seinerzeit in Berlin von großer Wichtigkeit war. So was erklärt natürlich auch einiges über meinen späteren Werdegang, obwohl meine Persönlichkeit eher von meiner Mutter geprägt wurde.

Weshalb Sie unter anderem nie weinen.

In der Tat, ich mache das alles mit mir aus.

Haben Sie auch nie geweint, als Sie dem Schicksal ihrer Eltern näher gekommen sind?

Innerlich schon, aber nie äußerlich.

Ist es im Rückblick zum Heulen oder Aufbegehren, was Ihrer Familie widerfahren ist?

Zu beidem und doch unbeschreiblich. Ich bin nach Theresienstadt gefahren, um mir ein eigenes Bild davon zu machen. Das holt einen insofern auf den Boden zurück, als man merkt: bei allem Scheiß, der auch jetzt wieder in aller Welt passiert, geht‘s uns doch vergleichsweise gut. Auch das hat mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben. Ob nun Liebeskummer oder andere Schwierigkeiten – wann immer ich Probleme hatte, sagte sie zu mir: Du kannst dir gar nicht vorstellen, was der Mensch alles aushalten kann. Damals konnte ich das nicht wirklich verstehen. Heute ist mir klarer, was sie damit meinte.

Hat sie Ihnen auch auf den Weg gegeben, zu kämpfen, falls sich so etwas je wiederholt?

Nee. Sie hat mir mit auf den Weg gegeben, niemandem zu sagen, dass ich Jude bin.

Sind Sie das denn?

Kein praktizierender, aber meine Mutter ist Jüdin, also bin ich auch einer.

Wenn man jetzt diese beiden Balders nebeneinander stellt – den nachdenklichen und den lustigen: welcher kommt dem echten am nächsten?

Beide gleichermaßen, nur dass der lustige eben öffentlich ist. Ich versuche Überschneidungen weitgehend zu vermeiden.

Bastian Pastewka sagte mal zu seiner gleichnamigen Serie, in der Sie zumindest dem Namen nach sich selbst spielen, da stecke schon viel Hugo Egon drin. Stimmt das nicht?

Was meinte er denn genau?

Dass sie zum Beispiel ihr Essen ständig übersalzen.

Okay, das schon. Die ganze Serie ist jedoch eine große Karikatur, an der die einzelnen Merkmale im Kern existieren, aber heillos überspitzt sind. Ein Funken Wahrheit steckt also drin, aber ich bleibe eine Kunstfigur des ernsten Darstellers, der hier lustige Sachen spielt.

Was ist schwerer: ernste Sachen in heiterer Stimmung zu spielen oder heitere in ernster?

(überlegt lange) Trübsinnig gute Laune zu spielen ist schwerer. Zumal es viel leichter ist, Leute zum Weinen statt zum Lachen zu bringen.

Werden Sie die erste, neue Facette ihres Schaffens denn jetzt öfter mal ausprobieren?

Nee, ich spiele weiter nur Komödien. Auch weil man leicht merkt, ob‘s funktioniert. Bei einem guten Drama herrscht zunächst mal Stille, das alles Mögliche bedeuten kann; bei einem guten Witz beginnen die Leute zu lachen, man weiß also, ob er lustig war. Ansonsten hat man einen Fehler gemacht.

Der weh tun kann.

Richtig weh.


Fallschirmjäger & Naziopfer

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

19. – 25. Januar

Am Montag war es endlich so weit: Die biedersten Brandstifter unserer Tage haben was Konstruktives geleistet, gewissermaßen. Als Pegida die Absage der vorigen Montagsdemo aus Sicherheitsgründen verkünden wollte, wandten sich die diskussionsunfreudigen Alltagsrassisten dafür ausgerechnet an die verhasste Lügenpresse und sorgte somit nach dem Wort des Jahres 2014 gleich noch für einen Kandidaten der laufenden Saison: Lügenpressekonferenz. Mit diesem Sprachwitz geht es allerdings zurück zum Boden der Tatsachen, auf dem die Presse – ob mit oder ohne Lügen davor – nach der jüngsten Welle der Solidarität wieder landet.

Millionen aufrichtig bis scheinheilig Betroffene haben sich auch hierzulande die Notausgabe des Charlie Hebdo aufs Klo gelegt – nun darf die Branche schön weiter den Bach runtergehen, wenn sie durch chronische Nichtbeachtung der Umsonstgesellschaft in den Ruin getrieben wird. Die Verkaufszahlen deutscher Magazine jedenfalls zeichnen abermals ein düsteres Bild. Besonders jene, die willens und in der Lage sind, über Terror plus Folgen seriös zu berichten, verlieren massiv an Auflage, während Ballermannmedien gerade im Netz florieren.

Kein Wunder, dass das Dschungelcamp – so sehr selbst anspruchsvolle Kritiker heute ihre verkürzende Pauschalkritik am Madenfressen relativieren – einen Zuspruch erfährt, von dem bedeutsamere Formate auf bedeutsameren Sendern nur träumen können. Wobei dramaturgische Ohrfeigen wie das grenzdebile Sedativum In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte zeigt, dass auch die Öffentlich-Rechtlichen ohne störenden Ballast von Sinn, Verstand, Handwerk oder zumindest so was wie Leidenschaft Topquoten erzielen können.

Das drückt vernunftbegabten Zuschauern ähnlich aufs Gemüt wie dieser nasstrübe Winter, der allerdings eine Hoffnung nährt: Dass die zwei dauergiggelnden, äh, Moderatoren Matthias Opdenhövel und Dieter Thoma beim infantilen Abfeiern von allem, was im Skispringen irgendwie germanisch, also aus deutscher Sportreportersicht anbetungswürdig ist, bald vom Berg schmelzen. Gegen diese Art unreflektierten Teenagerpatriotismus gerät der stets bemühte Reporter Tom Bartels ja beinahe zur Displaced Person des Wintersports.

0-FrischwocheDie Frischwoche

25. Januar – 1. Februar

Zum Glück steht diese Woche für ein paar besinnliche Momente im Zeichen eines ernsthaften Themas: Der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, die sich am Dienstag zum 70. Mal jährt. Gut, die Privatsender interessieren sich wie üblich einen feuchten Kehricht für derlei Realismus, weshalb selbst ihre, hüstel, Nachrichtenkanäle N24 und n-tv sogar am 27. Januar lieber Fallschirmjäger oder Relikt-Jäger porträtieren als irgendwie ans Menschheitsverbrechen zu erinnern. Aber wenigstens die gebührenfinanzierte Konkurrenz gibt sich einige Mühe, dem Datum gerecht zu werden.

Einigermaßen.

Denn während die umfassende Berichterstattung bei Phoenix, Arte oder im WDR stattfindet, der am 27. Januar ab 23.15 Uhr seine Lange Nacht der Erinnerung begeht, lässt die ARD tags zuvor erstmal Bärenbabys schmusen, bevor um 22.45 Uhr endlich Ich fahre nach Auschwitz beginnt, eine aufwühlende Reise unbedarfter Schüler und Hamburger Polizei-Azubis ins Herz der Finsternis. Und das ZDF? Zeigt Dienstag – nach dem putzigen Produkttest „Wie gut ist unser Bier?“, versteht sich – um 22.15 Uhr die sehenswerte Doku Mit dem Mut der Verzweiflung, durch die allen Ernstes der Spaßvogel Hugo Egon Balder führt der zudem übers Schicksal seiner jüdischen Familie spricht. Ansonsten delegiert das Zweite sein Gedenken aber doch lieber zu 3sat, dass den Gedenktag bereits heute Abend mit der verstörenden Doku Der Spion vom Pariser Platz über die Ursprünge der Vergasungsmaschinerie einläutet. Oder gleich ins Netz.

Apropos: 3sat bebildert am Dienstag nicht nur die Probleme von gestern, sondern ab 20.15 Uhr auch die von morgen, wenn Leere Meere, volle Teller das Abfischen globaler Gewässer darstellt. So was könnte ab Donnerstag theoretisch auch die Kabarett-WG zur Sprache bringen. Um 22.45 Uhr blasen Sebastian Pufpaff, Maike Kühl und Hannes Ringlstetter hoffentlich frischen Wind ins verwaiste Fach politischer Unterhaltung nach Scheibenwischer. Ein Wind, den sich das Erste auch von der Vorabendserie Unter Gaunern erhofft, die dienstags um 18.50 Uhr eine Familie Kleinkrimineller zu Helden macht, was allerdings eher peinlich als lustig ist. Und am Donnerstag dann versucht der Tatort-Sender was Sensationelles: er schickt eine Ermittlerin aus der Großstadt zur Kripo Bozen, damit endlich auch zur besten Sendezeit mal irgendwas mit Mord läuft.

Oje.

Dann doch lieber Tipps der Woche schauen. In schwarzweiß diesmal Hafen im Nebel von 1938 mit dem blutjungen Jean Gabin als Deserteur auf der Flucht vorm Militär (Sonntag, 20.15 Uhr, Arte). Und Dienstag um 22.45 Uhr in Farbe auf SuperRTL: Der Vorname, eine französische Bühnenstückadaption über zwei Paare, die sich so klug über den Kindsnamen Adolphe streiten, dass Der Gott des Gemetzels zur Kuschelrunde gerät.


Reportage: Buchhandlung Männerschwarm

imagesAusgeschwärmt

Mit dem schwulen Buchladen Männerschwarm schließt an diesem Wochenende eine Institution, die St. Georgs Ruf als homosexuelles Zentrum Hamburgs mit geprägt hat. Das sagt auch viel über sein Umfeld.

Von Jan Freitag

Die Welt der geflügelten Worte ist ständig im Fluss. Dass Gegensätze sich anziehen zum Beispiel, zählt zu den älteren, hat aber weiter seine Berechtigung. Dass etwas auch gut so sei hingegen ist jünger, und ob es seine Berechtigung hat, kommt ein bisschen drauf an. Auf Gegensätze zum Beispiel. Bernard Wissing kennt da welche. Aus jahrzehntelanger Praxis weiß der Wirt um die Anziehungskraft des Anderen und findet es „wundervoll“. Schließlich lockt die homosexuelle Aura seines Schwulencafés längst auch heterosexuelle Gäste ins Gnosa und macht damit St. Georg insgesamt zum Ort der Begegnung einst unvereinbarer Lebensentwürfe. Als er begonnen hat, erzählt der elegante Mittfünfziger mit Blick über die Lange Reihe, „war es hier viel schwuler“. Gut 25 Jahre später aber „hat sich alles durchmischt“. Und das, genau, sei auch gut so.

Hans-Jürgen Köster sieht das naturgemäß ein wenig kritischer. Schräg gegenüber, wo die Hauptstraße des Quartiers von Gründerzeitpracht in Nachkriegsnüchternheit übergeht, leitet er den Männerschwarm. Noch. Nach 33 Jahren Grundversorgung der Schwulenszene mit Literatur, Emanzipation und audiovisuellem Beiwerk „von Porno bis Poster“, macht seine Buchhandlung  an diesem Wochenende dicht. Vorher jedoch, so ist das eben, kommen die Leichenfledderer. Hans-Jürgen Köster lächelt mild, als er seine letzten Kunden, die zwischen Torschlusspanik und Schnäppchenjagd das Sortiment ausweiden, so nennt. Der ergraute Buchhändler mit dem schütteren Haar meint es ja gar nicht böse, im Gegenteil. Er freut sich über jeden Käufer, da bald Schluss ist, im Männerschwarm.

Männerschwarm – Szenekundige wissen es, alle andere ahnen es – ist ein schwuler Buchladen in St. Georg, das ja irgendwie auch schwul ist. Wer ihn am Westrand der Langen Reihe betritt weiß demnach schnell, wo er sich befindet. Unterm bordeauxroten Licht eleganter Lampen mag ein Hirschhausen-Ratgeber liegen und die neue Heyerdahl-Biografie; ansonsten beschränkt sich das Repertoire auf dem Präsentiertisch von Mangas mit grotesk erigierten Penissen über gebundene Coming-Out-Geschichten bis hin zu Fachliteratur. Bondage, Gender, solchen Sachen. Es gibt hier alles, was das homosexuelle Herz begehrt. Besser: gab. Denn das Angebot ist ausgedünnt, seit Geschäftsführer Köster die Schließlung bekanntgab. Nach 33 Jahren Szeneversorgung mit Literatur, Emanzipation und audiovisuellem Beiwerk von Porno bis Poster, wird Köster Samstag die Tür, vor der er kiloweise Tabak geraucht hat, für immer schließen. Und das, glaubt der 56-Jährige nach einem halben Leben hinterm Tresen, habe mit Durchmischung zu tun. Jenes Phänomen einer absorbierten Zielgruppe, die den Männerschwarm schon einmal zum Ortswechsel getrieben hatte, beim Umzug aus St. Pauli.

Seit 2002 versorgt der Laden mit eigenem Verlag seine Kundschaft also im anderen Heiligenviertel. Mit Erfolg. „Wir haben gut davon gelebt, dass unsere Klientel bewusst herkommt“. Doch seit sich der Mainstream Andersliebenden öffnet und umgekehrt, gehe dieses Bewusstsein im Klima wachsender Selbstverständlichkeit schwulen Lebens verloren. Als der Männerschwarm 1981 im armen Schanzenviertel entstanden war, „musste sich meine Generation Identität und Freiräume ja noch erkämpfen“. Wie Köster selbst. Aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz, war er sich seiner Neigung längst sicher, als das Coming-Out kam. Im Studium, Theologie, ausgerechnet. „Mit 18 wollte ich echt Pfarrer werden“, erzählt er vor Regenbogen-Nippes und Pin-up-Kalendern von den Siebzigern in Göttingen. Doch die konservative Landeskirche mochte seinesgleichen nicht und ließ es ihn spüren. Also brach Köster ab, suchte Halt in Hamburg und fand ihn 1986 im Männerschwarm.

Abseits alle Heteronormalität gab es darin nicht nur Lesestoff, sondern Lebenshilfe, Trost, Freunde auf feindlichem Terrain. Dass diese Scharnierfunktion zwischen Aktionismus und Hedonismus verloren sei, mag an Amazon und Internet liegen, am aussterbenden Stammpublikum und ein wenig auch an Köster selbst, ein „altmodischer Buchhändler“, sagt er selber, dem zielgruppenübergreifendes Angebot à la S/M schwer gefallen sei. Als die Gentrifizierung ringsum dann Fahrt aufnahm, war es um Hamburgs erste Buchhandlung seiner Art geschehen. Und das sagt mehr über St. Georg als den Männerschwarm.

Erst 1973 war der Plan gescheitert, das Vorstadtghetto, benannt nach dem Patron der Lepra-Kranken, für ein Luxuswohnprojekt zu schleifen. So überlebte ein verwahrlostes, aber schönes Altbauquartier, das zwischen Kleingewerbe und Drogenszene auch Refugium homosexueller Subkultur war. Doch je zügiger sie aus St. Pauli Richtung Hauptbahnhof zog, desto mehr dunkle Bars wurden durch regenbogenbunte Clubs ersetzt und leisteten der Wertsteigerung Vorschub. Eine Aufwärtsspirale. „Machen wir uns nix vor“, sagt Köster. „Schwule sind oft einkommensstark und anspruchsvoll.“ Gepaart mit der Gewissheit, in St. Georg nicht toleriert, sondern akzeptiert zu sein, verstärkt das einen Trend, der im 21. Jahrhundert die Hälfte der Bevölkerung verdrängt hat und ebenso viel Mietraum verwandelt.

Dieses Klima verändert auch jene queere Szene, die es befördert. An einem Ort, der den Gegensatz quasi zur Kunstform adelt. Unterm Mariendom des katholischen Erzbistums wird sie zusehends durch hippe Locations wie dem „schwulen Laufsteg“ Kyti Voo oder dessen „Wohnzimmer“ namens M+V Bar geprägt, statt durch schwulen Alltag oder Stricherspelunken, durch Bernard Wissings Café Gnosa, das dem „Gay Village“ 1987 seine Flaniermeile verschafft hatte, oder eine sendungsbewusste Buchhandlung für konsumbewusste Käufer.

Wie Leichenfledderer sehen die daher gar nicht aus, in den Tagen des Abschieds. Eher wie kondolierende Andenkenkäufer. „Und wie geht’s für dich weiter?“, fragt ein piekfeiner Pensionär beim Zahlen erotischer Bildbände leise, während ein Beardo in die „Schmuddelecke“ abbiegt. „Erstmal feiern wir mit etwas Weinen und viel Sekt“, sagt Köster und spricht von Ausweitung seiner Arbeitszeit in der Verbraucherzentrale, für die er bereits halbtags arbeitet, seit der Laden für ihn und seinen Mitarbeiter zu wenig abwirft. Kein Wunder, dass der Inhaber ähnlich zerfleddert wirkt wie seine Regale. Schwer zu sagen, ob ihm der Gram übers Ende das schlichte Karohemd halb aus der Hose gezogen hat, aber mit dem Buchladen bricht fraglos ein Stück raus: aus ihm, den Kunden, aus einem „Gay Village“, in dem Homosexualität gottlob gewöhnlich ist. Nur zu gewöhnlich für den Männerschwarm.

Der Text ist vorab in kürzerer Fassung der ZEIT:Hamburg erschienen


Comebackfriday: Sleater Kinney

Modern Grrrls

Wer in die Mottenkiste des Pop greift, findet schnell Begriffe, die schon beim bloßen Berühren aus jedem Buchstaben stauben. Weltmusik oder Liedermacher zum Beispiel. Grunge und natürlich Riot Grrrls, so kurz deren Zeit auch her sein mag. Vor kaum einem Vierteljahrhundert hatten die knurrenden Mädchen mit den krachenden Gitarren an der Seite melodramatischer Jungs mit Karohemden ihr Coming Out als Projektionsflächen politischer Aspekte des Rock. Dessen Bühnen waren noch männlich dominiert und Frauen nur laszives Beiwerk, während maskulin konnotierte Konfliktlösungsmodelle ihren Ausdruck in kernigem Camouflagelook fanden und weibliche Beine in absurden Leggings mit Blumenmuster… Moment – das war ja gar nicht die Mottenkiste.

Das ist die Gegenwart!

Sie erinnert wie so manche Gegenwart verteufelt an vorhergehende Gegenwarten mit allem was dazu gehört – auch wenn es andere Namen trägt, kosmopolitischere zumeist. Ethnopop oder Neofolk zum Beispiel, Alternative und, tja, Riot Grrrls? Wer in die Mottenkiste des Pop greift, findet dafür zwar keinen frischeren Begriff, aber eine alte Band, die dem angestaubten Vokabular neue Bedeutung verleiht. Sie heißt Sleater Kinney, ihr aktuelles Album No Cities To Love, gemeinsam bitten beide zu einer Retrospektive ins Jahr 1994, das scheinbar niemals endet. Damals schleuderte die dritte Welle des Feminismus den selbstgerechten Herren der Schöpfung vor ihren übermannshohen Verstärkertürmen eine spezifisch weibliche Version des Lärms entgegen und tat das nicht mit den Mitteln der Männer, sondern gewissermaßen feminin. Die Bühne wurde zum barrierefreien Ort, das Publikum zu gleichberechtigen Teilnehmern, statt folgsamen Konsumenten, gern mit -innen versehen, dank partiellem Ausschluss männlicher Gäste allerdings ohne gender gap dazwischen.

Babes in Toyland, Bikini Kill, L7 heizten den Hallen mit konzertantem Aberwitz ein, dessen Regelbrüche von geschlechterspezifischer Decodierung über disharmonischen Dekonstruktivismus bis hin zu pornografischer Überzeichnung reichten. Und ab Mitte der Neunziger mittendrin, vorneweg, stilbildend: Sleater Kinney aus Olympia im äußersten Nordwesteck der USA. Sie perfektionierten den bewusst dilettantischen Rotz vieler Mitstreiterinnen zu einer Art Exzellenz, ohne das instrumentelle Masturbieren männlicher Vorbilder zu kopieren. Corin Tucker, Carrie Brownstein und Janet Weiss waren damals wie heute ja nicht nur rebellische Mädchen mit gewetzten Zähnen über zerrissenen Negligees, sondern ausgezeichnete Musikerinnen und noch wichtiger: der Bereitschaft, das auch allen zu zeigen. Nun also zeigen sie es wieder. Mit Tuckers facettenreichem Operntremolo, Brownsteins verzwicktem Gitarrengewitter, vor allem aber mit Weiss‘ diffizil-präzisem Schlagzeug, das manch Kenner zum pointiertesten im gesamten Hardcorefach erklärt.

Als sei zwischen dem vorigen und dem achten Album kein volles Jahrzehnt verstrichen, legen Sleater Kinney mit ihrer verschachtelten Mixtur wiederstreitender und doch melodischer Bausteine ihres symphonischen Rocks los, als stünden da nicht Mittvierzigerinnen, sondern Zeitreisende im Studio. Das kapitalismuskritische Price Tag zu Beginn, in dem jede Silbe, jedes Riff, jeder Trommelschlag wie linke Geraden aufs Konsumverhalten eindrischt. Das anschließende Fangless mit seiner Ambivalenz aus Schwachstellenbeschreibung und Kampfansage, das den Bass wie gewohnt durch synthetisierte Wave-Gitarren kompensiert. Mehr aber noch A New Wave in der Mitte, dessen geschmeidiger Doppelgesang immer wieder durch kakophonisches Geschredder kontrastiert wird und inhaltlich die Frage offen lässt, ob es hier um Liebe oder das Große Ganze geht, was eine einzige winzige Zeile zum Ausdruck bringt wie ein Glaubensbekenntnis: Die to prove we ever lived this / Invent our own kind of obscurity. So lautet ihre Kernkompetenz, seit Sleater Kinney aus dem Dunkel ans Licht kamen: Auch 2015 bleibt das Trio lieber vage als konkret. Wie 1994 mögen die Texte von Fight’s over, but I’ll fight on-Parolen und Power geprägt sein; ihre Metaebene bleibt so diffus, dass unzweideutiges Kampfvokabular wie Sexismus an keiner Stelle durchdekliniert werden muss, um die Grrrls-Haltung gegenwartstauglich zu machen. Präsenz überwiegt Botschaft – heute vielleicht mehr noch als damals.

In einer Zeit, wo ungeachtet aller Emanzipation neun von zehn wahrnehmbaren Rockbands allenfalls am Bass Frauen (er)dulden, deren bevorzugte Körperhaltung beim sexualisierten R’n’B’n’HipHop nebenan an Paarungsbereitschaft oder Freiluftkacken erinnert, sind selbstbestimmte Frauen mehr denn je vonnöten. Seismographen wie Tucker, Brownstein und Weiss, die wieder zehn brachiale Stücke zwischen die geöffneten Schenkel ihrer Branche treten und dabei, so legitim dies auch ist, nicht wie Butches alle Geschlechterdifferenzen negieren, gar umdrehen, sondern dem Slogan der Revolution Girl Style Now! eine eigene Zeichensprache abseits von Abschottung und Anpassung entgegensetzen. No Cities To Love mag dem Werk von Sleater Kinney dramaturgisch keine neue Note hinzufügen, aber eine der Beharrlichkeit. Vorgetragen in einer Virtuosität, die manchmal niederknien lässt – aber nur, um zum nächsten Sprung anzusetzen. I want an anthem / A regular anthem / An answer and a force, singt Tucker, To feel rhythm in silence / A weapon not violence / A power, power source. Das wollen wir auch.

Sleater Kinney – No Cities To Love (Sub Pop); mehr Bilder, Sound & Kommentare unter http://www.zeit.de/kultur/musik/2015-01/sleater-kinney-no-cities-to-love


Heinz Werner Hübner: Holocaust & Fernsehen

Das war ein Psychoschock

Heinz Werner Hübner dürfte selbst eingefleischten Antifas unbekannt sein. Dabei hat er wohl mehr für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus getan, als sämtliche Politiker seiner Epoche: 1979 brachte der frühere WDR-Programmdirektor – gegen den erbitterten Widerstand seines bayerischen Kollegen Helmut Oeller – die US-Serie Holocaust ins deutsche Fernsehen und löste eine heilsame Debatte übers deutsche Menschheitsverbrechen aus. Zum 70. Jahrestag der Auschwitzbefreiung, an die ARD und ZDF mit umfangreichen Schwerpunkten erinnert, dokumentieren freitagsmedien ein Interview mit dem verstorbenen Importeur eines bis dato unbekannten Begriffs.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Hübner, Hand aufs Herz – kannten Sie im Sommer 1978  bereits das Wort „Holocaust“?

Heinz Werner Hübner: Nein, der Begriff ist in Deutschland erst durch die Serie aufgetaucht. Vorher war er nur einer Minderheit bekannt, zu der ich damals offenbar noch nicht gehörte.

Nach der Ausstrahlung von Marvin J. Chomskys epochaler Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss im darauffolgenden Januar kannte ihn dann das ganze Land und hat darüber ausgiebig diskutiert. War Ihnen im Vorfeld bewusst, welche Macht das Fernsehen hat?

Dass es Einfluss auf die Meinungsbildung hatte, war klar. Aber nicht im Zusammenhang mit dem Holocaust.

Bundeskanzler Helmut Schmidt hat seinerzeit sogar eine Finanzdebatte im Bundestag unterbrochen.

Also damit war überhaupt nicht zu rechnen. Die Vorgeschichte ist ja so, dass die Serie schon in etlichen europäischen Ländern gelaufen ist. Es gab eine Diskussion, ob sie hier gesendet werden soll. Ich sagte, wenn wir es kaufen, haben wir eine große Diskussion, und wenn nicht, auch. Ein Rückzug war gar nicht mehr drin.

War das auch eine erzieherische Maßnahme?

Überhaupt nicht. Die Sender hatten Dutzende von Büchern und Schicksalen verfilmt. Dass das Thema zwischen 1950 und 1979 keine Rolle in den Medien gespielt hat, ist einfach falsch. Es gibt eine Parallele: als hätte es vor Günter Grass und der Gustloff keine Vertriebenendebatte gegeben. Das ist eine Wellenbewegung: Alle 25 Jahre entdecken die Menschen ein Thema und tun so, als sei es vorher nie erörtert worden.

Dennoch: Holocaust bewegte die Menschen mehr als alles zu diesem Thema zuvor. Wieso ausgerechnet dieser amerikanische Typ Spielfilm?

Das war vielleicht doch ein Psychoschock. Er hat angerührt und vor allem den Jüngeren klar gemacht, was wirklich passiert ist. Die ältere Generation, das ist kein Geheimnis, hat mit ihren Kindern nicht darüber gesprochen.

Erinnern Sie sich noch an die Debatte der Rundfunkanstalten?

Natürlich. Auf einer Tagung in Bremen ging es für die Programmdirektoren der neun Sender um den Sendeplatz, und Fernsehspielzeit war Mittwochabend. Dafür hatte ich eine Mehrheit von 5:4.

Dagegen war vor allem BR-Programmchef Helmut Oeller,

Genau. Und ich wollte niemanden vergewaltigen. Da kam mir der Einfall: wir senden es in den Dritten, aber innerhalb einer Woche. Mit Ausnahme Oellers waren alle dafür. Es gab danach eine Menge Kritik, die heftigste von der Welt, die am Tag vor der Ausstrahlung forderte, dass ich dieses Machwerk aus meiner Tasche bezahlen müsste. Oder so absurde, in England habe jemand einen Herzinfarkt bekommen, man könne das also den Menschen nicht zumuten.

War der Sendeplatz der kleinste gemeinsame Nenner, damit der BR nicht, wie von Oeller angedroht, aus dem Sendeverbund aussteigt?

Na ja, das hatte er schon oft getan. Also acht zu eins – da hätte der BR schon aussteigen können.

Wovor hatte er solche Angst?

Konservatives Unbehagen, möchte ich es mal nennen. Weil sie nicht genau wussten, wie es ankommt. Deutschland wurde total verunglimpft, einer dieser Anti-Nazi-Filme, wo Deutsche immer Unholde mit Hakenkreuz sind.

Dabei wurde den Zuschauern eine erschütternde, aber historisch holprige Familiensaga geboten, mit Hollywood-Pathos, relativ netten Nazis und wohlgenährten KZ-Häftlingen.

Ein filmisches Meisterwerk ist Holocaust sicher nicht.

Aber das Maximum des Zumutbaren.

Das halte ich für überspitzt. Die Mehrheit des Publikums wollte wie heute einfach nur unterhalten werden.

Ephraim Kishon hat damals gesagt, wer an der Serie Holocaust Kritik übe, sei verdächtig, weil er „den Antisemitismus wachruft“.

Auch das halte ich für überspitzt.

Also waren nicht alle Kritiker verkappte Antisemiten?

Das muss man die einzelnen Kritiker fragen. Der Erfolg jedenfalls war die Resonanz, zumal die dritten Programme nur minimal wahr genommen wurden. Hinterher gab es ja die Diskussionssendung mit einem Zuschaueranteil von bis zu 30 Prozent.

In den Anrufen und in Zuschriften fielen Begriffe wie Rotfunk, Volksmord oder Brunnenvergiftung.

Es gab zwar Beschimpfungen und Morddrohungen, aber das war der Bodensatz von fünf bis vielleicht sieben Prozent. Die Mehrzahl sagte, sie hätte zum ersten Mal begriffen, was damals überhaupt geschehen ist. Viel kam auch von Betroffenen, von Nachkommen, auch früherer SS-Angehöriger. Der kleine Rest waren Altnazis.

Bald nach der Serie gründete das ZDF seine Redaktion für Zeitgeschichte unter Guido Knopp. Was halten Sie von seiner Form des Historytainments maximaler Emotionalisierung des Themas und Delegierung der deutschen Schuld auf Führungscliquen, die in spätestens Ende der Neunzigerjahre State of the Art des deutschen Fernsehens wurde?

Über Knopp will ich mich nicht auslassen. Diese Geschichtsklitterung mit der Masche, einzelne Schnipsel aneinander zu reihen, finde ich nicht gut und guck ich mir das nicht an.

Das Prinzip Knopp arbeitet eher ausgleichend auf und versieht deutsche Verbrechen gern mit Verweisen auf die der Gegner. Wären die Wogen 1979 so glatter geblieben?

Das glaube ich nicht. Und wir haben ja auch deutsche Geschichten gezeigt. Aber als der WDR plante, Dokumentationen über deutsche Städte im Bombenkrieg zu machen, haben wir das aufgegeben. Wissen Sie: die haben ja alle dasselbe erlebt und sagen alle dasselbe. Aus unserer Sicht brachte das nichts.

Gäbe es heute noch ein Format, mit der man Aufsehen erregen könnte wie 1979 mit Holocaust?

Kaum. Sie würden nie diese Zuschauerzahlen erreichen. Fernsehen war damals ein Erlebnis. Heute erreichen Sie mit Dokumentationen nicht mehr viele. Das ist das Wesen der Spaßgesellschaft. Sie fesseln damit nicht mehr die Nation.

Schauen Sie etwas wehmütig auf die Spielräume von damals?

Nein. Dafür sind die Möglichkeiten von heute, Fernsehen zu machen, so viel größer. Die Welt entwickelt sich, also was soll’s.


Unwörter & Wutbürger

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

12. – 18. Januar

Die bildgewaltig substanzarme Post-Demokratie, in der wir aus Sicht recht kluger Köpfe leben, ersetzt konkrete Politik bekanntlich zusehends durch Symbole im Sinne einer PR, die von den Medien fleißig verbreitet werden. Und kaum eins hat dieses Gefälle zwischen Oberfläche und Hintergrund zuletzt besser verdeutlicht als das bildgewaltig substanzarme „Je suis Charlie“, was vieles aussagt und doch herzlich wenig. Aber da war ja noch mehr Symbolik, die es eher an als in sich hatte und „Reflexion durch Reflexe“ ersetzte, wie das „Deutschlandradio“ so schön formulierte: Merkels geschlossene Augen an Hollandes Schulter. Ihre Kollegen aus aller Welt an der Spitze einer Demo, die sie zur Sicherheit flugs verließen. Dazu drei, fünf, ach viele Millionen Exemplare der Jetzt-erst-recht-Ausgabe von „Charlie Hebdo“, übersetzt in 18 Sprachen, verkauft in 100 Ländern.

Weit weniger Symbolkraft haben leider jene paar Hundert Nigerianer, die ähnlich verrohte Terroristen zugleich auf einem abseitigen Kontinent abgeschlachtet haben. Deshalb weißt auch Millionen Protestmarschierer, Solidaritätsadressen und ARD-Brennpunkte später niemand so recht, worüber sich die halbe Welt beim kollektiven Kauf eines Witzblattes eigentlich im Besonderen empört: Islamisten? Ihre Gegner? Deren Gegner? Etwa Pegida? Die sich besonders laut über Islamisten und ihre Gegner empören, also die Lügenpresse, die aber ja gewissermaßen selber gerade angegriffen wurde und somit ihrerseits Ursache und Wirkung des Protests in einem ist?

Es ist eben doch ein wenig komplizierter als es das frisch gekürte „Unwort des Jahres“, für die rassistische Gegenwart aus nationalsozialistischem Kampfvokabular entlehnt, auf den Punkt bringen könnte. Gar so kompliziert, dass es selbst den neuen Spiegel-Chefs schwer fallen dürfte, den Überblick zu behalten, Klaus Brinkbäumer auf Papier ebenso wie Florian Harms im Netz. Jedenfalls ungleich komplizierter als die krude Weltsicht eines IS-Kämpfers namens – kein Scherz – Christian Emde, der RTL-Reporter Klaus Todenhöfer am Donnerstag erklärte, wie sein IS die Weltherrschaft erringen will. Das Unangenehme daran war – angesichts einer Bande vermummter Halsabschneider im Hintergrund – gar nicht, dass sich Todenhöfer kritischer Nachfragen enthielt. Sondern dass RTL den Terrorporno als Journalismus verkaufte. Und nachgefragt hat dann ja auch Günther Jauch nicht vor lauter Glück, dass ihm mit Kathrin Oertel eine leibhaftige Pegida-Führerin aufs Kuschelsofa gekrochen kam, um dort mit dem strengen Blick sozialer Kälte zu belegen, wie wenig Substanz im Alltagsrassismus der neurechten Bewegung steckt. Vielleicht sollte man die Sache mit der „Lügenpresse“ doch nochmals überdenken…

0-FrischwocheDie Frischwoche

19. – 25. Januar

… doch Spaß beiseite. Was wir Lügenreporter drucken, senden, posten, ist schließlich oft jene unliebsame Wahrheitsannäherung, die das Lügenpack von Pegida gar nicht erst hören will. Von ihm dürfte daher Montag kaum jemand einschalten, wenn die Doku „Flüchtlinge – Aufnehmen oder Abschieben?“ um 23.30 Uhr im Ersten erhellt, wie es ums Reizthema Asyl wirklich steht. Durchaus einschalten, aber vorab verfluchen, wird es zwei Tage später (22.45 Uhr) vielleicht, wenn der gleiche Kanal Putins Volk zu Wort kommen lässt, also die Untertanen jenes Alphatiers, den Pegida für einen super Führer hält. Nicht mehr wissen will man dann aber, was sie mit der AfD vereint, die bei Machtkampf der Wutbürger im Anschluss klug seziert wird.

Weit besser als mit derlei Lügenberichten versorgt die ARD ab Donnerstag daher wütende Dresdner mit dem Spin-of der Sachsenklinik, wo Roy Peter Link als Chefarzt In aller Freundschaft nach Erfurt geht, wo Die jungen Ärzte wie er zwar ohne Mord, gar Witze auskommen, auf dem Schmunzelkrimiplatz um 18.50 Uhr aber unfreiwillig komisch geraten. Unfreiwillig unkomisch gerät es hingegen Freitag, wenn in den Dritten die ersten Narren des nahenden Karnevals los sind. Und freiwillig unkomisch geht es zu, wenn Heino Ferch am Montag wieder auf die Spuren des Bösen geht.

Sein Psychologe Brock ist auch im 4. Fall um den Mord an einem Galeristen tief involviert, wahrt aber er wie immer eine sehenswert anziehende Distanz, die hierzulande noch immer was Besonderes ist. So wie – alle Sonntage wieder – der Tatort, diesmal ums Grusel-Thema Chrystal Meth in Kiel, das Regisseur Christian Schwochow entsprechend in tristen Grautonen bebildert. Grundsätzlich heiterer Farben bedient sich dagegen der KiKa, wo ab Dienstag um 18 Uhr die deutsche Animationsserie Ritter Rost läuft, was Kinder unter zehn schier zum Ausrasten bringt.

Für Ex-Kinder über 50 dagegen ist der farbige Tipp der Woche aus einer Zeit, als Krimi nicht unbedingt besser, aber weniger abgenudelt war: Inspektor Colombo in einem Spielfilm von 1975 namens Wenn der Schein trügt über einen tödlichen Zauberer (Freitag, 18.05 Uhr, ZDFneo). In prachtvollem Schwarzweiß ist demgegenüber Adel verpflichtet von 1949 (Samstag, 13.40 Uhr, WDR), mit Alec Guiness in Achtfachrolle einer Erbengemeinschaft, die peu à peu vom ärmsten Verwandten ausgelöscht wird.


John de Mol: Milliardär & Medienberserker

Der Maulwurf

Er tut es wieder, er kann nicht anders: Menschen in ein Haus stopfen, Kameras an und sehen, was passiert. Mit Newtopia lässt John de Mol Ende Februar die nächste Ladung Reality-TV aufs Publikum los, über die heftig gestritten wird. Diesmal sollen Freiwillige unter Dauerbeobachtung eine Lebensgemeinschaft im brandenburgischen Nirgendwo errichten. Aus dem Anlass dokumentieren freitagsmedien ZEIT-Porträt des globalen Produzenten aus Holland, der Wer wird Millionär? über uns gebracht hat und Big Brother.

Von Jan Freitag

Wer weiß, wie oft John de Mol diese Geschichte erzählt hat. Eine Anekdote, die mehr über Europas erfolgreichsten Fernsehmacher aussagt als jedes Dossier, jedes seiner unzähligen TV-Formate. Ende der Achtziger, die Privatsender waren noch jung, habe er an einer roten Ampel gewartet, daheim im holländischen Hilversum, das Autoverdeck offen. Es muss ein Sommertag gewesen sein, „als zwei Verliebte vorbeikamen, die so unterschiedlich waren, als ob sie gar nicht zueinander passen“.

John de Mol überlegte, wo sie sich wohl das erste Mal getroffen haben mögen – und plötzlich war die Idee der Traumhochzeit geboren, Keim einer internationalen Medienkarriere sondergleichen. Bis dahin war der Mittdreißiger vor allem auf seinem Hausmarkt am Ejsselmeer aktiv gewesen. Doch mit seiner Schwester Linda vor der Kamera machte er die Heiratsshow bald zum erfolgreichen Exportartikel. Und es sollten noch viele globale Ikonen des Emotainments folgen, wie de Mols Metier genannt wird. Unterhaltung mit Gefühl sagen die einen, Verblödung mit System die anderen. In jedem Fall ein gute Geschäft.

John de Mol sind beide Sichtweisen herzlich egal, das rufen seine Worte, alle Gesten, der ganze Auftritt in die Welt hinaus. „Fernsehen ist Timing, Bauch, Emotion und Konzept“, erklärt der Programmentwickler und fügt noch ein wesentliches Kriterium hinzu: reine Geschmackssache. Selbstsicher lehnt er sich mit tief geknöpftem Hemd in seinem opulenten Büro zurück und verschränkt die Arme hinterm Kopf. Timing, Bauch, Emotion, Konzept haben den Holländer nicht nur zum Milliardär gemacht, sondern zu einem der wichtigsten TV-Produzenten unserer Tage, auch wenn seine Blütezeit bereits hinter ihm zu liegen schien.

Sieben Jahre, um genau zu sein. Damals hatte er die Anteile seines Medienkonzerns Endemol für Aktien im Wert von 5,5 Milliarden Euro an den Telekommunikationsriesen Telefónica verkauft. Dass er sie jetzt zurück erwarb, erinnert dramaturgisch an all die Seifenopern, denen seine Art des Fernsehens den Weg geebnet hat: Liebe aus Leidenschaft, Ehe im Überschwang, Zuwachs aus Prinzip, Trennung im Streit, Versöhnung aus Sehnsucht.

Im Sommer 2000 trennte sich de Mol nicht von Endemol, sondern zunächst nur vom börsennotierten Firmenteil, der Entertainment Holding. Ein Akt der Befreiung für den Mann der Praxis. Dank Telefónica war er die Last der bürokratischen Verantwortung los. Erst mit dem Multi aus Madrid im Rücken, betont der selbsternannte Think Tank, hatte er genügend Zeit fürs Kreative, seine Kernkompetenz in Endemols Portfolio aus Telefonie, Internet, Entertainment, Vermarktung und Mobilfunk. Doch selbst als Chief Creative Officer wurde ihm das berichtspflichtige Unternehmenskorsett bald zu eng. Er spricht vom „Luxusgefängnis“, voller Shareholder, aber ohne Esprit. Nach vier Jahren verließ er Vorstand und bald auch Firma, sein Baby, wie er es nennt. Es war ein schwerer Schritt, „aber wenn ich einmal aufs falsche Pferd gesetzt habe, folge ich der Alarmglocke“.

In die mediale Bedeutungslosigkeit, so dachten viele. Denn während Formate von Big Brother über Nur die Liebe zählt bis hin zum unverwüstlichen Wer wird Millionär weiterhin globale Topquoten erzielten, zog sich ihr Erfinder, Macher, Weltverbreiter ins betuliche Holland zurück. Wenngleich mit neuen Perspektiven: Nur Monate nach seinem Deal war die Blase des Neuen Marktes geplatzt und hatte neben Millionen Spekulationsverlierern auch diesen Gewinner hinterlassen: de Mol.

Mit gewachsenem Vermögen gründete er im Sommer 2005 den TV-Sender Talpa. 200 Millionen Euro flossen angeblich in die Mischung aus Livemagazinen, Quiz- oder Talkshows, Filmlizenzen, Serien und Fußballübertragungsrechte. Dennoch lief Talpa schleppend an und auch nach der zwischenzeitlichen Umbenennung in Tien blieb ihm die Zielgruppe der 20- bis 49-Jährigen oft fern. Zu sehr mit Schriftkram beschäftigt, hatte sich John de Mol einen neuen Knast gebaut, nur weniger luxuriös. Immerhin nutzte er die Zeit, seine Netze in andere Gewässer zu werfen. Er stockte seine Anteile am Telefonkonzern Versatel auf und erwarb weitere an Medienkonzernen, Technologiefirmen, einem Sportwagenhersteller und Manchester United. Eine Expansion in alle Richtungen.

Umso erstaunlicher, mit wie wenig Getöse er nun auf den zweitgrößten Fernsehmarkt zurückkehrt, nach Deutschland, wo Endemol von Köln aus aktiv ist. Es ist nach Leo Kirch das zweite Mediencomeback 2007, nur stiller, so wie John de Mol es mag, der nach Auskunft eines Vertrauten karitativ umfassend tätig ist, ohne groß drüber zu reden. Gänzlich eigennützig kaufte er dagegen im September Endemol zurück, marktgerecht für zuletzt über eine Milliarde Euro Jahresumsatz, günstig im Vergleich zur einstigen Kaufsumme. Gut 2,6 Milliarden Euro gingen für 75 Prozent der Aktien an Telefónica, dessen Chef César Alierta nie so warm mit der Tochtergesellschaft geworden war wie sein Vorgänger. Und schon gar nicht wie ihr Gründer. Anfang 2007 erwarb de Mols milliardenschwerer Investmentfond Cyrte die ersten fünf Prozent und holte für den Rest durchaus umstrittene Partner ins Boot: Silvio Berlusconis Sendergruppe Mediaset und die Investmentbank Goldman Sachs steuerten je ein Drittel zum Kaufpreis bei. Und weil er die Börse „Gift fürs kreative Geschäft“ nennt, nahm man es vom Parkett. Endemol ist wieder da, auch wenn es nie weg war. Nicht aus John de Mols Herz.

Denn glaubt man dem Modellathleten im Vorruhestandsalter, dreht sich darin alles um Fernsehen. „Mein Kopf hat nie Ferien. Er ist 24 Stunden täglich, 365 Tage im Jahr bei der Arbeit.“ Ein Energiebündel, das sein Gegenüber im Gespräch unablässig fixiert. Ein „fantastischer kreativer Geist“, wie ihn der frühere RTL-Geschäftsführer Gerhard Zeiler fast ehrfürchtig nennt, „so radikal und kühn, dass radikale und kühne Dinge entstehen.“ Stets auf der Suche nach Abnehmern neuer Ideen, Adressaten seiner Botschaften vom erfolgreichen, ergo richtigen Fernsehen. „Eine Mischung aus Kaufmann und Missionar“, hat ihn der Chef des Europäischen Medieninstituts Jo Groebel nach dem Verkauf genannt. Jetzt darf de Mol wieder weniger Manager sein, dafür umso mehr Verkünder seiner Ideale vom Entertainment. Es ist das der Masse, das einzige gültige Kriterium, wie er betont. „Wenn sie einschaltet, hab ich meinen Job richtig gemacht.“

Da kann es kein Zufall sein, dass de Mol übersetzt Maulwurf heißt. Wie das ungeliebte Säugetier untergräbt er seit über 30 Jahren die Gärten der Zuschauer, hinterlässt seine Spuren im Grün und lässt sich freiwillig nicht vertreiben. Sogar sein neues Standbein Talpa ist nach diesem Prinzip benannt, diesmal auf Latein. John de Mol wühlt gern im Boden des Massenfernsehens und will sein Geld wieder vornehmlich damit verdienen, weniger mit Investmenttätigkeiten. Sein Beruf ist ihm Berufung, seit jeher. Bereits als Schüler streute er seinen Stil unters Volk. Er jobbte beim Radio, verdingte sich nach der Schule als DJ, trug Kabel fürs Fernsehen, schnitt Fußballberichte und tat somit das Gegenteil dessen, was seine Eltern von ihm erwarteten. „Sie wollten, dass ich studiere, am liebsten Jura“. Der volljährige Johannes Hendrikus Hubert aber machte nicht mal Abitur, ein bisschen aus Rebellion, ein bisschen aus Überzeugung. Wie gesagt: Ein Mann der Praxis.

Und sicher kein Befehlsempfänger. 1979 verließ er das Auftragsfernsehen, um sein eigenes zu gründen. Die John de Mol Produkties fertigten billige Spielshows, Soaps oder Low-Budget-Musikfernsehen und fluteten auch Deutschland mit „Traum- und Tränengeschichten“, wie die FAZ klagte. Sie passten genau ins Konzept Helmut Thomas. „Der Wurm soll nicht dem Angler schmecken, sondern dem Fisch“, lautet das Motto des damaligen RTL-Chefs und Linda de Mol war sein Lieblingsköder. Ihretwegen importierte er die Traumhochzeit 1992 nach Köln und sicherte ihrem Bruder im Gegenzug eine Abnahmegarantie künftiger Formate zu. „Ein wirklich harter Knochen, der um jede Mark gekämpft hat“, erinnert sich Thoma an die Partnerschaft. „Er hatte diese sehr spezielle Form holländischen Humors, ganz anders als so viele deutsche Eisenbeißer“. Erst beim Geschäftlichen hörte der Spaß auf. „Aber wir haben immer einen Kompromiss gefunden“.

Der Exklusivvertrag, Output-Deal genannt, hatte noch Bestand, nachdem de Mols Firma zwei Jahre später mit der seines Konkurrenten Joop van den Ende zu Endemol verschmolzen war. Erst 1996 löste er ihn auf und auch wenn RTL sein Premiumpartner blieb (und wohl ewig bleibt), war der Weg auf alle Kanäle nun frei. Nichts anderes hat er je gewollt, nichts anderes will er heute. „Mein Job ist, Formate zu erfinden, die überall laufen können“, sagt er bei der Führung durch seine Firmenzentrale. Schon der Weg dorthin geht vorbei an Luxusvillen mit Luxusautos vor Luxusgärten. In Hilversums Vorort Laren wohnt Hollands Erfolg. Er regiert auch im Büro seines großen Medienmagnaten: Fernsehpreise hier, Fernsehfotos dort, Bilder mit Gönnern, Freunden, Kollegen, Prominenz. Dazwischen immer wieder de Mols Sohn aus erster Ehe. Und Linda, überall Linda.

„Wäre sie nicht meine Schwester, wir wären trotzdem Freunde“, sagt der erklärte Familienmensch über sein Einfallstor in den europäischen Markt. Ihr Einfluss hallt noch immer nach. Das ZDF plant mit der Traumhochzeit, Sat1 und RTL stehen längst im Terminkalender, die Kontakte, de Mol lächelt, „werden wieder wärmer“. Und auch wenn es dabei um viel Bekanntes geht, wenn gerade zum achten Mal Big Brother läuft und seine uralte 100.000 Mark Show eine neue Titelwährung erhält, geht John de Mols Blick nach vorn. Dank seiner Senderbeteiligungen in Holland wird das kleine Land wieder zum Testfeld für die Welt.

Ein Team von 40 Leuten grübelt in L.A., London, Laren über Ideen, von denen die Schubladen des Firmenhirns angeblich überquellen. Produziert von Talpa, probiert RTL Holland Formate aus und lässt sie von Endemol weltweit verbreiten, stilistisch lokalen Gewohnheiten angepasst, aber mit einheitlichem Grundgerüst. Die Dienstwege sind kurz: Sein alter Neuerwerb sitzt nur wenige Autominuten von Talpa entfernt, einem schicken Neubau mit Koi-Karpfen in den Zierteichen der Empfangshalle und gläsernen Büros, soweit das Auge reicht. Hier kümmern sich zwei Dutzend Mitarbeiter allein ums Operative. John de Mol will nur einmal die Woche mit der Endemol-Führung telefonieren und ansonsten permanent brüten: Über neuen Konzepten, auch wenn sie gern alten Maschen ähneln.

Eines davon – Der Goldene Käfig – ist eine Hardcorevariante seines Exportschlagers Big Brother, heftig umstritten, wie so vieles aus seiner Denkstube. Wenn John de Mol davon redet, wird am deutlichsten, wie der attraktive Jazzliebhaber und vielsprachige Fußballfan tickt. Ob Fernsehen Verantwortung habe, einen Erziehungsauftrag gar? Er überlegt erstmals länger als Sekundenbruchteile. Zum Teil, sagt er leise, „denn wer sich im Käfig schlecht benimmt, fliegt raus, wie im richtigen Leben“. Er zeigt zur Fernbedienung auf seinem Altar mit der üppigen Bilddiagonale: „Fernsehen ist das demokratischste Medium und der Wahlzettel liegt dort“. Es sind Intellektuelle, sagt der Bürger des Pisa-Gewinners mit saurem Gesicht, die glauben beurteilen zu können, was gutes Fernsehen ist.

Das aber sei keine Wissenschaft, also unberechenbar und wer ihm ein Attribut voranstellen wolle, solle dies anhand technischer Parameter tun: Gutes Licht, guter Ton, gute Skripte. Ansonsten steht von Verzeih mir bis Big Diet alles unterm Verdikt der Quote, vulgo Masse. Den simplen Inhalt von Deal or No Deal etwa, Geldkoffer auszuwählen, hält de Mol beinah für eine Offenbarung. „Als alle dachten, Gameshow sei tot, kam ich mit einer neuen und hatte Riesenerfolg.“

Seine Begeisterungsfähigkeit ist legendär. Als vor neun Jahren das Video einer Sendung namens Who Want’s To Be A Millionaire auf seinem Schreibtisch landete, so heißt es, hätte sich de Mol glatt vor die Tür der kleinen Produktionsfirma gelegt, um die Rechte zu kriegen. Er schaffte es auch so und streute das Quiz über den ganzen Globus. So wie Big Brother, jenes Zugpferd repetitiven Formatentertainments, das aus einem „holländischen Jungen von der Straße“, wie ihn sein Weggefährte Joop van den Ende nennt, den weltgrößten unabhängigen Fernsehproduzenten machte. 1985, als John de Mol Moderatoren eher managte als sie zu erfinden, schrieb Neil Postman in seiner Kulturanalyse Wir amüsieren uns zu Tode, bald werde sich alles in Unterhaltung auflösen. Keiner bestätigt die These besser als John de Mol. Und keiner hat damit größeren Erfolg.


Indiefriday: Wildbirds, Peacedrums, Von Spar

Wildbirds & Peacedrums

Übers paläoanthropologische Gebaren ist wenig mehr bekannt, als dass wir gegessen, geschlafen, gevögelt, gesammelt, gejagt und irgendwann Werkzeug benutzt haben. Selbst, ob die ersten Hominiden musizieren konnten, bleibt bloße Spekulation. Doch wenn sie es taten, so viel erscheint sicher, dann mit Stimme und Stöckern, Steinen, allem was rummst. Wildbirds & Peacedrums sind so gesehen Atavismen der weiten Welt des Klangs.Das Ehepaar aus dem schwedischen Göteborg benötigt für seinen ekstatisch reduzierten Sound nicht mehr als Mariam Wallentins Gesang und Andreas Werliins Schlagzeug. Ab und zu mal ein verstohlenes Bassfragment – schon beginnt die Rückkehr zu den Wurzeln der Musik. Sie klingt auch auf ihrem vierten Album mit dem passenden Titel Rhythm nach allem, was dem zeitgenössischen Pop an Widerhaken, Abzweigen, Zwischentönen fehlt.

Rhythm ist verschroben und wahnsinnig, rätselhaft und eigentümlich, manchmal dämonisch, fast hysterisch, jedenfalls heißblütig, unvergleichlich, selbstgewiss und somit exakt die Antithese zum Wesen des Pop, das sich aus allem zusammensetzt, was schon mal zu hören war. Rhythm war noch in kaum einem Ohr, nicht in dieser Form. Sicher, Wallentins theatralisch dargebotene Texte über alles Erdenkliche rings um Liebe, Lust und Leidenschaft orientieren sich trotz gelegentlicher Ausflüge in vertrackte Tremoli am klassischen Notenvokabular. Auch Werliins Peacedrums drehen nicht ständig durch wie das Tier bei den Muppets, sondern variieren die Takte bei aller Raserei mit präziser Strukturbereitschaft. Doch die extreme Reduktion der neun neuen Stücke aufs Rhythmische, das Fehlen einer harmonischen Melodie, der Dschungelgestus im Großstadtstudio – all dies führt das Publikum zurück auf eine Innerlichkeit, die der zeitgenössischen Popmusik längst ausgetrieben wurde.

Rhythm ist ein Sound zum Eintauchen, Absinken, Verharren, Bewegen, Auftauchen, Staunen. Man kann den vergleichsweise gefälligen Fusionjazz Ghosts & Pains zum Auftakt ebenso wenig nebenbei laufen lassen wie das hypnotischeMind Blues weiter hinten. Die Platte fordert Raum und Zeit, Konzentration, ja Andacht, jedenfalls Aufmerksamkeit. Bei Konzerten ist das im Saal greifbar. Doch auch daheim kann man der Vereinnahmung schwer entgehen. Wer es dennoch versucht, zählt entweder bald zu jenen, die den Kopf schütteln und auf Dudelfunk schalten. Oder zu denen, die förmlich durchdrungen werden von Wildbird & Peacedrums. Sie verwandeln sich dabei nicht zurück in Urmenschen. Aber ein neuer Weg zu Hören, der kann sich schon daraus entwickeln.

Wildbirds & Peacedrums – Rhythm (The Leaf Label); mehr Sound’n’Files’n’Kommentare unter http://blog.zeit.de/tontraeger/2014/12/03/wildbirds-peacedrums-rhythm_18999

Von Spar

Chamäleonvergleiche gehen oft an der Sache vorbei. Zumindest, wenn damit Wandlungsfähigkeit an sich beschrieben wird. Das anpassungsfähige Reptil verändert sein Äußeres ja doch den örtlichen Umständen entsprechend, ordnet sich den Verhältnissen also lieber unter, als sie zu prägen. Geschmeidig, könnte man das nennen. Gefällig, tickten Leguane tatsächlich so. Trotz aller Farbe farblos. Also in etwas das Gegenteil von Von Spar. Seit ihrer Gründung vor elf Jahren wurden die vier bis fünf Kölner zwar öfters als Chamäleon des deutschen Pop bezeichnet. Schließlich haben sie den elektronischen Postpunk ihres grandiosen Debütalbums mit dem noch grandioseren Titel Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative schon 2007 zugunsten eines verstiegenen Krautrockexperimentes über den Haufen geworfen. Das dritte Album 2010 wurde dann ein digitales Klangkonvolut, das Jean Michel Jarre zum nüchternen Strukturalisten degradiert.

Doch all dies waren irgendwie nicht gerade musikalische Leitthemen ihrer schnelllebigen Zeit. Womit wir beim neuen, dem vierten Album wären. Es heißtStreetlife, mag zu Beginn entfernt an die aktuelle Neigung bekannter Künstler zum Neofunk erinnern. Aber das verfliegt nach wenigen Takten. Dann machen Von Spar, tja, was machen die da eigentlich. Jedenfalls alles andere, als die Farbe eines anderen Stils anzunehmen, auf den sie sich bewusst oder zufällig draufgesetzt haben. Mit etwas Wohlwollen könnte man die acht längeren bis echt langen Lieder vielleicht Lowfipop nennen, mit etwas weniger womöglich Easy Listening, doch sie lassen sich nie auf den schnöden Zeitgeist ein. Mit dem Monsterhit der Crusaders hat der Albumtitel ebenso wenig zu tun wie die VorgängerplatteForeigner mit der gleichnamigen Band. Streetlife mag bisweilen klingen, als seien Von Spar nach der Geburt in einen Sample-Tank gefallen und könnten die überschüssige Referenzvielfalt im Erwachsenenalter nicht mehr recht dosieren. Das führt dann manchmal so weit, dass in Stücken Breaking Formation ein Christopher Cross aus dem Audiogefrickel blinzelt, aus Try Though We Might gar Peter Maffay, während das anschließende Duvet Days an die allerersten Gehversuche des Ambient erinnert.

Manchmal wirkt dieses Sammelsurium also geradezu lachhaft, lachhaft konstruiert vor allem. Aber Von Spar gelingt es, dieses Durcheinander wie einen entspannten Spaziergang durch die Jahrzehnte elektronischer Spielarten aussehen zu lassen. Fast so wie es Daft Punk mit ihrer technoiden Wiederbelebung des Oldschool-Funk getan haben. Wer kann, der kann, könnte man meinen. Trotz der betulichen Fritz-Kalkbrenner-Gedächtnis-Stimme des Gastsängers Chris Cummings aka Mantler verstärkt sich der Sog von Streetlifealso mit jeder neuen Umdrehung. Einfach fabelhaft.

Von Spar – Streetlife (Italic Recordings); mehr Sound’n’Files’n’Kommentare unter http://blog.zeit.de/tontraeger/2014/12/01/von-spar-streetlife_18986