Henriks Hetze & Hamburgs Luden

Die Gebrauchtwoche

TV

20. – 26. Februar

Der Apfel fällt ja angeblich nicht weit vom Stamm. Als Verteidigungsminister stand Gerhard Stoltenberg einst am rechten Rand der geistig moralisch gewendeten, also auch nicht gerade linksliberalen CDU. Nachdem sein Enkel Henrik vorigen Mittwoch wegen Volksverhetzung verurteilt worden war, hat sich RTL nun vom Star vieler Reality-Formate wie Love Island getrennt. Schließlich befindet er sich ideologisch in durchfallbrauner Gesellschaft.

Von Konrad Kujau zum Beispiel, der laut Die Zeit offenbar nicht nur ein paar Tagebücher gefälscht und beim Stern lanciert hatte, sondern Teil eines rechtsextremen Netzwerks war, das Hitler entlasten und den Holocaust leugnen wollte. Oder Borris Brandt, den außerhalb der Fernsehbranche wohl nicht allzu viele kennen. Glück gehabt! Der frühere Pro7-Programmchef hat Deutschland vor fast 25 Jahren erst TV total, dann Big Brother gebracht und damit Mediengeschichte geschrieben.

Jetzt nimmt seine Intellekt-Verachtung jedoch gefährliche Formen an. Seit Monaten krieche seine quergedachten Kommentare Putin, AfD, Sarah Wagenknecht in den Allerwertesten. Nicht an Gehirn, immerhin aber an Demut mangelt es wie gehabt Patricia Schlesinger. Nicht, dass der früheren RBB-Chefin wegen ihrer Selbstbereicherungsmentalität Altersarmut zu wünschen wäre. Aber mehr als 18.000 Euro monatlicher Pension einzuklagen, dazu gehört schon ein gehöriges Maß an feudaler Ignoranz.

Davon hat Deutschlands einflussreichste Sozialdomina Heidi Klum bei der Verteilung bekanntlich eine Überdosis erhalten. Deshalb kleidet sie ihre Menschenverachtung weiterhin in Diversitätskostüme und macht sich beim Versuch, dagegen Stellung zu beziehen, selbst unter ihresgleichen sogar noch ein bisschen lächerlicher als das ZDF mit seiner sülzigen Seifenoper Der Schwarm, die gleichwohl Topquoten erzielte.

Von denen kann RTLzwei bis heute nur träumen. Wir gratulieren dem Sender, der zu seiner Verblödungsstrategie wenigstens steht, dennoch herzlich zum 30. Geburtstag am kommenden Montag und Fernsehlegenden wie Peep! oder Popstars, aber auch Dexter und Californication. Davon ist RTLzwei2II heute allerdings drei TV-Revolutionen entfernt. Kleiner Auszug aus dem Montagsprogramm gefällig?

Die Frischwoche

0-Frischwoche

27. Februar – 5. März

Nach dem Vorabendtrash von Köln 506687 bis Berlin – Tag & Nacht folgen erst Die Geissens, dann Daniela Katzenberger, zuletzt Armes und Hartes Deutschland. Weniger Zynismus oder relevante Importserien? Gibt’s ja nicht mal mehr im Haupthaus, wo stattdessen ab Dienstag die denkbar dusselige Fitzek-Verfilmung Auris mit Heino Ferch als Heino Ferch als forensischer Phonetiker läuft. Bleiben also mal wieder nur öffentlich-rechtliche Sender oder Streamingdienste als Empfehlungsportale.

Das Erste zeigt Mittwoch Julia C. Kaisers bedrückend gutes Sozialdrama Nichts, was uns passiert mit Emma Drogunova und Gustav Schmidt als Studierende, die zwei völlig verschiedene Sichtweisen auf eine gemeinsame Nacht haben und dem Aussage-gegen-Aussage-Dilemma vieler Vergewaltigungsdelikte zu einer dichtgewebten, vorurteilsfreien Diskussionsplattform verhelfen. Dass die 2. Staffel der dümmlich dünnen Familiensaga Unsere wunderbaren Jahre zwei Tage später an gleicher Stelle beweist, wie sinnlos die ARD oft Gebührengelder verschwendet – geschenkt.

Mit dem Episodenfilm Notes of Berlin zeigt die ARD-Mediathek am Wochenende ja wieder, was damit für feinsinnige Unterhaltung möglich ist, während der dänische Coming-of-Age-Siebenteiler My Different Ways zwei Tage zuvor bei Neo das Gleiche für Importserien nahelegt. Ohne Rundfunkbeitrag, dafür dank Jeff Bezos entstanden: Die Prime-Serie Luden. Mit Aaron Hilmer als Pimp und Jeannette Hain als Prostituierte, ist das Biopic nicht nur toll besetzt. Es zeichnet ein authentisches Bild vom radical chic St. Paulis vor 40 Jahren.

Zugaben sind dagegen: Jesse Eisenberg als onlinedating-geschädigter Fleishman is in Trouble, acht Folgen lang bei Apple TV. Die Prime-Miniserie Daisy Jones and the Six. Der dokumentarische Sechsteiler Die Anarchisten auf Sky um zwei ebensolche, denen sich das eigene Utopia als Selbstbetrug offenbart. Und natürlich die neue, 24. Folge unseres Fernsehpodcasts Och, eine noch mit mal warmen, mal kalten Worten zu The Consultant, Luden, Liaison.

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Steve Youngwood: Nickelodeon & Sesamstraße

Ich fand immer Samson am Besten

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Seit 2015 leitet Steve Youngwood (Foto: Sesame Workshop) eine weltweit wichtige, weithin unbekannte Firma: Sesame Workshop. Unterm Dach dieser Non Profit Organisation entsteht seit genau 50 Jahren auch die Sesamstraße. Zum Geburtstag kam der New Yorker nach Hamburg.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Mr. Youngwood, Sie haben Ihr halbes Leben für Kinderprogramme wie Nickelodeon gearbeitet, den Sie hierzulande sogar mit aufgebaut haben. Was hat es Ihnen da bedeutet, 2015 beim Sesam Workshop anzufangen?

Steve Youngwood: Das war natürlich ein Traum, aber auch autobiografisch passend. Schließlich wurde ich im selben Jahr geboren wie die Sesame Street in den USA, bin also buchstäblich mit ihr gewachsen. Auch andere Kindersender, für die ich später gearbeitet habe, wären ohne Sesame Street nicht denkbar.

Weil sich alle anderen an ihr orientiert haben?

Weil Kinder durch Medien zu erziehen 1969 eine kühne Idee war. Auch wenn es als amerikanische Show begonnen hat, waren die Ideale und Prinzipien, Kinder als Medienkonsumenten ernst zu nehmen und ihnen Wissen mit Spaß zu vermitteln, dabei stets global. Es ging uns nie darum, ob Kinder lernen, sondern was. Die Idee zur Sesame Street entstand, weil Kinder seinerzeit vor dem Fernseher Texte von Bier-Reklame lernten.

Und dem hat die Sesamstraße das neue Konzept des Edutainments entgegengesetzt?

Genau. Wir unterhalten, um zu bilden. Das kann konkret um Lesen und Schreiben gehen, aber auch die Herausbildung einer positiven Identität und selbstwirksamen Persönlichkeit. Denn der Grundsatz If you can’t reach, you can’t teach ist kein Marketing-Aspekt, sondern unser Daseinsgrund. Nur wenn Lehrer die Herzen der Kinder erreichen, erreichen sie deren Köpfe.

Was unterscheidet Edutainment 1969 da von heute?

Vor allem durch die Kanäle. Damals hatte Sesame Street im Fernsehen 70 Prozent der Kinder erreicht. In unserer fragmentierten Medienwelt besteht die Herausforderung demnach darin, sie überhaupt noch zu erreichen. Andererseits kann man dies viel zielgerichteter tun.

Und inhaltlich?

Muss man heute ein bisschen schneller zum Punkt kommen, um Kinder bei der Stange zu halten, aber das Prinzip respektvoller Wissensvermittlung durch Unterhaltung ist geblieben. Was sich noch geändert hat: früher konnten wir langfristiger planen, heute reagieren wir eher mal auf aktuelle Entwicklungen.

Auf Covid zum Beispiel?

In der Pandemie haben wir die Puppen daher ins Home-Office geschickt und vermittelt, dass Masken und Impfstoffe richtig sind. Während einer der größten humanitären Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte haben wir zudem ein Programm für syrische Kinder in Flüchtlingslagern geschaffen und dafür 100 Millionen Dollar Spenden erhalten. Wer die Bildung der Kinder am Übergang zur Schule vernachlässigt, braucht ein Leben lang, um die Lücken zu schließen. Flüchtlingskinder in Bangladesch oder der Ukraine zu erreichen, wäre vor 20 Jahren mit der Sesamstraße allein gar nicht möglich gewesen.

Wie viel Politik vertragen Vorschulkinder denn?

Wir verstehen Politik als gesellschaftliches Handeln und vermitteln sozial-emotionale Skills, damit Kinder die Umstände, in denen sie sich befinden, so verstehen, dass keine Traumata entstehen oder vorhandene aufgearbeitet werden können. Das Konzept ist global, die Umsetzung lokal; deshalb gibt es in Südafrika eine Puppe, die HIV-positiv ist, um das Thema Aids nicht zu verstecken und Erkrankte zu destigmatisieren.

Was ist da am deutschen Markt einzigartig?

Auf dem ersten mit eigener Sendung nach Brasilien oder Mexiko und dem NDR als langjährigster Partner weltweit, geht es abseits schulischer Kompetenzen um Identität und Zugehörigkeit. Witzigerweise höre ich von Deutschen oft, sie wüssten gar nicht, dass es die Sesamstraße auch in den USA gebe…

Welche ist denn Ihre deutsche Lieblingsfigur?

Als Fan von Big Bird fand ich immer Samson am besten. Aber es sagt definitiv etwas über die Persönlichkeit aus, ob man Krümelmonster mag, Ernie & Bert oder Elmo. Aber davon unabhängig ging es immer um die Darstellung gesellschaftlicher Diversität.

Was in Bayern zunächst mal gar nicht gern gesehen wurde.

Ach, war die Sesamstraße trotzdem zu sehen?

Zu Beginn nicht.

Wie in Mississippi zum Beispiel. Aber jetzt weiß ich nichts mehr von Kontroversen. In unserer fragmentierten Medienlandschaft hat niemand mehr dasselbe Mindset wie in den Siebzigern mit vier Fernsehprogrammen.

Heute sind es Dutzende plus Streamingdienste.

Und da müssen wir uns immer wieder neu aufstellen, um Kinder zu erreichen.

Auch Ihre eigenen?

Die sind inzwischen 19, 16, 11 Jahre alt natürlich mit der Sesamstraße aufgewachsen. In den USA haben wir noch immer Aufmerksamkeitsraten von 98 Prozent und genießen hohes Vertrauen. Besonders in Zeiten der Krise suchen die Menschen Sicherheit und wenden sich dem zu, was sie kennen und schätzen.

Und warum bleibt Ihre schon so lange erfolgreich?

Ein Geheimnis unserer Marke ist, dass sie von Beginn an generationenübergreifend war, was wir anfangs, als in jedem Haushalt ein Fernseher für alle stand, durch viel Musik und Prominente gefördert haben. Deshalb wird es die Sesamstraße auf allen Kanälen noch jahrzehntelang geben. Die Welt braucht uns und in 50 Jahren feiern wir hier den 100. Geburtstag der Sesamstraße.


Schätzings Schwarm & Waltz’ Consultant

Die Gebrauchtwoche

TV

13. – 19. Februar

Literaturverfilmungen sind schon deshalb oft heikel, weil sie anders als Originaldrehbücher nicht nur mit dem Resultat, sondern der Romanvorlage verglichen werden. Wenn dann auch noch der oder die literarisch Verantwortliche am Leben ist, kommen zur Fallhöhe persönliche Befindlichen obendrauf – man denke nur an Michael Endes Verriss von Wolfgang Petersens Die unendliche Geschichte. Und jetzt also Frank Schätzing.

Sechs Tage, bevor das ZDF am Mittwoch den Achtteiler seines Weltbestsellers Der Schwarm in die Mediathek stellt, hat er die Serie so vollumfänglich verrissen, dass „pilcheresk“ noch ein freundlicher Begriff war. Das mag mit gekränkter Eitelkeit zu tun haben, dem angeschwollenen Ego des Blockbuster-Fabrikanten oder schlicht und einfach Marketing. Aber verdächtig ist es schon, dass der Kritiker öffentlich-rechtlicher Umsetzung zwei scheußliche RTL-Verfilmungen von Die dunkle Seite und Mordshunger gelobt hatte.

War also wohl doch nur gute PR, die auch der linearen Ausstrahlung Anfang März ein paar mehr Quotenpunkte bringen könnte. Und vielleicht dabei geholfen hat, vom eigentlichen Skandal des ZDF abzulenken. Dessen Gründungsintendant Karl Holzamer nämlich steckte wohl doch tiefer im NS-Staat als angenommen. Anders als von Sender und Chef behauptet, war er nicht nur langjähriges NSDAP-, sondern nach Eigenrecherchen zum 60. ZDF-Geburtstag auch SA-Mitglied.

Also einer jener Täter, für die der 1. Weltkrieg das verschwörungsideologische Testgelände zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen aller Art war. Was Europa 1914-18 in Schutt und Asche gelegt hatte, verhilft dem Netflix-Drama Im Westen nichts Neues nun allerdings zu unerwartetem Ruhm. Nach neun Oscar-Nominierungen hat Edward Berger nun stolze sieben BAFTA-Awards bekommen.

Im Osten was Neues vom Gewalttäter Sex heißt es dagegen bei Julian Reichelt, der nach Erkenntnissen von Reschke Fernsehen noch viel mehr Frauen sexistisch attackiert hat als bislang gedacht. Im Süden nichts Altes könnte es angesichts der Meldung heißen, dass die ehrwürdige Münchner Lach- und Schießgesellschaft vorm Aus steht, weil Dieter Hildebrandts Nachfolger Bruno Jonas mit aller Welt Stress hat.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

20. – 26. Februar

Damit geht womöglich ein Stück bundesdeutscher Humorhistorie verloren, die nicht mal das ZDF kompensieren kann. Von Frank Schätzing 2004 als Umweltthriller verfasst, wird Der Schwarm zwar als Drama-Serie angekündigt. Vom ersten Moment an allerdings hat GoT-Showrunner Frank Doelker die Vorlage so berechenbar verseift, dass es acht Teile lang meist unfreiwillig komisch ist.

Das gilt ab morgen bei Apple TV mit Einschränkungen auch für den Agenten-Thriller Liaison um ein früheres Liebespaar, das beim Kampf gegen kriminelle Hacker wiedervereinigt wird. Für Action-Fans gewiss ein Leckerbissen in sechs Gängen, ist dieses Testosteron-Gewitter nur wegen des zurückhaltend wuchtigen Vincent Cassel auch für Vernunftbegabte einigermaßen erträglich – und damit immerhin leichter verdaulich als die ARD-Schmonzette Sayonara Loreley am Freitag.

Richtig grandios dagegen ist der neue Geniestreich von Christoph Waltz, diesmal als dadaistischer Unternehmensberater The Consultant, der ab Freitag bei Prime Video eine Videospiel-Schmiede sanieren soll, deren Besitzer er selbst in den Tod getrieben hatte. Soziopathischer Aberwitz Marke Waltz vom Feinsten. Maskulines Ballermann-Fernsehen droht parallel die RTL-Serie Drift zu sein, ein deutsches Fast and the Furious mit Ken Duken und Fabian Busch.

Dann doch lieber dokumentarischen Wahnsinn wie das Paramount-Porträt Rise of the Billionaires, in der die Plattform morgen den Aufstieg mächtiger Tech-Milliardäre von Musk über Gates bis Bezos skizziert. Eine Dokusoap, aber der gehobenen Art, ist die fünfteilige Fortpflanzungsbegleitung Drei Paare, ein Ziel, aber Donnerstag in der ARD-Mediathek. Und um es nicht zu vergessen: Tags drauf steigt das französische Derby Girl zum zweiten Mal bei Neo in Rollschuhe, bevor Apple Samstag Eugene Levy in der Reportage-Reihe Urlaub wider Willen auf Reisen schickt.


Kerala Dust, Deichkind, Wesley Joseph

Kerala Dust

Dass sich Musik nicht mehr neu erfinden lässt, ist hinlänglich bekannt. Sie alt klingen zu lassen, ohne ins Nostalgische und/oder Peinliche abzudriften, erscheint daher noch komplizierter als innovativ zu sein, aber Kerala Dust schaffen es spielend. Das neue Album der Londoner aus Berlin ist schließlich eine zwölfteilige Reminiszenz an Vorbilder von Can bis Tom Waits, in die sich angeblich sogar eine Spur Velvet Underground hineindrängelt, was zwar Unsinn ist, aber den Ereignisraum der drei Briten gut umschreibt.

Der wabernde Kopfgesang vom Soundgestalter Edmund Kenny mit viel “me” und “love” quält sich durch Anachronismen, bis die Neuordnung der Dinge zugleich antiquiert und progressiv daherkommt. Wattierte Gitarren, die in Red Light an den Sixties kratzen, dystopische Keyboards, deren Tristesse in Pulse VI in den New Wave der späten Siebziger zurückreichen, zwischendurch eher sedierte als entschleunigte Elektronica zwischen psychedelischem Krautrock retrofuturistischem Pop – alles tausendmal gehört, aber selten so klug kompiliert.

Kerala Dust – Violet Drive (PIAS)

Deichkind

Höchste Zeit also für einen Break der brüchigsten Art. Deichkind sind zurück mit ihrer neuen Platte Neues vom Dauerzustand, auf der das Hamburger Trio wie immer die hedonistische Belastbarkeit von Intellekt und Moral mithilfe dadaistischen Garagentechnos ausloten. Einst als reine Spaßkapelle schwer beliebt, aber irrelevant, verstehen sich die jungen Deichkinder Porky und La Perla an der Seite des alten Bandgründers Kryptik Joe längst als Seismografen durchgehend tanzbarer Kapitalismus- und Kulturkritik.

Wenn sie im Opener “Kopf ein Affen mit Schellen / Storno im Brain / Delle am Helm” rappen, geht es also nicht um elaborierte Realitätsverweigerung, sondern digitale Hirnüberfüllung. Und selbst der Abgehtrack Fete verpennt erklärt uns unterm hochtourigen Powerbass-Gezappel eher von verpassten als versoffenen Chancen der multioptionalen Gesellschaft. Alles in allem also: Abfahrt wie immer, aber stets die Megakrisen von gestern, heute, morgen im Hinterkopf – den sie nur noch symbolisch, aber umso geiler mit Dosenbier verfüllen.

Deichkind – Neues vom Dauerzustand (Sultan Günther Musik)

Wesley Joseph

Und damit zu einem Künstler, der Sound und Vocals nicht nur politisch, sondern auch musikalisch ein bisschen ernster nimmt als die Dosenbierbrigade aus Hamburg. Das englische Kleinstadtkind, vom Label Secretly Canadian kurzerhand zum Universalgenie erhoben, schreibt – besser: malt Kunstwerke britischen HipHops voll Northern Soul und R’n’B-Sprengseln, die leider zwar völlig frei von Augenzwinkern sind, aber in ihrer lässigen Ernsthaftigkeit vom ersten bis zum letzten der acht Tracks ins Mark gehen.

Mit seiner welligen, fast gebirgigen Art zu singen, grast dieser musizierende Filmemacher, der sich parallel als Regisseur und Artworker weitere Namen macht, alle Wiesen des British Cool ab. Im Titeltrack Glow erinnert das – vermutlich bewusst – fast ein bisschen an Mike Skinner, im späteren I Just Know Highs sogar – definitiv unfreiwillig – an Hayiti, aber was heißt erinnern: wie in den Projekten zuvor will Wesley Joseph seine Art HipHop auf eigene Art definieren: nicht grad universalgenial, aber ungemein interessant.

Wesley Joseph – Glow (Secretly Canadian)


Rabes Versagen & Paramounts Hackerinnen

Die Gebrauchtwoche

TV

6. – 12. Februar

Die Marktwirtschaft ist schon ein seltsames Hierarchiesystem. Da wird Deutschlands größter Medienkonzern von einem Mann geführt, den die endlose Abfolge katastrophaler Fehlinvestments in 17 Jahren Bertelsmann-Spitze zum vielleicht unfähigsten CEO der weltweiten Verlagsgeschichte macht. Doch nachdem dieser publizistische Komplettversager den altehrwürdigen Pressedampfer Gruner+Jahr ungebremst in die Ballermannboje RTL gesteuert hat, wird nicht etwa Thomas Rabe vom Gütersloher Hof gejagt – nein, er darf sich mit toxisch breiter Brust vor die Hamburger Belegschaft stellen und Großteile davon kaltherzig feuern.

Abzüglich Kapitol-Sturm erinnert Rabes G+J-Sturm, bei dem 23 (teils tatsächlich sinnlose) Zeitschriften beerdigt und weitere 13 meistbietend verscherbelt werden, also längst mehr an Donald Trump als Henri Nannen, der ihm zwar offenbar das neofeudale Ego, aber nicht die journalistische Weitsicht vererbte. Schließlich war es Bertelsmann, das G+J per rigorosem Sparkurs und purem Desinteresse den Digitalisierungskurs vorenthielt. Mieses Management schadet wie gehabt also nur mies Gemanagten, während sich miese Manager mit Abermillionen gepampert Richtung vergoldetem Vorruhestand stümpern.

Ein Automatismus, der verteufelt an die heutige Tech-Industrie erinnert. Nach Jahren schier grenzenlosen Wachstums hat nach Paypal, Twitter, Alphabet oder Spotify nun auch Disney Stellenabbau angekündigt – und das, obwohl der Entertainment-Gigant seinen Gewinn 2022 auf 1,3 Milliarden Dollar steigern konnte und mittlerweile nahezu das Zwanzigfache erlöst. Angeblicher Grund der Kürzungen abseits der Dauererklärung Krieg/Corona: Disneys Streamingdienst mit + am Ende hat – anders als die hauseigenen Portale Hulu und ESPN – zuletzt an Reichweite verloren.

Vielleicht ist das alte, lineare, bundesdeutsche Fernsehen also doch noch nicht ganz verloren. Kurz nach den News der digitalen Konkurrenz jedenfalls blies es unerschrocken zur retrofuturistischen Attacke. Denn ProSieben hat angekündigt, Stromberg aus dem wohlverdienten Grab zu holen. Ein (damals schon geklautes) Relikt aus Zeiten also, da Netflix noch ein DVD-Versand war. Starke Antwort.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

13. – 19. Februar

Fast so stark, wie die öffentlich-rechtliche Gegenoffensive. Das Erste zum Beispiel lässt morgen das nächste Beiboot einer WaPo zu Wasser. Diesmal die Elbe flußaufwärts, wo der Ableger mit ein paar Betrunkenen am Herrentag um ostdeutsches Publikum buhlt. Das nennt man dann wohl Zielgruppenmanagement. Die betreibt zwar auch Magenta TV, wenn es am Sonntag mit Tales of the Walking Dead ein weiteres Spin-of der Zombie-Serie startet. Routinierter baggert allerdings das ZDF am Massengeschmack.

Zum 7. Mal gerät Jan Josef Liefers heute als Fernsehanwalt Joachim Vernau in Mordsverwicklungen am Brandenburger Düstersee, was wie WaPo Elbe also gleich drei Publikumstrigger aktiviert. Und auch, wenn die ARD ab Dienstag vier Österreicherinnen und ihr dunkles Geheimnis mit überdurchschnittlichem Heim-Cast (Franziska Weisz & Franziska Hackl) plus unterdurchschnittlichem Auswärts-Cast (Diana Amft & Jasmin Gerat) ins Krimigetümmel des achtteiligen Melodrams Tage, die es nicht gab stürzt, stand die Sehgewohnheit Pate – worüber übrigens auch die neue Folge unseres Fernseh-Podcasts Och eine noch sinniert.

Für Albrecht Schuchts intensives Porträt des DDR-Literaturrebellen Lieber Thomas Brasch bleibt da heute natürlich nur die Nachtschiene (22.25 Uhr) von Arte – schließlich müssen ARD und ZDF ihre Primetime Mittwoch (Düsseldorf), Donnerstag (Kölle) und Freitag (Mainz) ja mit Karneval verfüllen. Sat1 hat dafür endlich mal wieder was Anspruchvolles im Angebot: Den Vierteiler Litvinenko (donnerstags in Doppelfolgen, 20.15 Uhr) mit David Tennant als russischer Ex-Agent, den Putin 2006 auch real radioaktiv vergiften ließ.

One dagegen hat sich den BBC-Dreiteiler The Replacement um eine Glasgower Architektin geschnappt, der die eigene Schwangerschaftsvertretung ab heute Abend weit mehr als den Job streitig macht. Donnerstag schickt die Paramount-Serie A Thin Line zwei deutsche Klima-Aktivistinnen auf gegensätzliche Seiten des Gesetzes und macht damit endlich mal Frauen zu Hauptfiguren eines – sehr sehenswerten – Cyberthrillers. Eher retrofuturistisch schickt die Apple-Serie Hello Tomorrow tags drauf Tourist:innen auf den Mond. Und zu guter Letzt steigt Sky parallel mit tausendfach erprobter Story (Django) und frischer deutscher Beteiligung (Lisa Vicari) auf den Zug des Westernbooms.


Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan

So wäre ich auch als Mann

Wilton-Artikel

Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer, zweiter Teil.

Von Jan Freitag

Pflegen – auch wenn die Frage allein schon wieder sexismusanfällig ist – Frauen an der Spitze eine andere Streit-, Debatten- und Führungskultur?

Ich glaube schon, dass es in Hinblick auf flache Hierarchien und Teamfähigkeit etwas gibt, das man als weibliche Führungskultur bezeichnen könnte Aber selbst, wenn es geschlechtsspezifische Herangehensweisen gibt – das heißt ja nicht, dass nicht auch Männer eine solche Führungskultur verfolgen, oder einige Frauen „männlich“ führen. Letztlich ist es eine Frage der Machtdefinition und -ausübung, weibliche Führung ist oft dialogorientierter.

Beschreiben Sie damit auch ein wenig die eigene Führungspersönlichkeit?

Ich bin jetzt schon weit über zehn Jahre Teil der Welt und damit auch Teil des Teams, das hat sich durch die neue Position gar nicht so großartig geändert und funktioniert so besser als hierarchisch. Ich habe aber auch kein Problem damit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So wäre ich vermutlich auch als Mann.

Selbst, wenn Sie sie nicht als solche empfinden: Verändert so eine Machtposition den Menschen dahinter?

Das habe ich mich schon gefragt. Und auch da bin ich dankbar, all die Schritte nach oben hintereinander gemacht zu haben – erst als Reporterin, dann Redakteurin und Ressortleiterin, schließlich als Chefredakteurin. Weil ich in jeder Position von Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen gelernt habe, konnte ich mir treu bleiben und, habe ein Bewusstsein für andere Positionen behalten, und die Souveränität gewinnen können, das Amt auszuüben, ohne dass es mich als Menschen stark verändert.

Erschrickt man dennoch manchmal vor der Macht- oder zumindest Einflussfülle, die Chefredakteurinnen plötzlich haben?

Komischerweise nicht, und mir war nach zwei Wochen klar, genau an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Vermutlich auch, weil wir ein Kollektiv an Chefredakteuren sind, das im Zweifel als Korrektiv wirkt. Diese Einbindung im Team erlebe ich als überaus angenehm, ich arbeite im Alltagsgeschäft   eng mit dem Digitalchef Oliver Michalsky. Und ich kooperiere viel und immer mehr mit Jan Philipp Burgard vom Fernsehen… Insofern bin ich eigentlich nie in die Gefahr geraten, lonely at the top zu sein.

Mal vorausgesetzt, das gilt auch für Dagmar Rosenfeld an der WamS-Spitze: Hat sich die paritätische Aufteilung der vier Chefredaktionen zufällig ergeben oder war sie Plan der Geschäftsführung?

Das müssen Sie im Zweifel die Geschäftsführung fragen, ich glaube allerdings, es war schlicht dem Umstand geschuldet, dass die entsprechenden Leute, also geeignete Frauen, bereits hier waren. Der Axel Springer Konzern hat das Thema Frauenförderung schon sehr früh zur Priorität gemacht.

Die Springer SE dagegen wird weiterhin von drei Männern geführt, ergänzt immerhin von Niddal Salah-Eldin…

… die auch von uns aus der Welt kommt!

Und als weiblicher PoC die Abteilung Talent & Culture leitet. Ist diese Personalie bereits Ausdruck oder erst der Anfang einer entsprechenden Firmenkultur?

Beides. Ich empfinde es so, einen Verlag hinter mir zu haben, für den Frauen in Führungspositionen bereits selbstverständlich waren, als andere erst darüber nachgedacht hatten. Wir haben eine Führungsquote von fast 40 Prozent Frauen. Natürlich war es, als ich Journalistin wurde, überall noch anders als heute. Wir haben hier in der WELT zum Beispiel schon lange viele Ressortleiterinnen. Und gerade, weil das – anders als früher, wo wir darüber ständig intensiv diskutiert haben – jetzt gar nicht mehr groß thematisiert wird, halte ich diese Entwicklung für organischer als in anderen Redaktionen.

Wissen Sie das aus Ihrer persönlichen Arbeitserfahrung in diesen anderen Redaktionen?

Da ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in anderen Redaktionen tätig war, weiß ich das eher aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen oder über die Frauennetzwerke, zu denen ich branchenübergreifend Kontakt habe.

Tut mir leid, dass ich das Thema Gleichberechtigung durch meine Fragen womöglich daran hindere, organisch zu werden…

Mit dieser Frage müssen und wollen wir uns trotz aller Fortschritte weiter auseinandersetzen. Frauen, die fünf Jahre jünger sind als ich, haben schließlich einen anderen Zugang dazu als ich, die wiederum einen anderen hat als Frauen, die fünf Jahre älter sind als ich. Schon aus meiner Erfahrung heraus, als Journalistin anfangs immer mal alleine unter Männern gewesen zu sein und später dann zunächst eine der wenigen Ressortleiterinnen. Das hat sich total verändert, aber die weiblichen Stimmen sind – in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – abgesehen von ein paar lauteren Ausnahmen schon noch ein wenig leiser als die männlichen.

Quantitativ, weil sie zu wenige sind, oder qualitativ, weil sie übertönt werden?

Beides, wobei ich gar nicht weiß, ob wir quantitativ insgesamt noch immer in der Minderheit sind in der Redaktion, aber nach oben hin wird es halt kontinuierlich dünner, besonders in vielen Unternehmen. Es gibt gewiss Frauen, die es ablehnen, andauernd über Frauenthemen zu sprechen, ich finde das nachvollziehbar, und auch ich fühle mich nicht allein durch mein Geschlecht dafür zuständig.

Aber betroffen?

Ja. . Dass Frauen in unserer Branche so häufig über Dinge wie Familie und Kinder berichten, hat am Ende ja auch damit zu tun, dass sie sich privat noch immer mehr damit beschäftigen als ihre Männer. Und ja, ich finde, es müssen mehr weibliche Stimmen in die WELT und darum kümmere ich mich.

Heißt das, Sie haben da ein aktives Sendungsbewusstsein?

Sendungsbewusstsein weiß ich nicht, empfinde aber eine Stimmenvielfalt in jeder Beziehung als wichtig. Dazu gehören junge und alte, arme und reiche, mächtige und ohnmächtige, aber eben auch weibliche und männliche. Wenn Sie Zeitungen – und damit meine ich nicht nur unsere, sondern alle von SZ bis FAZ – aufschlagen, sehen sie auf den ersten vier, fünf Seiten vor allem männliche Köpfe. Diese Dominanz müssen wir ändern, weshalb wir bei Gastbeiträgen darauf achten, insbesondere auch Autorinnen zu fragen und Frauen im eigenen Haus ermutigen, ihre Stimmen zu erheben.

Tun Sie das auch ganz persönlich?

Klar. Ein Beispiel – vor dem internationalen Frauentag haben wir überlegt, ob wir daraus kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges eine Sondernummer machen oder ob wir es ignorieren. Wir haben uns dann für einen Schwerpunkt entschieden und Frauen eingeladen, über Freiheit zu sprechen. Aber nicht zwingend bezogen auf Geschlechterrollen, die Autorinnen sollten schreiben, was sie wollten. Und obwohl alle total unterschiedliche Ansätze verfolgt haben, stellte sich heraus: Freiheit ist auch ein sehr weibliches Thema. Denn wenn Frauen unfrei sind, ist es meist auch die restliche Gesellschaft.

Weil ihr Freiheitskampf im Grunde schon bei der Geburt beginnt und bei Männern erst mit der Volljährigkeit?

Das beste Beispiel erleben wir momentan doch gerade im Iran. Natürlich haben wir Frauen manchmal andere Perspektiven auf Dinge als Männer. Ich möchte aber viele Perspektiven sehen. Und grundsätzlich will ich niemanden nötigen, über irgendwas zu schreiben, weil er oder sie dafür prädestiniert erscheint. Das wäre ja auch wieder zwanghaft.

Wir beschränken das Thema Diversität hier gerade stark auf Geschlechterfragen. Wie sehr versuchen Sie, auch auf anderen Feldern inklusiv zu sein – Hautfarbe, Herkunft, Behinderungen zum Beispiel?

Wünschenswert ist all dies auf jeden Fall und daher auch ständig ein Thema bei uns. Aber der Journalismus hinkt da gerade im Vergleich mit anderen Branchen schon noch ein Stück hinterher. Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel, so schwierig ich den Begriff finde, wenn die Personen in dritter, vierter Generation hier leben, sind definitiv zu wenig vertreten in den klassischen Medien. Wenn man betrachtet, wie sich die Bevölkerung unter 30 jetzt zusammensetzt, ist es demnach keine altruistisches, sondern ein egoistisches Motiv, sie mehr in den Blick zu nehmen.

Kann mehr Diversität auf der Angebotsseite, also im Journalismus, eigentlich für weniger Wut und Hass in den Echoräumen der Nachfrageseite, also beim Publikum, sorgen?   

Das wäre glaube ich zu einfach gedacht, denn das Wutpotenzial der Gesellschaft wird von vielen Themen gespeist. Diversität zum Beispiel steigert es in einigen Schichten sogar noch. Aber so wichtig Journalismus in einer und für eine pluralistischen Demokratie auch ist: Wir sind keine Volkserzieher!

Bei all den Veränderungen, die das Blatt – in den vergangenen Jahren auch zusehends von weiblicher Seite mitgestaltet – seit Jahrzehnten durchmacht, geht der positive Wandel, was die Verkaufszahlen betrifft, jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung.

Sowohl die tägliche als auch die wöchentliche Zeitung haben natürlich das Problem aller Printerzeugnisse, nicht mehr zu wachsen. Das wird man weder in Deutschland noch anderswo je umdrehen. Aber unsere Zahlen sind doch generell gut!

Na ja, Abos und Kioskverkäufe sind 2020 unter 50.000 gerutscht, kaum ein Fünftel der Werte 20 Jahre zuvor – das ist auch im Vergleich aller Printmedien ein dramatischer Rückgang.

Wir denken schon seit langem vom Digitalen her, weit länger als andere Medienmarken, nämlich seit fast 20 Jahren, und unsere Website ist überaus erfolgreich.

Woran bemisst sich das?

Wir haben täglich zwischen 4 bis 5 Millionen Visits und stehen damit sehr weit vorne unter den überregionalen Medien, wir haben vor einer Weile die 210.000 Grenze mit digitalen Abos geknackt.

Und für die gedruckte Zeitung gilt, wie gesagt, dass ich es für einen Erfolg halte, das Niveau zumindest zu halten und nach der coronabedingten Delle wieder zugelegt zu haben.

Eine Delle, die auch von der enormen Zahl an Bordexemplaren herrührt, die 2020 nahezu komplett ausgefallen sind.

Ja. Aber wie gesagt, im Rahmen dessen, was heute zu erwarten ist, sind wir – trotz und wegen struktureller Veränderungen wie der neuen Wochenendausgabe kurz vor meiner Zeit – auf gutem Wege. Darauf kann man durchaus stolz sein.

Sie hängen also nicht am Papier?

Ich bin mit Zeitungen aufgewachsen, ich liebe Zeitungen, und bin immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn ich sie morgens aus dem Briefkasten hole. Aber die Zeiten ändern sich. Wir versuchen auch auf Papier jeden Tag die bestmögliche Zeitung machen und dafür neue Abonnentinnen und Abonnenten zu gewinnen, können aber auch keine Wunder vollbringen.

Dafür aber eine Digitalstrategie erstellen, die das absehbare Ende der gedruckten Welt kompensiert. Wie sieht die aus?

aus meiner Sicht kann man heutzutage – egal ob Papier oder online – nicht mehr von der einen Strategie sprechen. Dafür verändert sich zu viel. Wir können hier gern spekulieren, wie Journalismus in zehn Jahren aussieht, aber das sind eben ein Stück weit Spekulationen.  Der Axel Springer Verlag war mit Strategien wie digital first und online to print immer Vorreiter, wir beobachten permanent neue Entwicklungen und wie man sich  neu aufstellen kann.  Strategien sind langfristig, man muss sie aber auch kurzfristig anpassen können.

Sie steuern die Welt also auf Sicht Richtung nähere Zukunft?

Wir haben dabei alle stets die erweiterte Zukunft im Blick. Ich bin ja persönlich noch nicht kurz vor der Rentengrenze und möchte auch in 20 Jahren noch Journalismus machen. Das Wichtigste ist doch der Inhalt, nicht seine Form. Wo er zu lesen ist und wie, verändert zwar auch ein bisschen, was dort zu lesen ist, aber nicht die Grundsätze, nicht die Definition von gutem Journalismus.

Aber wie optimistisch sind sie denn beim Blick aufs Überübermorgen, dass Ihre Welt die große Flurbereinigung überregionaler, aber auch lokaler Zeitungen überlebt?

Sehr optimistisch! Ich bin sogar überzeugt, dass die Welt nahezu alles überlebt. Aber wenn man sich überlegt, wie die Branche vor 15 Jahren aussah, wäre es doch absurd zu glauben, in 15 Jahren wäre irgendetwas noch so wie heute. Wenn Sie allein schon betrachten, welche Zusammenarbeit es in den letzten paar Monaten bei uns von TV, Print, Audio und Digitalem gab, da sind wir echt Pioniere. Und wenn von den Neuerungen mal irgendwas nicht funktioniert, macht man halt neuere Neuerungen.

Fail, stand up, fail better…

Es ist  wichtig, den bedauernden Tonfall der Lethargie zu vermeiden, was früher alles besser war. Umso mehr muss man um seine journalistischen Grundlagen und Werte kämpfen,  an beidem besteht hierzulande ja immer noch großer Bedarf und Nachfrage. Anders als in den USA zum Beispiel.

Wo mittlerweile nicht nur die publizistische Vielfalt, sondern die Ein-Zeitungs-Countys aussterben.

Ja, mit Gegenden, in denen sich deutlich mehr als die Hälfte der Menschen ausschließlich per Facebook oder Youtube informieren und Posts auf soziale Medien für echte Nachrichten halten. Aber gerade da ist es doch auch unsere Aufgabe, das nicht nur zu kritisieren, sondern bessere Nachrichten und intelligente Debatten anzubieten, also gute Gründe, guten Journalismus zu nutzen.

Informieren Sie selber sich denn gelegentlich bei Social Media oder sind das reine Konsumplattformen?

Natürlich versuche ich mir jeden Tag einen Überblick zu verschaffen, was auch dort stattfindet, berücksichtige dabei aber natürlich die Bedingungen, unter denen die Inhalte dort zustande kommen. Debatten, die auf Facebook, Instagram, Twitter und auch auf TikTok, wo wir bewusst  nicht vertreten sind, stattfinden, würde ich niemals eins zu eins bei uns abbilden, verfolge sie aber aufmerksam.

Was poppt als erstes auf Ihrem Smartphone auf morgens?

Tatsächlich Emails und diverse Newsletter,  die meisten Zeitungen lese ich dann als E-Paper. Aber Eilmeldungen erreichen mich natürlich immer. Und die Webseite ist ständig offen.

Und was poppt als Letztes auf, vorm Schlafengehen?

Ehrlicherweise hab‘ ich früher stets aufgepasst, dass das Letzte abends ein Roman oder Sachbuch ist; es gelingt mir nur leider nicht mehr ganz so oft. Das hat aber auch mit der Nachrichtenlage zu tun, gerade in diesem Jahr. Wenn die wie zuletzt oft derart dramatisch ist, sitze ich doch mit Handy und Fernseher vorm Weltgeschehen.


Fredrichs Abgang & sexistisches London

Die Gebrauchtwoche

TV

30. Januar – 5. Februar

Es wäre ein Knall gewesen, der laut durchs Medienland scheppert und überall gehört werden müsste: Die Aufsichtsratsvorsitzende Julia Becker hat den vorläufigen Austritt ihrer Funke Mediengruppe aus dem Branchenverband BDZV in der Süddeutschen Zeitung am Wochenende nicht nur mit dessen Selbstverzwergung im Arsch von Mathias Döpfner erklärt, sondern der unfassbaren Misogynie im Journalismus. Zu dumm, das so was nur branchenintern wahrgenommen wird.

Bei ihrem Amtsantritt vor fünf – nicht 50! – Jahren nämlich sei die Enkelin des Funke-Gründers Jakob meist allein unter Männern von vielfach patriarchalischer Selbstgerechtigkeit gewesen, woran sich zwar etwas ändere, aber nur sehr, sehr langsam. Kaum zu glauben, dass in dieser Branche ausgerechnet Führungskräfte, denen sicht- und spürbar an Veränderung in Richtung Diversität gelegen ist, an sich selber scheitern.

Benjamin Fredrich, Gründer und Chef des liebenswerten Greifswalder Grafikmagazins Katapult, ist nach einem Übermedien-Bericht über nachlässige Spendengelder-Verwendung seiner ukrainischen Redaktion zurückgetreten. Fraglos ein kritikwürdiges Verhalten – das rechts dieser linken Mitte allerdings nicht mal Schulterzucken erzeugt hätte. Aber die Integrität demokratischer Kräfte (Katapult) ist im Vergleich zu derjenigen demokratiefeindlicher (Springer) seit jeher so groß, dass sie sich lieber selbst als ihre Gegner zerfleischen.

Nach diesem Prinzip brachten kürzlich Enthüllungen des geistesverwandten Böhmermann bereits den linksliberalen Medien-Liebling Finn Klymann zu Fall. Nach diesem Prinzip findet sich der gewissenhafte Louis Klamroth gerade in einem ComplianceVerfahren der ARD wieder, weil er seine Beziehung zur Klima-Aktivistin Luise Neubauer nicht veröffentlicht hatte. Nach diesem Prinzip kann die Bild-Zeitung seit Wochen aber auch Tag für Tag zwei ihrer Mitstreiter:innen mit Titelseitendreck bewerfen, da sie buchstäblich dummerweise das getan haben, was Bild-Leser gewissenlos tun: nach Bali fliegen. Simple neue Medienwelt.

In der es jedoch seit Kriegsbeginn eher noch komplizierter geworden ist, Wahrhaftigkeit zu vermitteln. Also das, was Reporter ohne Grenzen seit Jahrzehnten versucht. Zusammen mit den Zentren für Pressefreiheit Lwiw und Kyjiw weist die journalistische Hilfsorganisation auf den außergewöhnlichen Fall eines ukrainischen Reporters hin, den russische Truppen offenbar gezielt getötet haben. Sehr investigativ, höchst interessant, überaus erschreckend.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

6. – 12. Februar

Weder investigativ noch erschreckend, aber hochinteressant ist die norwegische Dramaserie Lifjord um einen Mordverdächtigen, der 20 Jahre nach seinem umstrittenen – so der Untertitel – Freispruch als lebensrettender Investor ins abgelegene Heimatdorf zurückkehrt. Bislang lief die Serie unter Ausschluss der deutschen Öffentlichkeit bei Sony. Nun sind sie ersten zwei Staffeln in der Arte-Mediathek zu sehen. Dort also, wo sich der Kulturkanal Dienstag dokumentarisch zur besten Sendezeit mit der Atomkraft auseinandersetzt.

Optisch, ästhetisch, akustisch opulenter ist dagegen die Sky-Serie Funny Woman, in der eine nordenglischen Schönheitskönigin ins London der Swinging Sixties zieht, die leider vor allem sexistisch waren. Um als Komikerin durchzustarten, muss Ex-Bond-Girl Gemma Arterton also Dutzende gläserner Decken durchstoßen. Und nach Drehbüchern von (Nebendarstellerin) Morwenna Banks hat Regisseur Oliver Parker Nick Hornbys Romanvorlage dabei zwar ein bisschen dick gezuckert. Dennoch ist die sechsteilige Comedy ab Donnerstag auf Sky von pfiffiger Sozialkritik.

Das gilt tags drauf in der ZDF-Mediathek auch für die 2. Staffel der Late-coming-of-Age-Serie Deadlines um eine Handvoll deutscher Großstadtfrauen im Hamsterrad der multioptionalen Gesellschaft. Und wenn die Umsetzung mit schwarzer, lesbischer, (auf)begehrender Sklavin im (noch) rassistische(re)n Amerika des vorvorigen Jahrhunderts nicht so berechnend auf divers machen würde, gälte es auch fürs Magenta-Drama Das Geständnis der Fanny Langdon am Sonntag.

Da ist dann sogar die andere deutsche Late-Coming-of-Age-Serie Tage, die es nicht gab mit Franziska Weisz, Diana Amft, Jasmin Gerat und Franziska Hackl als frühere Schulfreundinnen mit dunklem Geheimnis zeitgleich in der ARD-Mediathek ein wenig klischeefreier umgesetzt. Bleiben zwei weitere weiblich besetzte Netflix-Serien: Der Handel um (realexistierende) Frauen im Kuwaiter Börsenspiel der Achtziger. Für Fans koreanischer Liebesreigen dazu: Love to Hate you. Und für solche von Dominik Graf: sein Mittwochsfilm Gesicht der Erinnerung mit Verena Altenberger, die ihren toten Exfreund in einem 20 Jahre Jüngeren wiederzuerkennen scheint, schafft es bildgewaltig, Esoterik, Psychologie, Melodrama und magischen Realismus zu versöhnen.


Jennifer Wilton: Welt-Chefin & Werte-Fan

Dieter Nuhr würde nicht auf uns zugehen

Wilton-Artikel

Seit gut einem Jahr ist Jennifer Wilton (Foto: Paula Winkler/journalist) Chefredakteurin der Welt in Berlin und damit einer konservativen Zeitung auf dem Sprung in die Gegenwart, den also ausgerechnet eine Frau Mitte 40 mitorganisieren soll. Erster Teil eines Gesprächs fürs Medienmagazin journalist über rechten oder linken Publizismus, Frauen an der Spitze und die Debattenkultur im Hause Springer. Der zweite Teil kommt nächste Woche.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Wilton, empfinden Sie es eigentlich als Statement des Springer-Konzerns, dass die gute alte Welt der Wirtschaftswunderjahre im futuristischen Neubau residiert, während freshe, junge, digitale Start-ups wie der Business Insider im leicht angegilbten Stammhaus gegenübersitzen?

Jennifer Wilton: Ich würde „angegilbt“ sofort widersprechen. Und die Welt gehört in ihrem 77. Jahr zu den innovativsten Medienmarken. Es war von Anfang an so geplant, dass wir in den Neubau ziehen, sobald er fertig ist. Auch aus dem einfachen Grund, endlich im gleichen Gebäude mit unserem Fernsehsender arbeiten zu können, die Welt-Redaktionen Print, Digital und TV also auch räumlich miteinander zu verzahnen.

Journalistisch und organisatorisch war das schon vorher der Fall?

Ja, aber nicht in der gleichen Intensität. Nur ein Beispiel aus jüngster Zeit: Das erste Scholz-Interview nach dem G20-Gipfel lief bei Welt TV und wurde parallel bereits digital für die Online-Redaktion aufbereitet und für die Zeitung verschriftlicht. Unsere Reporter und Redakteure sind inzwischen täglich zu Gast im Studio. Da hat sich sehr viel getan.

Ihr Standort hat also nichts mit der konservativen Mischung aus Laptop & Lederhose zu tun, die Edmund Stoiber mal spezifisch bayerisch, also erfolgreich nannte?

Eher nicht (lacht). Als die Planungen begannen, gehörte zum Beispiel der Business Insider noch nicht mal zum Verlag. Mit konservativ oder nicht hat das also nichts zu tun.

Was genau ist im postideologischen, aber ziemlich populistischen Jahr 2022 eigentlich genau noch mal konservativ?

Auf die Welt bezogen würde ich den Begriff „konservativ“ um „liberal“ erweitern. Wir haben ein großes Spektrum an Meinungen im Blatt und auf der Seite. Wir verstehen uns als Portal, auf dem unsere Redakteure und Gastautoren Spielraum haben und ihn sich nehmen. Mit Konservatismus ist vor allem Wertekonservatismus gemeint.

Der heutzutage welche Werte vertritt?

Das ist angesichts aktueller Debatten gar nicht immer einfach zu benennen. In den vergangenen zwei Jahren zum Beispiel stand wegen der vielen Freiheitsbeschränkungen durch Corona das Liberale bei uns oft stark im Vordergrund. Darüber hinaus stehen wir aber immer auch für das, was man „bürgerliche Werte“ nennen könnte, Familie zum Beispiel, verteidigen aber zugleich die Freiheiten des Einzelnen, haben also keine grundsätzlichen Kontrapositionen etwa zur Homoehe.

Aber persönliche?

Es gibt innerhalb unserer Redaktion wie gesagt unterschiedliche Positionen, das macht uns aus. Ich persönlich etwa verteidige gesellschaftliche Kompromisse wie die Streichung des Paragrafen 219a in diesem Jahr, bei anderen wäre die Grenze da überschritten.

Und wo findet innerhalb solcher und ähnlicher Debatten die Abgrenzung nach rechts statt?

Überall und jeden Tag. Rechts und links an den Rändern ist nicht unsere Welt. Wobei ich mich frage, ob Sie die Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung auch fragen würden, wie sich ihre Zeitung von ganz links abgrenzen.

Genau das würden wir Judith Wittwer ungefähr zur selben Zeit des Interviews fragen, wie Sie, keine Sorge.

Ich würde mich auf die Position des liberalen Verfassungspatriotismus begeben und sagen: wir grenzen uns immer da von rechts ab, wo die Gültigkeit des Grundgesetzes in Frage gestellt, die freie Entfaltung des Einzelnen beschnitten oder es extrem wird. Darüber hinaus aber versuche ich auch, mich von Begrifflichkeiten wie links und rechts zu lösen, weil sie gerade für jüngere Generationen nicht mehr so entscheidend sind, wie sie es für ältere waren – zumal die Abgrenzung voneinander zusehends unklarer wird. Wir positionieren uns vor allem in der Mitte. Aber: Journalismus muss auch unberechenbar sein.

Wurde die Welt verglichen mit den Vorwendejahrzehnten, als sie politisch oft stramm rechte Kampagnen etwa gegen Palästinenser gefahren hat, da sozusagen von innen heraus entideologisiert?

Da nennen Sie ein eher unglückliches Beispiel, darüber könnten wir jetzt lang diskutieren. Bekanntlich orientierten sich damals wie heute alle Redaktionen von Axel Springer an Grundwerten, unseren Essentials. Die Zeit, die Sie da ansprechen, hat sich lange vor meiner als Journalistin abgespielt und man kann sie nur schwer mit heute vergleichen.

Nicht nur die Welt war damals eine andere, sondern auch Die Welt, meinen Sie?

Genau. Seitdem gab es immer gesellschaftspolitische Wellenbewegungen, auch im Blatt. Ein sehr maßgeblicher Schritt der Liberalisierung war da zum Beispiel, als der heutige Vorstandsvorsitzende…

Matthias Döpfner.

… die Welt Mitte der Neunziger als Chefredakteur übernommen und gleich mal dahingehend geöffnet hatte, mehrere taz-Redakteure zu uns zu holen.

Ihren Vize Robin Alexander zum Beispiel.

Der gehörte nicht zu dieser ersten Gruppe, sondern kam  später. . Aber auch andere Chefredakteure haben die Welt von heute mitgeprägt. Und Jan Eric Peters war da natürlich eine ganz andere Führungsfigur als etwa Roger Köppel. .

Hat sich diesbezüglich auch noch mal was geändert, seit sie den Führungsposten von Dagmar Rosenfeld übernommen haben?

Da sind die Unterschiede jetzt nicht so wahnsinnig groß, wir arbeiten ja eng zusammen. Und wichtiger als Ähnlichkeiten oder Differenzen bleibt auch, dass die Welt ein Debatten-Medium mit Führungspersonen unterschiedlich ausgeprägter Meinungen ist. Es gibt die erwähnten Grenzen, aber wir bewegen uns immer in einem definierten Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens versuchen wir, Haltungen verschiedenster Art möglichst breiten Raum zu geben. Ich selber kommentiere gern, wenn mir etwas am Herzen liegt, aber wenn ein Kollege die gut durchargumentierte Gegenposition dazu vertreten möchte – nur zu.

Aber wie eng, wie breit sind die Meinungskorridore der Welt – hat wirklich jede Haltung im Rahmen der Gesetze und Verlagsprinzipien Platz oder müssen sie politisch schon ein bisschen auf Linie von Chefredaktion und Stammpublikum liegen?

Natürlich arbeiten wir für unsere Leser und Zuschauer, und die schätzen Welt als Debattenmedium. Und wir haben in der Redaktion sehr, sehr lebendige Diskussionen, da kann es schon hoch her gehen, und das ist auch richtig so. Aber dabei war es bislang nur selten der Fall, dass mal jemand meinte, so geht’s auf keinen Fall. In der Regel betraf das aber Gastbeiträge.

Welche zum Beispiel?

Etwa, als mehrere Wissenschaftler im Juni unterm Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ die öffentlich-rechtliche Berichterstattung zu sexueller Identität und Zweigeschlechtlichkeit kritisiert haben. Meine Positionen sind andere, ich hatte mit dem Stück damals inhaltlich persönlich Schwierigkeiten.

Haben aber nicht ihre Richtlinienkompetenz als Chefredakteurin wahrgenommen und sie im Vorweg unterbunden?

Das Stück war angemessen als Gastbeitragt gekennzeichnet, und in Gastbeiträgen muss und darf mehr möglich sein darf als in einem Leitartikel. Danach erschien unter anderem ein Kommentar unseres CEOs, der eine ganz andere Position vertrat, und ein weiterer kritischer unseres Chefredakteurs Ulf Poschardt. Zur Rolle einer Chefredakteurin gehört, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen und andere sprechen zu lassen.

Und welche Kontrollinstanzen gibt es abseits vom Grenzschutz der Chefredaktion, damit solche Debatten nicht aus der Mitte des demokratischen Diskurses über deren Rand ins Extreme ausfransen?

Natürlich ist es die Aufgabe von Chefredaktion und Ressortleitungen, genau draufzuschauen, ob solche Debatten im Rahmen unserer Haltungen und Grundwerte bleiben. Aber zugleich ist die Redaktion auch ein Kollektiv, das Themen auch ohne Grenzschutz kontrovers diskutiert. Inhaltlich nehme ich eine Richtlinienkompetenz daher seltener wahr als formell.

Inwiefern formell?

Ich bin zum Beispiel höchst empfindlich, wenn es um die Trennung von Bericht und Meinung geht. Wo beides ineinander übergeht, greife ich schon mal ein. Diese Aufgabe wird allerdings nicht nur bei der Welt wichtiger; ich sehe bei diversen Websites und Zeitungen, dass die klare Trennung immer mehr aufweicht.

Wobei gerade die alte Medienbranche vollredaktionell betreuter, vorwiegend gedruckter Zeitungen doch seit Jahren betont, wie wichtig klare Haltungen gemeinsam mit regionaler Berichterstattung fürs Überleben sind?

Beides ist wichtig, aber gerade klare Haltung muss bleiben, wo sie hingehören – auf die Meinungsseite. Auch digital müssen Kommentare als solche gekennzeichnet werden. Das ist ein wesentlicher Punkt der dritten Überlebensstrategie: unbedingte Glaubwürdigkeit. Dass wir Debatten in den Vordergrund stellen, ändert daran nichts, solange Debatten als Debatten erkennbar bleiben und nicht wie Nachrichten aussehen.

Ist das nur ihre persönliche Haltung zum Qualitätsjournalismus oder objektivierbar, also dahingehend gepanelt, dass es auch Ihr Publikum von der Welt erwartet?

Unabhängig vom Anspruch der Leserinnen und Leser, der definitiv so besteht, unabhängig auch von der Welt als Medium, ist es vor allem eine journalistische Haltung, die nach 1945 ja nicht ohne Grund aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gebracht wurde.

Damals gab es allerdings auch nicht im heutigen Ausmaß Filterblasen und das, was abwertend Cancel Culture genannt wird. Wie geht ein altes Medium wie die Welt 77 Jahre später mit beidem um?

Filterblase finde ich eher gesamtjournalistisch problematisch, als dass wir als Welt eine wären oder hätten. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass nicht nur wir als Redaktion, sondern ich als Person es extrem problematisch finden, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr offen aussprechen darf. Ich empfinde den Begriff der „Cancel Culture“ allerdings oft als zu hart; nur weil man gewissen Sichtweisen oder Autoren kein Forum bieten möchte, wird noch nichts gecancelt.

Würden Sie denn extrem rechten Publizisten wie Götz Kubitschek oder extrem frauenfeindlichen Comedians wie Dieter Nuhr Foren bieten?

Für Kubitschek und seine Phantasien sind wir sicher nicht die richtige Plattform. Dieter Nuhr würde wohl eher nicht auf uns zugehen. Aber ich kann mich jedenfalls an keinen, an Fakten orientierten Text der letzten Monate erinnern, der es wegen persönlicher Vorbehalte gegenüber dem Autor oder der Autorin nicht ins Blatt geschafft hätte. Selbst Sahra Wagenknecht kam bei uns zu Wort, obwohl der Text persönlich an meine Schmerzgrenze ging.

Wie wichtig ist bei Ihrer Themensetzung und Personalpolitik die Provokation, also nicht abzuwarten, wie sich Debatten entwickeln, sondern sie bewusst entfachen, was Welt-Chef Ulf Poschardt ganz offen als quotenförderlich bezeichnet?

Wir sind da sicher unterschiedliche Charaktere. Aber es ist nicht falsch, zu provozieren, um Antworten zu forcieren. Zu einer lebendigen Debatte gehören immer auch pointiertere Standpunkte. Wir berichten über alles zunächst mal neutral, aber wenn wir dann mit einem zugespitzten Statement andere herausfordern, darauf zu reagieren, sehe ich darin nichts Verwerfliches. Im Gegenteil.

Ist es aus Ihrer Sicht denn sogar legitim, eine Debatte anzufachen, bevor sie überhaupt als solche wahrgenommen wird?

Nennen Sie mal ein Beispiel?

Die Hamburger Morgenpost hat mal von der Party einer Schülerin erfahren, zu der sie seinerzeit bei Facebook öffentlich, statt privat eingeladen hatte, und so viele Titelstorys dazu gemacht, bis es tatsächlich mit 2000 Gästen eskalierte. Geht das zu weit?

Ja, das finde ich. Aber da ging es ja nicht um eine Debatte.  Es ist gut, gelegentlich Debatten anzuregen, statt ihnen hinterher zu laufen.

Wären Sie persönlich denn streitlustig genug, wie Ihre Vorgängerin Dagmar Rosenfeld mit jemanden wie Markus Feldenkirchen vom Spiegel ins konservativ-liberale Gefecht zu gehen und damit in die Fußstapfen der legendären Streithähne Augstein/Blome oder Kienzle/Hauser zu treten?

Ja, ich fand das super.

Und steht es zur Debatte?

Im Moment nicht, aber vor dieser Form der Auseinandersetzung, sich immer wieder mit Vertretern gegensätzlicher Standpunkte zu batteln, habe ich größten Respekt, das würde mir Spaß machen.

Befinden Sie sich als frische, junge Kraft an der Spitze denn auch innerredaktionell da in diesen Battles?

Ich sehe meine Aufgabe häufiger im Moderieren. Aber es gibt natürlich Themen, bei denen ich andere Positionen einnehme als andere Mitarbeiter – wobei es da keine Rolle spielt, ob es Reporter sind, Redakteure oder Führungskräfte. Für alle ist da Raum zur Meinungsentfaltung