Aufmerksamkeitsschlachten & Asylentscheider

TVDie Gebrauchtwoche

22. – 28. August

„Aufmerksamkeitsschlacht in globalem Maßstab“, „Kybernetik der Erregung“, „publizistische Infektion“ – wenn sich der Tübinger Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen wie vorige Woche in der „Zeit“ mal wieder die digitale Boulevardisierung mitsamt ihrer brachialen Medien-Entwertung vorknöpft, hagelt es garantiert Bonmots zum Merken und Weiterverwenden. Aufregung ersetzt Substanz, so lautet seine unablässig geäußerte (und gut belegte) These. Längst findet sie als Reaktion aufs Netz auch im Fernsehen dauernde Beweiskraft. Während der fabelhafte Herr Böhmermann zum Beispiel im ZDF am unteren Rand der Wahrnehmbarkeit durch die Nacht entertaint, erzielt der sinistre Herr Maschmeyer beim Vox-Schleichwerben in der Höhle der Löwen absolute Rekordquoten.

Es ist ein Graus, der dadurch noch übertroffen wird, dass eine Idee aus dem Sauerland, doch endlich auch dort mal einen „Tatort“-Kommissar zu installieren, nicht einfach wegignoriert wird, sondern mit Adolf Winkelmann sogleich einen namhaften Regisseur findet, der diesen Mumpitz durchziehen würde. Bei so viel Redundanz bleibt nur noch der dringend nötige Hinweis an das ZDF, seine Zuschauer und etwaige Ethikräte, das derzeitige Traumschiff namens Amadea fahre wie ihre Vorgängerin MS Deutschland im realen Seeleben unter der Flagge des karibischen Steuerparadieses Bahamas, damit den Angestellten juristisch wasserdicht Hungerlöhne gezahlt werden, die nach deutschem Recht verboten wären. Jenes Recht übrigens, das in einem anderen Fall schäbiger Behandlung Schutzbedürftiger, sagen wir es mal vorsichtig, auch hierzulande nicht so ganz vollumfänglich korrekt angewandt wird. Bei der Bearbeitung gut einer halben Million offener Asylanträge nämlich. Bis Ende 2016 will sie Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, erledigt sehen. Nur – wer genau macht das eigentlich?

jochen-otten-24-jahre-entscheider-in-der-aussenstelle-trier-des-bundesamtes-100~_v-standard368_f45770Die Frischwoche

29. August – 4. September

Entscheider wie Jochen Otten, der in seiner Trierer BA-Zweigstelle Fälle wie den des somalischen Flüchtling Abdulahi Mohamed behandelt. Entscheider unter Druck heißt auch eine ARD-Dokumentation, die heute um 22.45 Uhr einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der ideologisierten Migrationsdebatte wirft. Wenn dieser juvenile Sachbearbeiter aus Deutschlands ältester Stadt Kundengespräche mit Aktenzeichen und Kürzel-Kaskaden selbst für Eingeborene unverständlich macht, wenn sein verstörtes Gegenüber als Objekt der Bürokratie dennoch irgendwie spürt, womöglich zum Subjekt des eigenen Lebens zu werden, wenn der BA-Chef mit Einstecktuch im Maßanzug zwischendurch die Notwendigkeit zügiger Erledigung anmahnt, wenn ein Rechtsanwalt währenddessen Untätigkeitsklagen gegen die Agentur anstrengt, wenn also endlich mal das ganze System hinter der „Flüchtlingskrise“ umfassend durchleuchtet wird, dann würde vielleicht auch der gemeine Pegida-Pöbler verstehen, dass es hier um Menschen geht, nicht um Nummern.

Zu dumm, dass der die ARD für „Lügenpresse“ hält und lieber den publizistischen Infektionen der Aufmerksamkeitsschlacht im Internet lauscht, das Bernhard Pörksen so trefflich beschreibt. In der allerdings wäre gewiss nie etwas so umfassend durchrecherchiert worden, wie, nur so ein Beispiel, der Jahrzehnte-, im Grunde aber Jahrtausende währende Missbrauch Schutzbefohlener in der katholischen Kirche. Am Freitag widmet Arte diesem systemimmanenten Skandal einer derart hierarchisch strukturierten Organisation den furiosen Debütfilm Verfehlung. Regisseur Gerd Schneider erzählt darin um 20.15 Uhr die uralte Geschichte von Verantwortung, Glauben und Verrat – allerdings nicht nur in Gestalt von Priestern, die Kindern Unfassliches angetan, sondern mehr noch solcher, die sehenden Auges geschwiegen haben.

Bei so viel fiktionalem Realismus ist es dann fast entspannend, beim Ratespiel mitzumachen, wer denn in der neuen Simpsons-Staffel ab Dienstag auf Pro7 Homer synchronisiert, nachdem seine alte deutsche Stimme Ende 2015 verstorben ist. Ein wenig näher an der Wirklichkeit sind dann wieder drei Fortsetzungen dieser Woche auf Netflix, denen zu folgen unbedingt ratsam erscheint. Am Freitag beginnt die zweite Staffel von Narcos, gemeinsam mit der nächsten kulinarischen Reise zu den Magiern der Töpfe namens Chef’s Tale, bevor am Sonntag House of Cards (endlich) in die vierte Runde geht. Alles zwar kostenpflichtig, aber unbedingt sehenswert.

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The Get Down: HipHop & Fernsehen

07GETDOWNJP2-master675Der Schampus des Rap

Die ersten Folgen von The Get Down, Buz Luhrmanns grandioser Gegenwartskulturgeschichte am Beispiel der Frühphase des Rap in New York, sind online. Die bislang teuerste Eigenproduktion von Netflix verspricht zwar nicht die Quintessenz dramaturgischen Erzählens, aber ein Feuerwerk der Zeichen und Codes in fantastischer Kostümierung.

Von Jan Freitag

Es gibt im Pop eine Regel, die eher früher als später jedes Aufbegehren, jede Kreativität, jeden Eigensinn darin zugrunde richtet: Verzeichnet ein Musikstil samt Lebensgefühl im Underground messbaren Erfolg, zieht ihn der Mainstream zügig ans Tageslicht und macht daraus eine Massenkultur. Das ist Blues und Jazz einst ebenso widerfahren wie Rock’n’Roll, Techno, Metal, ja selbst Punk. Doch nichts und niemandem erging es nachhaltiger so als: HipHop.

Nachdem die subkulturelle Ausdrucksform des Sprechgesangs im heruntergekommenen New York der späten Siebziger entstanden war, dauerte es schließlich kaum zehn Jahre, bis daraus jenes Multimegamilliardengeschäft erwachsen ist, das den Musikmarkt heute dominiert wie vor ihm nicht mal der weltumspannende Zwischenkriegsswing. Umso erstaunlicher ist es da, dass sich bisher noch kein TV-Sender ernsthaft seriell mit Rap auseinandergesetzt hat. Und umso logischer, dass diese Leerstelle von einem Streamingdienst gefüllt wird.

Netflix nämlich hat am Freitag „The Get Down“ online gestellt, und es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Nemesis des linearen Fernsehens die strafende Göttin schwarzer Musik fiktionalisiert. In den ersten der sieben 60-minütigen Folgen veranschaulicht das bislang teuerste Projekt des Internetsenders, wie sich HipHop 1977 aus den Ruinen von Sinatras Big Apple zum lukrativsten Sound aller Zeiten erhob. Als R’n’B und Funk zuvor in die weiße Mittelschichtsdisco entführt wurde, holte sich das afroamerikanische Ghetto seinen Besitz nämlich zurück, riss ihn Fetzen, fegte sozialkritische Wortkaskaden darüber, dass Ronald Reagan vor Sorge die Nationalgarde gen Bronx beordern wollte – fertig war ein Genre, das wenig mehr kostete als zwei Plattenspieler und die Wut der Protagonisten.

In der Serie sind das zwei New Yorker, die dem Schicksal dunkelhäutiger Ghettokids jener Tage – kriminell oder arbeitslos zu werden – dadurch entkommen, dass sie bei Grandmaster Flash in die Lehre gehen. Für Außenstehende: Geboren als Joseph Sadler, hat der unverwüstliche Gottvater des real existierenden Rap seinerzeit fast sämtliche DJ-Techniken erfunden, die dem HipHop das klangliche Gerüst lieferten. In der Serie spielt ihn Mamoudou Athie zwar eher als tragende Nebenrolle, grundiert mit ihr aber eine Musikserie, die dank der politischen Bedeutung des „CNN der Schwarzen“, wie Rap oft genannt wird, weniger Musical als Historytainment ist.

Und dafür, die Musikalität trotzdem nicht nur hörens-, sondern auch sehenswert zu machen, sorgt Buz Luhrmann. Wie schon mit seinen Kinoblockbustern „The Great Gatsby“ oder „Moulin Rouge“, erzählt der Showrunner auch in seiner ersten TV-Serie nicht nur die Geschichte eines Genres, sondern stattet sie zu einem detailversessenen Kostümfest aus, dass der Flatscreen glatt zur alten Röhre wird und das New York von heute zum Moloch der Siebziger. Rund zehn Jahre hat Luhrmann dafür in sein Herzensprojekt gesteckt, Netflix mehr als 1,3 Millionen Dollar pro Folge aus der Nase gezogen und jede einzelne – so scheint es nach den ersten – ist es wert.

Denn beraten unter anderem von Grandmaster Flash selbst, begnügt sich der Zehnteiler, dessen drei finale Folgen noch ausstehen, nicht mit dem Abriss geschichtlicher Fakten in opulentem Outfit; er sprüht nur so vor Interesse am Sujet. Dass dabei dauernd gerappt wird, bis der Schweiß vom Bildschirm tropft, macht das Ganze abseits all der Hintergründe sogar leicht verdaulich. Was für ein Spaß. Im Spiegel stand zwar, wie so oft bei Buz Luhrmann gleiche er einer Flasche Schampus, die man kräftig geschüttelt zu vielen Ohs und Ahs öffnet, danach sei aber nur noch ein schaler Rest zum Trinken vorhanden. Ist was dran. Kleine Korrektur allerdings: Hier werden Hunderte Flaschen geschüttelt. Dass am Boden nur wenig übrig bleibt, ist da durchaus verschmerzbar.


Olympialoch & Sommerlücke

TVDie Gebrauchtwoche

15. – 21. August

So, der letzte Höhepunkt des an Höhepunkten jetzt auch nicht gerade armen Sporteventjahrs ist vorbei und damit die vorerst letzten Sommerspiele, in denen Misstöne vom, Kritik am, Randsportarten im Premium-Produkt Olympia während der Wettkampfphase sichtbar werden. Denn wenn Eurosport die Veranstaltung beider Jahreszeiten hierzulande im Auftrag des US-Unternehmens Discovery Communications für stolze 1,3 Milliarden Euro bis 2024 überträgt, dürfte der ertragsorientiert Konzern im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Grundversorgern Null Interesse daran haben, seine Ware schlechtzusenden.

Doping? Vielleicht mal im Nebensatz… Korruption? Soll es geben, womöglich, aber eigentlich nicht… Nachhaltigkeit? Ist doch alles so schön bunt hier… Politik? Read the IOC-Statute, stupid… Terror? Ist doch wohl eher derjenige ewig stänkernder Gutmenschen… Alles also ganz im Sinne des betriebsblinden Schönwetterpräsidenten Dirk Bach, dessen TV-Vermarkter OBC wie in Rio gewiss peinlich genau darauf achten wird, nur Friedfreudeeierkuchenbilder zu zeigen. Schöne neue Olympiawelt im Kommerzfernsehen.

Das uns dafür zum Beispiel Peinlichkeiten von Wolf-Dieter Poschmann bis hin zu Bely Réthy erspart, die jeden Kommentar angepeitscht von debilem Sportpatriotismus garantiert zur Folter machen. Oder den albernen Disput um Christoph Harting, der sich nach seinem Sieg im Diskurswurf erdreistete, während seiner Nationalhymne nicht in Ehrfurcht zu erstarren. Dabei war seine vermeintliche Respektlosigkeit einer der ganz wenigen Momente impulsiver Wahrhaftigkeit in der scripted reality von Rio. Man hätte ihr besonders im Fernsehen etwas weniger Dienst nach Drehbuch gewünscht.

0-FrischwocheDie Frischwoche

22. – 28. August

Ob Factual Entertainment der Art von Die Höhle der Löwen inszeniert oder spontan ist, wird dagegen ein ebenso großes Rätsel bleiben wie dessen anhaltander Erfolg. Dienstag jedenfalls geht das Existenzgründertribunal um 20.15 Uhr bei Vox in die 3. Staffel und wird dabei abermals weit über Senderschnitt Zuschauer anlocken, von denen man nicht recht weiß – wollen sie die Kandidaten nun scheitern oder reüssieren sehen? Tendenz: letzteres, was in der von Dieter Bohlen und Heidi Klum befeuerten Gehässigkeitskultur des Casting-Fernsehen ja schon mal durchaus der Rede wert ist.

Seit die RTL-Tochter das britische Konzept junger Start-ups, die fünf mehr oder minder prominente Investoren vor laufender Kamera von sich überzeugen wollen, importiert hat, erntet das Cover nämlich icht nur Quoten weit überm Senderschnitt, sondern ungewohnt positives Feedback im Feuilleton. Und das dürfte auch in neuer Besetzung anhalten: Statt Vural Öger bietet nun schließlich Carsten Maschmeyer mit, anstelle eines insolventen Reiseveranstalters also ein verhasster Finanzdienstleister, der ganz sicher adäquat polarisieren wird.

Im Kreise der Konkurrenz darf er nun 120 Minuten Schleichwerbung pro Folge für sich und andere machen, etwa einen Klebestift mit LED-Härtung, dem saturierte Geldgeber mit Labels von e24 (Frank Thelen) bis HSE24 (Judith Williams) kostenlose Primetime-PR im stereotypen Ambiente gönnen, das für die einzige Frau der Runde natürlich nur die Rolle der „Shopping-Queen“ übrig hat, die sich (ent)kleidet, als werde sie nach der Höhe von Absätzen und Rocksaum entlohnt – aber nun: das Ganze ist auch diesmal erstaunlich unterhaltsam. Typisch DFab morgen um 20.15 Uhr im Ersten seltsamerweise auch der talentierte Ralph Herforth mit einer tragenden Nebenrolle als Zoo-Direktor badet. Scheint finanziell schon besser gelaufen zu sein, beim Fiesling vom Dienst… Zeitgleich auf Arte allerdings gibt es dann aber wirklich etwas sehr Sehenswertes: Olympia 36, ein französischer Dokumentarfilm, der die erste echte PR-Orgie des Sports mit unfassbarem Material bebildert, das auch abseits vom Faschismus zeigt, wie kommerziell und professionell die Spiele schon vorm Fernsehzeitalter waren. Und so richtig grandios wird es dann am Donnerstag bei ZDFneo: Jan Böhmermanns NEO MAGAZIN ROYALE kehrt um 22.30 Uhr zurück, wiederholt tags drauf um 0.45 im ZDF. Endlich.


Dinosaur Jr., B. Talent, Album Leaf, I Am Jerry

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Dinosaur Jr.

Wer im Glashaus sitzt, soll bekanntlich nicht mit Steinen schmeißen. Als die Hippieband Dinosaurs ihren Namen 1986 gegen drei junge Postpunks verteidigte, ersetzten Letztere den Plural durch Jr. und traten den Rechteinhabern damit verbal in die welken Ärsche. Falls 30 Jahre später jüngere Newcomer auf die Idee kämen, sich Dinosaur Jr. zu nennen, könnten die Platzhirsche also ebenfalls klagen – oder altersgerecht Sr. hinters Reptil klemmen. Die Größe dazu hätten sie. 30 Jahre nach ihrem Debüt, dessen rotziger Garagensound dem Grunge späterer Tage aufgelockert durch fröhlichen Powerpop vieles vorweggenommen hatte, klingen Dinosaur Jr. in Originalbesetzung so wie damals – aber nicht abgehangen, sondern fein gereift.

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Das unverwüstliche Slacker-Falsett von J Mascis lungert wie eh und je angenehm beiläufig über dem gemeinsamen Noise-Geschrammel, als würde er mit Lou Barlow am Bass und Drummer Murph bloß in Papas Keller spielen, statt Platten aufzunehmen. Das aber machen sie seit der Reunion 2005 unbeirrt. Unbeirrt gut. Ein, zwei seifige Balladen können sich Männer über 50 nie verkneifen; doch wenn Stücke wie Goin Down dissonante Soli über grobe Riffs streuen, verliert die Versöhnung von Hardcore und Collegerock jede Patina. Live fast, die old!

Dinosaur Jr. – Give A Glimpse Of What Yer Not (Jagjaguwar)

billy-talentBilly Talent

Billy Talent sind vor einigen Jahren nicht unbedingt angetreten, um irgendetwas zu versöhnen. Doch als das kanadische Quartett 2003 seine Punkwurzeln unter neuem Namen kappte und eine besonders schrille Form des Alternative-Rock hochzog, konnte man darin durchaus einen Vermittlungsimpuls lesen: Zwischen dem psychedelischen Crossover von Faith No More und dem metallischen von Limp Bizkit klaffte seinerzeit ein Loch, das die Band mit genresprengender Intensität füllte. Nun hat sie etwas ereilt, das selbst halbkörpertätowierten Gitarrenrowdys zuweilen passiert: Billy Talent sind ruhiger geworden.

Ein bisschen. Bekamen Unbeteiligte beim Nummer-eins-Album II von Benjamin Kowalewiczs hochenergetischem Geschrei noch Ohrensausen, klingt das fünfte, als schalte er aus Höhenangst zwei Gänge zurück. So gesehen ist Afraid of Heights eine Vorwärtsbewegung rückwärts. Der Gesang klingt längst wie Mike Patton, Ian D’Sas Soli nach Hair Metal, vieles arg theatralisch und (wohl auch wegen des krankheitsbedingten Ausfalls von Drummer Aaron Solowoniuk) nachdenklicher. Aber das ist allemal besser, als den alten Rotz krampfhaft zu konservieren, bis die Tattoos vom Arm labbern. Nun labbert eben manchmal der Sound. Was besser ist, wissen nur echte Fans.

Billy Talent – Afraid of Heights (Warner)

Album_Leaf_Album_Cover_Between_WavesThe Album Leaf

Und wo wir grad bei alten Hasen im vergleichsweise neuen Revier sind: The Album Leaf, das Projekt vom früheren Tristeza-Gitarristen Jimmy LaValle, hat eine frische Platte rausgebracht. Und abgesehen von gefühlt ein paar Hundert Kollaborationen und Soundtracks ist es angeblich erst das fünfte in fast 20 Jahren, wirkt beim Zuhören aber wie so oft, als hätte man das Ganze schon tausendmal gehört – diese flächigen Indietronic-Arrangements, in denen echte Instrumente gesampelt klingen und digitale Einsprengsel seltsam analog. Doch Between Waves ist bei aller Geschmeidigkeit abermals ein Werk von so eindringlicher Tiefe, dass ein paar Wiederholungen von früher gar nicht weiter stören.

Denn wie zuvor erinnern die vorwiegend instrumentalen Stücke eher an Symphonien als Tracks, was mit Gesang versehen nicht nur wegen des entspannten Popfalsetts im Stile von The Notwist die Höhen ganz großen Pops erklingt. Mit Bläsersequenzen, Geigenfetzen und gelegentlicher Atari-Spielerei gerät das Ganze dann nicht nur zu einer weiteren Note im anschwellenden Werk des harmoniesüchtigen Kaliforniers, sondern erhält auf fast magische Art und Weise Alleinstellungskraft. Sicher, es läuft ein wenig durch einen durch, allerdings wie gute Filmmusik, die man auch kaum merkt, wenn sie passgenau ist. Schon wieder ein schönes Album von The Album Leaf, diesmal ganz ohne Altersmilde; dafür war das aktuelle Quintett einfach nie tough genug…

The Album Leaf – Between Waves (Relapse Records)

Hype der Woche

I_am_Jerry_Habicht_Album_Cover_1024x1024pxI Am Jerry

Apropos tough: Ketten. Goldketten. Lange Goldketten. Und zwar (ganz wichtig) überm Schlabbershirt mit hochgekrempelten Ärmeln (oder ohne). Ist das jetzt die neue neue deutsche Härte, der online verbreitete Styling-Tipp irgendeines Lifestyle-Bloggers, noch so ein ironischer Bruch im permanenten Zitiergewitter des Konsumpopkonsums oder alles zusammen, erdacht in der PR-Abteilung von Warner? Egal – I Am Jerry, angeblich vier Jugendfreunde aus dem Ruhrgebiet, tragen zur perfekt durchdeklinierten Späthipsteruniform mit Stirnrunzelträumerblick ihre Goldkettchen offen und das ist auch schon das Bemerkenswerteste an ihrem Debütalbum, das laut Selbstbeschreibung von Generalisten der neuen Generation gemacht wurde, also in keine Schublade blablabla… Habicht mag von echt hübschen Jungs eingespielt worden sein; dass  die Platte keinem Genre zuzuordnen sein soll, liegt schlicht daran, dass sie sich aus jedem das rauspickt, was am meisten Verkäuflichkeit garantiert. Ergebnis: Semipermeabler Pop wie vom WM-Sampler, geistig leer und emotional ausgebrannt. Vielleicht doch eher Goldschmied-Ausbildung als Popstars? Nur so ein Vorschlag…


Olympias Abschied & Sherlocks Rückkehr

TVDie Gebrauchtwoche

8. – 14. August

Zum Abschied sagt man bekanntlich leise Servus. Servus TV, um genau zu sein. Da Dietrich Mateschitz, der umwelt-, gesundheits- und arbeitnehmerfeindliche Brausedosenmüllmilliardär mit werbewirksamem Fernsehspielzeug genug von bockigen Mitarbeitern hat, die so was Impertinentes wie einen Betriebsrat gefordert haben, macht sein programmatisch durchaus achtbarer Kanal Ende 2016 die Schotten dicht.

Nicht das einzige Lebewohl dieser Tage übrigens. Am Wochenende endet – endlich? endlich! endlich!? – die olympische Farce von Rio mit ihrer funktionellen Selbst- und medialen Fremdbeweihräucherung von Friede, Freude, Fairness, trallalla. Und damit bleiben uns vorerst auch haarsträubende Situationen wie jene erspart, als das ZDF am Beckenrand der Schwimmwettbewerbe mit großem Furor eine – zugegeben mehrfach gesperrte – Starterin aus Russland an den Staatsdopingpranger stellt, um sodann zur eigenen Reporterin Kristin Otto zu schalten, an die man sich ja irgendwie auch vornehmlich im Zusammenhang mit Staatsdoping erinnert. Nur eben ohne Pranger, zumindest senderintern.

Bis all dies vier Jahre lang aus dem Blickpunkt der Weltöffentlichkeit verschwindet, muss sich das weniger sportbegeisterte Publikum jedoch noch ein paar Tage mehr mit Wiederholungen begnügen.

sherlock-der-leere-sarg-104~_v-varm_8c4223Die Frischwoche

15. – 21. August

Wozu Der leere Sarg ausdrücklich nicht zählt, obwohl Fall 1 der dritten Staffel von Sherlock bereits seit geraumer Zeit auf Netflix abrufbar ist. Am Freitag um 23.30 Uhr wandert die sensationelle Filmreihe um Sir Arthur Conan Doyles modernisierten Detektiv ins frei empfangbare Fernsehen und das ist selbst angesichts der lausigen Synchronisation unbedingt empfehlenswert.

Nachdem er im Staffelfinale zuvor von einem Hochhausdach in den Freitod gesprungen zu sein schien, steht er plötzlich vor Dr. Watson, um London vor einem Bombenanschlag zu bewahren. Garniert wird die Rückkehr mit etwas mehr Humor und Tempo, bei dem selbst eingefleischte Fans zwar denken könnten, die zappelnd geschnittene Bildfolgebeschleunig einer beiläufigen Szene aus der Londoner U-Bahn zu Beginn sei selbstverliebt und nutzlos. Doch natürlich öffnet sich damit bald ein unerwartetes Fenster in die Lösung des neuen Falls.

Noch spannender am siebten Einsatz des runderneuerten Detektivduos ist allerdings, dass der soziopathische, weil übermenschliche Teil davon erstmals normalmenschliche Seiten zeigt, die ihn nach zweijähriger Abstinenz manchmal fast empathisch wirken lassen in diesem herausragenden Fall, der ziemlich zeitgenössisch von Terror handelt. Ein Terror, der grad die halbe Welt zu ereilen scheint, kaum ein Land jedoch mehr als die Türkei – von innen wie von außen. Eine sehenswerte 3sat-Doku zeigt am Freitag um 20.15 Uhr, was er mit dem Tourismus und damit der Gesellschaft insgesamt anstellt.

An neuem wirklich sehenswert ist ansonsten allenfalls die neue Folge der Eigeninterviewreihe Kessler ist… Am Donnerstag um 23.30 Uhr ist Hugo Egon Balder an der Reihe, der nur für Außenstehende einzig humoristische Facetten hat. Michael Kessler wird sie gewiss alle offenlegen. Ansonsten aber wie gesagt: Wiederholungen. Empfehlenswert wären da folgende. Heute zum Beispiel Stanley Kubricks rätselhaft brillantes SciFi-Everwhite „2001 – Odyssee im Weltraum“ von 1968 um 20.15 Uhr auf Arte. Ein Jahr älter und zweieinhalb Stunden später auf Servus läuft das oscarprämierte Kostümfest Cromwell – Der Unerbittliche um den republikanischen Landadligen im Kampf mit Karl I. (Alec Guinness). Tags drauf, für Kriminostalgiker*innen: Usambaraveilchen (20.15 Uhr, BR) ein Münchner Tatort mit Gustl Bayrhammer und einem Mord in der Nachbarschaft, wie es 1981 üblich war, als Derrick den Zeitgeist geprägt hatte.

In jeder Hinsicht moderner, aber auch ein bisschen nostalgisch: das Debüt von Charlotte Lindholm namens Lastrumer Mischung von 2002 im Rahmen der Ersteinsatzwiederholungen am Mittwoch, 22 Uhr, an gleicher Stelle gefolgt von Corbuccis fabelhaft trashigem Spätwestern Leichen pflastern seinen Weg (1971) mit einem Klaus Kinski als Kopfgeldjäger im Schnee zum Niederknien. Und zum Schluss der Doku-Tipp: Verbotene Filme (Mittwoch, 22.05 Uhr, Arte) – eine Spurensuche zu 40 Vorbehaltsfilmen, die sich seit der NS-Zeit unter Verschluss befinden.


Sivan Talmor, Camera, Arkells, Blossoms

CACD8455_Pac_Talmor_print.inddSivan Talmor

Wer aus Israel kommt, muss sich darauf gefasst machen, jenseits der ziemlich kurzen Grenze schnell als Botschafter dieses Landes eingeordnet zu werden, das dank seiner geringen Größe im Kreise feindseelig gesinnter Staaten nur mit größtmöglichem Zusammenhalt überlebensfähig scheint. Auch Sivan Talmor ist sich dessen voll bewusst, wenn die Singer/Songwriterin nun mit ihrem englischsprachigen Debütalbum (nach eine auf Hebräisch) in alle Welt hinauszieht – was sie unbedingt sollte, denn Fire ist ein siebenteiliger Almanach des globalen Pop von so hinreißend verspielter Intensität, dass die Welt dafür gar nicht genug ist.

Ihre Botschaft sei allerdings gar nicht unbedingt Liebe und Frieden, sagt sie selbst. Die 29-Jährige gibt der Platte und damit sich selbst lieber etwas anderes mit auf den Weg in die Ferne: Intimität. In der Tat. Zerbrechlich, fast engelsgleich klingt ihr Gesang zu sprühenden Folkmelodien manchmal. Dann aber wird er auch wieder kraftvoll und verwegen, als als rausche sie im offenen Mustang durch Mexico. Mariachi und Americana klingt da zuweilen durch, Nancy Sinatra und Serge Gainsbourg, Theatralik und Chanson. Manchmal pfeift sie dazu fröhlich, dann spricht nur die Gitarre, aber stets das Herz einer Frau, die sich selbst so wenig wichtig nimmt wie ihre Herkunft. Ein traumhaft schönes Album zum Abschalten und Dranbleiben.

Sivan Talmor – Fire (Chaos Rec)

cameraCamera

Wenn es um musikalische Betriebstemperaturen geht, sind sie selbst im fernbeheizten Pop oft weniger die Folge äußerer Wärmezufuhr als innerer Gemütslagen. Camera würden so gesehen wohl selbst im Eisschrank glühen. Auch auf seinem vierten Album macht das Trio aus Berlin zerzausten Krautrock, der sich aus dem Bauch nach außen brennt. Dem psychedelischen Teppich ihrer bekifften Ahnen der frühen Siebziger weben sie dabei allerdings zwei Fäden unter, die seine Gestalt nachhaltig verändern: Aberwitziges, von fiebrigen Drums befeuertes Tempo, das weniger von beats per minute als von intensity per second herrührt.

Und von irrlichternden Synths, als wollten sie die Autojagden grisseliger B-Movies nachvertonen. Das basslastige Grummeln hetzt schon in Affenfaust zum Einstieg so ergreifend über Orgeltupfer hinweg, dass selbst das permanente Gitarrensolo darin cineastische Melancholie wachruft. Kein Wunder – stammt Steffen Kahles doch aus der Filmmusik und entwirft nun für Camera die Tonkaskaden wie Bildabfolgen. Zum Ende hin verlieren sie sich zwar leicht im Rausch ihrer Protagonisten; bis dahin aber heißt es: Im Ford Mustang anschnallen und mit Vollgas in die Häuserschlucht.

Camera – Phantom of Liberty (bureau b)

arkellsArkells

Verrückte Jungssachen, die große Jungs halt so machen, gehen aus adulter Sicht meist in die kurze Hose. Enthemmte Sauftouren etwa ohne Gedanken an morgen: Im Kino lachen darüber vor allem Gleichgesinnte, denen jeder Satz ohne PS und Promille schon einer zu viel ist. So gesehen sollten die Arkells uns auf ihrer vierten Platte kurz zu denken geben. Im Video zum Eröffnungsstück Drake’s Dad etwa gehen die fünf Kanadier gleich mal mit Party am Pool, Dosenbier beim Duschen und Rock ’n’ Roll rund um die Uhr steil.

http://www.vevo.com/artist/arkells?utm_medium=embed_player&utm_content=artist_image&syn_id=af330f2c-5617-4e57-81b5-4a6edbef07cc

Doch wie der hinreißende Max Kerman ins Chaos singt, wie seine Stimme zuweilen nach oben ausbricht vor Euphorie, wie der entfesselt fröhliche, dabei filigran komponierte Southern Rock dazu um die Häuser rennt, als hätten sich Franz Ferdinand und Del Amitri zur Supergroup vereinigt – da sprüht aus jedem der elf Tracks so viel lebensbejahender Schwung, dass man ihnen alle Plattitüden ebenso leichten Herzens nachsieht wie die thematische Arglosigkeit. Jungssachen für Erwachsene ohne Hangover-DVDs im Regal – Ausgelassenheit kann so klug klingen.

Arkells – Morning Report (Last Gang Records)

Hype der Woche

blossomsBlossoms

Das waren noch Zeiten, als man Shoegazer an Hochwasserröhren erkannte und Hochwasserröhren am Shoegazer. Heute starrt eigentlich jeder an hautengen Jeans über Knöchelhöhe vorbei auf seine Schuhe, was die Verknüpfung von Musikstil und Kleidung weiter erschwert. Dennoch dürfte vermutlich jeder, der die Blossoms aus dem Großraum Manchester ohne Hörprobe sieht, schnell mit Zuordnungen bei der Hand sein: bisschen Synthie, Wave und Indie, angeblich beeinflusst von Arctic Monkeys, Depeche Mode, Doors wie Kritiker vorm gleichnamigen Debütalbum (Warner) halluzinierten. Ergo: das neue siedend heiße Britpopding? Von wegen! Englands meistgehypte Band klingt, als sei ihr Demo-USB in einen Eimer Best-Of-Tapes der 80er gefallen und von StockAitkenWaterman rausgefischt worden. Die zwölf Stücke der fünf sorgsam verstrubbelten Schulfreunde sind so perfekt auf modernisierte Nostalgie gebürstet, dass einem der Kopf schwirrt vor Codes und Referenzen. Für Rentner klingt da Chris Norman durch, für deren Kinder Jarvis Cocker und für die Enkel Justin Bieber. Alles hochprofessionell konzipiert, alles aber auch mit dem Soul eines Algorithmus im ersten iMac. Bitte rasch abkühlen!


2 Bier – 1 Platte

IMG_4856Swearing At Motorists & CAN

An einem lauschigen Sonntagabend im Juli finden sich nicht viele Menschen in kleinen, verrauchten Kneipen ein. Im Otzentreff auf St. Pauli war das letzte Woche anders. Zum Todestag von JJ Cale und dem nahenden Todestag von Michael Karolis fand – wie passend – die JJ Cale & CAN memorial night statt. An den Turntables stand Martin Boeters, Drummer der worlds local band Swearing At Motorists und der Gruppe SPORT. Als der Abend noch jung und das Bier noch kalt war, lies er eine Platte einfach mal laufen und erzählte mir von seiner Leidenschaft für CAN.

Interview: Marthe Ruddat

Martin Boeters: Wir müssen die Platten hier eigentlich mal eben durchgehen, damit du verstehst, wie ich eigentlich auf CAN gekommen bin.

In chronologischer Reihenfolge hält Martin all seine Platten von CAN auf dem Schoss.

Die erste Platte war die Monster Movie, 1969 kam die raus. Damals haben sie sich noch The Can genannt. Da ist so ein Wahnsinns-Stück drauf: Yoo Doo Right. Das ist eine ganze Plattenseite lang, zwanzig Minuten ziemlich genau. Dieses Lied habe ich mit 16 auf irgendeiner Draußen-Drogen-Party gehört und bin total durchgedreht, weil ich es so super fand. Über dieses Stück bin ich auf CAN gekommen.

CAN fanden sich in ihrer Ursprungsbesetzung 1968 in Köln zusammen und definierten mit ihrem ersten Album Monster Movie ihren avantgardistischen Stil. Die Band veröffentlichte unzählige Platten. Überreicht wurde der Preis von den Red Hot Chili Peppers, die gleichzeitig ihre große Anerkennung aussprachen.

Der Anfang einer großen Liebe?

Ja. Ich bin dann direkt auf den nächsten Flohmarkt bei uns im Dorf gegangen. Da habe ich aber erst mal die Future Days und die Radioaktivität von Kraftwerk gefunden. Diese Platten haben meinen Musikgeschmack und mein Hörempfinden sehr geprägt. Ich habe mich dann total auf CAN gestürzt und wollte unbedingt die Monster Movie haben. Bei meinem nächsten Besuch in Hamburg war ich bei Michelle Records, da habe ich die Soundtracks aus dem Regal gefischt. Und die besagte Platte, die ich Dir heute mitgebracht habe: die Delay 1968.Das sind Aufnahmen von 1968 und 1969, also eigentlich noch vor der ersten Platte. Sie kam aber erst 1981 raus. 

Holger Czukay von CAN sagte mal, dass Delay 1968 eigentlich das erste Album der Band sein sollte. Da sich aber keine Plattenfirma fand, entstand alternativ zunächst Monster Movie.

Also schließt sich damit auch der Kreis zur Monster Movie. Was ist das besondere an diesen beiden Platten?Download

Ja stimmt, zeitlich sind die Platten eigentlich sehr nah beieinander. Und es sind die einzigen Platten, bei denen Malcolm Mooney als Sänger dabei ist. Seine Geschichte ist eigentlich etwas traurig. Er ist während seiner Zeit bei CAN ziemlich verrückt geworden und musste dann wieder zurück in die USA. Jetzt ist er aber wohl ein ziemlich geiler frei schaffender Künstler und macht irgendwelche Installationen. Auf der Internetseite von CAN findet man darüber auch sehr viel.

Delay 1968 ist, wenn man die Entstehung betrachtet, eigentlich ja die erste Platte von CAN. Warum ist die Lieblingsplatte so vieler Menschen oft das Debüt einer Band?

Vielleicht, weil die Bands da noch am coolsten klingen. Die Platten sind noch unüberlegt eingespielt worden. Sobald man ein genaues Konzept gefunden hat, klingen die Platten vielleicht konstruierter. CAN haben bei diesen beiden „ersten“ Platten einfach drauf los gespielt. Und der herausragende Malcolm Mooney war eben noch dabei.

Den heutigen Abend widmest Du, neben JJ Cale, dem verstorbenen Gitarristen Karoli. Inwiefern hat er dich beeinflusst?

Ich habe neulich festgestellt, dass er nun schon fast 15 Jahre tot ist und finde das einfach immer noch krass. Besonders beeinflusst hat mich aber natürlich eher Jaki Liebezeit, der Schlagzeuger. Der ist eine richtige Groove-Maschine und hat auch in diversen NDW-Produktionen mitgemacht.

War er auch ein Vorbild für deine eigenen musikalischen Anfänge?

Naja, also ich habe mit 11 oder 12 mein erstes Schlagzeug bekommen und Unterricht genommen. Mit 14 habe ich dann aber wieder aufgehört und mein Schlagzeug versetzt. Ich habe mir dafür eine Hifi-Anlage und meine ersten Platten gekauft, ich wollte einfach lieber Musik hören. Als ich dann später wieder angefangen habe war Jaki schon ein riesen Vorbild und das ist er immer noch. Er spielt so stoisch und versucht nicht zu viel zu machen. Ich sag mal so: Er macht die Musik nicht durch übertriebenen Ehrgeiz kaputt. Es gibt nur Schläge, wenn sie Sinn machen. Seit ich mit der Gruppe SPORT Musik mache spiele ich auch in dieser Art. Bei Swearing At Motorists ist das aber wiederum ganz anders. Da gibt es viel stop and go, viel Rumschlenkern. Einfach eine ganz andere Art von Musik. Und beides hat seine Herausforderungen.

Marthe1Diese Band mit R (Radiohead) hat Thief mal gecovert. Hättest Du auch Lust, mal was von CAN zu covern?

Diese Band mit R, die kann ich fast gar nicht ausstehen. Dürfen die das? Ja, sollen sie es doch versuchen. Sie kommen sowieso nicht dran. Wir haben mit Sport zwar schon einiges gecovert, aber ich glaube an CAN würde ich mich nicht trauen. Was Mooney und später Suzuki da singen ist einfach so speziell, das kann man nicht noch mal so cool machen. Ich würde auch niemals die Beatles covern, das hat für mich in etwa den selben Stellenwert.

Zeit für ein neues Bier. Martin trinkt Flensburger, ich Dithmarscher.

Hast Du ein Lieblingslied auf Delay 1968?

Puh, das ist wirklich schwer zu sagen, eigentlich ist es wirklich die ganze Platte. Mein Lieblingslied wäre am ehesten aber noch der letzte Song, Little Star of Bethlehem. Das hat aber nichts mit Jesus zu tun! Für mich ist das eine Hommage an die Blume. Das ist nämlich eine ganz wichtige Bachblüte, die ist auch in diesen Rescue-Tropfen drin. So sehe ich das jedenfalls.

Can – Little Star ofBethelehem

Silent invisible conversation

Correction: the coat hanger should be upside-down

Oh littlestar

Froggy and Toady carried off the tangerine seeds one by one

And came back for the popcorn after dinner

Froggy said, “I saw you soaking in a tub of waterlilies behind the (sea?)

Sometimes I ask around (moon over the bay?)”

Froggy and Toady carried off tangerine seeds one by one

And came back (for the/full of) popcorn after dinner

Asking “Will you have some?”

Correction: the coat hanger should be upside-down

Oh little star of Bethlehem

Silent invisible conversation

I’ll meet you at the railroad station

Du hast vorhin von Michelle Records gesprochen. Kaufst du da immer noch deine Platten?

Ja, das ist auf jeden Fall noch immer mein Lieblingsplattenladen. Für die bin ich schon als 16-Jähriger vom Dorf nach Hamburg gefahren. Ansonsten gehe ich auch immer noch gerne auf Flohmärkte. Und neulich war ich das erste Mal bei Back Records in der Wohlwillstrasse. Die Auswahl ist zwar nicht groß, aber sehr gut. Ich habe da gleich mal ne alte Pixies-Platte abgestaubt. Für mich ist der Laden ein heißer Tipp!

Eine letzte Frage: Wo werden Bands mit The im Plattenregal einsortiert? 

Naja, auf jeden Fall nicht unter T. Nur The The würde ich da einsortieren, aber von denen habe ich glaub ich gar nichts. JJ Cale sortiere ich ja auch nicht bei J, sondern bei C ein.

Wer jetzt mehr über diesen Musik-Leidenschaftler Boeters und seine Bands wissen möchte, der kann sich auf Swearing at Motorists über die nächsten Gigs informieren und die Gruppe SPORT anhören.


Brennpunkt-Mangel & Punk-Gedenken

TVDie Gebrauchtwoche

1. – 7. August

Kein ARD-Brennpunkt, nicht ein einziger! Sieben Tage ohne terroristischen, putschistischen, sezessionistischen oder sonstwie dummdreisten Anlass, das Programm für die Nachrichtenlage zu ändern; das gab‘s zuletzt im Mai. Ist also alles wieder gut? Nix ist gut! Nicht mal jetzt, da der Sport dem Weltgeschehen gern wie früher alle vier Jahre 17 Tage Sommerauszeit gönnen würde. Doch statt Entspannung herrscht Verkrampfung. Und sie beginnt nicht bei Terror-Gefahr, Zika-Viren, Doping-Sumpf, Standort-Chaos oder IOC-Korruption, sondern mit der olympischen Sprachpolizei, die streng über alles wacht, was aus dem Produkt keinen Profit schlägt. Frechheit! Von daher die Bitte: vermeiden Sie bei jeder Art medialer Äußerung unbedingt die Begriffe „Olympia“, „Spiele“, „Rio“, „2016“, „Gold“, „Silber“ und „Bronze“. Darauf reklamiert das IOC nämlich ein Exklusivrecht, angeblich um Sportler (und Sponsoren) vor Kommerzialisierung zu schützen.

Ach ja – „Sommer“, „Leistung“, „Sieg“ sind ebenfalls verboten, wenn man jene Jugend der Welt materiell unterstützen will, denen die (ups) Spiele in (uups) Rio (uuups) 2016 eigentlich gewidmet sind. Und die fünf Ringe bitte immer nur in vorgegebenen Farben, korrekter Perspektive und gegen Gebühr verwenden. Man wünscht sich angesichts dieses Vermarktungsirrsinns, dem ohnehin nur noch Tyranneien den Teppich ausrollen, eine zünftige Revolte wie die die von 1976. Damals unterspülte eine Subkultur namens Punk erst die britische, dann die amerikanische, schließlich die globale Superkultur des konservativen Mainstreams jener Zeit. Hätte es Arte da schon gegeben – der Kulturkanal wäre ganz wuschig geworden bei so viel Renitenz.

punk-caminoDie Frischwoche

8. – 14. August

Als Spätgeborener widmet er ihr im Rahmen des Summer of Scandals daher nur verspätet einen Themenabend. Eingeleitet wird der Samstag um 21.55 Uhr von Campino, der 90 Minuten durch jenes London streift, das er 40 Jahre zuvor erstmals besucht hatte, als dort jener PUNK! des Doku-Titels entstanden war. Von spürbarer Neugierde getrieben, begibt sich die Tote Hose in London’s Burning zurück an einen Ort, der den Angriff auf alle Konventionen seinerzeit zum Antichrist erklärt hatte, nun aber als Kulturerbe vergöttert.

Als Erleuchteter, Importeur, Nutznießer und Nachlassverwalter des Genres ist Campino der perfekte Geschichtslehrer. Er trifft Wegbereiter wie Bob Geldof, streift Randgewächse wie Nina Hagen, besucht Clubs wie das Roxy und lässt das Ganze aus gut gefülltem Archiv bebildern. Was einen Wettstreit mit der Doku Not Future im Anschluss entfacht. Deren Regisseur Fred Aujas arbeitet darin auch seine eigene Biografie im nachverpunkten Paris auf und hat gegenüber Campinos Film die Nase leicht vorn: Trotz einer halben Stunde weniger Sendezeit visualisiert er die irren Siebziger einfach strikter und zieht daraus die klügeren Schlüsse für unsere Gegenwart.

Die könnte man auch vom Reportage-Dreiteiler Inside mit Stefan Gödde erwarten, in dem der nette Reporter erst Russland, dann China, zuletzt Japan bereist. Dummerweise auf Pro7, und da ist zwar viel Effekthascherei, aber Null Erkenntnisgewinn zu erwarten. Letzterer ist dafür umso unterhaltsamer, wenn Netflix Freitag auf Zeitreise geht. Kreiert vom Starregisseur Baz Luhrmann gräbt die Serie im New York der Siebzigerjahre furios kostümiert nach den Wurzeln des HipHop, der dort im Nährboden aus Armut, Wut und Funk der afroamerikanischen Subkultur entstand.

Nicht richtig Subkultur ist trotz seiner Biografie als Handy-Verkäufer der Party-Tenor Paul Potts, dem im britischen Original der RTL-Kopie Supertalent 2007 mit einer schiefen Arie der Durchbruch gelang. One Chance fiktionalisiert ihn am Donnerstag um 20.15 Uhr mit angemessenem Pathos, was nur deshalb Erwähnung findet, weil es außer Sport grad wenig zu sehen gibt. Außer Maria Eibl-Eibesfeldts ARD-Filmdebüt Im Spinnwebhaus (Dienstag, 22.45 Uhr) über den zwölfjährigen Jonas, der nach dem Verschwinden seiner Mutter die Verantwortung für seine Geschwister trägt. Danach gibt‘s Kurzfilme als Kontrastprogramm zu den Olympischen Spielen – deren aktuelle Präsenz mehr Wiederholungen der Woche als üblich erfordert.

Etwa den Klassiker Barbarella mit Jane Fonda als SciFi-Agentin im Ringen mit dem irren Wissenschaftler Duran Duran von 1968 (heute, 20.15 Uhr, Arte). Mittwoch brilliert Daniel Day-Lewis als Kleinganove von 1993, der 1974 zu Unrecht als IRA-Terrorist verurteilt wurde (Im Namen des Vaters, 20.15 Uhr, Arte). Zwei Stunden später heißt der SWR Klaus J. Behrend und Dietmar Bär als frische Tatort-Ermittler „Willkommen in Köln“ (1997). Die Doku der Woche widmet sich dagegen doch noch mal kurz dem Programmfüller schlechthin, wenn 3sat am Freitag um 20.15 Uhr Das Olympische Dorf von 1936 in der Brandenburger Heide unter die Lupe nimmt.


A Summer’s Tale: Indiepop & Family-Yoga

deine-freunde-540x304Feierabendstimmung

Musikfestivals sind laut und dreckig? Nicht so das A Summer’s Tale nahe Hamburg. Auf dem Gelände eines weltberühmten Reitturniers hat es mit seiner Premiere eine neue Zielgruppe erschlossen: die High-End-Alternativen. Kommende Woche steht die Wiederholung an – mit besserer Versorgung und mehr Gästen.  Hoffen die Veranstalter.

Wie so oft: Die Sonne bringt es an den Tag. Schon zum Frühstück schieben sich dichte Wolken über die Lüneburger Heide. Auch dem idyllischen Luhmühlen graut es ein wenig vorm anbrechenden Wochenende, so sehr verdunkelt sich der Himmel – und öffnet seine Schleusen, noch bevor ein Konzert den jungen Tag beschallt hat. Im Hauptzelt, groß wie landestypische Mehrzweckhallen, erzählt ein kleiner ZDF-Reporter mit dem optimistischen Namen Möglich was Kritisches über Wild Germany, da droht auch dieses Festival abzusaufen, als sei es ein Naturgesetz für Open-Airs im Norden. Dann aber hört es auf. Einfach so. Kein Landunter, keine Schlammschlacht, nicht mal das kleinste bisschen Matsch.

Seltsam.

Seltsam wie so vieles am A Summer’s Tale, rund 40 Autominuten südlich von Hamburg gelegen, ein Festival der besonderen Art, das nur vorweg. Besonders teuer, sagen die einen. Besonders komfortabel, entgegnen die anderen. Besonders vielfältig – darauf können sich die meisten hier immerhin einigen. Auf dem ausladenden Gelände des örtlichen Reitvereins, in der Pferdesportwelt bekannt fürs internationale Vielseitigkeitsturnier CCI, geht am Mittwoch die zweite Ausgabe eines fünftägigen Events in der fortwährend wachsenden Liste musikalischer Großveranstaltungen zu Ende. Für bis zu 199 Euro pro Person kriegen die Gäste rund 75 Live-Stunden Musik geboten, mit Headlinern von Sigur Ros über Parov Stelar und Boy bis Billy Bragg. Zur Premiere vor einem Jahr waren es Tori Amos über Belle & Sebastian, Calexico und ZAZ bis hin zu allerlei melancholischen Songwritern wie Damien Rice oder Niels Frevert. Dazu Workshops, Lesungen, Filme, Theater, Kunst, Performances, Installationen und alles, was Kinderherzen erfreut – das Unterhaltungsangebot des selbsterklärten Sommermärchens ist facettenreich.

Weniger Dosenbier, mehr gediegener Zeitvertreib

Nur eins ist es nicht: sonderlich preiswert. Drei Dutzend Bands – das bieten andere Festivals dieser Preisklasse wie das benachbarte Hurricane oder das kaum fernere Wacken täglich. Locker. Und selbst, wenn man in Rechnung stellt, dass A Summer’s Tale von Mittwoch bis Samstag allerlei Randzonenentertainment abseits der drei Hauptbühnen zu bieten hat, ist der Gegenwert eines halben Hartz-IV-Satzes für ein Programm, das auf 150 Hektar Heideland gerade mal von Mittag bis Mitternacht reicht und nur wenige Megastars aufbietet, eher überschaubar. Es muss also was anderes dran sein, an der Luhmühlener Premiere, dass dennoch 7.000 Besucher daran teilhaben.

Zum Beispiel Matthias. Rote Vans, Röhrenjeans, Basecap. Augenscheinlich ein Hipster wie aus dem Handbuch, fachlich Winzer aus St. Pauli, der neben Mischwald und Kuhweide einen – kein Scherz – Sommelier-Workshop anbietet. Gut, schon nach zehn Minuten erweist sich der Schnellkursus für 50 Hobbykenner in spe als üppige Weinprobe; doch wenn Fachmann Matthias einen Tropfen nach dem anderen ausschenkt, lernt man nicht nur was über Verabreichung (immer schön schwenken) und Expertentum (immer viel trinken), sondern auch einiges über den gemeinen Gast eines Festivals dieser Art.

Denn der ist, zumindest optisch analysiert, tendenziell älteren Semesters, genussfreudig, kultiviert, dabei zu robuster Wochenendgestaltung bereit – aber bitte mit Stil, Contenance und einem Grundmaß an Bequemlichkeit. Was auch nach dem zweiten Regentief Richtung Samstag zwischen all den Yoga-Workshops und Mehrgänge-Menüs, Traumfänger-Bastlern und Urban-Gardening-Vorträgen, den Charleston-Kursen und Kunsthandwerk-Ständen, Toilettenparks mit Spülkasten und Hundertschaften uniformierter Ordner herrscht, ist gediegenster Zeitvertreib. Er hat mit dem Rock ‘n’ Roll vergleichbarer Freiluftpartys weniger gemeinsam hat als mit den Wagner-Festspielen in Bayreuth.

Sommermärchenlandbewohner schlafen offenbar weniger mit Dosenbier im Wurfzelt als im Mietzelt mit Polsterpritschen. Mindestens. Gleich nebenan hat ein Paar behaglichkeitsaffiner Best-Ager aus Bayern im “Komfortcamp” einen Container bezogen. Für 900 Euro samt Tickets, erzählt es in einem Tonfall zwischen Selbstzufriedenheit und Selbstkritik, sei das Dach überm Kopf “schon gemütlich”. Bei vier Nächten plus Anfahrt, Versorgung, dem ganzen Rest eben, sie der Preis aber auch “ganz schön happig”.

Ab Mitternacht geht das Gros der Leute zu Bett

Die Cuisine, wie das kulinarische Angebot natürlich heißt, mag vorwiegend vegetarisch sein und oft regional bestückt; eine Mahlzeit abseits der, nun ja, billigsten Pizza ist unter sieben Euro kaum zu haben. Die Getränkekarte ist reichhaltig, aber hochpreisig. Wohnmobile kosten 50 Euro extra, Kinder ebenso. Selbst das Programmheft schlägt mit rätselhaften 3,50 Euro ins Kontor, was verbreitet für sachten Unmut sorgt.

Wofür es indes nicht sorgt, ist Konsumverweigerung. Die meisten der 7.000 Besucher schlucken die Apothekenpreise nicht nur mit autogenem Langmut, sie haben den elitären Charakter förmlich verinnerlicht. Der gewinnorientierte Hamburger Konzertgigant Scorpio hat auf malerischem Heidegrund eine ganz neue Festivalzielgruppe entdeckt: den gutsituierten High-End-Alternativen. Auffällig viele Besucher sind knapp über 55, ausgestattet mit etwas Restrenitenz, oder knapp unter 44, begleitet von kleinen Kindern. Ihnen sind die Hygienedesaster der Scorpio-Schwester Hurricane zu wild und Wochenenden vorm Fernseher zu gewöhnlich.

Wenn bei den Protestsongs der hinreißend gereiften Punk-Ikone Patti Smith im Abendrot der Nostalgiegenerator wummert, sind die einen ebenso selig wie es die anderen sind, wenn ihr Nachwuchs zum kindgerechten HipHop von Deine Freunde durch den Birkenwald hopst. Es ist, als läge Nimmerland, die Insel, auf der Kinder nie erwachsen werden, genau hier. Da, wo das Hamburger Künstlerkollektiv 210 Klappen exakt 251 Zugvögel aus poliertem Blech vor die Waldbühne gehängt hat. Wo auch sonst ein Hauch des anarchistischen Fusion-Festivals durch die Wipfel weht.

Nicht mehr, nicht weniger.

Denn verglichen mit dem heimlichen Vorbild in Mecklenburg ist A Summer’s Tale schlicht zu kommerziell. Für übliche Großfestival-Hopper hingegen ist es wie das offizielle Vorbild Wilderness im britischen Oxfordshire zu behaglich, drogenfrei, zu esoterisch und ruhig. Schon ab Mitternacht schließen alle Live-Bühnen und das Gros der Leute geht zu Bett. Sonderbar beseelt und spürbar erleichtert – von ein paar Alltagssorgen und einer schönen Stange Geld. Viele werden trotzdem wiederkommen, im August 2016, zur festivaltauglichen High-End-Alternative ohne Verwilderungsbedarf. Schließlich hält das Areal auch dem zweiten Wolkenbruch am Samstag Stand. Spielend. Statt Schlammrutschen gibt’s bloß Espadrilles-Workshops, Family-Yoga und Jochen Distelmeyer am Teich.
Der Artikel ist voriges Jahr auf ZEIT-Online erschienen

Wild Beasts, Hyroglyphic Being, DJ Khaled

TT16-BeastsWild Beasts

Einer der unterhaltsamsten Späße des Musikgeschäfts ist es ja, das Publikum mit verwirrenden Namen auf falsche Fährten zu führen. Der Black Rebel Motor Cycle Club hat diese Mimikri mit eher gefälligem Sound im Rocker-Gewand zur Perfektion getrieben, aber die Wild Beasts stehen dem in nichts nach. Der Name des britischen Quartetts klingt schließlich schwer nach Heavy Metal. Mindestens. Tatsächlich aber wird Hayden Thorpes soulig-swingender Falsett-Gesang allenfalls unterschwellig von einer härteren Gitarre begleitet. Im Kern steht auch auf dem fünften Album in nur acht Jahren ein atmosphärisch zuweilen schmutziger wirkender, aber klinisch rein produzierter Elektropop.

http://www.vevo.com/watch/GBA321600062?utm_medium=embed_player&utm_content=song_title&syn_id=af330f2c-5617-4e57-81b5-4a6edbef07cc

Dennoch hat sich auf Boy King verglichen mit den Vorgängern spürbar etwas verändert. Der Sound ist irgendwie hitziger, emotionaler, nicht so versiert, irgendwie sinnlicher als zuvor. Chris Talbotts Schlagzeug klingt zwar noch immer wie vom Drumcomputer, aber vor allem die Gitarre von Ben Little flattert manchmal fast tribalistisch durch die zehn Stücke hindurch. Trotz dieses Schweißes, der manchmal aus den Boxen zu tropfen scheint, bleibt der Stil im Ganzen aber angemessen steril für ein discoeskes Projekt dieser Art, das sich eher an Franz Ferdinand als, sagen wir, dem Funk orientiert. Gedanken über Tod und Liebe in plastinierter Versform – die Zehner sind noch immer ganz schön Eighties manchmal.

Wild Beasts – Boy King (Domino)

DownloadHieroglyphic Being

Wie Zehner die Zehner de facto dennoch grundsätzlich mal sind, selbst wenn sie manchmal ein wenig nach Siebziger klingen, belegt dann allerdings gleich wieder einer, der digitale Electronica in Reinform liefert: Jamal Moss. Als Hieroglyphic Being kredenzt der Sound-Koch aus Chicago wieder einen frisch verrührten Retrosound, den sich nicht ohne Grund das Ninja Tunes-Sublabel Technicolor unter den Nagel gerissen hat. Stilistisch gewohnt technoid, walzt sich The Disco’s Of Imhotep mit stoischem Bass und krachenden Beats durch begleitende Stile von Funk bis Jazz, ohne sich ans Analoge anzubiedern.

https://soundcloud.com/technicolour-music/hieroglyphic-being-spiritual-alliances-1

Kein Clap ist ihm dabei zu housig, kein Gefiepse zu experimentell, alles wächst von einem Genre zum anderen, bleibt dabei jedoch immer tief im Herzen jener Underground-Techno, dem der Fourtysomething einst entsprungen ist. So gesehen erscheint das neue Album nicht so richtig geeignet für den gemeinen Hausgebrauch; zu stakkatoartig, zu schnell, auch zu verstiegen manchmal. Trotzdem: wer wissen will, welche Möglichkeiten modernes DJing entfaltet, wird von Jamal Moss aka. Hieroglyphic Being so unterhaltsam wie kreativ belehrt. Und tanzen kann man dazu sowieso. Überall. Jederzeit.

Hieroglyphic Being – The Disco’s Of Imhotep (Technicolor/Ninja Tune)

Hype der Woche

COVERNORESIZEDJ Khaled

Es gibt da diese Szene einer Männergruppe in der Verfilmung von Ralf Königs legendärem Schwulen-Comic Der bewegte Mann. “Titten, Titten, Titten”, sagt einer der Teilnehmer darin, um seiner Suche nach Befreiung aus dem Gefängnis seiner eigenen Gruppenzugehörigkeit dialektisch Ausdruck zu verleihen. Was also bedeutet es, wenn Afroamerikaner obsessiv “Nigger” sagen, immer und immer und immer wieder – einen Akt der Selbstermächtigung, der Selbstverortung, der Selbstbefreiung? Im Falle von DJ Khaled kann es nur heißen – tja, Selbstkommerzialisierung? Der Großproduzent hochgetunten HipHops lässt seinen Gastmusiker Jay Z das Wort jedenfalls schon vorm ersten Refrain seiner neuen Platte neunmal Nigger durchdeklinieren und zeigt damit trotz des sozialkritischen Subtextes rassistischer Diskriminierung in den USA, was sein neuntes Album wie all die monstererfolgreichen zuvor will: Nichts besonderes, außer mit schwarzem Rap weißes Geld verdienen. Mit tollen featurings von Kendrick Lamar über Lil Way bis Wiz Khalifa und wie sie aus dem Geldadel des Genres auch alle heißen, liefert Major Keys (Sony) natürlich perfekte zubereitete Rap-Ware ohne Fehler im System, die dem Verantwortichen dahinter gewiss noch ein paar mehr Instagram-Follower bringt, musikalisch aber nichts außer Nigganigganigga. Ach ja – Tittentittentitten gibt’s natürlich auch. Schnarch.