Prechts Juden & Daums Skandale
Posted: October 23, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen, Uncategorized |Leave a commentDie Gebrauchtwoche
16. – 22. Oktober
Niemand erwartet, dass alles Leben abrupt einfriert im Moment entfesselter Gewalt. Dass die Welt auf Dauer in den Modus kollektiver Anteilnahme schaltet, wenn der Terror mal wieder neue Dimensionen erreicht. Auch nach 9/11 haben die Menschen ferngesehen, und nicht nur Nachrichten. Aber ob die ARD nach einem Brennpunkt über den Angriff der Hamas auf Israel wirklich Verstehen Sie Spaß? senden musste?
Schwer zu sagen, entscheiden, beurteilen im Angesicht einer barbarischen Horde, die an vormoderne Zeiten erinnert, als das Brandschatzen, Vergewaltigen, Entvölkern eroberter Landstriche weithin anerkannte Kriegspraxis war. Was hingegen leichter zu sagen ist: nicht jeder selbstgerechte Bullshit, den telegene Philosophen gelegentlich von sich geben, ist schon antisemitisch, nur weil er antisemitische Klischees verwendet.
Trotzdem war es – wie die vorschnelle Einordnung der offenbar fehlgeleiteten Hamas-Rakete auf ein palästinensisches Krankenhaus als „israelischer Beschuss“ – nicht bloß fahrlässig, was Richard David Precht im Podcast mit Markus Lanz über die Berufswahl orthodoxer Juden (irgendwas mit Geld und Diamanten) unverdaut ausgeschieden hat; seine alterstoxische Logorrhöe zeugt vom Beharrungswillen tradierter Vorurteile, die eine seriöse Berichterstattung ebenso reflektieren sollte wie, sagen wir, misogyne Stereotypen.
Warum nur, fragt sich im aufgeklärten Jahr 2023 b.c., wird die Opferartigkeit der zivilen Opfer bei Krieg und Terror noch immer durch Frauen, Alte und Kinder gekennzeichnet? Weil erstere so wehrlos sind wie letztere? Seriously? Selbst die fraglos emanzipierte Zeit kann sich diesen Dreiklang aus vormoderner Zeit brandschatzender Horden nicht verkneifen. Wie soll man das da von der Bild erwarten?
Erst recht, wenn sie Redakteure wie angekündigt durch elegant Large Language Model genannte KI ersetzt, deren Algorithmus Springer-Populismus wiederkäuen, Gleichberechtigung also für Gedöns halten dürfte. Ob die Bild ihre Führung der kombinierten Print- und Online-Reichweite, wie sie die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse gerade ermittelt hat, so halten kann? Leider ja.
Gut zwölf Millionen User täglich, mehr als die Plätze 3-20 (Rang 2: Welt) zusammen: Hass und Hetze, Lügen und Blödsinn mit oder ohne PR rechnen sich halt noch immer bestens. Stefan Raab hat indes nur mit letzterem total TV-Geschichte geschrieben. Stets im Rücken: die Produktionsfirma Brainpool. Jetzt verkauft er nach 25 Jahren seine Anteile und beendet damit eine Fernsehära, die neben allerlei Unsinn Großes bewirkte.
Die Frischwoche
23. – 29. Oktober
Wenngleich nichts auch nur annähernd so überdimensional Gewaltiges wie Everything Now. Die Netflix-Mischung aus Euphoria und Sex Education mit Spuren von My Name is Al erzählt von der anorektischen Mia, die nach monatelanger Therapie an ihre Londoner Schule zurückkehrt und in Windeseile zwei Jahre Jugend aufholt. Ein sensationelles Panoptikum der Pubertät, dieser bizarren Lebensphase, in der alles anziehend und abstoßend, schön und schrecklich, zu groß, zu klein, zu alles ist.
Und Sophie Wilde spielt sie mit einem fragilen Trotz, der Zuschauende acht Teile lang zwischen Aberwitz und Wahrhaftigkeit, Lachen oder Weinen hin und her schleudert. Da können aktuelle Neustarts naturgemäß kaum mithalten. Zumal es abgesehen von der Krimi-Serie Polar Park vom kältesten Ort Frankreichs fiktionale nur wenig zu berichten gibt – in diesem Fall vor allem der denkbar dusselig deutsche Titel „Eiskalte Morde“, ab Mittwoch in der Arte-Mediathek.
Das Onlineportal der ARD startet zwei Tage später die bayrische Katholiken-Comedy Himmel, Herrgott, Sakra, während das ZDF seiner Milieu-Studie Doppelhaushälfte parallel ein Zombie-Special verpasst. Fragt sich, ob der wahre Halloween-Horror nicht zwei Tage zuvor bei Paramount+ läuft, das dem popkulturellen Schulterpolster-Fakeduo Milli Vanilli eine Doku beschert. Aus ähnlicher Epoche im selben Land stammt hingegen einer, der fast 20 Jahre den Boulevard zweier Nationen gefüllt hat: Christoph Daum.
Das Sky-Porträt Triumphe & Skandale skizziert die Achterbahnfahrt des Fußballtrainers durch ein Gebirge aus Titeln, Koks, Affären und Krebs ab Freitag in einer Intensität, die zu wirr um wahr zu sein ist. Während Ulrike Krieners Kommissarin Lucas am Samstag nach 20 Jahren ZDF Abschied nimmt, leitet uns die wunderbare 3sat-Doku Deutschlandlieder derweil durch die Musik zugewanderter Türkinnen und Türken – die der Rapper Eko Fresh und sein Vater zu einem unfassbaren Konzert versammeln.

