Nuhr König & Longorias Women

Die Gebrauchtwoche

TV

17. – 23. Juni

Es ist, wie es ist, und weil es ist, wie es ist, werden Kommentatorinnen wichtiger (aus männlicher Sicht also männlicher) Fußballspiele hierzulande nicht fürs Kommentieren kritisiert, bevor sie das erste Wort sagen, sondern davor. So war’s auch bei den EM-Einsätzen von Christina Rann oder Christina Graf und allen voran wie immer der gewalterfahrenen ZDF-Kollegin Claudia Neumann.

War ja auch ein Kapital-, Tendenz Menschheitsverbrechen, Stuttgarts Stadion „neu“ zu nennen, obwohl es nur so saniert wurde, dass kein Stein mehr auf dem anderen stand. Kein Wunder, dass Spitzenstecher666 bei X Neumanns Steinigung fordert. Aber mal mindestens. Wer hingegen mildernde Umstände verdient, sind ihre Kollegen (als mit Y-Chromosom) bei Magenta.

Ein Sender, der ungefähr so viel Fußballfachkompetenz hat wie RTL Humanismus im Nachmittagsprogramm. Aber dass die infantile Seifenblasenmaschine Elton mit dem selbstgerechtesten aller CiS-Alphatiere Steffen Freund überhaupt etwas zur EURO24 sagen darf, ist sogar noch schlimmer als die lächerlichen Lidl-Uniformen unschuldiger Einlaufkinder, das Blackfacing holländischer Fans und Per Mertesacker zusammen.

Letzterer hatte in einer After-Game-Moderation den bedenklichen Begriff Spielermaterial verwendet, wofür er von Moderator Jochen Breyer zurechtgewiesen wurde. Es war der hellsichtigste Moment seit dem Auftaktspiel, ungefähr auf einem Niveau mit Nuhr im Ersten. Dort nämlich erntete der Gast-Komiker Florian König für seine Aneinanderreihung billigen Regierungsbashings donnernden Applaus.

Pure Gewöhnung halt. Seinem Gastgeber ist halt auch rechter Hieb in linke Magengruben zu wohlfeil. Hier allerdings konfrontierte König die Schenkelklopfenden mit ihrer Populismusanfälligkeit – und das war dann wirklich ein Comedy-Scoop, der es mit zwei weiteren aufnehmen kann: Die Fortsetzung von Crooks bei Netflix. Und der Abschied des 74-jährigen RTL-Nachrichtensprechers Jan Hofer.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

24. – 30. Juni

Wessen Abschied schon ein paar Jahre länger zurückliegt, obwohl sie Jan Hofers Kinder sein könnten? Steffi Graf und André Agassi. Beide traten einst nur unwesentlich unterhalb ihrer maximalen Schaffenskraft vom Profitennis zurück und bildeten fortan auch privat ein Team – was Prime heute in einem unscheinbar spektakulären Biopic nacherzählt. Perfect Match insinuiert schließlich eine Love-Story, die 100 Minuten lang selten zum Fremdschämen ist.

Besonders Lena Klenke als deutsche Legende, in die sich Tony Sebastians amerikanische Legende verknallt und umgekehrt, ist von Steffis realer Vorhand bis hin zu ihrer fiktiven Coolness absolut großartig. Wir wahrhaftig dagegen die reifen Teeny-Stars Bill und Tom in ihrer Reality-Soap Kaulitz & Kaulitz ab Dienstag bei Netflix sind, bleibt Auslegungssache – und damit vermutlich weniger real als das Porträt der Celebrity-Queen Diane von Fürstenberg, zeitgleich bei Disney+.

Bewusst die Wirklichkeit verdrehen will dagegen Oliver Kalkofes Quiz-Show Faking Bad, ab Donnerstag um 22.50 Uhr im Ersten. Promis wie Torsten Sträter, Katrin Bauerfeind, Oliver Welke, Michael Mittermeier, Laura Karasek oder Michael Kessler sollen seine Fragen sechs Folgen lang möglichst glaubhaft falsch zu beantworten. Na, ja… Dann doch lieber Fiktion auf die Zwölf.

Wie die Apple-Serie Land of Women ab Mittwoch. Weil ihr Mann Mafia-Schulden hat, flieht Desperate Housewife Eva Longoria darin von New York nach Katalonien und muss sich als Society-Mutter mit Trans-Tochter unter Spaniens Frauen behaupten. Sechsmal 40 Minuten wird die Dramedy zwar etwas saftig in Klarinetten eingelegt. Es gab aber schon bedeutend schlechtere Culture-Clash-Komödien.

Und das gilt auch fürs niederländische Genre-Pendent Bestseller Boy, ab Dienstag bei ZDFneo mit dem ganz bezaubernden Shahime El-Hamus als Kind marokkanischer Immigranten, der sich als Essenlieferant in Amsterdam acht Folgen lang auf dem Weg zum Schriftsteller durchschlägt. Und der Vollständigkeit halber: Donnerstag zeigt Sky die dreiteilige Krypto-Betrugs-Doku Kill Bitcoin! Pflichtstoff für alle, die in das dubiose System investieren wollen.


EM-Patriotismus & Helikoptereltern

Die Gebrauchtwoche

TV

11. – 17. Juni

Tja, jetzt ist also wieder Sommermärchen oder soll zumindest – sofern es nach denjenigen geht, die es übertragen – eins werden. Jubelperser in Jubelstimmung auf allen Kanälen und Portalen. ZDF-Reporter Boris Büchler fragt Niklas Füllkrug daher Freitagnacht: „Wird man ein Stück weit auch von den Fans getragen?“, als hätten die zu irgendeinem Zeitpunkt des Eröffnungsspiels so etwas wie Stimmung erzeugt, die über lautstarken Torjubel hinausgegangen wäre.

Der vulgäre, vielfach obszöne Patriotismus vieler Fans wird zugleich hofiert, dass vor allem (aber nicht nur) osteuropäische Teams ethnisch irritierend homogen aufgestellt sind, dagegen komplett ignoriert. Alles, damit sich die Sender ihr geldwertes Premiumprodukt nicht durch Misstöne kaputtkommentieren lassen. Es ist schon jetzt so ermüdend für jene mit kritischer Sicht auf die UEFA-Dinge.

Aber gut, sie können sich ja vom Fußball fernhalten und registrieren, dass gerade eine Ära zu Ende geht: mit Auto– und Computer-Bild ziehen die letzten zwei Springer-Magazine Richtung Berlin, womit zweierlei beerdigt wird: Hamburg als Keimzelle dieses dubiosen, aber traditionsreichen Verlags. Und Hamburg als Medienhauptstadt. Letztere hat sich ausdifferenziert, mit Köln, München, Berlin als Zentren und der einst stolzen Hansestadt als Ort einiger Restredaktionen wie Spiegel und Zeit.

Dass Paul Ronzheimer im Herbst eine Sat1-Doku moderieren soll, worin ausgerechnet der stresssüchtige Reporter des armutsverachtenden, rechtspopulistischen, rassistischen Agenda-Mediums Bild Armut, Rechtspopulismus oder Migration auf den Grund gehen soll ist dabei die heitere Randnotiz einer seltsamen Medienwoche, in der man sich ansonsten nur darüber freuen darf, dass Rezo mit seiner FreeVee-Sendung Fake Train back on track ist.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

17. – 23. Juni

Ebenfalls schon ein paar Tage online: Die fürchterlich klischeehafte, schmerzhaft oberflächliche, zu jeder Zeit anstrengende Lobbyismus-Persiflage Wo wir sind, ist oben – ein achtteiliges Politbeziehungsgeflecht, dass die ARD (hoffentlich billig) von der Sky-Resterampe geschossen hat. Und beim BR on air: Michael Mittermeiers Lucky Punch Club, der dank des vernunftbegabten Satirikers im Titel per se sehenswert ist.

Im Gegensatz, so scheint es, zur zweiten Staffel House of the Dragons, ab Dienstag bei Sky, in der die Gewalt bei aller Opulenz vielfach zum Selbstzweck verkommen ist. Auf zurückhaltende Art gehaltvoller ist parallel dazu ein kleines Serienjuwel bei Neo: The Club, achtteilige Dramedy um drei belgische Paare, die in einer Kinderwunschklinik desperate Fortpflanzungswünsche realisieren und dabei an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geraten.

Die Eltern der spanischen Tragikomödie Barcelona for Beginners sind da schon einen Schritt weiter. Hauptdarstellerin Aina Clotet – deren Seriengatte Marcel Borràs auch im wahren Leben Vater ihrer beiden Kinder ist – hat als Regisseurin nach eigenem Drehbuch ab Freitag in der ARD-Mediathek ein sehr einfühlsames, höchst präzises, dabei unprätentiöses Porträt stadtflüchtiger Helikopter-Eltern gezeichnet.

Tags zuvor startet die ARD-Reihe QUEER, worin der BR gemeinsam mit rbb, WDR und ONE das Leben der globalen LGBTQ+-Gemeinde fiktional skizziert. Den Auftakt macht der finnische Coming-of-Age-Film Girls Girls Girls, gefolgt von 22 Filmen und Serien bis August. Zeitgleich zeigt Prime die Tennis-Doku Federer – die letzten 12 Tage, während sich Netflix mal wieder einem der beliebtesten Sachfilmthemen widmet: Hitler.

Und auch, wenn die Spielszenen wie so oft im NS-Reenactment eher überflüssig sind, ist der Sechsteiler nicht nur ein beeindruckendes Zeitdokument, sondern eröffnet erhellende – und damit beklemmende – Perspektiven auf den Rechtsruck von heute. Das macht Hitler und die Nazis trotz des Deppentitels (als sei der Führer selbst kein Nazi gewesen) ungeheuer sehenswert.


Becoming Karl Lagerfeld: Brühl & Disney

Stilikone auf Stilsuche

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Modeporträts wie Becoming Karl Lagerfeld dürfen optisch aus den Vollen schöpfen. Dank Daniel Brühl als Titelfigur schafft es die Disney-Serie aber spielend, der 70er-Optik Tiefe zu geben.

Von Jan Freitag

Falls Stil, wie der große Philosoph Arthur Schopenhauer sagte, die Physiognomie des Geistes ist, war der große Couturier Karl Lagerfeld zeitlebens ein Suchender, ein Getriebener, ein Jäger des verborgenen Schatzes seiner Ausdrucksform. So stylisch er im kollektiven Gedächtnis auch wirkte mit Vatermörderkragen und Fächer, Bikerhandschuhen und Brille, weißem Zopf und schwarzem Rest: Fünf Jahre nach seinem Tod können selbst Modemuffel den Modemacher zwar locker aus dem Gedächtnis zeichnen.

Aber von Karl dem Kleinen?

Anfang 1972 war der Hamburger in Paris nicht ansatzweise als Stilikone, geschweige denn Kaiser Karl bekannt, wie ein Biopic aus dem Hause Gaument heißen sollte. Gut, dass Disney+ die Serie noch in Becoming Karl Lagerfeld umbenannt hat. Der Titelheld, den die Welt bis heute so klar vor Augen hat, erblickte darin schließlich erst vor 52 Jahren mit Ende 30 das Rampenlicht der Fashionwelt. Und wie! In blutroten Stulpenstiefeln stolziert er zu Beginn der sechs Teile so auffällig durch eine Schwulenbar, dass Jacques de Bascher buchstäblich hingerissen ist und tags drauf die Hochglanzmagazine durchforstet.

Ob sie Karl Lagerfeld kenne, fragt der junge Landadelsspross die Zeitungsverkäuferin. „Nein, da klingelt nichts“, antwortet sie schulterzuckend, obwohl der Gesuchte damals schon 20 Jahre im französischen Modebusiness erfolgreich ist. Disney skizziert ihn entsprechend als distinguiert, originell, glamourös et très, très chic, was Franzosen den Deutschen nur eine Generation nach Kriegsende weder zutrauen noch zubilligen. Im Olymp schöpferischer Genies á la Dior & Chanel aber ist er ein unbeschriebenes Blatt.

Feinstes Drehbuchmaterial also, das Headautorin Isaure Pisani-Ferry vier Stunden mit einer faszinierenden Liebestragödie füllt. Während sein (wie die meisten Charaktere real existierender) Fan, Lover, Gefährte Jacques alias Jako in Lagerfelds Luxusleben tritt, sucht dieser künftige Star unterm Radar der Haut Couture allerdings nicht nur die Anerkennung nur eines Verehrers. Nein, er will nach oben! Jedenfalls höher als seine Nemesis, das kathartische Menetekel, der frühere Freund und heutige Gegner: Yves Saint Laurent.

Als Kreativchef von Chloé kreiert Karlito, wie YSL ihn ebenso zärtlich wie abschätzig nennt, Prêt-à-porter genannte Kollektionen für Kundinnen knapp unterhalb der oberen Zehntausend. Schon das ermöglicht ihm ein Leben in Saus und Braus. Wahrer Ruhm jedoch erfordert mehr als Initialen auf jedem Stück Stoff und einen Rolls Royce, in dem KL durch Paris gleitet. Der Dienstleister braucht Alleinstellungsmerkmale. „Du hast 20 Stile“, nörgelt seine Mutter (Lisa Kreuzer), die wie ein Krokodil ketterauchend in Lagerfelds Pariser Salon hockt, „vielleicht findest du erstmal einen, bevor du mit deiner Marke anfängst“.

Gar nicht so einfach. Denn als er der öffentlichkeitsscheuen Hollywoodikone Marlene Dietrich (grandios: Sunnyi Melles) ein Kleid kreieren will, das Lagerfelds Weg ins Zentralorgan der mächtigen „Vogue“-Chefin Francine Crescent (Julia Faure) ebnet, fragt seine Landsfrau, so kühl es auf Französisch eben geht: „Avez vous un style?“ Hat er nicht. Noch. Doch je fieberhafter der Emporkömmling seinen Stil sucht, desto mehr verseucht das Virus übersteigerten Ehrgeizes alle, die ihn lieben. Sich selbst am meisten.

Und wie Daniel Brühl den ungekrönten Kaisers Karl zwischen Kontrollsucht und -verlust, Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn, Überfluss und Askese, Exzess und Vereinsamung spielt – das ist nicht weniger als die endgültige Bestätigung der Brillanz des polyglotten Weltstars aus Köln. Ob Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch: Über neun Jahre hinweg spielt Brühl den hanseatischen Pariser mit familiärem Naziballast in einer fragilen Zielstrebigkeit, als würde das Original aus dem Jenseits die Fäden führen.

Bis zur 5. Folge ohne Zopf und Kragen, aber schon mit dieser hüftsteigen Grandezza in Gang und Sprache, ist Lagerfelds autoaggressive Geschäftstüchtigkeit körperlich spürbar. Oft qualvoll gerät sie in seiner platonischen Beziehung zum halb so alten Jako (Théodore Pellerin) und der pathetischen Hassliebe zum doppelt so berühmten Yves (Arnauld Vallois). Wie Jérôme Salle und Audrey Estrougo deren Gefühlsrausch inszenieren, ist Bildschirmkunst auf Leinwandniveau. Allerdings entfaltet sie sich auch in vertrauter Umgebung. Die Laufstegexistenzen moderner Porträts von Cristóbal Balenciaga (Disney) oder Christian Dior (Apple) bis alle paar Jahre Coco Chanel haben schließlich keine Ausstattung, sie sind Ausstattung.

Nirgendwo darf die Funktion so selbstverliebt ihrer Form folgen wie im Mode-Biopic. Doch anders als im deutschen Historytainment üblich, sind Kostüme (Pascaline Chavanne), Dekos (Jean Rabasse) und Frisuren (Sébastien Quinet) bei Becoming Karl Lagerfeld nicht nur plausibel statt museal; sie stellen sich ohne falsche Bescheidenheit in den Dienst einer Erzählung, deren Egos ebenso üppig, barock, also überdimensioniert sind wie die Möbel, Accessoires und Schlaghosen.

Umso mehr überzeugt an dieser queeren Milieustudie, dass Look & Feel im subkulturellen Mainstream einer liberalen (aber auch homophoben) Aufbruchsphase zugleich beiläufig und raumgreifend sind. Nur so kommt das imposante Schauspiel aller Beteiligten richtig zur Geltung – und macht die Serie trotz der hypothetischen Intimität zur ergreifendsten, schönsten, ja besten Modefiktion aller Film- und Fernsehzeiten. Im Grunde kreiert sie das, was Karl Lagerfeld jahrzehntelang vergebens suchte: einen ganz eigenen Stil.


Michel Friedman: Kanapee & AfD

Der Blick des Hasses ist mir fremd

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Michel Friedman zu interviewen, gilt als Herausforderung. Weil der ICE nach Frankfurt liegenblieb, dampft der jüdische Jurist, Moderator und Publizist die vereinbarte Zeit von 60 auf 30 Minuten ein und fordert zu Beginn: “Langweilen Sie mich nicht oder vergeuden anderweitig meine Zeit. Sie haben Fragen. Bitte!” Das Interview fürs Medienmagazin journalist/in (Foto: Hannes Jung) dauert dann fast dreimal so lang und klingt wie folgt:

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Friedman, wenn es das rote Kanapee noch gäbe, auf dem Sie bis vor 20 Jahren, wie es heute heißt, Gäste gegrillt haben – säße darauf heute auch ein Björn Höcke?

Michel Friedman: Ich habe nie jemandem gegrillt. Das hätte nicht meinem Selbstverständnis als Journalist und Mensch entsprochen. Aber wenn man Gästen, besonders Politikerinnen und Politikern, die nicht nur Verantwortung für Millionen von Menschen im eigenen Land, sondern weit darüber hinaus haben, Fragen stellt, zeugt es von gegenseitigem Respekt, auch Antworten zu geben. Wenn die Gäste aber stattdessen nur Nebel verbreiten oder Löcher graben, ist es meine Aufgabe als Journalist im Dienst des Publikums, beides kenntlich zu machen.

Und das gegebenenfalls mit harten Bandagen?

Mit einer Streitkultur, die ich bei BBC HARDtalk gelernt und zuletzt in der Conflict Zone bei der Deutschen Welle angewendet habe. Darin werden selbst Gäste aus Diktaturen behandelt wie solche aus Demokratien. Sie sind der Bevölkerung Rechenschaft schuldig, sie tragen Verantwortung. Darauf zu bestehen, ist die Aufgabe von kritischem Journalismus. Für mein Interview-Format Auf ein Wort hat die Deutsche Welle das angesprochene Sofa übrigens noch mal aus dem Fundus geholt.

Eine Sendung, in der Sie seit 2017 mit Personen aus Wissenschaft und Forschung reden.

Über philosophische und interdisziplinäre Fragen wie Gewalt, Glaube, Krieg oder Sexualität. Weil die Fachleute darin nur Verantwortung für die Stringenz ihrer Antworten tragen, ist die Melodie eine andere und der Dialog damit spielerischer, weicher, aber ebenso inhaltsgetrieben. Ob ich auf dem Sofa mit Herrn Höcke diskutieren würde, möchte ich Ihnen als Bumerang zurückgeben.

Nur zu.

Die Grundlage aller Gespräche ist die Anerkennung beider Seiten als vollwertige Gesprächspartner auf Augenhöhe. Wenn man Björn Höcke ernstnimmt, sieht er mich als „Untermensch“ weit unter der seinen.

Das heißt, Sie würden mit ihm sprechen, aber er nicht mit Ihnen?

Womöglich würde er das tun, aber nur als Objekt seines Judenhasses, also in derselben Kategorie wie schwarze, schwule, migrantische Menschen, die von der AfD verachtet werden. Erinnern wir uns: dieser Mann sprach vom Holocaust-Mahnmal als einem der „Schande“. Er benutzt eine Sprache des Hasses und der Hetze. Wer so denkt und spricht, steht nicht am Rande, sondern außerhalb der Demokratie. Ich glaube nicht, dass man mit ihm eine inhaltliche Debatte führen kann.

Dann abstrahieren wir auf Diskurse aller Art: Soll man mit Nazis reden, wie es der Thüringische CDU-Fraktionsvorsitzende Mario Voigt morgen bei Welt TV tut, oder gerade nicht, weil es sie ansonsten hoffähig macht?

Den Begriff „Nazi“ möchte ich nicht verallgemeinern. Ich bin dem Verfassungsschutzchef Herrn Haldenwang aber dankbar, dass er die AfD anders als sein Vorgänger als das bezeichnet hat, was sie ist in großen Teilen ist – nämlich eine rechtsextreme, verfassungsfeindliche Partei. Sein Satz, der Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie, hätte in jedem Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik formuliert werden können, ja müssen. Erst 2022 aber wurde er ausgesprochen. Besser spät als nie. Und damit zur Frage vom Reden mit Rechtsextremen: Wenn wir das tun, müssen wir unbedingt die journalistische Gesprächshoheit behalten.

Was bedeutet?

Ich gebe zu: Ich bin hin und hergerissen, im Zweifel also gegen das Gespräch. Aber falls wir es dennoch führen, dürfen wir nicht die Themenwünsche der AfD erfüllen, sondern unsere eigenen; sonst tappen wir in die Falle, alles mit der Migration zu verknüpfen. Wir reden mit den Grünen zu Recht primär über die Umwelt, aber letztendlich über alle politischen Themen. Das muss auch mit der AfD geschehen, sonst triggern wir ausschließlich ihre Kernanliegen – die menschenverachtende Propaganda. Fragen wir also, was Herr Höcke oder Frau Weidel konkret zu Wirtschaft, Kulturpolitik, Pressefreiheit, Rechtstaatlichkeit oder Putin und seinem Angriffskrieg sagen. So wie wir mit der SPD nicht ausschließlich über soziale Gerechtigkeit reden, sollten wir es mit der AfD nicht nur über vermeintliche und tatsächliche Ausländer tun.

Und wenn wir es tun?

Werden wir erleben, was die AfD für eine unterkomplexe, gefährliche Lachnummer ist, sobald es um Inhalte jenseits von Hass und Hetze geht. Mein Blick auf die Menschen ist von Respekt und Vertrauen geprägt. Trotz allem. Der des Hasses ist mir fremd. Ich will mich davon nicht anstecken lassen.

Reicht gute Vorbereitung in der journalistischen Konfrontation aus oder bedarf es darüber hinaus einer gewissen Wettkampfhärte, auch mit sprachlicher Gewalt und argumentativem Unsinn zurechtzukommen?

Eine exzellente Vorbereitung betrachte ich völlig unabhängig von der AfD nicht nur als Journalist, sondern in all meinen Berufen als unverzichtbare Arbeitsvorbereitung. Wer seine Hausaufgaben gemacht hat, kann Themen inhaltlich priorisieren. Man erkennt den erwähnten Nebel schneller, die Ablenkungsversuche, um eine Frage nicht zu beantworten. Insofern braucht der Journalismus Selbstbewusstsein, Menschen ohne Argumente zur Selbstentlarvung zu bringen.

Kam dieses Selbstbewusstsein an seine Grenzen, als Sie den ehemals linken Anwalt und späteren Neonazi Horst Mahler interviewt haben, der zur Begrüßung „Heil Hitler, Herr Friedman“ sagte?

Und damit von mir bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und strafrechtlich verurteilt wurde… Dadurch, dass das Interview vor 18 Jahren ungekürzt in der Vanity Fair erschienen ist, hatten wir genug Material, um den Leser*innen deutlich zu machen, wes Geistes Kind er ist und wie jemand den Wandel vom Linksextremismus zum Rechtsextremismus vollziehen kann. Der Kern von Horst Mahler war Verachtung, Hass und Selbsthass. Die Gefahr, nicht nur bei ihm, besteht darin, dass dieser Selbsthass auf andere Menschen übertragen wird.

Ein Horst Mahler hält mit seinem Extremismus nicht hinterm Berg. Was bedarf es bei weniger radikalen Gesprächspartnern, um ihnen auf die Schliche zu kommen?

Zeit. Zeit, um die Risse der interviewten Person zu erkennen. Im Gespräch mit der AfD würde mich nicht ihre Haltung zur Migration interessieren, sondern: Wie hält Weidel sich als lesbische Frau in einer homophoben Partei selber aus? In der politischen Debatte sind solche Fragen zutiefst aufklärerisch, sofern sie in Formaten mit entsprechender Länge gestellt werden. Viele AfD-Spitzen sind medial so geschult, dass sie Hass und Hetze lieber bei TikTok verbreiten. Vielleicht haben sie auch nicht mehr.

Ich nehme an, Sie sind nicht bei TikTok?

Das stimmt. Warum soll ich meine Zeit mit Lügen und Propaganda vergeuden. Als Philosoph und Journalist versuche ich lieber, die Fenster zum Zweifel und zum Selbstzweifel zu öffnen.

Als Sie Vorsicht, Friedman! gemacht haben, empfanden viele Ihren Stil respektlos, jedenfalls selten von Zweifel oder gar Selbstzweifeln getrieben…

Respektlos?! Ich habe meine Gäste als Menschen voller Respekt behandelt, ihre Titel waren mir allerdings zweitrangig. Andererseits: Gehört es nicht zum Respekt eines Gastes, dass er die Fragen nach besten Gewissen beantwortet? Ist die Nachfrage da respektlos? Ich glaube nicht! Nachfragen – und sei es zum dritten Mal – ist der Kern des journalistischen Interviews.

Vom inoffiziellen Lehrsatz, Gäste durch freundliche Fragen erstmal milde zu stimmen, bevor man härtere stellt, halten Sie jedenfalls wenig, oder?

Das ist kein Lehrsatz, sondern eine individuelle Herangehensweise. Es gibt ein ganzes Bouquet verschiedener Angebote konstruktiver Dialoge. Übrigens: politische Gesprächsformate sind keine Talkshows; dieser Begriff kommt aus der Unterhaltung. Ich bewundere Kollegen, die das können. Ich kann es nicht.

Aber Sie könnten schon auch sanfter, wollen es aber nicht?

Nicht bei Politiker*innen. Erstens gehört es zu deren Berufsbeschreibung, Rede und Antwort zu stehen. Zweitens benutzen sie Fernsehsendungen völlig zu Recht, um ihre Botschaften zu verbreiten. Das ist legitim. Genauso legitim ist es aber, ihre Widersprüche und Argumentationen journalistisch zu überprüfen. Mir erschließt es sich nicht, warum man sich dafür erst mal warmschmeicheln muss. Bei Profis will ich Stringenz und Widersprüchen auf den Grund gehen, Wahrheit oder Lüge.

Ist das auch eine Typ- oder nur eine Technikfrage?

Sowohl als auch. Es ist aber auch eine Frage der Authentizität. Das Schöne an der Demokratie ist doch ihr Pluralismus. Er macht eine Vielzahl von Angeboten möglich, die man mögen darf oder nicht. Ich erinnere mich, dass ein Taxifahrer mal meine Chefredakteurin Luc Jochimsen erkannte und sagte, er könne diesen Michel Friedman nicht ab. Diese Arroganz! Diese Überheblichkeit! Da meinte sie, er brauche ja nicht einzuschalten. Darauf er: Aber das halte ich ja nicht aus, ich bin süchtig nach dem. Sie wissen, woher ich stamme?

Aus Paris.

Eine Debattenstadt in einem Debattenland, das mit Händen und Füßen redet, sich streitet und umarmt, eine Kultur des Denkens, die inhaltlich kritisch sein muss und emotional sein darf. Letzteres wird in Deutschland oft ungern gesehen. Es ist aber vor allem im Fernsehen und Radio notwendig, sofern emotionale und kognitive Intelligenz gleichermaßen stringent sind. Ich habe also eine andere Streitkultur gelernt. Übrigens auch als Jude.

Erzählen Sie!

Als Jude empfinde ich es als Geschenk, dass der Messias noch auf sich warten lässt. Dadurch ist jeder Jude sein eigener Rabbiner. Die Schüler beim Tora-Studium diskutieren jeden Satz kontradiktorisch. Dieselbe Idee stand Patin, als die Debattierclubs der Universität Oxford entstanden sind, wo Studierende lernen, auch für andere Meinungen als die eigene zu streiten. Das erweitert die Debattenspielräume enorm und macht uns in jeder Gesprächsrunde zu gastgebenden Gästen. Alles andere wäre auch geheuchelt. Kein Mensch ist neutral.

Aber im Journalismus hoffentlich objektiv.

Ja, und trotzdem mit dem eigenen und dem fremden Gepäck in der Hand. Meine Vorbereitung besteht daher nie nur darin, die Fakten zu kennen. Ich will genauso die Widersprüche und Perspektiven verstehen, das Warum. Warum hat jemand welche Haltung? Warum propagiert Annalena Baerbock eine werteorientierte Außenpolitik, während Robert Habeck nach dem Ende russischer Gaslieferungen in einer Diktatur wie Katar vorstellig wird, die ihrer Außenpolitik widerspricht?

Was würden Sie den mindestens genauso ambivalenten Benjamin Netanjahu da fragen, säße er auf Ihrer Couch?

Vorweg: Wer mich als jüdischen Journalisten bezeichnet, begeht eine Diskriminierung. Ich bin kein jüdischer Journalist. Ich bin Journalist! Ich bin kein jüdischer Anwalt. Ich bin Anwalt! Ich bin kein jüdischer Philosoph. Ich bin Philosoph! Als Journalist, Anwalt und Philosoph also würde ich Benjamin Netanjahu genauso kritisch befragen, wie jeden anderen auch. In der Hoffnung, dass er wenigstens für Sekundenbruchteile seine Antwortroutine verlassen muss oder falls er es nicht tut: sie damit selbstentlarvt.

Also?

Also kann ich Ihnen nicht sagen. Vor jedem Interview schreibe ich zwar Karteikarten voller Fragen auf, benutze oft aber keine davon. Ich höre lieber zu und versuche, die Antworten kritisch zu bearbeiten. Das ist Chance und Risiko zugleich. Die Chance ist größere Gesprächsdynamik. Dass es trotzdem nicht funktioniert, ist hingegen die Gefahr. Aber dann lag es nicht am Gast, sondern an mir. In der Sache würde mich interessieren: was ist der Plan der israelischen Regierung, falls es zum Waffenstillstand kommt.

Wie nähert sich ein nicht-jüdischer Journalist dem israelischen Konflikt an, ohne antisemitisch zu werden?

Die Antwort ist banal, und ich gebe sie nicht nur als Journalist: Indem er oder sie die israelische Regierung kritisiert wie die deutsche oder die amerikanische. Auch ich verurteile die Politik der israelischen Regierung Netanjahu und seinem Innenminister, der von einem israelischen Gericht als Rechtsterrorist verurteilt wurde, zutiefst. Das zu kritisieren ist ebenso legitim, wie Donald Trump zu kritisieren. Der Unterschied ist, dass dabei niemand die USA infrage stellt, während die Kritik an einer israelischen Regierung ständig mit dem Existenzrecht Israels verbunden wird. Wer einen Palästinenserstaat from the river to the sea fordert, fordert die Vernichtung des israelischen Staates und seiner Menschen. Das ist purer Antisemitismus.

Aber selbst, wenn sie frei von Eliminierungsgedanken ist, steht nichtjüdische Kritik an Israel schnell unter Antisemitismusverdacht, weshalb ich persönlich extrem vorsichtig damit bin.

Interessant. Ich kenne kein Land, in dem die Medien Israel härter kritisieren als die deutschen seit dem Sechstagekrieg 1968. Damals besonders von der Linken. Dabei waren die Aggressoren arabische Staaten. Die diesen Krieg aber verloren haben. Das Klagen, das ja auch die AfD täglich formuliert, man dürfe gar nichts mehr sagen in diesem Land, ist ein Vorwand, um sich dem Widerspruch des Gesagten zu entziehen. Ich halte dem entgegen: Man darf alles sagen, muss nur mit Kritik rechnen, wenn das, was man sagt, falsch ist. Kritik und Widerspruch sind der Sauerstoff des Denkens.

Wobei Sie als Nachkomme sogenannter Schindler-Juden auch über jeden Verdacht erhaben sind, antisemitisch zu sein.

Ihre These ist interessant, aber nichtsdestotrotz falsch. Es soll sogar jüdische Antisemiten geben. Selbsthass gibt es auch unter Juden. Ein weiterer Beweis, dass wir so normal sind wie alle anderen auch. Niemand verbindet Kritik an Nordkorea oder Ungarn mit der Forderung, beide Länder von der Weltkarte zu löschen, sondern nur, die Regierenden von ihrer Macht zu entfernen. Das von Israel zu fordern, ist verdachtslos. Die Zerstörung des Staates zu fordern, ist der antisemitische Moment. Übrigens: Journalismus in Israel ist knallhart.

Warum?

Israelis streiten seit ihrer Staatsgründung unablässig über existenzielle Fragen. Während unsere Wohlstandsgesellschaft übers Leben diskutiert, handelt ihr Diskurs andauernd vom Überleben. Das verleiht Streitgesprächen eine andere Tonalität und verlangt vom Journalismus die große Bereitschaft, Konflikte auszugraben und in ihrer Vielfalt zu reflektieren.

Da wären wir wieder beim Respekt.

Genau. Die Kunst jeder Streitkultur besteht schließlich darin, sich hart, fair, argumentativ, aber auch emotional auseinanderzusetzen und anschließend die Hände zu geben. Ich war schon als Zehnjähriger eine Zumutung für meinen Vater, habe leidenschaftlich mit ihm gestritten und wusste natürlich alles besser. Aber wenn er mich abends zu Bett brachte, gab er mir immer einen versöhnlichen Gutenachtkuss. Dadurch, für andere Meinungen nicht emotional bestraft zu werden, habe ich die Trennung zwischen Debatte und Person gelernt.

Und haben in Ihrer lebenslangen Streitgeschichte jedem hinterher die Hand gegeben?

Nicht unbedingt physisch. Aber ich habe stets versucht, irgendeine Art von Respekt zu zollen. Falls mir das misslungen ist, war es mein Fehler. Wenn jemand sagt, ich rede Unsinn, hat das zwei mögliche Ursachen: Die Person hat keine Argumente oder keine Streitkultur; das möchte ich überwinden, um die Bedeutung des Debattierens für die Demokratie zu fördern. Ich muss nicht gemocht werden; das wäre Opportunismus. Ich will glaubwürdig sein; das ist Authentizität und nur erreichbar, falls man sich lebenslang verändert. Wenn Sie sagen, ich sei derselbe wie vor 20 Jahren, gäbe ich mir die Kugel. Ich lege als Mensch Wert darauf, mit meinen eigenen Fehlern offen und ehrlich umzugehen. Nur so ist Veränderung möglich.

Also auch, als Sie im Zusammenhang mit Koks und Prostituierten in den Schlagzeilen waren?

Ja. Es war falsch, was ich damals getan habe. Aber nur, weil ich das auch öffentlich formuliert habe und es mir bewusst geworden ist, kann ich ohne Angst davor, dass Sie mir unvermittelt Fragen dazu stellen, mit Ihnen hier sitzen und Rede und Antwort stehen.

Die Veränderung ist also der größte Motor Ihrer Wissbegier?

Ja. Veränderung entsteht aus unterschiedlichen Impulsen: Zuhören, lesen, nachdenken Erfahrungen sammeln. Ich muss mir den Respekt, dass Menschen mir zuhören, immer wieder erschuften, denn die meisten haben ein Sensorium für Geschwätz oder Substanz. Das gilt für solche wie mich erst recht und macht nicht alles, was ich vor 30 Jahren dachte, falsch. Aber richtig bleibt es nur, wenn ich es aus den Perspektiven von heute zurückreflektiere. Oft genug muss man selbst kluge alte Gedanken neu denken.

Wobei sich selbst kluge Gedanken heute im Kreuzfeuer von Fake News und False Balance befinden, die selbst unverrückbare Tatsachen schlicht bestreiten.

Das ist in der Tat eine Herausforderung, vor der auch wir im Journalismus so noch nie standen. Aber da liegt es an mir, nicht an denjenigen, die Lügen als Tatsachen verbreiten, das zu demaskieren. Wir müssen Methoden entwickeln, ihrer Falle nie sprachlos gegenüberzustehen. Das ist ein Prozess, in dem auch ich mich gerade befinde. Was bleibt: eine Lüge bleibt eine Lüge – auch wenn sie wie eine Tatsache verkauft wird. Das hat uns die Aufklärung geschenkt. Wir fragen nach dem Beweis, wir zweifeln, wir suchen nach Begründungen. Mit den Worten „warum“ und „weil“ emanzipiert sich der Mensch von Lügen, Mysterien und Glaubenssätzen. Diese Emanzipation wird nie mehr rückgängig gemacht werden können. Auch nicht von den Demagogen des Hasses und der Gewalt.

Und dieses Warum ist der Kernbegriff des Journalismus?

So ist es. Sein Zwillingswort „weil“ ist für mich als Philosoph aber der viel spannendere Begriff. Streiten bedeutet, Gründe zu suchen. Wer mir unterstellt, ich sei ein Teil sogenannter Staatsmedien, den fordere ich auf, mir angebliche Strippenzieher zu nennen, die 40.000 Menschen unseres Berufes lenken.

Würden Sie in eine Debatte einsteigen, wo Ihnen zwar das „Warum“, aber nicht das „Weil“ bewusst ist, oder darf sich letzteres auch mal erst in der Debatte ergeben?

Unbedingt. Auch als Hochschulprofessor, dem man ja einiges an Erkenntnis zubilligt, bestand mein Selbstverständnis immer darin, den Zweifel meiner Studierenden zu säen, zu pflegen, zu fördern und ihnen beizubringen, mich anzuzweifeln. Leider lässt unser Bildungssystem dafür sowohl an Schulen als auch Universitäten kaum noch Zeit. Dafür werden wir eines Tages einen hohen Preis bezahlen! Unabhängig davon gehe ich als Mensch Michel ohne vorgefertigte Meinung in die meisten meiner Gespräche und Debatten.

Gespräche und Debatten, in denen das „Weil“ bereits feststeht sind demnach nicht nur fruchtlos…

… sondern langweilig und gefährlich. Antworten politischer Akteure, die sie in ihrer Sendung oder Zeitung zum achten, neunten Mal wiederholen, betrachte ich als verlorene Zeit.

Welchen dieser Akteure finden Sie diesbezüglich in aktuellen Debatten am fruchtbarsten, also spannendsten?

Solche Rankings habe ich nie formuliert. Auch das ist eine Frage des Respekts vor denen, die darin nicht vorkämen. Als Gastgeber wirst du deine Gäste hoffentlich nicht anschließend bewerten. Das schließt aber nicht aus, davon unabhängig generell zu bewerten, was ich von der Person halte.

Dann anders gefragt: Bei welcher Art Gegenüber sind Sie am besten oder schlechtesten?

In der Frage steckt eine sehr große Gefahr. Wir alle, insbesondere all jene, die wie ich auf der Bühne stehen, sind doch Narzissten. Aber wenn ihr Ego zu klein ist, verlieren sie die Öffentlichkeit, wenn es zu groß wird, zerstören sie ihre Glaubwürdigkeit. Da meine Gespräche im Berliner Ensemble nicht nur 90 Minuten dauern, sondern meistens ausverkauft sind, scheint es also die richtige Größe zu haben. Aber auch, wenn das Publikum applaudiert, sage ich mir immer, du hättest besser sein können.

Das klingt alles überraschend selbstkritisch für jemanden, dessen öffentliches, mediales Auftreten so überwältigendes Selbstbewusstsein ausstrahlt.

Ach, wissen Sie, ich bin ein trauriger, einsamer Mensch. Das Fundament meines Lebens bildet der Friedhof, auf dem meine Eltern als Verwalter gearbeitet haben, mit mir als jüngstem Lehrling. Meine Kindheit war von Angst vor der Macht geprägt. Sie fand aber auch in einer Zeit revolutionärer Schritte statt – für Menschenrechte, für Humanismus und Aufklärung. Das von Hannah Arendt formulierte Recht, Rechte zu haben, ist zivilisationshistorisch also kaum eine Mikrosekunde alt und noch nicht mal in aller Welt verbreite – am wenigsten da, wo Autokratien das Prinzip der Ausgrenzung pflegen. Man sollte sich als Einzelner nicht zu wichtig nehmen.

Dummerweise sind Autokratien damit so erfolgreich, dass sich ihre Zahl nach Jahren der Rückläufigkeit wieder massiv erhöht.

China zum Beispiel hat den Menschen als erster sozialistischer Staat Prosperität gebracht und dafür auch hierzulande Bewunderung geerntet, einer halben Milliarde Menschen ein bürgerliches Auskommen ermöglicht zu haben – allerdings um den Preis politischer, kultureller, medialer, gar sprachlicher Unfreiheit. Nachdem wir Deutschen zwei, drei Generationen materiell und demokratisch im Schlaraffenland gelebt haben, sind wir müde, gemütlich, träge geworden. Erinnern wir uns: Putin und Xi Jinping haben gedroht, das 21. ist das Jahrhundert der Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie.

Worauf wollen Sie hinaus?

Dass viele schlichtweg verlernt haben, leidenschaftlich für Demokratie zu kämpfen. Deshalb bin ich im hohen Alter motivierter denn je, diese Auseinandersetzung der Mehrheit zu gewinnen. Denn dabei geht es nicht um Flüchtlingsfragen, es geht um alles – die Demokratie! Und die betrifft auch die Pressefreiheit, die unter anderem die AfD zerstören will.

Können Sie uns mit all Ihrer Erfahrung und Debattenfreude da Hoffnung machen, dass Sachlichkeit der Mehrheit deren Lautstärke des Hasses übertönen kann?

Da ist jede Prognose Geschwätz oder Angeberei. Aber die Tatsache, dass fast 50 Prozent aller unter 15-Jährigen bei TikTok sind, betrachte ich nicht als Problem der sozialen Medien, sondern der Demokratie. Durch persönliche und berufliche Erfahrung werden einige davon später zwar wieder seriöse Leitmedien nutzen. Aber der Rest ist für sachliche Diskurse jenseits von Propaganda und Fake News verloren. Denn mit denen sprechen wir nicht über dieselben Tatsachen. Wenn das die Mehrheit wird, hat die Demokratie verloren.

Puhh.

Nehmen wir doch die Geschichte der Bundesrepublik. Da waren die Väter, Mütter, Großeltern mindestens Mitläufer oder Profiteure. Niemand musste an der Rampe von Auschwitz stehen, um Verantwortung zu tragen. Einer meiner Lehrer, aber auch Richter und Staatsanwälte während meines Jura-Studiums waren Nazis. Ich habe die Generation derer, die ihre Tapeten immer wieder weiß übermalt haben und dennoch das Braun darunter nicht verdecken konnten, noch leibhaftig erlebt.

Und heute?

Ist die Gefahr mit Blick auf Deutschland immer noch groß, obwohl die meisten Menschen in Freiheit, Demokratie und Respekt leben wollen. Ich habe als Jugendlicher vor der Entscheidung gestanden: willst du ein Zyniker sein, der sein Leben lang allem misstraut? Ich habe mich fürs Vertrauen entschieden. Wollen Sie eine Anekdote hören?

Bitte!

Ich wollte einen Mitschüler nicht abschreiben lassen – nicht, weil ich ein Streber war, sondern weil ich ihn nicht mochte. Als er meinte, so seien sie, die Juden, war ich derart wütend, dass meine Mutter meinte, Michel, denk dran: der Hassende muss 24 Stunden mit seinem Hass leben. Der Gehasste nur, wenn er mit ihm zu tun hat. Da habe ich mich entschieden, den Menschen zu vertrauen. Denn trotz aller Revisionisten und all dem Judenhass haben wir eine Gesellschaft errichtet, deren rechtsstaatliche Gewaltenteilung mit all ihren Schwächen funktioniert. Deswegen ist mir die schlechteste Demokratie immer noch lieber als die beste Diktatur.

Und wo rangiert unsere hier in Deutschland?

Strukturell bei einer 2+. Über die Inhalte aber entscheiden letztlich Menschen. Da haben wir einerseits große emanzipatorische Entwicklungen erlebt, die wiederum von rückwärtsgewandten Menschen bedroht wird. Wie diese Auseinandersetzung entschieden wird, wage ich nicht zu prognostizieren. Aber eins ist sicher: Nur, wenn liberale Demokratien leidenschaftlich für die Menschenwürde kämpfen, werden sie fortbestehen. 

Haben Sie da manchmal Angst vorm Backlash der aktuellen politischen Entwicklung?

Ja. Aber ich habe sie nicht, weil jüdisch bin, sondern weil ich Mensch bin und die Klappe weder halten kann noch will. Wenn jemand findet, dass ich Blödsinn rede? Auch gut! Aber dass ich den Blödsinn reden darf, ist Freiheit. Und ich liebe es, frei zu sein.

Ist es da banal, zu fragen, ob Sie ein Philanthrop sind?

Fragen sind nie banal. Aber Philanthrop klingt mir zu groß. Denn ich bin weitaus schüchterner und bescheidener als viele denken. Ich glaube an den Menschen. Und diese Überzeugung werden ich nicht aufgeben. Dann würde ich mich nämlich selbst aufgeben.


Fornoffs Verschiebung & Brühls Lagerfeld

Die Gebrauchtwoche

TV

27. Mai – 2. Juni

Man soll ja niemanden vorverurteilen. Die Unschuldsvermutung, schon klar. Objektivität, laufendes Verfahren, das Übliche. Aber was soll Matthias Fornoff anderes getan haben als seine Männermacht missbräuchlich gegenüber Frauen auszuüben, wenn vier Kolleginnen Vorfälle schildern, für die ihn das ZDF als Leiter seiner Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen auf eine Position „ohne Führungsverantwortung“ abschiebt und am 1. November durch Shakuntala Banerjee ersetzt?

Egal. Dass er weiterhin fürs Zweite tätig bleiben darf, zeugt von ähnlicher Sensibilität in #MeToo-Fragen wie die aberwitzige Idee, den Rammstein-Keyboarder Flake im jüngsten Murot-Tatort auftreten zu lassen. Zur Erinnerung: Till Lindemann geriet voriges Jahr in die Schlagzeilen, weil Flakes Frontmann (der dazu nie ein Wort des Bedauerns verliert) Frauen bestenfalls als Frischfleisch betrachtet.

Und irgendwie passt es da in die Reihe öffentlich-rechtlicher Peinlichkeiten, dass der WDR eine Umfrage über die Akzeptanz nicht-weißer Fußballnationalspieler in Auftrag gegeben hat, über die sich mittelbar Betroffene wie Josua Kimmich oder Julian Nagelsmann zu Recht aufregen. Gibt es da denn noch irgendwas Positives beitragsfinanzierte Medien zu berichten? Vielleicht: Das Erste muss die linksrechtspopulistische Sahra Wagenknecht nicht in ihre Wahlarena einladen.

Außerdem bewies das ZDF Weitblick, als maybrit illner über den potenziellen Einsatz amerikanischer und deutscher Waffen auf russischem Territorium diskutieren ließ und erst die USA, dann die BRD genau das zugesagt haben. Perfektes Timing. Das der Evening Standard verloren hat. Ausgerechnet in einer Zeit, wo seriöser Boulevardjournalismus wichtiger wird, wird die letzte Londoner Tageszeitung eingestellt – womit die Stadt, kein Witz, zum ersten Mal seit 1702 ohne eigenes Blatt auf Papier ist.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

3. – 9. Juni

Zum zweiten Mal als Strippenzieher im Netz der Mafia tritt heute um 20.15 Uhr (und danach in der Mediathek) dagegen Tobias Moretti im ZDF-Thriller Der Gejagte auf. Originalitalienisch ist tags drauf die achtteilige Neo-Culture-Clash-RomCom Bangla, in der ein bengalisches Immigrantenkind fürchterlich synchronisiert, aber liebevoll gespielt um eine Römerin kämpft und damit gegen Vorurteile beider Kulturkreise kämpft.

Ganz nettes Warum-up für das, was am Freitag passiert. Dann nämlich startet der französische Disney-Sechsteiler Becoming Karl Lagerfeld. Und wie Daniel Brühl den norddeutschen Modemacher beim komplizierten Aufstieg Anfang der Siebziger in Paris verkörpert, ist ohne Übertreibung mit das Beste, was auf dem klischeeanfälligen Feld opulent kostümierter Zeitgeschichtsserien jemals ausgestattet wurde.

Wegen der Lovestory, der Drehbücher, der Milieustudie, der Darsteller*innen, wegen absolut allem bis hin zur stichhaltigen Musik. Da kann das zeitlich ein bisschen später angesiedelte Biopic über den Erfinder des Smartphone-Vorgängers Blackberry ab Samstag bei Paramount+ ebenso wenig mithalten wie Jake Gyllenhaal zeitgleich bei AppleTV in der achtteiligen Bestseller-Verfilmung Aus Mangel an Beweisen.

Zum Schluss noch drei Sach- und Fachgeschichten made in germany: Am Mittwoch um 21.30 Uhr widmet sich die ARD-Doku Einigkeit und Recht und Vielfalt der (gescheiterten) Fußball-Integration. Am Freitag läuft in der Mediathek die dreiteilige Real-Crime Tod für Olympia um das erste westdeutsche Doping-Todesopfer Birgit Dressel 1987. Und parallel dazu geht Pierre M. Krause in sein 28-teiliges Promi-Begleit-Reportage-Format Kurzstrecke.