Bartels Girl & Apples Women

Die Gebrauchtwoche

TV

22. – 28. Juli

Tom Bartels ist sprachlos. Und er spricht davon. Wer hier einen Widerspruch entdeckt: Richtig gefunden. Als der ARD-Moderotor mit seiner Kollegin Friederike Hofmann am Freitagabend die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele übertragen hat, konnten beide nämlich noch so oft betonen, wie ihnen angesichts einer überwältigenden Feier die Worte fehlen – sie packten genau das in einen so lückenlosen Wortschwall, dass man sich die unkommentierte Stadion-Spur von Sky wünschte oder wahlweise zu Eurosport zappte.

Nur – da mag Siggi Heinrich ein bisschen zurückhaltender geredet haben; zu viel der Worte war es auch dort, weil Besserwissende der sozialmedialen Zukunftsgegenwart eben alles zwanghaft deuten – vor allem das Offensichtliche. Gerade deshalb hätte es ein großer Moment dieser – im Internet natürlich zornesrot kommentierten – Kommentarkatastrophe werden können, dass Bartels die finale Fackel-Trägerin Marie-José Pérec nebst Teddy Riner nicht erkannt hatte.

Aber was tat die allwissenwollende Müllhalde, statt es einfach mal einzuräumen? Sie fragt bei offenem Mikro internationale Kollegen „who’s that girl“. Betonung auf „Mädchen“, das – auch davon sprach Tom Bartels mindestens vierhundertsechsundachtzigmal – wirklich schlechtes Wetter erwischt hatte. Aber gut, es ist das Megasportereignis der Saison. Wichtiger als die Formel 1, dessen Ergebnis die Tagesthemen auch zwei Stunden nach Rennende noch falsch vermeldeten.

Wie schön, dass wenigstens Susanne Daubner wie im ARD-Morgenmagazin vor anderthalb Jahren mal wieder für ausgelassene Heiterkeit sorgte, als sie sich beim Verlesen eines olympischen Fußballergebnisses sekundenlang kaum einkriegte. Jene Nachrichtensprecherin also, die regelmäßig digitale Berühmtheit erlangt, wenn sie mal wieder Jugendwörter aufsagt. Das neueste allerdings führte sie bislang nicht im Mund: Talahon.

So heißen seit neuestem junge, tendenziell migrantisch geprägte Männer, die der Begriff kennzeichnen soll, wie so oft aber vorerst mal stigmatisiert. In den herrschenden Diskurs hat er es daher schneller geschafft, als man „herkunftssensible Sprache“ aufsagen kann oder wahlweise eine der wenigen Erstausstrahlungen dieser Woche.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

29. Juli – 4. August

Bemerkenswert ist daran nämlich vor allem eine: die mexikanische Tragikomödie Women in Blue. Damit sind vier Frauen gemeint, die in der zutiefst sexistischen Macho-Kultur des mittelamerikanischen Landes Teil einer rein weiblichen Polizeieinheit werden. Für die Betroffenen ein großer Schritt, erweist sich die (tatsächlich erfolgte) Gründung zwar als Feigenblatt, um vom Versagen ihrer Kollegen im Fall eines Serienkillers abzulenken.

Aber wenn das Quartett die PR-Finte nicht zur emanzipatorischen Selbstermächtigung nutzen würde, hätte es ab Mittwoch bei Apple TV+ kaum zehn Teile à 55 Minuten Zeit, den Spieß umzudrehen. Zum Glück. Denn Las Azules, wie sie auf Spanisch heißen, ist auf voller Länge ein gelungenes Kostümfest des TV-Empowerments mit Thriller-Elementen. Und am Ende, keine Sorge, wird der Täter geschnappt. So wie beim Mord ohne Sühne in der ARD-Mediathek – wenngleich mit Verspätung.

Erst 30 Jahre, nachdem er Frederike von Möhlmann 1981 getötet hatte, wird der Anfangsverdächtige überführt. Und was dazwischen geschah, deckt die dreiteilige Real-Crime-Doku parallel zu Las Azules auf. Sky geht danach zwei etwas anderen Phänomenen auf den Grund. Am Freitag wird die Geschichte der Disco mit viel Musik und Tamtam nachgezeichnet. Samstag folgt The Truth vs. Alex Jones um den rechtsradikalen Talk-Radio-Star, der für seine Leugnung des Sandy-Hook-Massakers zu einer Milliardenzahlung verurteilt wurde.

Zu guter Letzt zwei Serien: Am Donnerstag startet bei Prime Video Caped Crusader, ein animierter Batman also, der zehn Teile lang auf den endlosen DC-Zug springt. Anspruchsvoller dürfte da die Fortsetzung der grandiosen Echtzeit-Serie In Her Car um eine Ukrainerin sein, die ab Freitag in der ZDF-Mediathek mit ihrem Auto Landsleute vorm russischen Vernichtungskrieg in Sicherheit bringt.


Faesers Compact & Haase Kleo

Die Gebrauchtwoche

TV

15. – 21. Juli

Zensur! Das brüllen aktuell alle, die für ihre Meinungen keine bedingungslose Zustimmung ernten. Zensur brüllen jetzt also auch jene, die Nancy Faesers Verbot von Jürgen Elsässers AfD-Fanzine (und das der Polizei Jena) Compact kritisieren. Weil es sich um staatliches Handeln handelt, ist der Begriff dabei nicht mal grundlegend falsch, aber Teil jener Selbstzensur, die rechte Publizistik inhaltlich betreibt. Gut zu beobachten in den USA.

Dort wurde übers Attentat auf Donald Trump nur in einer Handvoll Medien objektiv berichtet. Fox zum Beispiel hat vornehmlich jene 15 Dollar thematisiert, die der Attentäter einer liberalen Wahlinitiative als Teenager überwiesen hatte. Seine Registrierung als Republikaner blieb dagegen unerwähnt. So ging es oft zu in einer Öffentlichkeit, der Trumps gereckte Faust das ikonischste Politiker-Bild seit Bushs Blick ins Leere 9/11 schenkte. Da konnte ein Elon Musk natürlich nicht stillsitzen.

Der hat sich nun auch offiziell auf Trumps Seite geschlagen und das Verbot der Compact auch deshalb – siehe oben – als staatliche Zensur verurteilt. Was den X-Populisten allerdings nicht daran hindert, staatliche Zensur von Sebastian Hotz zu fordern. Unabhängig von der ethischen Frage, ob angehende Tyrannen wirklich dieselbe Pietät verdienen wie, sagen wir, ukrainische Kriegsopfer, legen El Hotzos unappetitlichen Trump-Tweets den Finger in die Wunde öffentlich-rechtlicher Scheinheiligkeit.

Denn dass der rbb den Komiker rausgeworfen hat, wirft die Frage auf, warum Dieter Nuhr beim selben Sender unlängst ungestraft vorschlagen durfte, Messerattentäter – in seiner Welt Muslime – einzuschläfern. Der Stern hat dazu eine Liste all jener ARD-Promis erstellt, die gern rassistisch, sexistisch, völkisch und/oder antisemitisch agitieren, ohne dafür gecancelt zu werden. Wäre Jan Böhmermann nicht in der Sommerpause, hätte er dazu sicher etwas zu sagen.

Ebenso wie zum Landgericht Dresden, das dem sächsischen Imker Rico Heinzig erlaubt, Böhmermanns Konterfei weiter auf Honiggläser zu drucken. Oder zum Kollaps globaler Kommunikationsnetze infolge eines schadhaften Updates. Oder den FX-Fernsehserien The Bear und Shogun, die zusammen sensationelle 46-mal für Disney+ bei den Emmys nominiert sind.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

22. – 28. Juli

Wer vermutlich völlig zu Unrecht wieder leer ausgeht, ist dagegen Kleo. In der zweiten Staffel erreicht Jella Haase als unverdauliche Doppelt- bis Dreifachagentin in eigener Sache zwischen den Wiedervereinigungsstühlen zwar nicht ganz das Niveau der ersten. Aber auch die Fortsetzung stellt ab Donnerstag bei Netflix diverse Regeln des Spionage-Action-Genres so lässig auf den Kopf, dass jede Minute davon – abermals vor allem wegen Dimitrij Schaad gewaltigen Spaß bereitet.

Gleiches gilt überraschend auch fürs Remake von Terry Gilliams Time Bandits. Mit sich selbst als Gut/Gott und Böse/Teufel haben die beiden Showrunner Taika Waititi (Reservation Dogs) und Jemaine Clement (Flight of the Conchords) den Fantasy-Film von 1981 in ein achtteiliges Feuerwerk der Absurditäten verwandelt, das ab Mittwoch bei Apple TV+ sogar ein paar seiner damaligen Makel verliert

Übrigens auch, weil die Titelfiguren keine Kleinwüchsigen sind, die mithilfe des kleinen Kevin auf Raubzug durch Raum und Zeit reisen. Tags drauf bedient sich auch Netflix bei Monty Python. The Decameron macht die Pest anno 1348 zum Thema einer Serien-Groteske, in der buchstäblich keine Gefangenen gemacht werden, aber reichlich Witze auf Kosten Schwächerer. Mal sehen, ob das funktioniert.

Letzteres beweist heute im Ersten der Eberhoferkrimi. Natürlich muss man den bayerischen Mundart-Humor mögen. Aber auch Rehragout-Rendezvous glänzt durch schlagfertige Lässigkeit, also: gute Bücher. Die sechsteilige Bushido-Huldigung Back on Track finden dagegen ab Dienstag bei FreeVee vermutlich nur Fans erträglich. Ebenso wie die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am Freitag.


Knarre, Angélica Garcia, Baby You Know

Knarre

Punkrock ist ja kein Punkrock, weil er von Punks gemacht wird. Punkrock ist Punkrock, weil er auf wohlige Weise wehtut. In den Ohren. In den Augen. Im Herz. Im Hirn. Weil er zugleich banal und politisch sein kann, betroffen und eskapistisch, bedeutungsschwanger und egal – alles ziemlich gut kompiliert in der Berliner Punkrockband mit dem berlinernden Punkrockbandnamen Knarre, die ein bisschen mehr als nur an Turbostaat erinnert.

https://www.youtube.com/watch?v=B81U2EJkOvs

Wenn Sänger Daniel P. im zweiten Album Hundeleben “Du bist die Alpen / und ich bin Brandenburg / Du bist das Meer / und ich bin der Baggersee” über scheppernde Gitarren und beckenlastige Drums brüllt, klingt er schon ganz schön nach Jan W., aber egal. Die acht Lieder über Liebe und ihre Dornen dengeln uns ihre ganz eigene Metrik ins Gemüt und wühlen es mit disruptiver Emotionalität auf. Live ist das ein Unwetter, aber auch konserviert noch gewittrig gut.

Knarre – Hundeleben (Through Love Rec.)

Angélica Garcia

So ganz, also wirklich komplett was anderes ist das neue Album der Experimentalpop-Kuratorin Angélica Garcia. Auf dem Nachfolger ihres gefeierten Debütalbums Cha Cha Palace hat die Kalifornierin ihre mittelamerikanische Herkunft ein bisschen versteckt. Gemelo dagegen ist nahezu komplett auf Spanisch und thematisiert ihre Wurzeln in Mexico und El Salvador auch musikalisch. Manchmal klingt es daher fast folkloristisch, wenn sie metaphorisch zwischen Geist und Körper, Bauch und Seele mäandert.

https://www.youtube.com/watch?v=Ze_ZbtY7t3Y

Eine wirklich ergreifende Elektronica im hintergründigen Future-Soul aber umschmeichelt ihren Tori-Amos-haften Gesang mit Ideen, die für sich genommen schon großartig sind. Hier mal ein verschämtes Plöttern, dort ein waviger Bass, im verschwitzten Y Grito sogar Alternative Rap, der im anschließenden El Que fast nach Industrial klingt – bisschen Punkrock strahlt auch Gemelo aus, wenn es sich jeder Zuordnung verweigert, ohne beliebig zu sein.

Angélica Garcia – Gemelo (Partisan Records)

Baby You Know

Und weil der Sommer naturgemäß ein bisschen ärmer an Neuveröffentlichungen ist, hier der Tipp zweier Re-Issues derselben Band: Baby You Know aus Regensburg, die – ohne es zu wissen – Anfang der Neunziger einen Trend mitbegründet haben: alpiner Southern Rock mit Western-Elementen, den Epigonen à la G.Rag y los Hermanos Patchekos oder die Dead Brothers zur vollen Blüte gebracht haben.

https://www.youtube.com/watch?v=YV2AfgUxr24&t=1s

Baby You Know klingen dabei noch relativ roh, fast ein bisschen unbeholfen, noch eher nach Aneignung als Eigensinn. Aber wie die zwei neu aufgelegten, digital verfügbaren Platten To Live Is To Fly und Clear Water mit Fiddel, Americana und deutschem Akzent zeigen: da steckt schon viel Country-Appeal dring, der sich hierzulande seinerzeit noch durch ein Meer der Truck-Stop-Vorbehalte kämpfen musste.

Baby You Know – To Live Is To Fly/Clear Water (Tapete)


Valerie Niehaus: Verbotene Liebe & heute show

Mein Job ist nicht nur Selbstverwirklichung

heute-show HISTORY

20 ihrer 30 Fernsehjahre hat Valerie Niehaus (Foto: ZDF/Benjamin Zeitz) normale Frauen normaler Filme gespielt. Dann kam die heute-show und jetzt ihr eigenes History-Format. Ein Gespräch über Ernst, Humor und Eskapismus

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Frau Niehaus, muss man die Realität leicht oder ernst nehmen, um darüber Witze zu machen?

Valerie Niehaus: Das Ernste muss ja nicht schwer sein und das Leichte nicht lustig. Ich habe mich mit meinen 50 Jahren damit arrangiert, dass die Welt ernste Realitäten hat, dadurch aber nicht dauernd ein schweres Herz. Das ermöglicht mir und vermutlich auch vielen meiner Kollegen selbst dann Leichtigkeit, wenn es wirklich ernst wird. Erst, wer die Komplexität unserer bedrohlichen Zeit akzeptiert, anstatt auf leichte Lösungen zu setzen, schafft es auch, sie zu bewältigen. Die Frage ist nur, warum wir uns überhaupt keine Lösungen mehr zutrauen.

Und die Antwortet lautet?

Dass wir uns von der Angst lösen müssen, die am Ende nur das Denken blockiert. Humor ist da ein gutes Instrument.

Im therapeutischen Sinne?

Eher im psychosozialen Sinne einer Bereitschaft, sich auch dann so etwas wie Realismus abzuverlangen, wenn es wehtut, um daran gemeinsam gesund wachsen zu können. Und da hilft eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit der Schwere ungemein, um individuelle Entscheidungsmöglichkeiten zu erweitern.

Wobei Sie zwei Ebenen der Leichtigkeit bespielen: eskapistische Primetime-Unterhaltung und konfrontative Polit-Comedy. War es ihr Plan, beides parallel zu machen?

Pläne entwickeln sich oft aus dem, womit man Erfolg hat. Vor meiner Sketch-Arbeit habe ich jahrelang normale Frauen im normalen Alltag normaler Geschichten gespielt. Diese Normalität habe ich bei aller leichten Bekömmlichkeit immer sehr ernst genommen. Aber schon dort waren Ende der Neunziger Komödien dabei, die mir gezeigt haben, wie sehr mir Humor auch persönlich liegt und Spaß beim Drehen bereitet – sofern er ein trojanisches Pferd ist, um das Publikum auf neue Gedanken zu bringen.

Das wäre die Angebotsseite. Wie groß war die Nachfrage, als das Daily-Soap-Gewächs Valerie Niehaus vor zehn Jahren zur Satire gewechselt sind?

Bei den Verantwortlichen von Sketch History offenbar groß genug, um mich zu fragen. Da haben welche etwas Witziges an den Komödien mit mir entdeckt, das zur Satire taugt (lacht). Um die immer wieder neu zu erfinden, braucht man schließlich frische Gesichter. Ähnlich war es bei der heute-show; da hat irgendwer einen Sketch mit mir zum Diesel-Skandal gesehen und mich daraufhin angerufen. Manchmal ist es eben doch nicht so kompliziert.

Haben diese Anfragen Ihre Schauspielkarriere ein bisschen davor gerettet, irgendwann auf dem Traumschiff festzusitzen?

(lacht) Man braucht auf Seiten der Auftraggeber definitiv jemanden, der solche Fenster öffnet, ja. Aber ich glaube, in der Branche ist mittlerweile hinreichend bekannt, dass Daily Soaps in hochkonzentrierter, professioneller, lustvoller Arbeit entstehen und kein Hinderungsgrund für das sind, was alle in meinem Beruf wollen: unterschiedliche Charaktere zu verkörpern. Dass mich die Leute bis heute auf Verbotene Liebe ansprechen, meine Figur also auch 30 Jahre später noch Erinnerungen – und seien es eskapistische – wachruft, sehe ich daher positiv. Das gehört zu mir.

Es gibt also nichts zu bereuen?

Nein, schon weil ich dem Konzept der Reue nicht sonderlich nahestehe. Außerdem geht es bei meinem Job nicht nur um Selbstverwirklichung, sondern Dienstleistung. Daily Soaps zum Beispiel zeigen auf unterhaltsame Art, wie die Mehrheit von uns lebt. Trotzdem war die Vielfalt meiner Genres schon damals größer als viele denken. Wobei die Satire auf dem Weg zum Ziel, die Leute wirklich zu bewegen, nach 30 Jahren im Beruf schon eine Art Krönung ist. Andere angstfrei zum Lachen einzuladen, empfinde ich als großes Geschenk.

Finden Sie das dann auch selber lustig oder ist das die angesprochene Dienstleistung?

Vieles finde ich schon auch lustig. Aber als Schauspielerin geht es ja nicht um mich und meinen Geschmack oder die Befriedigung eigener Ansprüche, sondern die Werke anderer, denen ich durch meine Arbeit Respekt zolle. Ich muss das also nicht alles witzig finden, suche aber stets nach Wegen, den Humor für andere greifbar zu machen.

Warum bedient sich der deutsche Humor dafür auch in der heute-show oder Sketch History eigentlich so oft Grimassen und Lärm, anstatt sich aufs Wort zu verlassen?

Das ist einfach ein technisches Stilmittel, wobei die heute-show wegen der Kürze ihrer Beiträge anders als neunzigminütige Satiren darauf angewiesen ist, Charaktere schnell eindeutig auf den Punkt zu bringen. Da probieren wir viel aus, nutzen aus meiner Sicht aber nicht überproportional viele Grimassen.

Finden Sie den Humor deutscher Satire wie Ihre Ex-Kollegin Christine Prayon, die deshalb die heute-show verlassen hat, auch manchmal zu sehr von oben herab gegen Andersdenkende gerichtet?

Nein, finde ich nicht (Pause). Punkt.

Was fügt die Dienstleitung „heute-show HISTORY“ dem Fernsehhumor da hinzu, was es bei heute-show und Sketch History nicht schon gibt?

Mit beidem hat die Sendung bis auf den Titel wenig zu tun, weil die Prämisse unsere Gegenwart ist, aus der wir Fragen an die Vergangenheit stellen und diskutieren.

Was verändert es dann für Sie, dass es explizit Ihr Format ist?

Einiges, denn ich spiele nicht nur eine, sondern fast alle Figuren, und das oft allein. Ausserdem bin ich als Moderatorin im Einsatz. Schauspielerisch eine völlig neue Herausforderung, aber auch ein Hochgenuss. Noch neuer ist allerdings, wie tief ich in die Formatentwicklung involviert war.

Steigt damit auch die Fallhöhe für Sie persönlich?

Ach, Fallhöhe… Ein Risiko geht doch schon ein, wer draußen vor die Tür geht.

Wohin kann Sie der Humor draußen vor der Tür noch führen?

Überallhin, denn er ist das Salz in meiner beruflichen Suppe. Ich möchte, dass sich die Leute von mir eingeladen fühlen und muss dafür nicht alles um mich herum kaputtschlagen. Ich bin zwar nur selten auf social media aktiv, freue mich aber, näher ans Publikum zu kommen und als Valerie Niehaus sichtbarer zu werden.

Können Sie sich in eine der folgenden drei Formate hineindenken? Die Anstalt.

Ja, super gerne.

Late Night Show?

Klar, warum nicht. Mit guten Autorinnen.

Wetten, dass…?

(lacht) Nein, aber nicht, weil es mir nicht gefallen würde, sondern weil das glamouröse Konzept in Zeiten von Millionen Bühnen, auf denen man Robbie Williams und Beyoncé auch ohne ZDF sehen kann, einfach nicht mehr nötig ist.


Trumps Endspiel & Emmerichs Rom

Die Gebrauchtwoche

TV

8. – 14. Juli

Fußball. EM. Finale. Toll. Wobei – eigentlich gab es am Wochenende zwei medial begleitete Endspiele zugleich. Das erste gewann Spanien gegen England. Das andere fing 27 Stunden zuvor an und hat den Präsidentschaftswahlkampf wohl für den blutenden Berserker Donald Trump entschieden, weil der sich nun noch mehr als Opfer dunkler Mächte stilisieren darf – und im Rückenwind demokratischer Selbstdemontage segelt.

Um ihn zu drehen, singt die Film- und Fernsehprominenz mit im Chor ernstzunehmender Medien, die wenig mehr interessiert als das Alter des aktuell einzig wählbaren Bewerbers. Der Großspender (und Netflix-Chef) Reed Hastings zum Beispiel fordert zusammen mit dem Großspendensammler (und Schauspieler) George Clooney Joe Bidens Rücktritt, während der Lost-Erfinder David Lindelof nur dazu aufruft kein Geld mehr für einen Wahlkampf ohne Erfolgsgarantie zu spenden.

Aber wie gesagt – womöglich alles bisschen egal, weil Donald Trump eh alle Fakten ignorieren und mit dem Attentat Wahlkampf machen wird in einem Land, das allen Ernstes einen Schauspieler dafür angeklagt hat, mit einer versehentlich geladenen Requisite eine Kamerafrau erschossen zu haben. Wegen Mordes! Gut, dass die Klage gegen Alec Baldwin fallen gelassen wurde. Und damit zurück zum Fußball.

Der nämlich war für vier Wochen nah dran am völkerverständigenden Ausgleich, den sportlicher Wettkampf seit der Antike auszuüben versucht. Dass er oft ziemlich unterhaltsam vermittelt wurde, lag übrigens nicht am wohlfeilen Bahn-Bashing, das zumindest seriöse Medien besser mal mit einem Auto-Bashing flankiert hätten. Woran es definitiv lag, war die hiesige Studioberichterstattung.

Die Bolzplatzgefechte von Schweinsteiger/Bommes im Ersten, das Odd-Couple Mertesacker/Kramer im Zweiten. Lothar Matthaus‘ selbstlose RTL-Altenpflegerin Laura Papendick und Laura Wontorras Ergotherapie für Michael Ballack bei Magenta TV – sie alle lieferten drollige Fernsehunterhaltung über den Fußball hinaus und zeigten, wie gut investiert Gebühren- und Werbemillionen ins Lieblingsspielzeug der Deutschen ist. Hoffentlich bleibt das so, wenn in absehbarer Zeit die KI übernimmt.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

15. – 21. Juli

So wie ein Roboter namens Sunny, den Rashida Jones als Witwe eines KI-Entwicklers gerade bei AppleTV+ erbt und als künstlicher Gatten-Ersatz natürlich nichts Gutes im Schilde führt. Auch das Fernsehen hat seinen fortschrittsfreudigen Optimismus ja spätestens mit Klimawandel und 9/11 eingebüßt. Wie schön ist es da, ein problembehaftetes Themas in einer solchen Leichtigkeit zu erleben wie in Simple.

Der spanische Fünfteiler begleitet Dienstag bei Neo und in der ZDF-Mediathek vier mental retardierte, vulgo: geistig behinderte Frauen nach Barcelona, wo sie eine fiktive WG bilden. Und das Tolle daran: Die Serie lässt ihnen alle Freiheiten, verschweigt dabei aber nicht, wie kompliziert es für Menschen jenseits der leistungsoptimierten Norm ist, den Alltag zu bewältigen. Zum Trotzheulen schön!

Zum Fremdschämen ist dagegen das teuerste Format der Woche: Those About to Die. Roland Emmerich lässt darin die Gladiatoren des alten Roms wiederauferstehen, und damit ist eigentlich alles gesagt übers zehnteilige Reenactment für läppische 140 Millionen Euro. Es knallt. Es scheppert. Es lärmt, es blutet, es dröhnt, es tötet, quält, vernichtet. Ab Freitag bei Amazon Prime ist beim schwäbischen Bombastkönig also alles wie eh und je und damit scheußlich.

Dann doch lieber Staffel 2 der originellen SyFy-Serie Resident Alien um sesshafte Außerirdische ab Donnerstag. Oder die thailändische Mystery Master of the House um einen Erbschaftsstreit an exklusivem Ort ab Freitag bei Netflix. Oder zeitgleich Omnivore, eine Apple-Doku-Reihe übers dänische Koch-Genie René Redzepi.


Vernaus Wahl & Murphys Cop

Die Gebrauchtwoche

TV

1. – 7. Juli

Echte Überraschungen sind im öffentlich-rechtlichen Personalkarussell eher selten. Schließlich neigen Günther Jauchs sprichwörtliche Gremlins nicht nur sendeprogrammatisch zur Lethargie. Sie wollen auch bei der Stellenbesetzung Stress vermeiden, weshalb ein westdeutscher mittelalter weißer Mann – Programmdirektor Jörg Schönenborn – eigentlich der wahrscheinlichste Nachfolger von Tom Buhrow gewesen wäre.

Nun aber wurde Katrin Vernau zur neuen WDR-Intendantin gewählt. Sie ist zwar ähnlich westdeutsch, aus dem eigenen Stall sogar, aber relativ jung, weiblich und als Quereinsteigerin in der Anstaltshierarchie ziemlich abseitig! Umso origineller, dass die RBB-Saniererin ab 2025 das größte deutsche Funkhaus leitet. Wenn auch nicht so originell, wie ein Interview, dass die ultraliberale Schuldenbremsbacke Christian Lindner gegeben hat.

Dem Salonnaziportal NIUS von Julian Reichelt nämlich, der Lindners Ampel üblicherweise mit dem Bulldozer rechtspopulistischer Verschwörungsideologien einzureißen versucht und die deutsche Fußballnationalmannschaft vermutlich für Verräter am rassereinen Herrenvolk hält. Dass die bei ihrer Heim-EM ausgeschieden ist, dürfte ihn daher so wenig stören wie ein Nationalismus, der das Märchen vom fröhlichen Sportpatriotismus Lügen straft.

Da hätte man sich von den Kommentierenden öffentlich-rechtlicher Kanäle beizeiten gewünscht, sie würden es nicht so saftig-deppert feiern, mit welcher exkludierenden Innbrunst Spieler und Fans ethnisch homogener Teams aus Südosteuropa ihre Nationalhymnen geschmettert haben und die anderer Nationen gelegentlich sogar ausgepfiffen.

Vielleicht blieb dafür aber auch keine Zeit, weil das beitragsfinanzierte Personal bei jeder Gelegenheit den exzessiven Alkoholismus überall feiern mussten, als wären drei bis vier Promille ein Menschenrecht. Mit mehr Zeit würden sie im Sommerinterviews mit dem AfD-Führungsstab Alice Weidel und Tino Chrupalla vielleicht ja zumindest ab und zu mal eine der Lügen entlarven.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

8. – 14. Juli

Aber gut, Ende der Woche endet die Schwanzparade vaterlandsverliebter Saufnasen und andere Sendungen kommen zurück ins Rampenlicht. Der 4. Teil von Beverly Hills Cop mit Eddie Murphy als Eddie Murphy und dem überlebenden Rest der Originalbesetzung bei Netflix ist da allerdings nicht weiter der Rede wert – es sei denn bei Actionfans, die zünftige Explosionen jeder Art von Wortwitz vorziehen.

Unterhaltsamer sind da schon die ersten zwei ZDF-Sommerkomödien mit Bastian Pastewka (Alles gelogen) und Fritz Karl (Überväter). Der aktuelle Summer of Champions von Arte verspricht ohnehin tiefschürfendes Entertainment, das The True Story of Taylor Swift in der ZDF-Mediathek auf hyperkapitalistische Höhen katapultiert. Ein bisschen gedeckter hält sich dagegen die ARD-Doku Schicksalsjahre einer Kanzlerin.

Fünf Teile lang wird darin ab heute in der ARD-Mediathek Angela Merkels gedacht – und damit einer Epoche, in der die Welt so in Ordnung schien, dass ihre elaboriert passive Nicht-Politik im Rückblick fast tröstlich erscheint. Zumal sie auf unseren Kontinent (dessen Filmschaffen die ZDF-Reihe Made in Europe heute mit der Free-TV-Premiere SAS – Alarm im Eurotunnel würdigt) nichts kommen ließ.

Alle anderen Erstausstrahlungen von Belang starten am Freitag: Die Coming-of-Age-Serie Ich bin Ben eines Zwölfjährigen bei Apple TV, Marco Petrys deutsche RomCom Spieleabend, bei dem Janina Uhse und Dennis Mojen als Frischverliebte bei Netflix den heiter bis wolkigen Fehler begehen, ihre Freundeskreise gesellig kennenzulernen. Und last but least: heute show HISTORY, ein Ableger der grimassierenden Satiresendung mit Valerie Niehaus, die das mal besser gelassen hätte.


Yorck Pulus: EURO24 & ÖRR

Wenn es kritisch wird, zeigen wir das

Polus-Artikel-

In gut einer Woche endet die Heim-EM. Kurz davor hat ZDF-Sportchef Yorck Polus (Foto: Tim Thiel) die journalistischen, emotionalen, technologischen Herausforderungen der EURO24 erklärt und sie sich im digitalen Zeitalter künftig ändern. Das große journalist-Interview mit einem leidenschaftsgetriebenen Pragmatiker.

Von Jan Freitag

freitagsmedien: Yorck Polus, Sie sind seit 24 Jahren Sportjournalist, haben 1998 in Sportwissenschaft promoviert, waren in den Achtzigern Leistungssportler und sind noch viel länger Fußballfan – können Sie die Atmosphäre des Sommermärchens da förmlich noch spüren?

Yorck Polus: Ich habe sie noch gut in Erinnerung. Fußballbegeistert war ich schon als kleiner Junge. Wobei viele Erinnerungen an die Siebziger eher familiär bedingt sind – mein Onkel ist Klaus Fichtel.

Eine Schalke-Legende der Sechziger- und Siebzigerjahre…

So war ich von Haus aus an Schalke gebunden und wurde von der Atmosphäre im Parkstadion geprägt. Doch was bei der WM 2006 passiert ist, war für uns alle etwas Neues. Diese unglaublich positive, bunte Grundstimmung hatte ich bis dahin bei keinem sportlichen Großereignis in Deutschland erlebt – ein Sommermärchen eben.

Die EURO24 dagegen ist allenfalls ein Frühjahrsschläfchen. Viele wissen gar nicht, dass sie im eigenen Land stattfindet. Was bewirkt das in Ihnen als Fan und ZDF-Sportchef?

Zunächst mal berührt es den Anspruch, unseren Job zu machen. Nicht nur der Fußball und die Gesellschaft haben sich seit 2006 stark verändert, auch ihre Medien. Damals haben neben Zeitungen und Radio nur öffentlich-rechtliche und private Sender über die WM berichtet. Heute ist der Markt in zahlreiche Kanäle fragmentiert, auf denen man sich seine Informationen individuell zusammensucht. Selbst ein Großereignis im eigenen Land muss aktiv für sich werben. Die Euphorie wird mit wachsender Nähe zum Turnier zwar wachsen – dafür sorgen auch die deutschen Erfolge im Europapokal oder Leverkusens Meistertitel. Doch wir müssen noch einiges dafür tun, dass sie sich aufs ganze Land überträgt.

Meinen Sie „wir“ als fußballbegeistertes Land oder „wir“ als fußballjournalistische Redaktionen?

Wir als Land. Und natürlich die UEFA und der DFB, die für das Turnier verantwortlich sind. Wir als Sender sind Berichterstatter, und begleiten Ereignisse, ohne dafür werben oder Euphorie erzeugen zu wollen. Aus journalistischer Sicht – ob Print, Fernsehen oder Online – liegt der Fokus deshalb derzeit noch auf dem Saisonabschluss der Bundesliga und den Finals in der Champions League und im DFB-Pokal. Parallel bereiten wir bereits unsere Übertragungen von den Olympischen Spiele in Paris vor. Die anstehende EM wird emotional ihren Platz in diesem großen Sportsommer finden, doch diese Stimmung nehmen wir nur auf und erzeugen sie nicht.

Das klingt nüchtern fürs Premiumprodukt, in das ARD und ZDF schon jenseits vom eigenen Sendebereich viel Geld und Zeit investieren. Ist ein wenig emotionale Verbundenheit bis hin zur Parteilichkeit da nicht gewissermaßen der öffentlich-rechtliche Auftrag?

Sportjournalistisch nicht. Da ist es nicht die Aufgabe, Begeisterung zu erzeugen, sondern bei aller Nähe professionell und distanziert zu berichten, zu begleiten, zu zeigen, was ist. Die UEFA und der DFB hätten natürlich gern ausschließlich positive, erfolgreiche Bilder vom Turnier. Aber wenn es kritisch wird, zeigen wir das ebenfalls, auch wenn die Begeisterung womöglich darunter leidet. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erwarten zwar objektive, aber auch emotionale und bisweilen auch parteiliche Berichterstattung. Unser Fokus liegt zunächst mal auf den positiven Aspekten.

Gibt es diesbezüglich Direktiven oder zumindest Handreichungen an Ihre Mitarbeitenden an den Mikros und vor den Kameras, wie viel Fandom zulässig oder nötig ist?

Wir machen keinen Fan-Journalismus. Doch alle Sportlerinnen und Sportler, die in einen Wettkampf gehen, haben Respekt für ihre Leistungen verdient. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns vor Großereignissen regelmäßig zusammensetzen, um auch über die Emotionalität unserer Formate zu diskutieren. Diese redaktionellen Treffen führen aber nicht zu Direktiven, sondern zu Diskursen darüber, was wir wollen.

Und was wollen Sie?

Dass die Erwartungen mit der Realität abgeglichen werden – sowohl im sportlichen als auch im publizistischen Bereich. Auch für Journalisten ist es zulässig, sich Deutschland als Europameister zu wünschen, doch das muss fußballerisch mit Matchplänen, Spielstärke, Kampf und Leidenschaft belegbar sein. Falls andere besser sind, muss sich das in der Analyse spiegeln. Das sage ich auch als Ruderer, für den es oft ein Erfolg war, in den Endlauf zu kommen und Fünfter zu werden. Sieg oder Niederlage müssen ins Verhältnis zu vorherigen Zielen und objektiven Resultaten gesetzt werden. Das ist auch als Sportchef meine Maxime.

Der Shitstorm, den Ingo Zamperoni 2012 in der Halbzeit Deutschland gegen Italien für sein „möge der Bessere gewinnen“ bekommen hat, deutet allerdings an, dass das Publikum keinen Abgleich von Erwartung und Realität will, sondern Sportpatriotismus.

Vielleicht würde er es heute anders formulieren. „Möge der Bessere gewinnen – und Deutschland dieser Bessere sein”. Deutsche tun sich halt immer ein bisschen schwer mit der italienischen Leichtigkeit eines Ingo Zamperoni. Wir suchen gerne das Negative im Positiven.

Journalistisch nicht unspannend!

Jedenfalls herausfordernd. Aber es ist immer eine Gratwanderung, die wir in verschiedenen Genres zum Glück auch unterschiedlich vornehmen dürfen. In Reportagen anders als in Kommentaren, in Moderationen anders als in Magazinen. Wir segeln in verschiedenen Bootsklassen übers selbe Gewässer, rudern mal im Gleichtakt, mal gegeneinander, aber am Ende kommen alle an.

Wobei die Boote weit über den Fußball hinaus durch zusehends stürmische Gewässer segeln. Muss Sportberichterstattung da versuchen, alle Krisen und Katastrophen ringsum einfließen zu lassen oder darf sie im besten Sinne Eskapismus betreiben?

Aus meiner Sicht darf sie nicht nur eskapistisch sein, sie sollte es bisweilen. Nehmen Sie die Ereignisse in der Ukraine, die plötzlich im Schatten der Ereignisse in Israel standen: Wir werden von weltpolitischen Themen nicht mehr nur überholt, sondern überrollt. Da haben Sportjournalistinnen und -journalisten in der Regel eigene Kompasse, wie viel sie davon in ihre Berichterstattung lassen und wie neutral sie sich dabei verhalten. Das ist von Einzelfall zu Einzelfall zu bewerten. Ich bin allerdings dagegen, dabei mit zweierlei Maß zu messen.

Inwiefern?

Nehmen Sie den Umgang mit China. Natürlich wissen wir, wie viel nach unserem moralisch-demokratischen Verständnis dort falsch läuft. Aber sollte da wirklich der Sport den Zeigefinger heben, während die Wirtschaft weiterhin gute Geschäfte mit dieser Diktatur macht? Wir sind unbedingt zu kritischer Haltung aufgerufen, haben aber weder im negativen noch im positiven Sinn die Aufgabe, Politik zu machen.

Aber wie viel Realität verträgt der Eskapismus im Sportjournalismus und umgekehrt?

Auch damit gehen viele Nationen anders um als Deutschland. Für mich steht fest, dass die Realität auch in sportliche Themen hineingehört – schon, um Hintergründe bestehender Konflikte besser einordnen zu können. Schließlich war Sport noch nie von der Wirklichkeit abgekoppelt und dient zusehends als Marketinginstrument. Warum sonst bemühen sich so viele autokratisch geführte Staaten um sportliche Großereignisse?

Image, Image, Image.

Von daher freue ich mich umso mehr, dass die EM in Deutschland nicht nur angenehme Anstoßzeiten hat, sondern in einer funktionierenden Demokratie stattfindet.

Bei der allerdings auch dysfunktionale, angeblich illiberale Demokratien wie Ungarn teilnehmen. Wird das beim Vorrundenspiel Teil der Berichterstattung sein?

Da würde ich mit einer Gegenfrage antworten: Werden die Korruptionsvorwürfe gegen Viktor Orbáns Regierung bei jeder Rede eines ungarischen Politikers im Europaparlament thematisiert? Es ist also situationsabhängig: Wenn die Kamera im Spiel zu Orbán auf der Tribüne schwenkt, könnte ich mir einen Kommentar zur politischen Situation in dessen Land durchaus vorstellen. Aber auch da gibt es keine Direktive.

Heutzutage würde man es vermutlich eher Code of Conduct nennen, der auch Sportberichterstattenden ein paar verhaltensethische Handreichungen mit auf den Weg gibt.

Über so etwas wird intern gesprochen, aber ohne Handreichungen. Und da der Begriff des Eskapismus eher negativ konnotiert ist: Dürfen die Zuschauerinnen und Zuschauer in einer Zeit, in der nahezu alles ständig moralisch bewertet wird, nicht einfach auch mal 90 Minuten ein Fußballspiel sehen?

Dürfen sie?

Ja. Auch bei uns in den Redaktionen herrscht schließlich Meinungsfreiheit. Weshalb wir zum Beispiel auch niemandem vorschreiben, zu gendern oder nicht zu gendern. Wenn ich da anfangen würde, etwas vorzugeben, wäre das zu viel Bevormundung von oben. Aber selbstverständlich reden wir miteinander ständig über solche Dinge. Wir betreiben auf jeder Ebene großen Aufwand fürs bestmögliche Ergebnis.

Das gilt vermutlich auch logistisch?

Ja, aber der ist viel kleiner als früher.

Obwohl man anders als früher mittlerweile selbst in Drittligaspielen alles aus acht Kameraperspektiven sieht?

Da muss man differenzieren. Fürs Weltbild – das nicht nur aus acht, sondern noch zahlreicheren Kameraperspektiven stammt – ist die UEFA zuständig, wir strahlen es nur aus. Und das auch nur als Sublizenz-Nehmer von Magenta TV, das alle 51 EM-Partien überträgt. ARD und ZDF haben jeweils 17 – allerdings alle deutschen Vorrunden- und sämtliche K.O.-Spiele. Ich bin sehr zufrieden mit unserem Paket. Der Aufwand für alles drumherum ist bei ARD und ZDF allerdings deutlich geringer als 2006. Erinnern Sie sich noch anunsere Dreierkette aus Jürgen Klopp, Johannes B. Kerner und Urs Meier im Sony-Center mit Gästen wie Pelé oder Beckenbauer – so groß denkt man heutzutage nicht mehr.

Ist das Teil des Sparzwanges oder auch einer neuen Fußballberichterstattungskultur?

Wir müssen auch sparen, aber es herrscht in der Tat eine neue Grundphilosophie. Statt großer Stars versucht man an gewöhnliche Menschen heranzurücken und ihre Sicht einzunehmen. Es geht heute mehr um Nahbarkeit. Wir wollen vom Podest runter unter die Leute. 2006 musste man noch klotzen, um aufzufallen. Jetzt wollen wir lieber durch Verlässlichkeit, Emotionalisierung, Professionalität glänzen.

Erfordert die Nähe zum Publikum nicht sogar mehr Personal als zentrale Kanzeln?

Nein, denn ein weiterer Aspekt der neuen, digitalen, crossmedialen Zeit ist, dass weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr machen. Praktisch niemand arbeitet mehr ausschließlich für Fernsehen oder Online.

Das 2006 ja allenfalls in Homepages mit einzelnen Videos bestand.

Genau, digital war rein additiv. Wir sind daher heute viel dynamischer als damals, als zu jedem Ereignis ein riesiges Team mit Licht und Ton und allem geschickt wurde.

NACHFRAGE: Gewerkschaften würden „dynamischer“ da womöglich durch „überfordernder“ ersetzen…

Natürlich ist es ein Mehraufwand: Zusätzlich zum linearen Programm bespielen wir noch die Mediatheken, Youtube, TikTok, Instagram – alles hat enorme Wachstumsraten, alles ist zielgruppengerecht, alles wird von allen befüllt, aber nicht nur, um sämtliche Kanäle zu bespielen, sondern aus Überzeugung, es sinnvoll zu tun und vor allem schnell. Denn das erwartet unser Publikum insbesondere von Social Media, wo vieles quasi in Echtzeit passieren soll.

Von echten Menschen generiert oder mittlerweile auch schon KI-flankiert?

Wir arbeiten mit KI, seit anderthalb Jahren offiziell und in der Zeit davor bereits aus beruflichem Interesse. Wir haben Kolleginnen und Kollegen im Team, die das sehr aktiv vorantreiben. Aber es gibt keine KI-generierten Beiträge.

Sondern?

Zum Beispiel füttern wir unsere Algorithmen so, dass die KI das vorproduziert, was wir rough cut nennen: Zusammenstellungen verschiedener Spielszenen, aus denen Redakteure und Redakteurinnen dann händisch Beiträge für Nachrichten oder Magazine erstellen. Nichts, was auf den Sender kommt, ist aktuell von KI erstellt, aber auch das wird sich ändern. Und bei dieser Entwicklung ist das ZDF durchaus führend. Wir haben dazu sogar einen Handlungskatalog erarbeitet.

NACHFRAGE: Was steht da ungefähr drin?

Dass Inhalte, die mit Unterstützung generativer KI erstellt werden, der journalistischen Sorgfaltspflicht unterliegen und durch unsere Redakteurinnen und Redakteure geprüft und abgenommen werden – gemäß unserer Qualitäts- und Programmrichtlinien. Dabei sammeln wir nun unsere Erfahrungen, ziehen daraus Schlüsse und schauen, wie uns KI dabei helfen kann, mit weniger Personal aller Gewerke unser qualitatives Niveau zu halten.

Muss sich dieses Personal bis hin zu Kommentar und Moderation da sorgen, dass Ihre Arbeit überflüssig wird?

Ich bekomme – auch aus großem persönlichem Interesse – viele der Entwicklungen mit. Das ist Wahnsinn, was da auf uns zurollt! Das menschlich zu händeln, wird die große journalistische Herausforderung der nächsten Jahre sein. Denn Sie sehen ja jetzt schon, wie schwer es ist, manipulierte Bilder ohne technisches Equipment von echten zu unterscheiden.

Zwei verschiedene Studien sprechen zudem gerade von zwei Dritteln bis drei Vierteln aller Beiträge im Netz, die von Bots gepostet werden.

Die Studien kenne ich, das kommt hinzu. Darauf blicken wir durchaus mit Sorge. Umso wichtiger wird der Qualitätsjournalismus gerade auch bei in der Sport-Berichterstattung, wo man demnächst mit geringem Aufwand die Stimme von Karl-Heinz Rummenigge synthetisieren und über Deepfake-Bilder von ihm legen kann. Der nächste Quantensprung kommt, und er kommt schnell.

Müssen Sie Ihre Teams da eher vor KI schützen oder sie dafür begeistern?

Es gibt wie überall solche und solche. Grundsätzlich gilt es bei dem Thema, hellwach zu bleiben. Wir werden nicht alles in den Griff bekommen, aber ich bin jemand, der grundsätzlich eher positiv durchs Leben geht und in die Welt schaut. Ich sehe also Gefahren, aber auch Chancen. Die KI wird auf allen Ebenen der Gesellschaft vieles beeinflussen, aber mein Glas ist halbvoll.

Ist das eine Mentalitätsfrage oder so was wie fröhliche Resignation?

Eine Mentalitätsfrage: Ich will mir das Leben nicht ständig miesreden lassen. Es gibt immer Phasen, die Anlass zu größerer oder kleinerer Sorge bieten, aber grundsätzlich ist das Leben lebenswert und bietet beruflich eine Dynamik, die mich eher fasziniert als besorgt, ohne die Augen vor den Risiken zu verschließen.

Ist Ihr Glas denn auch halbvoll, was die Übertragung künftiger Großereignisse betrifft?

Sorge habe ich auch da nicht, aber es wird immer wieder neue Herausforderungen geben, die wir jetzt noch nicht mal prognostizieren können. Die nächsten gibt’s bereits bei der aufgeblähten WM 2026.

Parallel in den USA, Mexiko und Kanada.

48 Teams in drei Ländern, 102 Spiele auf zwei Kontinenten, von einer FIFA veranstaltet, die immer mehr und größer will – da ist es nur noch schwer vorstellbar, dass das zwei Sender in Deutschland allein übertragen. Und ich mache mir schon Sorgen, dass das alles nicht nur für den Fußball und die Umwelt, sondern auch für die Fans zu viel wird und es alle anderen Sportarten unter sich erdrückt.

Sagen Sie das auch als früherer Ruderer?

Als jemand aus dem Olympischen Sport ist mir sehr daran gelegen, die Vielfalt zu erhalten. Der Kampf kleiner Sportarten um Aufmerksamkeit wird mit Riesen wie der FIFA schwierig.

Was blüht dem ZDF, wenn Disney plötzlich Lust auf Fußball kriegt, DAZN mit seiner Expertise kauft und die FIFA bei der nächsten Lizenzvergabe mit Geld zuschüttet?

Derzeit ist das nicht vorstellbar. Aber vor fünf Jahren hätte sich auch niemand vorstellen können, dass in Europa ein Angriffskrieg stattfindet. Oder dass die DFL und DAZN so um die Vergabe der Übertragungsrechte streiten, dass Schiedsgerichte eingeschaltet werden.

Schauen Sie sich das fasziniert von außen an und warten ab?

Fasziniert nicht, nein. Aber wir sind sehr gespannt und warten am Spielfeldrand, was passiert. Denn wir sind ebenso wie die ARD massiv vom Stillstand betroffen und können vorerst nicht weiterplanen.

Wäre ein Portal weniger mit Sky als Rechteinhaber und Ihnen als Zweitverwerter nicht sogar besser für den Sport und seine Fans?

Weniger Konkurrenz ist selten besser. Aus marktwirtschaftlicher Sicht dürfte die DFL jedenfalls an mehr als einem Bieter gelegen sein.

Sie haben fünf Kinder – was haben die für ein Sehverhalten?

Ein diverses, da sind meine Kinder nicht anders als die meisten anderen. Das Medienverhalten ändert sich generell. Es geht weg von der Nutzung der linearen Ausspielung in fragmentierte Filterblasen. Die Generation sucht sich das, was sie haben will, sehr gezielt aus, und findet es in der Unendlichkeit digitaler Weiten. Mein Ältester hat großes Fußball-Interesse, ist oft im Stadion, schaut sich ganze Spiele am Bildschirm an. Die anderen sind ebenfalls sportbegeistert, konsumieren aber kleinere Snippets statt ganzer Partien, alles schön snackable.

Also eher kein aktuelles sportstudio?

Nein, leider. Das ist für einen Vater, der das Ganze mitverantwortet, nicht einfach zu akzeptieren, schärft aber meinen Blick auf jüngere und künftige Generationen, von denen ich unmittelbares, auch kritisches Feedback bekomme. Das empfinde ich auch beruflich als ein Geschenk.

Dann blicken wir letztmals in die Glaskugel: Wer überträgt den 1. Spieltag der Fußball-Bundesliga 2025/26 und wie sehen die Bilder verglichen mit heute dann ungefähr aus?

Ich hoffe, dass das ZDF im “aktuellen sportstudio” weiter die Zusammenfassung der Nachmittagsspiele zeigt und das Abendspiel in der Erstverwertung, das dann wie bislang auch deutlich mehr Menschen linear schauen als digital. Wir sehen aber auch, dass Portale wie TikTok und Instagram den Konsum weiter verändern und einzelne Szenen statt ganzer Spiele in Echtzeit posten mit Zugriffszahlen im hohen Millionenbereich. Wobei der Live-Sport immer linear stattfinden wird.

Live ist linear oder digital ja auch identisch!

Genau. Manchmal ist auch beim ZDF das Digitale linear und umgekehrt. Auf welcher Plattform die Leute uns sehen, ist mir erstmal nicht wichtig, aber die Möglichkeit zur Wahl wird uns in Zukunft kein Film, kein Magazin, kein Unterhaltungsangebot bieten, sondern nur noch der Sport. Und sei es, um seine Sorgen und Nöte für 90 Minuten oder ein Turnier kurz zu vergessen. Nennen Sie es Eskapismus, ich nenne es Genießen.

Bio 362/4Z

Yorck Polus, geboren 1970 in Waltrop, war Leistungssportler, bevor er nach dem Studium der Sportwissenschaft und -medizin darüber berichtet. Im ZDF ist der Ex-Ruderer ab 2000 vor allem für olympische Disziplinen von Handball bis Kanu zuständig. Seit anderthalb Jahren leitet der fünffache Vater die ZDF-Hauptredaktion Sport. Polus lebt in Castrop-Rauxel und Mainz.