Louis Klamroth: Konter & Fairness
Posted: August 29, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentWahre Objektivität gibt es nicht

Vor anderthalb Jahren hat Louis Klamroth (Foto: Nikita Teryoshin) Hart aber fair von Frank Plasberg übernommen. Im journalist*in-Interview spricht der 34-Jährige über seinen Quereinstieg als Moderator, den holprigen Umbau der Sendung – und warum er Lkw-Fahrer mitdiskutieren lässt.
Von Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Klamroth, Sie stehen seit anderthalb Jahren montags auf einer der größten und damit anstrengendsten Fernsehbühnen. Haben Sie noch dieselbe Energie wie am Anfang oder zermürbt Sie die Aufmerksamkeit?
Louis Klamroth: Ersteres, seit knapp einem halben Jahr macht es mir besonders großen Spaß.
Der Zeitpunkt, als Sie Hart aber fair endgültig von Frank Plasbergs Produktionsfirma Ansager & Schnipselmann übernommen haben und mit Florida Factual eigenverantwortlich betreiben?
Ja. Da konnte ich das Format verändern und damit zu „meinem” Format machen. Es steht anders da, sieht anders aus und hat nach 22 Jahren neuen Schwung erhalten. Der Modernisierungsprozess ist noch längst nicht vorbei, aber die doch leicht angestaubte Marke ist wiederbelebt. Die Arbeit ist anstrengend, klar, aber ich empfinde es als großes Privileg, montags zusammen mit meinem Team vor einem Millionenpublikum Debatten zu kuratieren.
Waren Sie mit der Situation vorher unzufrieden oder ist ein Renovierungsprozess einfach notwendig, wenn man ein bestehendes Produkt übernimmt?
Ganz genau, ein normaler, am Ende eher unspektakulärer Prozess – auch wenn das in der Berichterstattung gelegentlich anders klingt. Dass die Sendung 22 Jahre lineares Fernsehen nachhaltig geprägt und ihr Metier verändert hat, ist ja das Eine. Aber wenn die Moderation wechselt, muss es halt auch ein bisschen zur neuen Person passen. Dieser Prozess wurde vor anderthalb Jahren nicht konsequent genug angegangen; das holen wir nun nach. Und es funktioniert ja auch.
In Zuschauerzahlen ausgedrückt?
Ja, auch in den Zahlen sind wir in der linearen Quote und vor allem bei den digitalen Abrufzahlen besser als zuvor. Das ist nur ein Kriterium von vielen. Mindestens genauso wichtig ist, dass wir die Sendung inhaltlich und konzeptionell neu aufgestellt haben.
Offenbar sind viele in der ARD vom Erfolg nicht überzeugt. Bei einer Programmkonferenz Mitte Juli sollte über ihre Zukunft und die von Hart aber fair verhandelt werden, schreibt der Spiegel. Sind Sie nervös?
Die Produktionsfirma und ich haben zwei Jahre Vertrag. Insofern bin ich auch nicht nervös. Ich bin zufrieden, was die Bilanz des letzten halben Jahres angeht. So höre ich es auch von den Senderverantwortlichen. Mindestens genauso wichtig: Wir haben die Sendung weiterentwickelt und werden diesen Weg konsequent weiter beschreiten. Dass wir in diesem Sommer darüber sprechen, wie die Zukunft von Hart aber fair aussieht, stand ja schon lange fest und ist keine Überraschung.
Wäre es einfacher gewesen, eine neue Sendung zu starten?
Der WDR hat mich gebeten, diese sehr erfolgreiche, eingespielte Marke zu übernehmen und eben keine neue zu erfinden. Eine Kopie der Sendung mit anderem Label hätte aus meiner Sicht nicht funktioniert und wäre auch nicht mein konzeptioneller Anspruch. Es stand auch nie zur Diskussion.
Auch dann nicht, als es eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Frank Plasberg um das Format gegeben hat?
Das ist mir zu viel Was-wäre-wenn. Das Produkt hat nun mal viele Millionen Fans und damit ein Vertrauensverhältnis zwischen Sender und Publikum. Ganz ohne Reibung funktioniert kein Übergang und im Fernsehen schon gar nicht.
Außerdem erzeugt Reibung – fünf Euro ins Phrasenschwein – Wärme, also Energie!
Und beides kann jedes Format gut vertragen.
Fühlen Sie sich unter Feuer besonders wohl?
(lacht) Als Mensch nicht, nein. Anders ist es beruflich. Bei Diskussionen inhaltlicher Natur gehe ich keinem Streit aus dem Weg. Wobei der Begriff bei mir überhaupt nicht negativ besetzt ist, im Gegenteil. In der Demokratie ebenso wie im Journalismus müssen wir streiten, und zwar gerne auch mal lauter, härter, energischer – sofern der Streit respektvoll vonstattengeht.
Das haben Sie vor Hart aber fair geübt, ab 2016 in Klamroths Konter bei n-tv. Haben Sie sich als Quereinsteiger damals eigentlich „Journalist“ genannt?
(überlegt lange) Mit der Bezeichnung habe ich – und das ist jetzt echt keine Koketterie – anfangs gehadert. Ich habe einen Master in VWL und Politik gemacht – sprich weder Journalismus studiert noch ein Volontariat gemacht. Das meiste habe ich mir durch Praktika und Praxis angeeignet. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben den Beruf von der Pike auf gelernt. Ich habe großen Respekt vor denen, die kluge Essays für den Spiegel, Leitartikel in der Zeit oder Analysen in der Wirtschaftswoche schreiben.
Die klugen Texte auf Seite 23 von Dithmarscher Landeszeitung oder Südkurier nicht zu vergessen.
Selbstverständlich! Die vielen Reporterinnen und Reporter, die tagtäglich rausgehen, und unter großem Druck eine informierte Öffentlichkeit im Lokalen schaffen. Damals habe ich gedacht: Ich mach doch nur Fernsehen. Heute weiß ich, dass auch wir Fernsehmacher guten Journalismus können.
Alles andere klänge auch nach Impostersyndrom, als dachten Sie, Sie hätten sich irgendwo reingeschlichen, wo Sie nicht hingehörten.
Nein, eher Respekt vor denen, die sämtliche Stationen der Berufsbildung absolviert haben. Ich wusste schon früh, dass mir mein Beruf nicht nur Spaß macht, sondern auch liegt und ein Handwerk dahintersteckt, das ich langsam beherrsche. Erst da wurde mir klar, wie viele Facetten Journalismus hat – und wie viele Ausbildungen. Wäre ja auch schlimm, wenn nur Absolventen der Journalistenschulen was mit Medien machen.
Was qualifiziert Journalist*innen zur Moderation?
Vor dem ersten Interview bei Klamroths Konter hatte ich kaum Moderationserfahrung, nicht mal echtes Interviewtraining. Ich hatte Praktika gemacht bei erfahrenen Journalisten wie Günther Jauch und Friedrich Küppersbusch, der meine Sendung produziert hat. Denen konnte ich zwar auf die Finger schauen und ungeheuer viel lernen, aber eher theoretisch als praktisch. Super Anschauungsmaterial und eine gute Vorbereitung darauf, zu moderieren, zu fragen, nachzuhaken. Ich empfinde es als Vorteil, mir viel über learning by doing angeeignet zu haben.
Warum ist das ein Vorteil?
Weil ich unvoreingenommener, ohne Erwartung irgendeines Schulterklopfens reingegangen bin. Ich konnte völlig angstfrei fragen, was mir durch den Kopf ging. Meine Gesprächspartner haben das als erfrischend wahrgenommen, das glaube ich zumindest. Vielleicht auch, weil sie mich zunächst fürs Lichtdouble gehalten haben, das sie dann mit Hartnäckigkeit überrascht hat. Aber dieser Vorteil hat sich natürlich relativ schnell abgenutzt. Mit wachsender Aufmerksamkeit fürs Format kannten die mich irgendwann halt einfach.
Was sind die Kernkompetenzen?
Ein dickes Fell vielleicht. Spaß an der Sache. Neugier für Leute und Themen. Und bei aller Härte in der Debatte auch Empathie für meinen Gegenüber.
Wie ist es mit der Fähigkeit zur Objektivität?
Wahre Objektivität gibt es sowieso nicht, aber guter Journalismus beherrscht idealerweise das Handwerk, so nah wie möglich an ein Ideal davon heranzukommen. Journalismus allerdings als reines Handwerk zu verstehen, ist mir zu technokratisch – in Zeiten, da die Demokratie und ihr Journalismus weltweit so unter Druck stehen. Das Wort Haltungsjournalismus ist mittlerweile zu einem Kampfbegriff der extremen Rechte geworden. Deshalb spreche ich lieber von Verantwortung – die gehört für mich zum Journalismus auch dazu.
Steht diese Verantwortung der gebotenen Neutralität im Journalismus nicht im Weg?
Nein. Journalismus findet immer in einem Kontext statt. Neutralität heißt ja eben nicht, diesen Kontext zu ignorieren, sondern ihn bewusst wahrzunehmen und transparent zu machen. Bei einem Pro und Contra würde das bedeuten, nicht aus scheinbarer Neutralität heraus in eine False Balance zu rutschen.
Muss man eine Rampensau sein?
Man darf zumindest keine Angst vor Aufmerksamkeit haben.
Und vor Öffentlichkeit?
Das sind zwei Paar Schuhe. Man muss keine Rampensau sein, um Gespräche vor Publikum zu führen, darf aber keine Angst davor haben, dass einem wie zuletzt bei Hart aber fair dabei 2,7 Millionen Menschen live zusehen. Bei der Arbeit! Völlig absurde Situation eigentlich. Damit muss man umgehen, allerdings ohne dabei – wie Rampensäue – im Mittelpunkt stehen zu wollen. In einer politischen Talkshow sitzen dort die Gäste, nie der Moderator.
Als Moderator muss man die Situation permanent unter Kontrolle haben. Braucht man da Autorität?
Fürs Publikum ist es jedenfalls weitaus entspannter, wenn ich als Moderator das Gefühl gebe, alles im Griff zu haben. Wobei es vermessen wäre, zu behaupten, dass dies immer gelingt – schon gar nicht in einer Live-Sendung wie meiner, wo angespannte Dynamiken nicht einfach rausgeschnitten werden können. Was bei uns 75 Minuten lang passiert, wird ungefiltert gesendet. Und wenn von den fünf, sechs Teilnehmenden jemand das Steuer übernehmen will, muss ich es mir eben zurückholen. Ich lasse unruhige Situationen auch mal laufen, aber ich bleibe derjenige, der die Diskussion leitet.
Was war mit der vielkritisierten Ausgabe vor der Europawahl? Da haben Ihre Gäste zum Thema Rechtspopulismus irgendwann nur noch durcheinander gebrüllt. Haben Sie das laufen lassen oder das Heft aus der Hand gegeben?
(lacht) Ach, das war eine Runde voller Alphatiere im Wahlkampf, die den Stand der aktuellen Polarisierung ganz gut abgebildet hat. Wenn die so wie damals wild durcheinanderreden, ist zwar weder dem Panel noch dem Publikum geholfen, aber zwischendurch finde ich so etwas ganz okay.
Weil es die Enthemmung gesellschaftlicher Diskurse zeigt?
Genau. Das ist die Realität. Ob ich die Diskussion zu lange laufen gelassen habe, kann man diskutieren. Aber da halte ich es mit Armin Wolf, der meinte, er habe noch nie ein Interview geführt, mit dem er voll zufrieden war. Das war ich auch noch nie. Ich lerne ständig dazu.
Vielleicht kokettiert die legendär hartnäckige Interview-Ikone vom ORF da ein bisschen. Haben Sie Vorbilder wie ihn?
Nicht einzelne Personen. Aber bei Ikonen wie Armin Wolf oder auch etwas weniger berühmten Kolleginnen und Kollegen schaue ich mir gern an, was die gut machen, und nehme es für meine Arbeit mit. Dabei geht es nicht ums Kopieren, sondern ums Reflektieren. Anderen gezielt nachzueifern, hilft nicht dabei, seinen eigenen Stil zu finden.
Der WDR hat sich sicher von Ihnen erhofft, dass Sie den Stil eines Millennials mitbringen, der sowohl analog als auch digital sozialisiert wurde.
Vermutlich.
Wie kommt es, dass Ihre Medienkarriere bislang nahezu vollständig im linearen Fernsehen stattfindet?
Als ich Hart aber fair übernommen habe, wurde ich vom eigenen Umfeld oft gefragt, warum ich denn bitte Fernsehen mache (lacht). Aber damit bin ich nun mal aufgewachsen. Für mich übt es nach wie vor riesige Faszination aus. Ich will das nicht zu soziologisch deuten, aber in Zeiten, in denen Diskursräume zusehends fragmentieren und in Sozialen Medien ausfransen, ist die Zahl an medialen Orten überschaubar, wo Politik seriös und kontinuierlich verhandelt werden kann. Einer dieser Orte ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Gerade in sozialen Netzwerken erlebe ich häufig einen Austausch von Affekten statt von Argumenten. Da können gute Talkformate ein Gegenmodell sein. Wobei die Trennlinien verschwimmen.
In den Mediatheken zum Beispiel.
Genau. Deshalb war es von Beginn an unser Bestreben, parallel zur wöchentlichen Ausstrahlung im Ersten ein digitales Publikum aufzubauen. Da haben wir die Aufrufzahlen von Hart aber fair extrem gesteigert und versuchen, Digitales und Lineares zur verbinden – was wahnsinnig schwer ist.
Sie meinen den Mediathek-Ableger Hart aber fair to go.
Zum Beispiel. Aber auch, dass wir Diskurse auf anderen Plattformen lostreten. Unsere Sendung zum Thema Investoren-Einstieg in der Fußball-Bundesliga hat glaube ich mehr Tweets als jede Fernsehsendung zuvor nach sich gezogen. Das Lineare ist und bleibt auf längere Sicht Sprungbrett und Werbefenster für Inhalte aller Verbreitungswege. Insofern begreife ich mich schon als Moderator, der den Spagat zwischen linear und digital versucht.
Würde Hart aber fair mit Ihnen als Moderator auch nur linear funktionieren?
Gute Inhalte finden immer ihren Weg zu den Leuten. Das lineare Fernsehen ist deshalb so stark, weil bei uns rund zweieinhalb Millionen Menschen zeitgleich, nicht zeitversetzt dabei sind, also im gleichen Moment dasselbe Erlebnis haben. Danach wird dann viel mehr darüber geredet, geschrieben, gepostet. Ich sehe aber, wie oft diese Formate in ihren Möglichkeiten überhöht werden.
Stichwort Ersatzparlamente.
Über Talksendungen wird oftmals mehr berichtet als über wichtige Bundestagsdebatten. Auch die beste Talkshow wird nicht eigenständig wettmachen können, was an Vertrauen in unserer Demokratie in den letzten Jahren verloren gegangen ist. Im besten Falle kann ein guter Politik-Talk einen kleinen Teil dazu leisten, Vertrauen in Demokratie und Medien wiederherzustellen. Wenn beim Zuschauer das Gefühl entsteht, ein Problem und die Lösungen nun besser zu verstehen. Das ist es, wofür ich diesen Job mache.
Es klingt etwas platt, aber: Wollen Sie mit Ihrer Arbeit etwas bewegen?
Offensichtlich will Journalismus etwas bewegen. Journalismus will Transparenz herstellen, Erkenntnisgewinn schaffen, Macht hinterfragen und Missstände aufdecken. Das hat für mich etwas mit meinem Berufsverständnis eines Journalisten zu tun. Was mich wirklich umtreibt: Das Vertrauen in demokratische Institutionen und Qualitätsmedien bröckelt. Das ist eine Repräsentationskrise. Ich meine das durchaus selbstkritisch.
Inwiefern?
Wie unsere Demokratie funktioniert, nehmen Menschen über die Medien wahr. Aber die medialen Debatten entfremden die Menschen zunehmend von Politik und Parteien, der Demokratie und ihren Institutionen. Im Fernsehen oder anderswo haben Menschen das Gefühl, dass ihre Lebensrealität häufig nicht vorkommt. Die Themen fühlen sich oft weit weg von ihrer eigenen Wirklichkeit an. Meine Befürchtung ist, dass Talkshows diesen Vertrauensverlust nicht eindämmen, vielleicht tragen sie sogar ihren Teil dazu bei.
Sie laden auch Menschen ohne öffentliche Funktionen in Ihre Sendung ein und lesen Social-Media-Kommentare vor. Ist das der Versuch, dem entgegenzuwirken?
Das ist zumindest ein Hebel. Diskussionen unter Entscheidern über das Bürgergeld zum Beispiel verändern sich sofort, wenn jemand dazwischen sitzt, der oder die es bezieht oder vergibt. Pauschalisierungen und Allgemeinplätze funktionieren dann gleich viel, viel schlechter. Ein anderer Hebel sind Faktenchecks bereits während der Sendung oder Ergänzungen wie Hart aber fair to go, womit wir Transparenz über unsere Entscheidungen als Talkshowmacher schaffen. Warum laden wir bestimmte Leute ein? Warum wählen wir das eine, aber nicht das andere Thema? Transparenter in der eigenen Arbeit zu werden, mehr zu erklären, das ist für mich vertrauensbildend und im positiven Sinne öffentlich-rechtlich.
Während Vertreter*innen aus Parteien, Verbänden, Institutionen oder Fakultäten für relativ kleine Gruppen stehen, steht Lkw-Fahrer Jan aus der vergangenen Sendung für 80 Millionen. Wenn Sie Leute aus der Bevölkerung einladen, stimmen die Verhältnisse bei der Repräsentation nicht mehr.
Mhm.
Ist so ein Mensch aus dem sogenannten Volk nicht eher Feigenblatt als Repräsentation?
Das sehe ich anders. In meiner Sendung wird nicht unter hundert Polit-Profis mal einer eingeladen, der dann „für die Menschen” sprechen soll. Jede Sendung integriert Perspektiven aus verschiedensten Lebensrealitäten. Jemand wie Lkw-Fahrer Jan Labrenz ist dann dezidiert nicht da, um für 80 Millionen zu sprechen. Er muss gerade nicht für eine Partei oder Organisation sprechen. Er steht für sich. Das Schöne dabei: Gerade dann stellt sich oft heraus, wie viele sich mit dieser persönlichen und nahbaren Perspektive identifizieren können.
Die Süddeutsche kritisiert, Sie hätten ihn „degradiert“, weil er nicht bei den Profis Lamya Kaddor, Konstantin Kuhle, Wolfgang Niedecken oder Juli Zeh auf der Bühne saß, sondern im Publikum.
Hach, die Süddeutsche (lacht). Im Publikum sitzen ist keine Degradierung. Ich bin einen Tag lang mit Jan Labrenz in seinem LKW mitgefahren. Den Film haben wir in der Sendung gezeigt. Er hatte also eine herausgehobene Stellung. Wir hatten in der Sendung ja mehrere Themen und Jan Labrenz wollte, verständlicherweise, weder bei der Europawahl-Analyse noch bei der Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan mitdiskutieren. Bei uns kommen Bürgerinnen und Bürger in unterschiedlichen Konstellationen zu Wort. Mal sitzen sie 75 Minuten mit am Panel. Mal kommen sie für kurze Impulse aus dem Publikum dazu. Je nachdem, was inhaltlich Sinn ergibt. Wobei wir nie behaupten, dass dann eine für alle spricht. Aber was mir bei dieser Frage wirklich wichtig ist: Ich verstehe Bürgerinnen und Bürger nicht in erster Linie als Betroffene.
Betroffene im Sinne von Opfern?
Ja. Mit die beste Expertise über einen Missstand haben doch diejenigen, die ihm ausgesetzt sind. Sie sind also nicht nur Betroffene, sondern vor allem Experten. Andererseits müssen Bürgergäste nicht zwangsläufig betroffen sein, sie können auch andere Expertise einbringen, etwa durch ihre Arbeit in Vereinen und Interessensgemeinschaften.
Um der Gefahr des Tokenism entgegenzuwirken, könnten Sie mehrere Normalbürger*innen einladen, die entgegengesetzte Positionen einnehmen.
Ganz wichtig. Finde ich super, haben wir ja auch schon oft getan und hat gut funktioniert. Es muss aber auch passen. Ein Gast wie der besagte Jan Labrenz hat die demoskopischen Erkenntnisse übers Rumoren in der Bevölkerung alleine gut auf den Punkt gebracht, als er meinte, er gehe auf dem Zahnfleisch. Andere Sendungen könnten womöglich mehr Leute vertragen. In der Runde zum Bürgergeld sagte ein Gast, es reiche nicht zum Leben, und ein anderer, die Erhöhung würde Arbeitswillige vom Arbeiten abhalten. Wichtig ist aber vor allem, dass wir nicht den Gegensatz die Politik gegen die Menschen aufbauen. Diese Vereinfachung ist im Panel ebenso wie beim Publikum denkfaul.
In einer Welt, wo selbsterklärte Expert*innen überall Fakenews verbreiten, sehnt sich das Publikum doch eher nach fundierter Expertise.
Vielleicht, aber das können auch ungeübte Talkshow-Gäste liefern. Darüber hinaus ist es fast unmöglich zu sagen, was das Publikum will. Dafür ist es viel zu heterogen und divers, und das ist gut so. Umso mehr empfinde ich es als Bereicherung, wenn jemand mal die Kommunikationsmuster von Politikprofis durchbricht.
Erwartet das Publikum eine gewisse Reife von einem Moderator?
(lacht) Reife?
Anders gefragt: Blicken Publikum, Gäste und Kritik skeptisch auf einen Mann Anfang 30, der es ohne entsprechende Ausbildung mit altgedienten Debattenprofis aufnimmt?
Wenn ich auf der Straße angesprochen werde, kommt nach „anfangs hätte ich Ihnen das gar nicht zugetraut“ oft „aber jetzt finde ich das gut, wie Sie das machen“. Kompetenz braucht nicht nur Erfahrung, sondern auch Gewohnheit. Und nach 22 Jahren Frank Plasberg brauchten die Leute ein bisschen, um sich an Louis Klamroth zu gewöhnen. Deshalb fand ich die Entscheidung des WDR, im angestrebten Verjüngungsprozess eine Generation zu überspringen und mich diese Sendung moderieren zu lassen, mutig.
Fast schon verwegen!
Aber es hat funktioniert, weil die Zuschauer und Zuschaurinnen sehen, dass ich thematisch gut vorbereitet und ehrlich interessiert bin. Ich will meine Sendung auf keinen Fall irgendwann routiniert runtermoderieren, ohne mich davon berühren zu lassen. Wir machen eine der meistgesehenen Politiksendungen im deutschen Fernsehen, während jede Woche eine Krise die nächste jagt. Es ist wichtig, dass wir uns fragen: Werden wir der Komplexität dieser Zeit gerecht und lassen wir genug Nuancen zu? Mir ist es ein Anliegen, nicht damit aufzuhören, solche Fragen zu stellen. Sollte mir das irgendwann nicht mehr gelingen, höre ich auf.
Wie gehen Sie damit um, dass jeder falsche Satz einen Shitstorm entfachen kann?
Für mich ist es bedeutend leichter damit umzugehen als für Politikerinnen und Politiker. Fehler passieren, damit kann ich umgehen – und tue es auch. Es ist in meinen Augen ein systemischer Widerspruch, dass wir von Politikern einerseits Fehlerfreiheit erwarten und auf der anderen Seite fordern, dass sie menschlich, spontan und lebensnah sprechen.
Haben Sie es eigentlich je bereut, sich so in der Öffentlichkeit zu exponieren und damit zum potenziellen Ziel von Hass und Hetze zu machen?
Nein. Ich habe meine Mechanismen mit Hass umzugehen.
Welche genau?
Jeder Hate-Post wird kategorisch verfolgt, sofern er juristisch angreifbar ist. Aber als weißer Mann habe ich damit auch weniger Probleme als weibliche Kolleginnen, die weitaus mehr im Feuer stehen.
Es folgt – Ehrenwort – die einzige Frage zu Ihrer Freundin Luisa Neubauer: Sie haben sich dazu entschieden, Ihre Beziehung selbst öffentlich zu machen und haben mit dem Medienmagazin DWDL darüber gesprochen. Warum?
Ich spreche grundsätzlich nicht über mein Privatleben. Und das bleibt auch in diesem Interview so.
Okay. Dann der Vollständigkeit halber noch die Frage aller Fragen: Sollte man die AfD einladen oder nicht?
Ich hatte die AfD bei n-tv zu Gast, ich hatte sie bei ProSieben zu Gast und ich hatte sie bei Hart aber fair zu Gast. Die Partei wird von vielen Menschen gewählt, das sehen wir in der Redaktion natürlich. Aber sie ist eben keine normale demokratische Partei. Sie wird in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und wird bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet. Es stellt sich die Frage, ob die Partei oder Teile von ihr unser Grundgesetz aushebeln wollen. Das unterscheidet die AfD grundlegend von allen anderen demokratischen Parteien.
Mit welcher Konsequenz für Sie und Ihre Talkshow?
Dass wir von Sendung zu Sendung und Thema zu Thema entscheiden, wen wir einladen oder nicht. Eine Talkshow muss, was viele missverstehen, ja keinem Parteien- oder Meinungsproporz genügen. Gleichzeitig versucht sie in der Regel demokratische Debatten zu ermöglichen. Und da stellen wir uns gerade im Zuge der Rechercheergebnisse von Correctiv oder des Vorwurfs der Bestechlichkeit ranghoher AfD-Europapolitiker die Frage, wie wir mit einer teils undemokratischen Partei umgehen.
Die AfD würde in Ihrer Runde grundsätzlich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Nicht zwangsläufig. Ich erinnere mich zum Beispiel an unsere Sendung, in der der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD, Leif-Erik Holm, mit der Autoindustrie-Lobbyistin Hildegard Müller diskutierte. Das hat gut funktioniert. Aber es bleibt schwierig und kompliziert. Will man die Demokratiefeindlichkeit dieser Partei zum Thema machen, zieht das automatisch Aufmerksamkeit von anderen Themen.
Persönlich hätten Sie aber keine Angst vor dem Streit mit Alice Weidel oder Maximilian Krah?
Ich gehe nie mit Angst in irgendein Gespräch. Aber die Frage hat sich mir bisher auch nicht gestellt. Wir haben weder Maximilian Krah noch Alice Weidel in die Sendung eingeladen
Kloeppels Abschied & Amazons Ringe
Posted: August 26, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
19. – 25. August
Schwer zu sagen, was an unserer dystopisch-disruptiven Epoche deprimierender ist: Dass die rechte Wut-Bubble den Täter des Solinger Attentats mit einem Dutzend Toten und Schwerverletzten reflexhaft unter Geflüchteten ausmacht oder dass sie damit offenbar sogar recht behält. Tatsache bleibt: Der mediale Diskurs büßt seine Funktion als verlässlicher Realitätskurtor ein, die ordnende Wirkung seriöser Berichterstattung verblasst. Information ist Krieg.
Kein Wunder, dass nach der Landtagswahl in Thüringen – die Zivilgesellschaft und Medien am kommenden Sonntag zumindest östlich der Elbe den Garaus machen dürfte – ein Kriegsberichterstatter beim früheren Kanzler-Kanal Sat1 sein eigenes Fernsehformat erhält: Ronzheimer. Im publizistischen Irrenhaus Bild-Zeitung gilt der krisenerprobte Reporter namens Paul zwar bereits als relativ vernünftig. Auch er allerdings betrachtet Auseinandersetzungen per se als Schlachtfelder.
Schwarz gegen Weiß, Gut gegen Böse, wir gegen die – so handhaben es auch die User von Pawel Durow Fakenews-Inkubator Telegram, der für mangelnde Administration nun in Frankreich festgenommen wurde. Zu Recht? Zwischentöne jedenfalls fehlen bei Messengern oft ebenso wie auf AfD-Wahlpartys. Vor Björn Höckes erwartetem Sieg hat die Thüringer Parteizentrale daher mehrere Leitmedien vom Spiegel über die Welt bis zur Süddeutschen Zeitung die Akkreditierung versagt.
Wegen der Präsenz großer Fernsehsender habe der Saal angeblich Kapazitätsprobleme – wenngleich keine so großen, dass die Junge Freiheit nicht hineinpassen würde. Ob die Dokusoap-Granate Melanie Sieg Heil Müller nach ihrer Verurteilung fürs Hitlergrüßen vor mutmaßlichen AfD-Fans Zutritt erhält, ist ungeklärt. Aber wer definitiv draußen bleibt, sind Peter Kloeppel und Ulrike von der Groeben. Nach 4850 Sendungen in mehr als 32 Jahren hat das Nachrichtenduo vorigen Freitag zum letzten Mal RTL aktuell moderiert.
Neben dem Rekordeintrag ins Guinness-Buch als Longest Serving National News Anchor Duo hinterlassen sie dem Genre damit eine Seriositätslücke, die im aufmerksamkeitsheischenden Privatfunk womöglich niemand so schnell wieder füllen wird – obwohl wir den zwei Neuen Andreas von Thien und Roberta Bieling natürlich nur das Beste wünschen. So wie der RTL-Daily Alles was zählt, die Donnerstag volljährig wird.
Die Frischwoche
26. August – 1. September
Sieben Jahre jünger ist das liebevoll zynische Filmgemetzel SchleFaZ, in dem Oliver Kalkofe und Peter Rütten ab Freitag bei Nitro statt Tele5 B- bis D-Movies erst zeigen, dann zerlegen. Wobei der fetteste Neustart bei Amazon Prime läuft. Tags zuvor gehen die Ringe der Macht in Staffel 2, was ähnlich wie die Fortsetzung vom House of the Dragon zwar ein wenig unter der anschwellenden Komplexität leidet, aber grandios in Szene gesetzt wurde. Terminator Zero wiederum leidet parallel dagegen unterm Format.
Netflix vermengt die bislang acht Sequels, Prequels, Reboots, Spin-Offs mit oder ohne Arnold Schwarzeneggers Ur-Cyborg schließlich zehnmal 30 Minuten zur Anime-Serie im Manga-Stil. Den Vorgängern fügt das inhaltlich zwar nichts hinzu, verliert sich aber in genretypischer Melancholie. Ist also das Gegenteil der HBO-Serie Peacemaker, die ab Sonntag bei Prime das Superhelden-Fach mit einer großen Portion Selbstironie aufs Korn nimmt.
Oder der englischen Netflix-Serie Kaos, in der Jeff Goldblums paranoider Göttervater Zeus drei Normalsterbliche nutzt, um den Olymp zu retten – und dabei mit Widerständen wie Gleichberechtigung und Wokeness ringt. Warum die Roman-Adaption A Good Girls Guide to Murder ab Freitag nur hierzulande nicht bei Netflix, sondern Neo läuft, unterliegt womöglich der Vertragsschweigepflicht beider Parteien.
Für Fans emotional verworrener Highschool-Krimis ist der Sechsteiler um die 17-jährige Britin Pip (Emma Myers) beim Versuch, einen Cold Case an ihrer Schule zu lösen, hier wie dort perfekte Young-Adult-Kost. Souveräne Crime-Kost ist das Spin-Off der Karibik-Serie Death in Paradise. Für Beyond Paradise kehrt Inspector Goodman (Kris Marshall) Samstag sechs Folgen lang in der ZDF-Mediathek nach England zurück.
Außerdem im Angebot: Ein zweistündiges Paramount-Porträt von Bob Marley (Freitag) und eine sechsteilige Sketch-Reihe der ARD-Mediathek (Donnerstag) von und mit Jakob Leube, Freddy Radeke, Lea Finn sowie einer verblüffenden Zahl ziemlich prominenter Episodenstars wie Negah Amiri, Jan Josef Liefers, Linda Zervakis, Kostja Ullmann, die den dümmlichen Titel Gags – Comedy Deluxe echt nicht verdient hat.
Musks Buddy & Kebekus Kids
Posted: August 19, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
12. – 18. August
Die Medienbranche muss sich seit vorigem Dienstag um ihre Vormachtstellung innerhalb der Informationsbranche sorgen, und nein – dass lag nicht daran, dass mit Richard Mörtel Lugner ein jahrzehntelanger Lieferant leicht bekömmlicher, clicksicherer News weggestorben ist. Es lag natürlich an Elon Musk. In seinem rund zweistündigen Gespräch mit Donald Trump hat er vor 1,3 Millionen X-Usern schließlich vielerlei bewiesen.
Er ist der weltbeste Journalist auf der weltreichweitenstärksten Plattform mit der weltfehlerfreiesten Technik für weltanspruchsvolle Werbekunden. Wer die vier hier enthaltenen Fehler entdeckt, darf beim Wiener Opernball 2025 am Mörtel-Lugner-Lookalike-Wettbewerb teilnehmen oder wahlweise in der Kommentarspalte einer geplanten ZDF-Sendung mit dem Focus-Populisten Jan Fleischhauer zwei Stunden lang über linksgrünversiffte Genderideologie herziehen.
Die Auflösung: Elon Musks „Interview“ war ungefähr so faktenbasiert, also journalistische wie ein AfD-Plakat im sächsischen Wahlkampf. Seiner heruntergewirtschafteten Twitter-Ruine X läuft die lesende (also hetzende) Kundschaft auch deshalb in Scharen weg, weil die 40-minütige Verspätung der Trump-Show gewiss keine Cyberattacke, sondern veraltete Technik zugrunde lag, auf der immer weniger seriöse Unternehmen im Umfeld rechtsextremer Hetze werben wollen.
Außer solche wie Jürgen Elsässers rechtsextremes Verschwörungsfanzine Compact, das einen fiesen kleinen Sieg über die Vernunft eingefahren hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat Nancy Faesers schlampig formuliertes Verbot der Wirtschaftseinheit dahinter kassiert. Aus Formgründen zwar, weshalb ihr Verdikt in nächster Instanz Bestand haben könnte. Bis dahin aber knallen in Elsässers blaubraunem Sumpf die Sektkorken. Ein Sound, der beim Online-Buchhändler (und damit Amazon-Vorgänger) Weltbild nicht zu hören war.
Nach fast 80 Jahren am Printmarkt und vergeblicher Investorensuche sind Verlag und Versand endgültig pleite. Schwere Zeiten überall. Die Promis aller Art, sofern sie karitativ tätig werden, vor allem kulleräugig angehen. So wie Carolin Kebekus gutgemeinte, aber wohlfeile Hilfsaktion #KINDERstören für die Rechte der Kleinsten. Für derlei Empathie-Trigger verschiebt das Erste sogar seine Premium-Fiktion, den Tatort.
Die Frischwoche
19. – 25. August
Die Premium-Fiktion auf Prime heißt dagegen: Perfekt verpasst. Das Team von How To Sell Drugs Online (Fast) lässt darin Bastian Pastewka und Anke Engelke gerade donnerstags achtmal 30 Minuten auf engstem Raum der Mittelstadt Marburg aneinander vorbeileben. Von der Idee her witzig, erschöpft sich die Titelstory zwar gelegentlich in arg kindischem Humor. Die Zwickmühle der zivilisationsmüden Generation X zwischen Nostalgie und Digitalisierung allerdings wird mit feiner Klinge seziert.
Richtig in die Hose geht hingegen die japanische Version der anarchistischen Warner-Serie Rick and Morty. Während das US-Anime seit Jahren verlässlich für absurden Aberwitz mit hohem Tempo und origineller Punchline glänzt, verliert sich der Ableger in melodramatischer Manga-Ästhetik, die alle außer Cosplay-Fans vermutlich langweilt. Dann doch lieber täglich zur besten Sendezeit bei RTL die Dschungel-Allstars beim Dschungel-Allstars-Sein beobachten.
Alter Wein in neuen Schläuchen, popkulturell aufgeblasen und dadurch auf belanglose Art unterhaltsam also – wie das, was die ARD ab heute in der 3069. Staffel Sturm der Liebe verbreitet, wo ab November kein Geringerer als Bruce Darnell ein paar Gastauftritte hat. Was im kratertief klaffenden Sommerloch wirklich neu ist demgegenüber Carl Hiassen’s Bad Monkey bei Apple TV+, wo sich Vince Vaughn zehn Teile lang als Ex-Cop auf Exil-Ermittlungstour in Amerikas Provinz befindet.
Supersemppft, Pom Poko, Smashing Pumpkins
Posted: August 17, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentSupersempfft
Der popkulturelle Mainstream steckt in einer Zwickmühle. Seit langem schon. Man könnte ihn gut an der Diskrepanz zwischen Wave und Electronica oder Punk und Techno. Während erstere auf filigrane Art ihre Ernsthaftigkeit zelebrieren, sind letztere gern in schlichter Weise unernst. Zwischentöne? So selten, dass man in der Geschichte manchmal rückwärts reisen muss, um sie zu finden. Bei Supersempfft zum Beispiel.
Kennt hier niemand? Kann sich ändern. Denn Bureau B bringt das Debütalbum des hessischen Duos neu heraus und zeigt darin, wie verspielt technoid-waviger Electropunk 1979 war. Roboterwerke ist von vorne bis hinten ein so futuristischer Ritt durch die damals noch neue Welt analog-artifizieller Klänge, dass trotz Glamrock- und Retrofunk-Sequenzen praktisch kein Stück davon schlecht gealtert ist.
Supersempfft – Roboterwerke (Bureau B)
Pom Poko
Wenn jemand sagt, irgendwer sei erwachsen geworden, ist Vorsicht angeraten – impliziert es doch den Vorwurf, der oder die Erwachsene sei vorher für was auch immer noch nicht reif gewesen. Und das war bei der norwegischen Noisepop-Band Pom Poko definitiv nicht der Fall, als sie 2019 ihr erstes Album gemacht haben. Birthday – und mehr noch Cheater zwei Jahre später – sind zwar verworrene Krachsinfonien, in ihrer Absurdität aber ungemein clever und geistreich.
Trotzdem hat sich das Quartett auf Champion spürbar weiterentwickelt. Die 3:33-Minuten-Metrik ihrer scheppernd schönen Gitarrengespinste wirken konzentrierter, der dialektische Engelsgesang von Texterin Ragnhild Fangel Jamtveit kommt darin besser zur Geltung. Alles wirkt ein bisschen geerdeter, ohne an experimenteller Courage zu verlieren. Die elf Stücke daher, bei Musik nicht zu unterschätzen, kann man daher auch mal einfach nebenbei hören. Und sich sauwohl dabei fühlen. Toll!
Pom Poko – Champion (Bella Union)
Smashing Pumpkins
Man kann gar nicht oft genug betonen, welche überragende Bedeutung Smashing Pumpkins für die heutige Musik im Allgemeinen und ihr Publikum im Besonderen haben. Fragiles Gefühl in so brachialen Sound zu packen, hat Abermillionen ambivalente, geschlechterdiverse, unbehauste Persönlichkeiten vervollkommnet. Schön, dass sich die Grunge-Band 33 Jahre nach Gish und 24 seit der Reunion endlich wieder daran erinnert.
Bis auf Bassistin D’Arcy in Originalbesetzung, lassen es Billy Corgan, James Iha und Jimmy Chamberlin wieder sensibel krachen. Klar – Aghori Mhori Mei erreicht nie die elegische Wucht von Siamese Dream. Aber es verkneift sich die altersweisen Versuche, intellektueller zu klingen als nötig. Mit Gitarrengewittern wie Edin und Sighommi oder das metallische War Dreams of Itself bleiben sich Smashing Pumpkins treu, werden trotz des verstiegenen Titels aber auch endlich wieder wahrhaftig.
Aghori Mhori Mei (Martha’s Music)
Partyschlager-Doku: Layla & Rendite
Posted: August 15, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt | Leave a commentChartsturm dank Shitstorm

Die ZDF-Doku Partyschlager erklärt das hochprofitable Phänomen sexistisch versoffener Ballermann-Hits und fördert dabei viel Erwartbares, aber auch Überraschendes, zutage.
Von Jan Freitag
Es gibt nur wenig im menschlichen Miteinander, das leichter auffliegt als offensichtliche Heuchelei. Mitte 2022 zum Beispiel besang der Ballermann-Poet Schürze zum Kirmestechno von DJ Robin eine Puffmutter namens Layla, die „schöner, jünger, geiler“ sei. Das war weder subtil noch sonderlich emanzipiert. Vor allem aber war es nur mäßig erfolgreich – bis das bundesdeutsche Spießbürgertum den Einwegsong zum Evergreen der eigenen Scheinheiligkeit kürte.
Drei Titelstorys der Bild und zahllose RTL-Berichte, 30 Wochen Hitparade am Stück, bei gut 143 Millionen Streams und Downloads: Ohne die Erregung vieler Tugendwächter und noch mehr Tugendwächterverächter, sagt Schürze in der ZDF-Mediathek, hätte sich sein vergleichsweise gedämpft sexistisches Schunkellied kaum zweieinhalb Monate auf Platz 1 gehalten. Doch „je mehr es verbiete wolltet“, schwäbelt Michael Müller, wie er im Ausweis heißt, „desto mehr habet direkt gegesteuert.“ Also geladen, gehört und mitgebrüllt.
Chartsturm dank Shitstorm: für diese Theorie kriegt der, nun ja, Künstler sogar akademische Unterstützung. In der dreiteiligen Doku Partyschlager redet Prof. Gregor Herzberg, Dozent für populäre Musik an der Uni Regensburg, von einem „Stellvertreterkrieg“, den die Mehrheitsgesellschaft gegen ihre kulturellen Ränder führt. Ein Stück wie Layla dient demnach nur als Ventil für die generelle Geringschätzung der Titelmelodie von Maria Burges‘ sehenswerter Serie.
Wer Partyschlager nicht kennt: so heißen Volkslieder von Helene Fischer bis Roland Kaiser mit einer hochbeschleunigten Extraladung Sex’n’Alk’n’Ballermann. Ein kulturelles Phänomen. Vor allem aber betriebswirtschaftliches. Obwohl sich absolut jeder Malle-Song mit 119-125 beats per minute im Viervierteltakt um dasselbe (meist das eine) dreht, verdienen sich Bierzeltlegenden wie Ikke Hüftgold, Isa Glück oder Micky Krause damit nämlich dumm und dämlich.
Allein die zehn Tophits der Spitzenverdiener zählen bei minimalen Herstellungskosten sagenhafte 758 Millionen Spotify-Abrufe. Plus Merchandising, Lizenzabsätze und 2500 Festivals vom Mecklenburger Schützenhaus bis zur Arena auf Schalke summiert sich der jährliche Gesamtumsatz zur halben Milliarde Euro aufwärts. Und zwar dank zotiger Texte, die Matthias Distel zufolge „mit drei Promille so leicht sein“ sollten, dass „selbst der Vollste an der Playa“ sie noch mitgrölen könne. Er muss es ja wissen.
Distels Label Summerfield produziert nicht nur misogyne Marschmusik à la Layla, sondern auch sein Alter Ego Ikke Hüftgold – eine Kunstfigur mit Zottelperücke, der Deutschlands Schnapsbrennereien vermutlich Altare errichten, so fördert sie toxischen Alkoholmissbrauch enthemmter, meist junger Kerle. Alles richtig, alles aber auch etwas wohlfeil für eine 135-minütige Milieustudie auf der Suche nach soziokultureller Einsicht.
Deshalb dringt Maria Burges tiefer ins Metier lukrativer Nach-mir-die-Sintflut-Hymnen ein und entdeckt Überraschendes. Die „erste farbige Partyschlagerkünstlerin in der Branche seit Roberto Blanco“, wie sich Malin Mensah alias Malin Brown bezeichnet. Oder ihre Kollegin Nancy Franck, die es mit Partykrachern ohne Saufen in obere Gehaltsklassen bringt, wo Stefan Scheichel-Gierten, Kampfname Lorenz Büffel, verblüffend offen einräumt: „Ich muss für den Veranstalter Umsatz bringen, nicht mehr und nicht weniger.“
Diese klaren Worte verleihen Partyschlager Wahrhaftigkeit in einer Branche, an der sonst das wenigste echt ist und gerade deshalb profitabel. Noch. Denn im dritten Teil, der passenderweise „Schöner, jünger, geiler“ heißt, sprechen die Profiteure Tacheles. „Der Zenit ist erreicht“, unkt Ikke Hüftgold und erklärt es mit „vielleicht noch drei Millionen Umsatz“, die er 2024 „mit ‘ner Tour und 164 Auftritten macht“. Da selbst Nachwuchskräfte nun vierstellige Gagen pro Auftritt verlangen, werde sich ein Markt bereinigen, „der seit Layla völlig aufgeblasen wurde“. Einerseits.
Andererseits lehrt uns schon die 1. Folge „Gute-Laune-Hits vom Fließband“ viel übers Preis-Leistungs-Verhältnis im Ballermann-Biz. Zwischen Après-Ski und El Arenal lädt Distels Label schließlich jedes Frühjahr 30 Fabrikanten und Interpreten auf die Almhütte, um in Windeseile 100 Partyschlager herzustellen. Klingt verwegen, ist realistisch. Immerhin klingt jeder exakt wie der nächste, alles andere als schöner, jünger, geiler also. Aber variabel genug für die (längst nicht mehr nur männliche) Stammklientel von 15 und 35 mit 1,5-3,5 Promille im Blut. Oder wie der Szenestar Isa Glück singen würde: „Das Leben ist ‚‘ne Party, dabdadadab“.
Partyschlager – dreimal 45 Minuten, in der ZDF-Mediathek und am 8. August, 20.15 Uhr bei ZDFinfo
Bachs Bilder & Ballermanns Schlager
Posted: August 5, 2024 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
29. Juli – 4. August
Gefangene aus totalitärer Haft zu holen, ist ein humanistisches Gebot, das Rechtstaaten selbst im Tausch gegen Gefangene in demokratischer Haft anwenden sollten. Aktuell fragt sich nur, was es mit Ina Ruck, Armin Coerper oder auch Rainer Munz macht, wenn ihre Regierung unschuldige Kollegen wie Wladimir Kara-Mursa und Evan Gershkovich für schuldige Agenten wie den Kreml-Killer Wadim Krassikow aus Wladimir Putins Kerkern holt.
Weil er mit der Häftlingsrochade Erfolg hatte, leben westliche Journalist*innen künftig wohl noch gefährlicher als ohnehin in Russlands Diktatur. Da wäre es wenig überraschend, falls bald unvermittelt Drogen oder Umsturzpläne im Handgepäck der drei erwähnten Korrespondent*innen von ARD, ZDF und RTL in Moskau auftauchen, um weitere Staatsterroristen als Faustpfände freizupressen.
Auch der Zeitpunkt des Gefangenenaustauschs dürfte nicht zufällig sein. Während die zivilisierte Welt gebannt auf Paris schaut, wo – hier stimmt es endlich – einmalige Sommerspiele stattfinden, kriegt die russische Öffentlichkeit davon nichts mit, weil dortige Medien nicht von Olympia berichten. Also auch keine Bilder zeigen, die der IOC vorsortiert wie beim Fußball, wo das jubelnde Publikum so oft im Bild ist, dass man vom Sport wenig mitkriegt.
Dirk Bachs Botschaft lautet halt immer: alles so schön bunt hier. Alles so spektakulär wie Jerome Brouillets Foto vom fliegenden Surfer Gabriel Medina vor Tahiti. Alles so poetisch wie Carsten Sostmeiers blumige Kommentare beim Vielseitigkeitsreiten von Versailles. Alles so stereotyp wie deutsche Fieldreporter, die notorisch fragen, wie glücklich oder enttäuscht glückliche oder enttäuschte Athleten sind. Ausnahme: Sven Voss, der als einziger offene Fragen stellt und seinem Journalistenausweis daher zu Recht besitzt.
Einen Reichsbürgerpass scheint dagegen Melanie Müller zu haben, die bei einer dunkeldeutschen Party den Hitlergruß zeigte – wofür ihr RTL die 8. Staffel Dschungelcamp inklusive Müllers Volksgenossen Michael Wendler aufs Portal stellt. Dass Stefan Niggemeier die Correctiv!-Recherchen zur neurechten Migrationsfantasie von Potsdam parallel dazu als fehlerhaft bezeichnet, dürfte die AfD da genauso freuen.
Die Frischwoche
5. – 11. August
Worüber sich die AfD sonst noch freut, versucht Eva Schulz ab heute in der ZDF-Mediathek zu erkunden. Für den Reportagedreiteiler Deutschland, warum bist du so? reist die Stimme der Generation Y heute durch Thüringen, Brandenburg, Sachsen auf der Suche nach Antworten im Angesicht drohender AfD-Siege bei dortigen Landtagswahlen.
Sie fallen vorwiegend beunruhigend aus, sind auf evaschulzige Art aber ziemlich erhellend. So wie fünf Milieustudien der ARD-Rechercheure Y-Kollektiv parallel in der Mediathek. Oder wie eine vermeintlich weniger politische ZDF-Doku namens Partyschlager, deren Analyse besoffen-sexistischer Ballermann-Hymnen viel übers aktuelle Lebensgefühl der Generation Nach-mir-die-Sintflut aussagt.
Bei so viel unappetitlicher Scheinrealität lohnt sich dann doch noch ein genauer Blick in die Fiktionen der Woche. Am Dienstag etwa stellt Sky in Elsbeth eine Hauptfigur der juristischen Politdramaserie Good Wife in den Mittelpunkt eines gelungenen Spin-Offs. Am Donnerstag setzt Netflix die melodramatische Mystery-Serie Umbrella Society mit der vierten Staffel fort.
Am Freitag dann startet bei Apple der Heist-Movie The Investigators mit Ex-Ocean’s Eleven Matt Damon als Überfallsvirtuose. Am Sonntag zeigt Wow die achtteilige Coming-of-Age-Knast-Bestseller-Verfilmung Fallen. Und das deutsch-französische Hochseedrama Die Yacht rundet all dies zeitgleich mit viel maritimem Flair in der ZDF-Mediathek ab.

