Nun ist es durch – das Reformstaatsvertrag genannte Zwischenresultat monatelanger Vorarbeiten der Zukunftsrat genannten Kommission zur Aufarbeitung jahrzehntelanger Versäumnisse öffentlich-rechtlich genannter Sendeanstalten. Der große Wurf sollte im Auftrag diverser Fachleute unter Führung von Julia Jäkel aufgeblähte Strukturen verschlanken, um die Programmvielfalt zu erhalten. Worüber die Länder nun allerdings abstimmen, ist das genaue Gegenteil: die Strukturen bleiben ähnlich fett wie zuvor, während die Inhalte abspecken.
Statt einer großen Verwaltungseinheit zumindest die Geschäftsführung zu überantworten, werkeln die neun Landesfunkhäuser weiter vor sich hin – wenngleich für weniger Sport und Kanäle, die teilweise zusammengelegt werden. Das ist also der Preis dafür, dass ostdeutsche Landesregierungen ein bisschen weniger auf den so genannten „Staatsfunk“ eindreschen und Anfang 2025 womöglich sogar der Beitragserhöhung um 58 Cent zustimmen.
Das aber wird trotz klarer KEF-Empfehlung nicht passieren. Zu nah stehen die CDU-Fraktionen von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen-Anhalt medienpolitikphilosophisch AfD und BSW Zu niedrig sind die Brandmauern zur Eindämmung faschistischer Tendenzen dort, wo der Nationalsozialismus schon einmal seinen Siegeszug begonnen hat. Zu wenig weiß man hinter Eisernen Vorhang diktatorischer Tage die Segnungen des ÖRR zu schätzen.
Und so werden die 58 Cent im Frühjahr abermals vom Bundesverfassungsgericht bestätigt – und liefern den Gegnern des pluralistischen Liberalismus neues Futter, genau den verächtlich zu machen. Herzlich willkommen in der Welt des Elon Musik also, der sich aktuell zwar 25/7 auf seinem Feldzug für Donald Trumps anstehende Despotie befindet und dafür sogar Zeit für deutsche Nachrichtenmagazine hat.
Kürzlich warf er dem Spiegel vor, er habe zu Attentaten auf ihn aufgerufen, wogegen sich der Verlag in Hamburg ein bisschen wehrt und damit exakt jene Aufmerksamkeit kreiert, von der sich Musk zu ernähren scheint. Für echte Nahrungsaufnahme dürfte ihm schließlich keine Zeit bleiben – bei bis zu 300 Tweets gegen alles links der Rechtsextremen, die er pro Tag bei X absetzt.
Die Frischwoche
28. Oktober – 3. November
Ob es sich da überhaupt noch lohnt, am 5. November der US-Wahl bei seriösen Sendern wie ARD, CNN oder NBC zu verfolgen, steht komplett in den Sternen. Vielleicht sollte man sich also doch lieber mit Entertainment sedieren. Der bemerkenswerten Disney-Serie Rivals zum Beispiel, die uns Richtung Achtziger entführt, wo Rupert Murdoch den Boulevard gerade ohne Trump zu kennen, auf dessen Kurs manövrierte.
Mit David Tennant als fiktive Version des rechtspopulistischen Steigbügelhalters erinnert die Serie an ein gemischtes Doppel aus Guy Ritchie und Steven Soderbergh, was maximal drüber ist, aber sehr unterhaltsam. Beide könnten theoretisch auch hinter Achtsammorden stehen – hätte Netflix die Serie nicht in Deutschland produziert. Auf der Basis von Carsten Dusses Bestseller spielt Tom Schilling darin einen Sozius der Berliner Unterwelt und wird durchs Achtsamkeitstraining von Peter Jordan nur noch effizienter.
Das ist zwar ebenfalls heillos absurd, aber auf originelle Art umwerfend und deshalb jeden der acht Teile wert. Das komplette Gegenteil bringt dagegen die ARD-Sketchcomedy Smeilingen ab Donnerstag zustande. Ein Dutzend eigentlich komischer Vögel von Uwe Ochsenknecht über Mirja Boes und Cordula Stratmann bis Armin Rohde karikieren darin deutsches Landleben, schaffen es aber, in 30 Minuten pro Folge keinen Witz zu machen. Nicht einen. Nullkommanull.
Dann doch lieber den Netflix-Welterfolg Nobody Wants This um eine schicke New Yorker Podcasterin bingen, die sich in einen Rabbi verliebt und dabei allerlei Kulturen ineinander clashen lässt. Vielleicht sogar den nächsten Versuch, Franz Beckenbauer ohne falsche Lobhudelei zu porträtieren wie im Magenta-Dreiteiler Der letzte Kaiser ab Donnerstag. Oder noch besser parallel: Licht aus!, ein englischer Prime-Import, in dem acht deutsche 1b- bis C-Promis sechs Tage lang komplett im Dunkeln verbringen. Klingt nach buchstäblich finsterem Dschungelcamp, ist aber absolut sehenswerte Reality.
In der ARD-Serie Schwarze Früchte kämpfen die Hauptfiguren gegen Diskriminierung – und fürs Recht, trotz und wegen ihrer postmograntischen Queerness ätzend zu sein. Eine Begegnung mit Hauptdarsteller, Headautor, Showrunner Lamin Leroy Gibba in Hamburg.
Von Jan Freitag
Intersektionalität umschreibt ein sozialwissenschaftliches Phänomen, das Betroffene doppelt und dreifach gesellschaftlicher Herabwürdigung aussetzt. Als Schwarzer zum Beispiel bietet der schwule Lalo seiner Umgebung praktisch zeitlebens zwei Angriffsflächen, die eine fiese Hautkrankheit einst sogar noch vergrößert hatte. Damit nicht genug, ist er obendrein das, was ihm seine beste Freundin Karla, ebenfalls Schwarz und sexuell offen für vieles, brutal an den Kopf knallt: „Übertrieben nervig!“
Ihre Schlussfolgerung, er sei deshalb in seiner Jugend ständig verprügelt worden, hält vermutlich keiner tieferen Täter-Analyse stand; aber sie kennzeichnet einen der vielen guten Gründe, warum die ARD-Serie Schwarze Früchte mit das Beste ist, was dem Fernsehen zum Thema Diversität widerfahren konnte. Acht durchschnittlich 30-minütige Folgen lang erzählt Hauptdarsteller und Headautor Lamin Leroy Gibba zwar von postmigrantischer Queerness in Deutschland. Sein vorerst größtes Serienprojekt verkneift sich dabei jedoch wohltuend klassische Opferrollen und ausgefahrene Zeigefinger.
Noch keine 30, steckt Gibbas Alter Ego schließlich aus tausend Gründen bis zum Hals in der Sinnkrise. Erst stirbt sein Vater, dann bricht er das Architekturstudium ab, kurz darauf macht auch noch Tobias (Nick Romeo Reimann) Schluss. Und weil Lalos Sandkastenfreundin Karla (Melodie Simina) an einer ganzen Reihe Fronten mit ihrer eigenen Intersektionalität zu kämpfen hat, schlingert er zusehends allein durch eine Gesellschaft, deren Abgründe sich bereits in der grandiosen Einstiegssequenz entfalten: Nach zwei Jahren Beziehung lernt Lalo darin endlich Tobis Familie kennen.
Leider zeigt sich am reichgedeckten Esstisch im Speckgürtel von Dibbas Heimatstadt Hamburg, dass offen homophober Rassismus, dem der Creator und seine Figur nahezu lebenslang ausgesetzt sind, nicht zwingend die unangenehmste Form tagtäglicher Diskriminierung sein muss. Wenn Tobis linksliberale Mutter Maren (Judith Engel) mit der Frage, „du bist aber schon mit deinem Vater aufgewachsen?“ suggeriert, Schwarze täten das sonst nicht, verströmt ihr Linksliberalismus ölige Toleranz. Und als Lamin bei der Bitte um ein paar Rassismus-Erlebnisse den Spieß mit Fragen zu Marens ehelicher Treue umdreht, sinkt der Stimmungspegel in aller kultivierten Stille so tief, dass die Luft vor lauter Schweigen vibriert.
Die passive Aggressivität solcher Szenen bleibt bei aller Wahrhaftigkeit jedoch fiktiv. Schwarze Früchte sei „kein autobiografisches Projekt, schon gar nicht mein Leben“, sagt Lamin Leroy Gibba am Tag nach der Hamburger Filmfest-Premiere, „aber sie reimt sich an manchen Stellen darauf“. Aber auch, wenn das fremdschamschreckliche Klischeedinner erfunden ist, sind dem Showrunner die „Machtdynamiken solcher Verhörsituationen“ ebenso vertraut wie seiner queer-migrantischen Crew. Umso cleverer, dass sich diese Dynamiken acht Teile lang im Hintergrund höchstpersönlicher Schicksale halten.
Produziert von Studio Zentral und Jünglinge Film, die mit Angemessen Angry und Futur Drei bereits zwei exzellente Fiktionen um Last und Lust diverser Identitäten im Portfolio haben, will Gibba die mannigfaltige Diskriminierung seiner Figuren von Rassismus über Sexismus bis Klassismus „nicht erklären, sondern sichtbar machen, ohne ihnen die Deutungshoheit darüber zu nehmen“. Und das gelingt ihm mit einer Volte, für die man dringend den Liedermacher Fanny van Dannen zitieren muss: „Auch schwarze lesbische Behinderte / können ätzend sein.“
Wenn Gibbas Regisseure Elisha Smith-Leverock und David Uzochukwu, bislang vor allem durch Musik- oder Werbevideos auffällig geworden, in Kopf, Herz und Seele bindungsgestörter Großstadtgewächse blicken, bleibt nämlich niemand ungeschoren. Während Karla, als Führungskraft aus reichem Hause das Gegenteil tradierter Filmklischees über Schwarze Frauen, mit jeder übergriffigen Person, der sie vor den Kopf stößt, toxischer agiert, wird Lalo mit jeder abweisenden Person, die er anhimmelt, strapaziöser. „Wie ich selbst“, sagt sein Darsteller, „sucht er Strategien, um aus einem System, das nicht für ihn gebaut ist, das Beste rauszuholen“. Nur, leider ist dieses Beste meist unerträglich.
Natürlich ist Lalos Harmoniesucht am Rand der Realitätsflucht nicht schuld am queerfeindlichen Rassismus derer, die ihm seit jeher Gewalt antun. Doch für alle anderen aber zeigt sie sich als das, was Karla eingangs sagte: übertrieben nervig. Einerseits. Denn andererseits ist dieses Nerven als queere Person of Colour unter weißen Heteros ein ebenso seltener wie nötiger Akt der Selbstermächtigung. Für die Lalos und Karlas am Bildschirmrand der Mehrheitsgesellschaft gab es früher nämlich exakt zwei Aggregatszustände: Opfer oder Täter, Putzfrau oder Ganove, geflüchtet oder kriminell.
Seit der Münchner Senegalese Charly Huber parallel zu Carsten Flöters Coming-out in der Lindenstraße 1986 Deutschlands erster schwarzer TV-Kommissar wurde, hat sich einiges geändert, manches gar zum Guten. Die Kombination beider Identitäten – heute als LGBTQI+ und BIPoC bekannt – bleibt jedoch eine Rarität. Ausnahmen wie in der (lesbischen) Neo-Serie Loving her oder der (schwulen) ARD-Serie All you need sind zwar nicht makellos, aber liebenswert und stets attraktiv. Die Schwarzen Früchte dürfen dagegen faul und fleckig sein – verglichen mit Empowerment Marke Hollywood von The L-Word bis Queer as Folk ein echter Quantensprung.
Übertragen auf Dax-Vorstände, die erst als gleichberechtigt gelten, wenn eine Frau darin so ungestraft versagen darf wie Männer, hieße das allerdings: wahrer Emanzipation sind wir erst den nächsten Trippelschritt näher, wenn Intersektionalität so ungestraft nerven darf wie Lalo. Nur: darum geht es dessen Schöpfer gar nicht. Im Gegenteil. Auf St. Pauli, wo Lamin Leroy Gibbas Outfit und Habitus weniger auffallen als sein Minztee, versucht er die Seriencharaktere lieber vom soziokulturellen Ballast aus Identität und Herkunft zu befreien.
„Während ihre Erfahrungen spezifisch sind, sind die Emotionen universell“, sagt er in Lamins Tonfall. Daher sei Schwarze Früchte für alle gedacht, „auch wenn sie weder schwarz noch queer oder Mitte 20 sind“. In einer Milieustudie digitaler Kommunikation und ihrer Fallstricke. Mit wunderbarem Cast bis in die Episodenrollen (Paula Kober). Mit suggestiver statt manipulativer Musik (Don Jegosah). Mit authentischer Kostümierung (Freya Herrmann). Vor allem aber mit einem Creator, der aufopferungsvoll für die Sichtbarkeit benachteiligter Gruppen ringt und frei von Eitelkeit Fremdscham erduldet, bis es wehtut.
Noch zieht Gibba dafür mehr Strippen als ihm lieb ist. In zwei von drei Projekten hat das 30-jährige Multitalent zuletzt auch noch Regie geführt. Nur so könne er postmigrantische Queerness „abseits gängiger Klischees realisieren“. Ein Privileg, gewiss. Aber es zeige, „dass man als marginalisierter Schauspieler viel Extraarbeit leisten muss, um seinem Beruf nachgehen zu können“. Im Fall der Schwarzen Früchte kann man nur sagen: Danke für den Einsatz! Er hat sich bis zur letzten Sekunde gelohnt.
Bill Pruitt kennen hierzulande höchstens Eingeweihte aus dem innersten Zirkel der Medienpolitik. Dabei hat ein Monster, das er schuf, selbst die äußersten Zirkel der Weltpolitik durchdrungen. Vor genau 20 Jahren produzierte der Reality-Fachmann die NBC-Show The Apprentice, wo kein Geringerer als Donald Trump zur TV-Ikone wuchs und weiter ins Weiße Haus wuchern konnte. Nach Ablauf seiner Verschwiegenheitsklausel offenbart Pruitt jetzt, was es mit dem angehäuften Ruhm des Quotenmillionärs auf sich hatte.
Nämlich nichts.
Denn alles, was Trump in der Sendung von sich gab, waren gescriptete Luftschlösser aus PR und Geltungssucht. Seine Milliarden? Aufgebläht! Der Büro-Trakt? Kulisse! Die Vorhersagen über den Werdegang der Kandidaten? Nachträglich gefilmt! Trump sei ein Marktschreier, sagt Pruitt in der Süddeutschen Zeitung fröhlich zerknirscht und stellt als Abbitte für seine Sünden verschüttete Aufnahmen in Aussicht, die noch mehr Ungeheuerliches über den King of Fake enthüllen. Schade, dass sie keinen seiner Jünger interessieren.
Die halten es eher mit der Eigenabsolution misogyner Alpharüden wie Thomas Gottschalk. Dessen Kommentarspalten quellen ja gerade über vor Solidarität Gleichgesinnter, denen Emanzipation und Diversität grundlegend suspekt sind. Dass Tommy in einer alten Biografie schrieb, offenbar bei geringstem Anlass seine Kinder verkloppt zu haben, findet dort demnach ähnlichen Zuspruch. Angefeuert von so viel Liebe für Hiebe, bringt Gottschalk auch schon sein Comeback auf der Wettcouch ins Gespräch.
Dort, wo die Zukunft Lichtjahre von den Preisträger*innen beim Grimme Online Award entfernt ist: Europäische Waffen, amerikanische Opfer und Systemeinstellungen (Information), #LastSeeen und keine.erinnerungskultur (Wissen), Curt Bloch und Library of Lost Books (Kultur), Databroker Files Recherche (Spezial) und @tahdur auf TikTok (Publikum) reihen sich in die Reihe illustrer Vorgänger von Bildblog bis Postillon, Datteltäter bis Krautreporter, #ichbinhier bis #aufschre ein und wer weiß – 2025 vielleicht tagesschautogether, seit vorigen Donnerstag das interaktive ARD-Nachrichtenformat auf Twitch.
Die Frischwoche
21. – 27. Oktober
Dort, wo junge Menschen wirklich hinschauen, um die Welt zu entdecken oder sich lustig berieseln zu lassen. Vom Themenschwerpunkt #Unsere Flüsse, eingebettet in eine Multichannel-Initiative zum Gewässerschutz, kriegen sie dagegen überall etwas mit – nur nicht Montagabend um 22.50 Uhr im Ersten. Gleiches gilt für drei erhellende Dokus über den amerikanischenRechtsruck, der ja längst Faschismus-Beben wird, Dienstagabend bei Arte.
Die Mockumentary-Serie Kek dagegen, eine Art Stromberg im Schul-, statt Versicherungswesen, dürfte die Generationen Z bis Alpha nicht nur wegen der Thematik, sondern auch dem jugendlicheren Sendeplatz joyn ab Donnerstag erreichen. Das könnte aber auch fürs reifere Browser BallettHeimatquiz gelten, parallel in der ZDF-Mediathek, wo tags drauf die Fortpflanzungscomedy Best Family Forever startet.
Während eine Mittzwanzigerin darin verbissen Mutter werden möchte, wird die andere ungewollt schwanger, weshalb sie sich zum Co-Parenting entscheiden. Das ist über acht Folgen hinweg nur leider mäßig inspirierend – und damit das genaue Gegenteil einer Serie über den biologisch-menschlichen Prozess der Fortpflanzung an sich: 30 Tage Lust. Ebenfalls Freitag startet die Dramedy um zwei 30-Jährige, die nach der Hälfte ihres Lebens als Paar spontan entscheiden, einen Monat fremdzugehen, in der ARD-Mediathek.
Das ist zwar nur selten so richtig witzig. Aber was Regisseurin Pia Hellenthal nach Drehbüchern aus von Bartosz Grudzieckis Writers Room skizzieren, läuft vor Empathie, Anmut, Realness der Multioptionsgesellschaft nur so über und ist daher echt eine kleine Sensation. Das darf der zehnteilige Mystery-Thriller Before mit Billy Crystal als Psychiater eines schwer durchgeknallten Kindes nicht für sich beanspruchen – ab Freitag bei AppleTV+ ist aber auch das einfach: gute Unterhaltung.
Wiedersehen macht Freude, Wiederhören erst recht, aber dieses Wiederhörensehen – das kramt viele (zugegeben persönliche) Emotionen aus dem Kellerloch unserer dystopischen Zeit: Karate sind zurück. In einer utopischen Zeit (1993) gegründet, stand das punkverwurzelte Trio aus Boston für eklektischen DIY-Jazzrock der Extraklasse: Virtuos, struppig, elegant, verwegen. Jetzt ist es nahezu in Originalbesetzung zurück.
Und nein: Die avantgardistische Wucht der ersten fünf Alben kriegt Geoff Farina schon deshalb nicht mehr hin, weil seine Überwältigungsstimme zum Dauerthema Beziehungen etwas ausgedünnt klingt. Doch die Riffs dahinter, der energische Hang zum kultivierten Gitarrensolo über den verstiegenen Drums von Gavin McCarthy – das ist immer noch so umwerfend, dass man kurz mal 20 Jahre rückwärts reist, als die Welt noch ein bisschen mehr in Ordnung schien.
Karate – Make It Fit (Cargo)
Pöbel MC
Und ob er’s glaubt oder nicht: Pöbel MC, wie sein Kollege Marteria aus der heimlichen HipHopHauptstadt Rostock, hat ganz schön viel Karate in den Adern. Sein Gossen-Rap atmet den Spirit der Bronx, klingt wie die testosterongesättigtsten Gangsta aus Aggroberlin, ist dabei aber von einer zerdepperten Virtuosität, dass man ihn glatt in der Elbphilharmonie spielen (und hinter ja schön die Wabenkonstruktion mit seiner Lyrik vollsprayen) könnte.
“Heute Dr. P / rappt mit Prädikatsexamen / ziemlich schwer / wie mit dem Flugzeug schwarzzufahren / Ihr macht auf Asis und wisst ihr seid verlogen / Umstürze nach oben und nicht Kinderrap auf Drogen” grollt Pöbel MC auf seiner zweiten Platte Dr. Pöbel und zeigt sich dabei erneut als Deutschlands wortreichster, brachialpoetischster, bester Reimakrobat mit Haltung (links), Wut (konstruktiv) und Wirkung (Aufdrehen, Abdrehen, Abgehen).
Pöbel MC – Dr. Pöbel (Audiolith)
Donkey Kid
Und damit wir jetzt alle mal kurz wieder runterkommen von Nostalgie und Gepöbel, quasi in der bildungsbürgerlich kultivierten Mitte von Boomer-Exzess und GenZ-Enthemmung, hier noch eine Empfehlung ohne allzu viel Metaebene. Es geht um das Debütalbum des Berliner Bigband-Solisten Donkey Kid. Blöder Name, Instagrammability, alles irgendwie schon tausendmal gehört.
Trotzdem strahlt Heavyweight Champion etwas aus, das leider viel zu selten ist in britisch angehauchter Electronica: Selbstironie, transportiert etwa durch newwavigen Discocountry, verschrobene Keyboards zu Waschbrett-Rhythmen, hier mal ein Nintendo-Gefrickel, dort etwas Club-Geballer, Uptempo-Beats und Downtempo-Flows, vieles drollig, oft infantil, aber einfach sehr, sehr unterhaltsam four-to-the-flour.
Die ZDF-Serie Love Sucks erzählt Romeo & Julia unter Vampiren von heute nach. Das ist radikal oberflächlich, zuweilen sehr deutsch. Gerade deshalb aber auch ganz schön ansehnlich.
Von Jan Freitag
Von wegen Aschenputtel: Soziale Schichten sind in der Regel gerade aufwärts so undurchlässig, dass sich die Menschen darin selten grenzübergreifend verpartnern. Normabweichungen kommen allenfalls in Teenagerträumen vor – und Melodramen. Als der neofeudale Ben von Greifenstein (Damian Hardung) eine Kirmes besucht, steigt er in den Ring der burschikosen Preisboxerin Zelda (Havana Joy Braun), verliebt sich trotz bezogener Dresche fünf soziale Stufen abwärts. Und was auch so schon jeder Wahrscheinlichkeit widerspricht, wird dadurch kaum realistischer, dass Ben ein Vampir ist.
Keine allzu verheißungsvolle Beziehungsbasis also für die öffentlich-rechtliche Gruselromanze Love Sucks. Zumal Zelda nicht nur versehentlich die Angebetete von Bens fiesem Bruder Theo (Rick Okon) umbringt, der Rache schwört; ihre Jahrmarktdynastie erweist sich auch noch als Nachfolger Abraham van Helsings, die auf höheres Geheiß Jagd auf Untote machen. Das ZDF badet also genüsslich im Kunstblut von Twilight bis True Blood, die Romeo & Julia Mitte der Nullerjahre bissfest reanimiert hatten.
Schade, dass Andreas Prochaska und Lea Becker dabei in (seltsam deutsche) Klischees verfallen. Acht Teile verrühren sie die Drehbücher aus dem Writers Room von Serienschöpfer Marc O. Seng zu einer sämigen Soße ortsüblicher Stereotypen, die vier Stunden vor sich hin blubbert. Das Gute guckt empathisch, das Böse lacht gehässig, beides achtet penibel aufs Äußere bildschöner Geschöpfe, deren Funktion ihrer Form in fast jeder Minute betriebsblind hinterherhechelt, dass niemanden am Set zu interessieren schien, warum diese Capulet eigentlich diesen Montague anhimmelt und umgekehrt.
Vieles an Love Sucks bleibt daher oberflächliche Behauptung einer Lovestory, an der die Vampire noch das Glaubhafteste sind. Vieles ist aber auch deshalb absolut instagramtauglich. Düsterdeutsche Mystery, das zeigen die Streaming-Millionäre Dark oder Barbaren, führt ja nicht trotz, sondern wegen ihrer leicht pathetischen Effekthascherei globale Abrufrankings an. Dass sich die Tanktop-Amazone Zelda da nach kurzer Begegnung mit dem wortkargem Ben zur Dancing Queen seines technoiden Tanzes der Vampire aufbrezelt, mag da selbst für magische Verhältnisse Unfug sein; es macht die Serie ungeheuer ansehnlich.
Dafür greift Studio Zentral tief in der Ideenkiste eindrücklicher Ausstattungselemente. Der barocke Gothic-Pop untoter Greifensteins um die Morticia-Addams-hafte Clanchefin Katharina (Anne Ratte-Polle) kontrastiert wunderschön mit Frankfurts lebloser Glas-Stahl-Aseptik. Bens Bürde der ständigen Hinwendung zu Lebenden statt seinesgleichen, hat sich Marc O. Seng zwar beim Highlander geborgt, das aber sehr versiert. Der Twist, dass Vampire selbst entscheiden, ob ihr Fluch auf Gebissene übergeht, erklärt endlich mal schlüssig, warum die Welt nicht längst flächendeckend blutsaugt.
Der tagtägliche Umgang mit Draculas Todfeinden Pflock und Sonne denkt dazu durchaus originell Peter Meisters Genre-Spaß Der Upir weiter. Geistesblitze wie die New Dawn Care AG genannte Blutbank der Reichensteins zur unauffälligen Eigenversorgung ist ganz schön pfiffig. Als habituell robuste Schausteller legen Stipe Erceg und Dennis Scheuermann zudem nahe, sie hätten für ihre Rummelplatzrollen Ilja und Branko Zori ein paar Monate als junge Männer zum Mitreisen verbracht. Und dann war ja noch gar nicht von deren Serienverwandten die Rede.
Selten wurde die weibliche Hauptfigur einer popkulturell überfrachteten Coming-of-Age-Ballade so gegen den Strich tradierter Sehgewohnheiten besetzt wie Havana Joy Braun. Dass ausgerechnet ihre Amour fou seltsam blutleer wirkt, ist da fast ebenso egal wie die angesprochenen Klischees. Nach ein paar Kurz- und Werbefilmen verleiht die 24-Jährige ihrer ersten Hauptrolle eine Bildschirmpräsenz, von der Damian Hardung bei allem Respekt nur träumen kann. Und weil sie die zu cleveren Coverversionen wie Jealous Guy oder Nothing Else Matters entfalten darf, ist Love Sucks am Ende doch besser als die Summe ihrer Stereotypen.
Es waren aber auch komplizierte Zeiten auf großen Sofas, so vor 25 Jahren. Da locken wenige Zentimeter vom eigenen Schritt entfernt zwei nackte Frauenschenkel, und ein Mann im Zenit seiner Lendenkraft darf nicht zupacken? Völlig undenkbar für einen wie Thomas Gottschalk – auch wenn er seine Übergriffigkeit im Spiegel-Interview als beruflich deklariert und beim Kölner Treffpräzisiert, erst zu denken, dann zu handeln, sei für den Mittsiebziger „schlimm“.
Weil seine Selbsteinweisung ins Paläozoikum aufgeklärter Männlichkeit so offensichtlich der PR seiner Autobiografie dient, belegt er im Aufmerksamkeitsringkampf der überprivilegiert Unterbelichteten allerdings nur den 1. Platz. Vorne rangiert Jürgen Klopp, der den Abstieg vom Olymp basisdemokratischer Anerkennung in die Hölle der vulgärkapitalistischen Dosen-Monarchie Red Bull auch noch sportlich erklären wollte und sich damit nur noch unglaubwürdiger macht.
Den 3. Platz eroberte Sahra Wagenknecht, als sie vorigen Mittwoch bei Welt TV gegen Alice Weidel ins Rennen um die dunkelste Schwarzmalerei ging und trotz ähnlicher Ideologie mit drei Längen Vorsprung vor ihrer rechtsextremen Diskutantin ins Ziel ging. Die wiederum machte nur einmal auf sich aufmerksam: durchs irre Lachen bei ihrer (selbst für AfD-Verhältnisse bizarren) Lobeshymne auf Donald Trump.
Dessen Gegnerin kämpft derweil nicht nur mit ihm, sondern Medien, die fast verbissen nach Haaren in der demokratischen Suppe suchen. Platz 4 nehmt daher die liberale Presse ein, in der Kamala Harris aktuell fast noch schlechter wegkommt als ihr faschistoider Konkurrent. Platz 5 gebührt Stefan Raab, dem in mittlerweile vier Folgen DGHNDMBSR kein einziger Witz eingefallen ist, der woanders als nach unten tritt.
Oder wie es die Süddeutsche Zeitung formuliert: Während die Unterhaltung von Joko & Klaas dafür sorgt, dass sich andere besser fühlen, fühlt sich Raabs Publikum nur besser als andere. Und damit zu Deutschlands bis heute erfolgreichsten TV-Export: Derrick, der am 18. Oktober 1974 debütierte. Obwohl sein Darsteller Horst Tappert als SS-Scherge gar nicht ins ZDF, sondern Gefängnis gehört hätte, gratulieren wir herzlich zum 50. Geburtstag.
Die Frischwoche
14. – 20. Oktober
Zum Beispiel mit dem einmaligen Ausflug des Tatort-Kommissars Murot in Tapperts Biotop unverzeihlicher Menschheitsverbrechen. Auf der Suche nach maximaler Absurdität schickt ihn der HR diesen Sonntag zum Ermitteln ins 1000-jährige Reich, was Konservative vermutlich ebenso auf die Zinne bringen wird, wie das erstaunlichste, vor allem aber beste Format dieser Woche: Schwarze Früchte.
Der Filmemacher Lamin Leroy Dibba hat sich dafür eine Figur auf den Leib geschrieben, die ab Freitag als schwuler Schwarzer ins Vorurteilsgestrüpp der heteronormativen Mehrheitskultur seiner Heimatstadt Hamburg gerät. Das Einzigartige am ARD-Achtteiler ist aber, dass sich Lalo wie seine Freundin Karla nicht auf sexuelle Identität oder Hautfarbe reduzieren lässt. Nur so wird die Dramedy zum besten Stück Selbstermächtigung im Bereich postmigrantischer Queerness seit langem.
Alles andere sind da allenfalls Zugaben – wenngleich oft sehenswerte wie Taylor Sheridans zwölfteiliges Drama Landman, parallel bei Paramount+, aus dem Bohrloch der amerikanischen Ölindustrie. Oder zeitgleich die Historyserie Rivals um zwei Alphatiere der Achtzigerjahre (Neil Tennant & Alex Hassell), deren Kampf um Privilegien Freitag bei Disney+ acht Teile lang eskalieren darf.
Bereits Dienstag läuft Staffel 2 der Western-Serie Billy the Kid bei Magenta an. Und zum Schluss zwei Dokus: Am Sonntag begegnet ZDFinfo Siggi the Hacker, einem Computer-Nerd, der es von Island aus in die Inner Circle digitaler Macht geschafft hat. Und bereits online: DJ Mehdi, ein fünfteiliges Porträt des viel zu früh verstorbenen Visionär des French Touch in der Arte-Mediathek und schon wegen der Live-Aufnahmen unbedingt sehenswert.
Wo an dieser Stelle eigentlich eine Medienkolumne mit Fernseh- und Streamingschwerpunkt beginnen würde, bitten wir um ein Gebet zum Wohle all jener, für die der hl. Vater Friedrich Merz völlig zu Recht mehr Demut, Anerkennung, Respekt fordert: Besserverdienende. Habt also ergebensten Dank für eure exorbitanten Einkünfte aus Gewinnbeteiligungen, Vorstandsboni, Erbschaften oder Aktienbesitz. Nach dieser Andacht der Minderwertigen für höhere Wesen mit Geld, kommen wir aber dann doch zu denen, die sie wirklich verdient haben.
Heute vor einem Jahr haben palästinensische Terroristen die Shoah im Kleinen kopiert, fast 1.100 Israelis sowie 71 Ausländer ermordet und 251 Personen von Säugling bis Greis verschleppt. Seither hat sich die israelische Reaktion zum Flächenbrand ausgewachsen und dabei auch hierzulande vor allem eine Erkenntnis zutage gefördert: Als hilflose Opfer erfahren jüdische Menschen durchaus Solidarität. Sobald sie sich wehren, gewinnt auch medial allerdings mal offener, mal humanitär verbrämter Antisemitismus die Oberhand.
Gut zu sehen am Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Denn seine Tötung wird nicht etwa als israelische Notwehr beschrieben; die Tagesschau nannte sie stattdessen Worst-Case-Szenario, so als sei er ein gewöhnlicher Player auf dem Spielfeld des Nahost-Konflikts, kein erbarmungsloser Warlord mit dem Ziel, Israel und alles Jüdische darin zu vernichten. Schlimmer noch: als trage in diesem Konflikt allein Israel Verantwortung für das, was darin passiert.
Wenn sich Medien aller Oberflächen dieser Tage mit dem Jahrestag beschäftigen, wird es also wieder seltsam einseitig zugehen in der Bewertung dessen, was darauffolgte und folgt. Eine Ausnahme bildet – kurzer Vorgriff auf die Frischwoche – Buch zwei der SüddeutschenZeitung vom Wochenende oder ab sofort in der ARD-Mediathek (und 23.20 Uhr im Ersten) die Dokumentation Israel und Gaza – Die Opfer von Terror und Krieg, wo das unendliche Leid aller Betroffenen eines endlosen Machtspiels skrupelloser Potentaten beider Seiten ausgeleuchtet wird.
Die Frischwoche
7. – 13. Oktober
Gar nicht so leicht, davon auf leichtere Unterhaltung überzuleiten. Weshalb wir mit ein wenig schwererer beginnen: Der Langzeitstudie Inside Bündnis Wagenknecht, wo das ZDF Mittwoch in der Mediathek den kometenhaften Aufstieg des BSW von der linken Abspaltung zur Regierungsbeteiligung begleitet – und dabei unerwartet nah an die Parteiführerin heranrückt, die sich allerdings auch nirgends wohler zu fühlen scheint als im Scheinwerferlicht ihrer eigenen PR.
Von einer weiteren, wirklich erhellenden Doku namens TerraXplore, die sich ab heute an gleicher Stelle drei Teile lang um unser aller Essen bemüht, geht es dann aber doch ins Fiktionale, und das mit einer echten Überraschung: Jürgen Vogel. In der NDR-Serie Informant soll sein Ermittler Donnerstag bei Arte und ab Freitag in der ARD-Mediathek einen islamistischen Anschlag auf die Hamburger Elbphilharmonie verhindern. Natürlich spielt ihn Jürgen Vogel mit zwei der drei Gesichtsausdrücken, die seiner eingeschränkten Mimik zur Verfügung stehen.
Drumherum allerdings hat Matthias Glasner ein sechsteiliges Netz klug verwobener Politthriller-Elemente gesponnen, das selbst sein Hauptdarsteller nicht zerreißen kann. Überraschung zwei: die ZDF-Serie LoveSucks mit Damian Hardung und Rick Okon als Vampire einer popkulturell aufgeblasenen Gothic-Version von Romeo & Julia, die zwar oberflächlich ist, aber gerade deshalb sehr schön anzusehen. Zumindest gilt auch die 2. Staffel der sagenhaft dummen Agenten-Sause Citadel in seiner italienischen SciFi-Fassung anno 2030, ab Donnerstag sechs Teile lang bei Amazon Prime.
Schön anzusehen, aber ein bisschen gehaltvoller dagegen: Joan, einer britischen Juwelendiebin, die zeitgleich bei Magenta auf Beutezug geht. Und noch ein Tipp aus der Kategorie Superstar auf Serienpfaden: Im Siebenteiler Disclaimer ist Kate Blanchett ab Freitag bei AppleTV+ eine Journalistin, die ihre dunkelsten Geheimnisse in einem Roman unbekannter Herkunft enttarnt und damit in gewaltige Schwierigkeiten gerät – was nach Ansicht der ersten Folge absolut beeindruckend ist.
Übers Sterben und dem, was danach kommt, gibt es viele Theorien. Erstaunlich viele sind hoffnungsfroh, andere deprimierend, einigen kann man sich darauf, dass Leichen den Lebenden weniger zu geben haben als umgekehrt, aber wenn Tote ihren Zustand so schön besingen wie Being Dead aus Austin, ist das auch egal. Das Trio der subkulturellen Exklave des reaktionären Trump-Bistums Texas macht einfach die Nacht zum Tage und das Dunkel taghell.
Eeels heißt ihr versponnene Konglomerat psychedelischen Surf-Punks im Garagen-Stil. Und es klingt, als würde jemand die Beach Boys mit der Family of the Year auf einem kaputten Plattenspieler herumeiern lassen, bis der entstandene Sound Wüstensand hustet, was bei Falcon Bitch und Shmoofy allerdings klingt wie die durchgeknallten Texte: pumperlgesund und munter wie ein Festival-Opener unter Bäumen im Nachmittagssonnenschein.
Being Dead – Eels (Cargo)
Hamburg Spinners
Die Hamburg Spinners tragen Geisteszustand und Herkunft dagegen bereits im Namen. Das Quartett um den als Erobique szenekundigen Carsten Meyer verortet sein drittes Album zwar Im Schwarzwald, stammt aber trotz badischer Aufnahme aus dem Norden und frönt dort einer Form retrospektiver Nostalgie, die es Mod-Jazz nennt und so aus der Zeit gefallen ist, dass es fast schon wieder modern wirkt.
Gitarrist Dennis Rux pickt dabei so frickeligen Funk unter Erobiques Keyboardpeitschen, dass Bass (David Nesselhauf) und Drums (Lucas Kochbeck) fast mäßigend aufs Sammelsurium wattierter Sixties-Beats und Twenties-Adaptionen einwirken. Gelegentlich fehlt der Gesang, um die melodiöse Vielfalt richtig schätzen zu wissen. Aber auch so wünscht man sich einen Nierentisch mit quietschbuntem Longdrink am Pool, um sich dazu im Takt des Gestern zu wiegen.
Hamburg Spinners – Im Schwarzwald (Buback)
Memorials
Und um an diesem sonnigen Frühherbstspätsommertag ausnahmslos Musik zu feiern, die zeitgenössische Hörgewohnheiten mit antiquierter Verve umkurven, noch ein wirklich ganz fantastisches Debütalbum: Memorial Waterslide vom englischen Duett Memorials, ein retrofuturistischer Punkpop, der ein bisschen an Nico auf Speed erinnert, also seiner Zeit ziemlich voraus ist und zugleich atemlos hinterherhechelt.
Verity Susman und Matthew Simms, zuvor gemeinsam bei Electrelane und Wire aktiv, surfen irgendwie aufgeregt und nervös, zugleich aber zielstrebig durch übersteuerte Gitarren- und Orgelgewitter, dass die Ohren fiepsen. Aber es ist ein gutes, energisches Fiepsen. Ein disharmonisch-eleganter Tinnitus wie die Filmmusik knisternder C-Movies der 70er, regelmäßig gelindert durch zarte Balladen wie Name Me und deshalb: vielfältig gut.
Drei Jahrzehnte nach Viva dreht Heike Makatsch längst alles. Jetzt etwa die drollig-verzweifelte Mutter in Where’s Wanda, der ersten deutschen Serie bei AppleTV+. Ein Gespräch über vermisste Töchter, überwachte Häuser und ihre Moral von der Geschicht.
Von Jan Freita
freitagsmedien: Frau Makatsch, in Where’s Wanda verwanzt Ihre Carlotta die halbe Stadt und dringt sie tief ins Privatleben Unbeteiligter ein. Heiligt der Zweck, die vermisste Tochter finden zu wollen, aus Ihrer Sicht die Mittel?
Heike Makatsch: Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Ich kann jedoch verstehen, dass Familie Klatt sich an jeden Strohhalm klammert – angesichts der Notsituation, dass die eigene Tochter verschwunden ist und die Polizei die Suche nach ihr aufgegeben hat. Auch, wenn es am Ende reiner Aktionismus ist, um irgendwie nicht die Hoffnung zu verlieren. Deshalb kann ich es menschlich gut nachvollziehen. Ist für Sie da die rote Linie schon überschritten?
Absolut. Zumal es die aktuell sehr hitzig geführte Diskussion berührt, wie viel unserer Privatsphäre wir für vermeintliche oder tatsächliche Sicherheit zu opfern bereit sind.
Ich denke, dass kann man schwer vergleichen. Im Fall der Familie Klatt kommt ja dazu, dass die Beobachteten ihre Privatsphäre nicht freiwillig opfern und zu keiner Zeit das Gegenteil suggeriert wird. Die Überwachung wird stets als illegal und noch nicht einmal als zielführend dargestellt. Von daher hinkt der Überwachungsstaatenvergleich. Mir persönlich ist jedenfalls gesellschaftspolitisch sicher nicht jedes Mittel recht, um vermeintliche Sicherheit zu erlangen. Denn daraus entwickelt die Gesellschaft eine Atmosphäre des Misstrauens, der Unfreiheit, also dem genauen Gegenteil von Sicherheit.
Entsteht dieses Verständnis für Carlottas Situation auch aus der Perspektive einer Mutter mit drei eigenen Töchtern?
Ich schaue auf jede meiner Rollen nicht nur als Schauspielerin, sondern als Mensch mit einer gewissen Erfahrung, der zum Verständnis all seiner Figuren in die eigenen Ängste, Trigger, Abgründe schaut, um sie daraus zu speisen. Insofern blicke ich nicht nur theoretisch auf Carlottas Situation bei Where’s Wanda, sondern auch ganz praktisch und emotional, als Heike.
Glauben Sie, dass die Verantwortlichen mit der Serie ein Statement für oder gegen diese Überwachung abliefern, oder bleibt sie am Ende reines Entertainment?
Ich kann für die Verantwortlichen der Serie nicht sprechen, aber uns allen gemeinsam war wichtig, verzweifelte Menschen in der bizarren Extremsituation zu beobachten, die ebenso planlos wie akribisch der Idee nachzugehen, ihre Tochter wiederzufinden. Und ohne jetzt spoilern zu wollen: richtig viel trägt die Überwachung am Ende zur Auflösung gar nicht bei. Die Moral von der Geschicht‘ ist also definitiv nicht, dass uns weniger passiert und wir endlich in Sicherheit leben, wenn wir alle verwanzt werden.
Aber Sie suchen offenbar schon die Moral von der Geschicht‘?
Klar mache ich mir Gedanken darüber, was erzählt wird. Natürlich ist auch in einer Serie letztlich alles politisch und transportiert dabei vielleicht keine Message, trägt aber irgendwie bei zum gesellschaftlichen Klima und deren Sichtweisen.
Oder kommentiert beides unterschwellig.
Zum Beispiel. Von daher achte ich schon darauf, was meine Geschichten erzählen – in diesem Fall übrigens weniger von Überwachung, als von dem System Familie und wie es durch Einflüsse von außen und innere Verlustängste aus den Fugen geraten kann, wie eigentlich sehr konventionelle Persönlichkeiten plötzlich Lügner oder Kontrollfreaks werden und ihr zweites Kind vernachlässigen, um das erste zurückzugewinnen.
Und die Moral von der Geschicht‘ ist nun?
Dass Familienzusammenhalt am Schluss stärker ist und niemand ein schlechter Mensch, nur weil er oder sie dunkle Geheimnisse hat. Was ich an dieser Serie so sehr mag, ist dass sie darüber nicht urteilt und anerkennt, dass wir alle so gut es uns gelingt mit dem Leben ringen. Manchmal geht dann eben auch etwas schief.
War das der Grund, warum Sie die Serie gemacht haben?
Darum und wegen ihrer Vielschichtigkeit, der Spannung, dem Genremix, meiner Figur darin. Und ganz wichtig: dass bei allem Slapstick das Drama nie aus dem Fokus gerät. Für mich ist das Unterhaltung auf höchstem Level mit Liebe zu Figuren, die nicht perfekt sein müssen.
Und das, in Ihrer ersten Arbeit für einen Streamingdienst.
Es ist zumindest die bislang größte für einen Streamer.
Wenn Sie es mit Serien für andere Plattformen vergleichen – bei RTL+ zuletzt Herzogpark oder für die ARD Zero: Arbeiten reine Streamer wie Apple TV+ anders als private oder öffentlich-rechtliche Sender?
Der Unterschied zwischen Serie und 90-Minüter besteht erst einmal darin, dass der erzählerische Bogen ein sehr viel größerer ist. Aber spielst du mit deinem Kollegen erst einmal deine Szene, ist es am Ende des Tages überall gleich – egal, ob Streamer, Sender, Serie, Film. Natürlich kommt es auch auf die Zahl der Drehtage im Rahmen des Budgets an oder wie preisgekrönt Kollegen, Regie, Autoren sind. Aber man will überall gleichermaßen die Wahrhaftigkeit der Essenz, die du aus deiner Figur gewonnen hast, einfließen lassen.
Mit dieser hier waren jetzt Ihre letzten fünf, sechs Produktionen keine linearen mehr, sondern allesamt digitale, und den Freiburger Tatort haben Sie auch beendet…
Na ja, den hat der Freiburger Tatort beendet…
Aber täuscht der Eindruck, Sie verlassen grad das sinkende Schiff öffentlich-rechtlicher Rundfunk?
Ich würd’s gerne so sehen (lacht). Aber das klänge, als könnte ich ständig die Drehbücher toller Projekte in die Ecke pfeffern, weil mir der Kanal nicht passt. Wo etwas läuft, ist für mich daher zunächst mal kein Entscheidungskriterium. Obwohl ich die Königsdisziplin Kino zugegeben immer noch am meisten liebe, ist für mich am wichtigsten, ob die Geschichte gut ist und zu mir passt. Als ich dort letztens für Bibi Blocksberg die böse Hexe gespielt habe, kam daher alles zusammen.
Was abermals zeigt, dass Ihr Repertoire für eine Quereinsteigerin erstaunlich breit ist…
Quereinsteigerin? Nach 30 Jahren? Quereinsteigerin von wo?!
Keine Sorge, ich komme nicht auf Viva zu sprechen. Aber gelernt haben Sie den Schauspielberuf nicht!
Der aber ja ein kreativer ist. Meine Ausbildung habe ich durch viel Erfahrung erlangt.
Gibt es da eine, die Ihnen noch fehlt, wo Sie mittlerweile bereits böse Hexen spielen?
Eine Erfahrung? Bestimmt. Und ich bin gespannt, was da noch alles kommt.
Sonst haben Sie keine Agenda?
Nur die, mit dem übereinzustimmen, was ich drehe. Ich habe einen starken inneren Kompass.