Mischkes Männlichkeit & Matsutanis Hameln

Die Gebrauchtwoche

TV

23. – 29. Dezember

Wann ist ein Mann ein Mann? Das hat Thilo Mischke 2010 In 80 Frauen um die Welt beantwortet. Ein Buch, für das er möglichst viele Frauen flachlegen wollte; und sei es mit einer sexuellen Überzeugungstechnik, die er an anderer Stelle „urmännlich“ nannte: Vergewaltigung. Wie infantil, toxisch, misogyn der Endzwanziger war, wirft neue Fragen auf. Die wichtigste: Wann ist ein Moderator ein Moderator?

Da Mischke Mitte Februar Titel, Thesen, Temperamente von Dieter Moor übernimmt, wird er von seiner schmutzigen Vergangenheit eingeholt und zum Deckhengst der Grundsatzdebatte, wie viel Vergebung Menschen zusteht, die sich läutern. Zumal der Guerilla-Journalist seit Jahren solide Brücken über gewaltige Krater zwischen U und E, Jung und Alt, Hoch- und Popkultur baut. Unser Tipp: ein richtiges Mea Culpa würde viel Druck vom Debattenkessel nehmen, lieber Thilo. Und immer schön nach oben treten.

Dorthin also, wo Gegenwehr zu erwarten ist. Das zeigte sich zuletzt am Beispiel Arne Schönbohms, der genügend Zeit, Geld, Kontakte hat, um gegen die Vorwürfe von Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royal vorzugehen, als Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik habe er die Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Das Landgericht München hat Böhmermann dafür zwar nicht zu Schadenersatzzahlungen verurteilt, aber die Verwendung von vier der fünf Vorwürfe gegen Schönbohm verboten.

Ein Sieg für den Beklagten, der die Sicherheit seines früheren Sicherheitsobjektes allerdings doch gefährdet, indem er sagte, „das ZDF hat Fakenews verbreitet“ und den Rücktritt von Intendant Norbert Himmler fordert. Einen Sender mit AfD-Vokabular für Fehler eines Einzelnen in Sippenhaft zu nehmen: das ist Wasser auf die Mühlen der Demokratiefeinde und damit ein Sicherheitsrisiko. Schade, dass er von nichts Wichtigem mehr zurücktreten kann.

Deshalb richten wir diese Forderung hier lieber an Ulf Poschardt und Jan Phillipp Burgard. Der neofeudale Welt-Chef mit Porsche und sein designierter Nachfolger mit #MeToo-Historie haben Elon Musk zum Gastkommentar gebeten, in dem er – hoppla – zur AfD-Wahl aufruft. Damit erweist sich Springer erneut als demokratiefeindlicher Steigbügelhalter, der sogar Eva Marie Kogel zu weit rechts steht. Die stockkonservative Welt-Meinungschefin hat ihre Kündigung eingereicht. Hut ab!

Die Frischwoche

0-Frischwoche

30. Dezember -5. Januar

Hut drauf bleibt bei Stefan und Bully gegen irgendson Schnulli. Die RTL-Show war kurz vor Weihnachten nicht mal mehr ein billiger Abklatsch von Schlag den Raab, dauerte dafür aber fünfeinhalb bauschaumzähe Stunden und blieb zu Recht wenige Quotenmillimeter über der Messbarkeitsschwelle. Welten darüber lag einst ein Komiker, dem Prime am Montag das sehenswerte Porträt Mein Name ist Otto widmet. Und auch die zwei Folgen der ARD-Reihe Kurzschluss hatten bessere Quoten.

Im dritten Teil sind Anke Engelke und Matthias Brandt heute um 20.15 Uhr im Ersten auf einem Hochhausdach gefangen, während ihnen das Feuerwerkt einer eiskalten Silvesternacht um die Ohren fliegt. Das ist wie immer so irrsinnig gut geskripted, gespielt und gedreht, dass man sich fragt, warum Bjarne Mädel partout nicht mehr als Regisseur dieser öffentlich-rechtlichen Fernsehperle erscheinen möchte.

Vielleicht eine Art personal cancel culture, mit der sich das ZDF am Neujahrstag weit weniger belastet, wenn es eine Filmreihe mit Klassikern von Edgar Wallace bis zum Edelwilden Winnetou startet. Nominell neu, aber noch staubiger ist das Historytainment, mit dem die ARD traditionell ins Frühjahr startet. Levi Strauss und der Stoff der Träume stellt den Werdegang des bayerischen Tuchhändlers zum Jeans-Verkäufer vierteilig nach, was aber nicht nur konventionell, sondern sterbenslangweilig ist.

Aufregender ist Rainer Matsutanis ZDF-Serie Hameln. Wie man ein Gruselmärchen derart lächerlich in den Sand setzt, bleibt aber das schmutzige ZDF-Geheimnis des deutsch-japanischen Horrorfans. Besser macht es ein Format, das bereits kurz vor Weihnachten gestartet ist. Wenn Netflix die Vulkan-Insel La Palma explodieren lässt, wird vom Wüstenrufer bis zur Familienzusammenführung zwar jeder Katastrophenfilm-Twist rekapituliert. Trotzdem ist die Serie aus Norwegen auf feinfühlige Art fesselnd.


Merzens Anstand & Ronja Räubertochter

Die Gebrauchtwoche

TV

9. – 15. Dezember

Für 38 Cent kriegt man vielleicht noch ein Ei, aber längst schon kein Appel mehr. Dennoch verwenden konservative Politiker, die Mietpreisbremsen und Bürgergeld als Stalinismus verteufeln, enorme Energie darauf, sie dem ÖRR mit dem Hinweis zu versagen, ein Drittel Euro stürze Deutschland ins Chaos. Weshalb unionsgeführte Länder gegen die Anhebung gestimmt haben und der Ministerpräsidentenkonferenz in derlei Fragen das Widerspruchs-, statt Mehrheitsprinzip verordnet.

Klingt clever, ist ein Feigenblatt, das weiterhin jede KEF-Empfehlung verlässlich vors Verfassungsgericht delegiert, wo ihr dann ebenso verlässlich stattgegeben wird. Kein Wunder, dass Friedrich Merz seine fünf Minuten, die ihm Joko & Klaas am Mittwoch wie Robert Habeck und Olaf Scholz für ein Statement zum Thema Anstand gewährte, mit „Sie werden überrascht sein, mich hier zu sehen“ eingeleitet hat.

Aber es war ohnehin nicht wirklich die Woche anständiger Aktionen. Der stinkreiche FC Bayern zum Beispiel streitet verbissen um höhere Rationen aus dem Fernsehgeldtopf, damit die Bundesliga noch öder wird als ohnehin. Parallel wurde publik, dass ZDF-Programmdirektorin Nadine Bilke Anfang November eine Sendung des ZDF Magazin Royale verhindert haben soll, in der es um Verschwörungstheorien ging.

Parallel dazu schob Gianni Infantino dem absolutistischen Folter-Regime Saudi-Arabien mit willfähriger DFB-Unterstützung die WM 2034 zu. Und dann haben sich nicht nur angeblich bürgerliche Parteien, sondern auch ihre Begleitmedien mit Forderungen überboten, nach Assads Sturz müssten nun aber wirklich sofort alle, alle, alle Geflüchteten zurück nach Syrien, aka Remigration. Dabei sind ohnehin erstmals seit zehn Jahren mehr Menschen nach als aus Syrien eingereist, wobei eine Berufsgruppe besonders hervorstach: Journalist*innen.

Die Frischwochen

0-Frischwoche

16. – 29. Dezember

Und damit in aller Kürze dazu, was im Jahresfinale neues am Flatscreen läuft, nämlich echt nicht viel. Heute (Montag) beginnt in der ZDF-Mediathek der hochatmosphärische Verschwörungsthriller Gletschergrab aus Island. Und das, kein Scherz, ist wirklich der einzig empfehlenswerte Neustart vor Heiligabend. Gleich danach zeigt die ARD Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter als fünfteiliges Fantasy-Serie ohne allzu viel Modernsierungsfirlefanz.

Am 2. Weihnachtsfeiertag nutzt Netflix die besinnliche Stimmung für die zweite Staffel der Gewaltorgie Squid Game. Am Freitag drauf feiern die Pfefferkörner 25. Geburtstag mit einer Reihe Jubiläumszeug in der Mediathek. Und am 28. Dezember steigt die gefeierte Liebes Kind-Hauptdarstellerin Kim Riedle in die ARD-Krimireihe Kommissar van der Valk ein, was ihr vermutlich nicht schaden dürfte.

Außerdem im Festtagsprogramm: Ein Abend zum 90. Geburtstag von UDO! Jürgens am 21. Dezember (linear: 23.12.) mit ausgiebigem Psychogramm und reichlich Found Footage. Und zwischendurch, ebenfalls im Ersten, eine wirklich hochinteressante, in den Doku-Teilen lustig besetzte Hassliebeserklärung an die Lebensader Autobahn (22. Dezember, 18.30 Uhr)


Cafe Türk, Milk Carton Kids, Innocence Mission

Cafe Türk

Was lange währt – nein, das wird weder endlich noch unendlich gut. Aber manchmal braucht es halt Jahrzehnte, bis Dinge aus dem Untergrund an die Oberfläche geraten. Cafe Türk zum Beispiel. Ein Quartett aus Schaffhausen, das im Sog des jungen HipHop und älteren Funk Anfang der Achtziger einen ganz eigenen Sound kreierte. Orientalisch angehauchten Schweizer Ethnopop zwischen Kreuzberg, Bronx und Istanbul.

Genau daraus hat Gründer Metin Demirel ein halbes Leben später sein Debütalbum gemacht. Und auf Doğu Ekspresi gewartet zu haben, war absolut lohnenswert. Schon der Opener Çakmağı Çak, Cover eines Sixties-Schlagers, stiefelt zeitlos durch aseptischen New Wave und verschwitzten Club. Auch der Rest klingt hinreißend gegenwärtig, achtet allerdings zugleich seine Wurzeln und bietet damit ein zeitgeistiges Porträt dessen, was früher Mal Weltmusik hieß.

Cafe TürkDoğu Ekspresi (Sound Concept)

Milk Carton Kids

Die Quintessenz der Weltmusik findet sich übrigens, je nach Definition, in dem, was die christianisierte Welt sich Weihnachten um die Ohren haut. Der Stock hat sich da seit Jahrhunderten kaum verändert. Alle trällern dasselbe. Und schlimmer noch: alle trällern es irgendwann nach, um dem überkommenden Genre ein paar Tonträger abzutrotzen. Deshalb hier mal ein kleiner Tipp, der das uralte Liedgut ein bisschen erträglicher macht.

The Milk Carton Kids, ein amerikanisches Folkduo in der Grassroots-Tradition eines Woody Guthrie, haben zehn Klassiker von Silent Night bis I’ll Be Home For Christmas neu interpretiert. Und neu heißt hier, ihrer leicht schroffen Harmonielehre unterzogen, die nichts rocken oder funken oder schlagern oder metaln will, sondern einfach nur ein bisschen Besinnlichkeit verbreiten. Christmas in a Minor Key kann das – Ruhe stiften.

The Milk Carton Kids – Christmas in a Minor Key (Far Cry Records)

The Innocence Mission

Und wo die Stimmung gerade so ein bisschen andächtig wird, unterfüttern wir sie doch mal mit noch mehr andächtiger Musik ohne Spiritualität und Konsumismus. The Innocence Mission haben erstmals seit vier Jahren ein Album gemacht, und Midwinter Swimmers enthält alles, was das Trio aus Pennsylvania kennzeichnet: elegische Folk-Harmonien vor allem, die Karen Peris’ filterlos angeraute Engelsstimme Eigensinn verleiht.

Er klingt weder angestrengt lieblich noch angestrengter robust, sondern nach der perfekten Untermalung von Don Peris und Mike Bitts, die den Schwermut dunkler Winternächte in beschwingte Melancholie zwischen Hippie und Alternative verwandeln. Dafür muss man sich nur mal an zehn Popcorn-Picks vorbei unter die Geigen von The Camera Divides the Coast of Maine wühlen. Klingt wie der Soundtrack eines Lieblingsfilms der Sixties, an den man sich partout nicht mehr erinnert.

The Innocence Mission – Midwinter Swimming (Bella Union)


Vice: Aufstieg & Fall

Friedhof popkultureller Träume

Vice

In 30 Jahren wurde das radikale Hipster-Magazin Vice vom journalistischen Revoluzzer zum Verräter. Eine ARD-Doku schildert Aufstieg und Fall der popkulturellen Legende.

Von Jan Freitag

Ein Kernprinzip der Publizistik besteht darin, über Berichtenswertes möglichst objektiv zu berichten, also kein subjektiver Bestandteil der Berichterstattung zu werden. Die Spiegel-Affäre von 1962, Hitlers angebliche Tagebücher im Stern 21 Jahre später, zuletzt Enthüllungen des Recherchekollektivs correctiv! über rechtsextreme Remigrationspläne oder Julian Reichelts sexualisiertes Machtsystem bei der Bild – weil solche Ausnahmen nur die Regel bestätigen, lassen sie sich an einer Hand abzählen.

Es sei denn, diese Hand gehört zu einem Magazin, das sein Metier verändern, viele sagen sogar: revolutionieren durfte wie kein zweites: VICE, nur echt in Großbuchstaben, buchstäblich breitbeinig. Seit drei arbeitslose Skater die Zeitschrift Anfang 1994 mit wenig Sachkenntnis, aber viel Ehrgeiz aus dem Boden der kanadischen Millionenmetropole Montreal gestampft haben, hat ihr kostenloses, fein werbefinanziertes Produkt mit praktisch jeder Branchenregel gebrochen – und gerade damit sensationelle Reichweiten erzielt.

Eine ARD-Dokumentation erzählt ab heute in der Mediathek die Erfolgsgeschichte einer gedruckten Rebellion. Das allein wäre aber keine drei Folgen à 30 Minuten wert – würde dem steilen Aufstieg nicht ein schleichender Abstieg folgen. Auf Reportagen über Heavy Metal in Kabul oder Alltag auf Lesbos folgten Anbiederungen an Diktatoren, Islamisten, Werbekunden. Auch diese Revolution hat also ihre Kinder gefressen. Und wer da auf wessen Speiseplan stand – dafür ist The Vice Story der Berliner Filmemacherin Peta Jenkin überm Untertitel Gosse, Gonzo. Größenwahn in die Abgründe einer publizistischen Anmaßung hinabgestiegen.

Alles begann schließlich mit einem Credo, dass der spürbar selbstverliebte Mitgründer Gavin McInnes 30 Jahre später in Jenkins Kamera spricht: „Tue Dummes auf schlaue Weise, tue Schlaues auf dumme Weise“. So funktionierte das Prinzip gedruckten Lifestyles, der keiner Richtlinie, keiner Maxime, keinem noch so dürren Wertekodex außer jenem folgte, mit Tabubrüchen Erfolg zu haben. „Wir hatten diese Scheißdrauf-Mentalität wie beim Punk“, erinnert sich der Berliner Fotograf Christoph Voy an die frühen Nullerjahre, als Vice auch auf Deutsch erschien, „aber sehr ehrgeizig“.

Dieses anarchistische Ertragskonzept hatte sein Auftraggeber McInnes mit den gleichgesinnten Shane Smith und Suroosh Alvi im Gonzo-Journalismus der Siebziger entdeckt, als Popliteraten wie Hunter S. Thompson oder Norman Mailer die Subjektivität der Autoren zum Prinzip erhoben. Vice ging allerdings noch ein Stück weiter und machte dieses Prinzip zum einzigen. Alles andere war erlaubt, und das heißt auch alles. „Ich habe Gott interviewt, eine Kartoffel, den Buchstaben Q“, erklärt McIness seinen grundsatzlosen Grundsatz. Er machte den Verlag dahinter zum Global Player mit Millionenauflage und Milliardenumsatz.

Beides wurde aber nicht nur durch thematische Grenzüberschreitungen möglich. Noch wichtiger als Sex’n’Drugs’n’Rock’n’Roll war die interaktive Gemeinschaftsbildung. Auf ihrer rasant geschnittenen, visuell ekstatischen, musikalisch scheppernden Zeitreise landet Peta Jenkin nämlich in einer Jugendkultur, die sich gestapelte Krisen von Dotcom-Blase über 9/11 bis Bankencrash mit hedonistischem Konsumterror erträglich feiert. Teil einer Marke zu sein erschien der Gemeinde da nicht als Mangel, sondern Mehrwert. Oder wie es die kanadische Sängerin Peaches ausdrückt: „Vice war kein Magazin, es war eine Szene.“

Und dort eskalierten auch in ihrer Wahlheimat Berlin alle bis zur Besinnungslosigkeit mit. Zumindest, bis die ewige Party zum Selbstzweck verkam. Spätestens in der 2. Folge wird die Marke nämlich wichtiger als ihr Inhalt, während die Grenze zwischen Publizistik und PR, Journalismus und Werbung verschwimmt – befeuert vom Internet, versteht sich. Als die Vice Ende der Nullerjahre mehr Videos als Artikel produziert, konkurrieren sie zusehends radikal um Clicks, Likes, Daumen und nehmen die Erregungsspiralen sozialer Medien vorweg. Der frühere Redakteur Thilo Mischke, heute ein gefeierter Gonzo-Journalist bei ProSieben, spricht von einer „Pimmelhaftigkeit“, die sich auch in der Vice durchgesetzt habe.

Weil Süddeutsche, Spiegel oder Zeit mit Jetzt, Bento und Ze.tt ähnliche Guerilla-Portale geöffnet haben, verschärfte sich der Wettkampf um Aufmerksamkeit weiter. Und den bestritt naturgemäß niemand radikaler als der „Hass-Hipster“ McInnes, wie ihn die „Frankfurter Rundschau“ wegen antisemitischer, frauenfeindlicher, rechtsradikaler Tiraden mal nannte. Verloren hat er ihn auch deshalb. Voriges Jahr meldete Vice Media Insolvenz an. Kurz darauf wurde das Magazin auch in Deutschland eingestellt. Die letzten Online-Beiträge über Drogen im Erzgebirge oder Tierfell-Fetische datieren vom März. Vice ist tot. Sie liegt neben dem Hedonismus der Neunzigerjahre auf dem Friedhof popkultureller Träume.

„The Vice Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn“, 3×30 Minuten, ab 12. Dezember, ARD-Mediathek


Gottschalks Body & Kerkelings Alter

Die Gebrauchtwoche

TV

2. – 8. Dezember

Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Thomas Gottschalk, emanzionspraktisch ungefähr auf dem Niveau eines AfD-Kreisvorsitzenden im Gau Gera, betreibt gewohnt misogynes Bodyshaming zu Lasten der Sängerin Maite Kelly und nein, er klagt nicht über linksgrüne Diskriminierung weißer Männer, sondern beendet seinen Podcast Supernasen. Kurz darauf wird Syriens Diktator Assad, tyranneitheoretisch nahezu unstürzbar, von Islamisten bedrängt und nein – er steckt nicht auch sein restliches Land in Folterkeller, sondern flieht.

Viel Bewegung unter den ewig Gestrigen der Weltbühne, weshalb Christian Lindner jetzt ebenfalls seinen Rücktritt … ach nee. Der hockt weiter im Sattel einer klientelpolitischen Partei, die das wahlberechtigte Volk nach Strich und Faden belügt, zur Rettung ihrer liberalen Haut allerdings lieber demokratietragende Medien wie Zeit und Süddeutsche diskreditiert, anstatt eigene Fehler auch nur anzudeuten. So geht Antipluralismus von oben, liebe AfD!

Die Entscheidung, ob man Tino Krupalla zum Interview bittet oder nicht, ist von Redaktion zu Redaktion dabei unterschiedlich. Aber wenn man es tut wie am Sonntagabend im Bericht aus Berlin, dann doch bitte, bitte mit einer Moderatorin, die etwas weniger stammelt als Anna Engelke. In dem Fall fiele es der seriösen (also nicht rechten) Kritik vielleicht auch leichter, die exorbitanten Preise einschlägiger Sportrechte hinzunehmen.

Für Bilder der Fußballbundesliga sind sie nämlich anders als auf Deutschlands Nachbarmärkten gestiegen. Bis 2029 aufs Rekordniveau von 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. In neun Einzelpaketen verliert Sky zwar die Samstagskonferenz an DAZN, während die DFL den Privatsendern Sat1 und RTL ein Live-Brocken zuwirft. Ansonsten bleibt allerdings – inklusive Zweitverwertung für Sportschau und sportstudio – alles beim Alten, nur teurer.

Die Frischwoche

0-Frischwoche

9. – 15. Dezember

Was es dagegen Neues gibt in der laufenden Woche ist einigermaßen schnell erzählt. Montagabend feiert die ARD den 60. Geburtstag von Hape Kerkeling mit der grandiosen Lebenserzählung Total normal. Dienstag gibt es ein Spin-Off der fabelhaften Disney-Animation Alles steht Kopf auf dem hauseigenen Streamingdienst. Am Freitag porträtiert dieselbe Plattform das bewegte Leben von Elton John. Und bereits Mittwoch erinnert die ARD-Mediathek in einer dreiteiligen Doku an The Vice Story.

Wer sich die anarchistische Lifestylemagazin-Legende der Jahrtausendwende nicht kaputt machen lassen will: bloß nicht einschalten. Es werden reihenweise Mythen geschreddert, was nicht nur wegen der tatkräftigen Beteiligung handfester Neonazis und Trump-Fans echt verstörend ist. Eher ermüdend ist dagegen das nächste Biopic über einen großen Deutschen, nämlich Johann Sebastian Bach. Verkörpert von Devid Striesow geht es am Freitag an gleicher Stelle um ein Weihnachtswunder.

Und parallel dazu holt Jan Böhmermann dann auch noch ein weiteres Fossil aus der Grube: In Hallo Spencer – Der Film lässt die ZDF-Mediathek das respektlose Plüschwesen der Siebziger mitsamt seiner pelzigen Studio-Crew auferstehen. Das ist nicht immer wirklich gelungen, aber ungeheuer liebenswert. Und aufrichtig nostalgisch.


Tom Buhrow: Intendanz & Ruhestand

Privatmann habe ich nie gesagt

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Nach 40 Jahren öffentlich-rechtlicher Rundfunk beendet WDR-Intentant Tom Buhrow (Foto: Marina Weigl) Ende des Jahres seine Fernsehkarriere. Ein journalist-Interview zum Abschluss mit einem der ganz großen, einflussreichen, höchst populären, aber auch umstrittenen Charaktere des früheren Leitmediums.

Interview: Jan Freitag

freitagsmedien: Herr Buhrow, haben Sie kürzlich den Zeit-Artikel Die Intendantin gelesen, in dem Patricia Schlesinger nahezu vollumfänglich vom Vorwurf der Vetternwirtschaft oder Vorteilsnahme freigesprochen wurde?

Tom Buhrow: Den hab‘ ich natürlich gelesen.

Was war Ihre Reaktion – Na bitte oder Na, wenn schon? Ändert er alles oder nichts?

Nachdem die Perspektive bislang häufig von außen kam, haben die zwei Autoren jetzt mal eine andere Perspektive eingenommen. Im Grundsatz ändert das aber eher wenig.

Auch nicht ihre Sicht auf den Fall und den daraus entstandenen Reformkurs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?

Nein.

Bei aller Vorverurteilung, die ihr offenbar zu Unrecht widerfahren war, räumt Patricia Schlesinger allerdings ein, die Diskrepanz zwischen Sparrunden und Investitionen hätten beim rbb das „Klima vergiftet“, weshalb sie „die Belegschaft verloren“ habe. Haben Sie die des WDR noch?

Seit ich vor fast 40 Jahren angefangen habe, kenne ich es sowohl beim WDR als auch in der ARD nicht anders, als dass Ressourcen immer knapper geworden sind. Schon damals konnten wir programmlich nur Neues aufbauen, wenn wir woanders abbauten. Das macht natürlich was mit den Menschen – unabhängig davon, wer gerade Intendant ist und unabhängig vom Sender.

Und bei Ihrem im Besonderen?

Haben wir diese Adaptionen aus meiner Sicht gut bewältigt. Und auch für die Zukunft ist der WDR gut aufgestellt. Ich übergebe meiner Nachfolgerin ein solides Haus. Wie die Rahmenbedingungen von der Medienpolitik gerade verändert werden, das ist etwas anderes, aber das kennt ja jeder.  

Kennt ja jeder oder akzeptiert es auch?

Sie finden in jedem Bereich, der von so was betroffen ist, natürlich Menschen, die ihn bitte nicht angetastet sehen wollen. Aber alles in allem herrscht da beim WDR hoher Realismus und entsprechend große Einsicht.

Es gibt in Köln also anders als jetzt gerade bei ARD-aktuell gar keinen Tarifstreit mit der Aussicht auf Streiks?

Tarifauseinandersetzungen sind etwas anderes. Die sind ebenso normal wie Warnstreiks. Als Arbeitgeber bin ich natürlich manchmal anderer Meinung als die Gewerkschaften, wie früh man das Mittel des Arbeitskampfes anwenden sollte. Aber es ist etwas Legitimes, das nichts über generelle Befindlichkeiten einer Belegschaft aussagt.

Kann man ein System wie das öffentlich-rechtliche unabhängig von der Belegschaftsreaktion auch kaputtsparen?

Wir müssen eine ehrliche Debatte darüber führen, was die Gesellschaft in Zukunft vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk erwartet. Das habe ich vor zwei Jahren in meiner Rede in Hamburg deutlich gemacht.

Wo sie zwar aktuell ARD-Vorsitzender waren, angeblich aber als Privatmann radikale, hitzig diskutierte Reformen gefordert haben…

Privatmann habe ich nie gesagt. Lesen Sie das ruhig nochmal nach. Ich habe nur deutlich gemacht, dass ich an diesem Abend nicht im Namen der ganzen ARD spreche. Es war und ist mir wichtig, aufrichtig zu sein. Wenn man uns nicht mehr ausstatten will wie bisher, muss man ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen in der Medienpolitik treffen. Man muss dann klar sagen, auf was man konkret verzichten will, und nicht nur pauschal fordern, wir sollten schlanker und kleiner werden. Nur dann können die Sender das verantwortungsvoll managen. Mein Credo besteht immer darin, auch unkomfortable Maßnahmen offen und ehrlich zu kommunizieren. So habe ich es auch vom ersten Tag an gehalten. Bei meiner Ankunft in der Intendanz 2013 habe ich mit der Geschäftsleitung eine solide Finanzplanung für die kommenden Jahre aufgestellt.

Und?

Um das Programm dauerhaft zu entlasten, haben wir den Personalstand abgebaut. Über fünf Jahre hinweg 500 Planstellen einzusparen, ist keine kleine Sache und alles andere als angenehm. Aber mit klarem Zeitplan klar vermittelt hat der WDR das geschafft.

Also Ihre Schlussfolgerung?

Unangenehmes nicht Salamischeibe für Salamischeibe kommunizieren, sondern klar sagen, was auf Sender und Belegschaft zukommt. Das ist immer noch konfliktreich, aber ehrlich und handhabbar.

Aber wo lassen sich denn die größten Stücke der Wurst kürzen: horizontal beim WDR oder vertikal zwischen den Landesrundfunkanstalten der ARD?

Wir können und müssen überall Synergien heben und tun das ja längst. Auch in Printredaktionen wie Ihrer muss man dafür überall ran. Im WDR haben wir im Zuge des crossmedialen Umbaus Fernsehen und Hörfunk zusammengelegt und nach Themenbereichen neu geordnet. Das war eine große Anstrengung. Natürlich kann man auch weiter bei Technik, Produktion und Verwaltung sparen, aber das ist schon zu einem großen Teil ausgeschöpft. Es ist eine Illusion, die Sender schlanker haben zu wollen, ohne auch inhaltlich etwas abzubauen – das sagt die KEF übrigens auch schon seit Jahren.

Spätestens an dieser Stelle kommen also die Kompetenzzentren ins Spiel, mit denen senderübergreifend Themenschwerpunkte gebündelt werden?

Zum Beispiel. Damit heben wir programmliche Synergien aus eigener Kraft. Es müssen nicht alle alles machen. Grundsätzlich ist mir wichtig: Wir erfüllen einen Auftrag, den uns die Gesellschaft gibt. Und die Gesellschaft darf sagen, was sie will, aber auch, was sie nicht, anders oder vielleicht zusätzlich will. Danach bemisst sich dann der Beitrag, den wir alle zahlen. Wer den Beitrag beeinflussen will, muss zunächst den Auftrag ändern. Anders formuliert: Wer B sagt, muss erst A sagen. In der Zwischenzeit schaffen wir von uns aus programmliche Synergien, etwa durch die erwähnten Kompetenzzentren.

Wäre das beim WDR beispielsweise der Sport?

Ab 2025 werden die meisten Sportereignisse der ARD zentral auf dem Sportcampus des WDR produktionstechnisch abgewickelt. In anderen Feldern übernimmt der WDR dagegen Leistungen von anderen, zum Beispiel Inhalte anderer Radiowellen. Wir müssen nicht alles parallel machen. Der Reformstaatsvertrag geht sogar noch weiter. Einzelne Wellen sollen ganz eingespart werden. Und da sind wir noch nicht mal bei der denkbaren Zusammenlegung von 3sat und Arte.

Flankiert vom Vorschlag des Zukunftsrates, nicht nur einzelne Aufgaben der ARD, sondern ihre Geschäftsführungen zusammenzulegen.

Soweit ich weiß, kommt das im Entwurf zum Reformstaatsvertrag gar nicht mehr vor.

Was der Zukunftsrat gerade kritisiert hat. Zumal dem Publikum, also der angesprochenen Gesellschaft, Sparmaßnahmen im Führungsbereich lieber sind als an Personal oder Programm.

Das ist eine medienpolitische Überlegung außerhalb meines Einflussgebietes. Aber ein Problem daran dürfte sein, dass womöglich erstmal nichts abgebaut, sondern was aufgebaut wird. Wenn Sie eine zentrale Geschäftsleitung installieren, machen die neun anderen ja nicht sofort dicht. Was genau wegfällt, müsste da erstmal genau durchdekliniert werden. Bei den Kompetenzzentren sind wir da schon weiter.

Befürchten Sie persönlich denn nicht, dass sich durch überregionale Bündelungen regionaler Kompetenzen die lokalen Profile und Befindlichkeiten vor Ort abschleifen – also genau das, worin viele den aktuell wichtigsten Daseinsgrund des Journalismus sehen?

Die Befürchtung teile ich nicht. Jeder kann selbst entscheiden, welche Senderstrecken man von einem Federführer übernimmt. Das wird in jedem Fall eher in den Randzeiten sein und auch da wird man die eigenen erfolgreichen regional geprägten Programmteile beibehalten. 

Im Radio zum Beispiel, das eine andere Primetime als Fernsehen hat, gibt es abendliche Sendungen mit vergleichsweise wenig Hörerinnen und Hörern, dass es sich anbietet, die eigene Sendung durchaus mal gegen eine Sendung aus einem anderen ARD-Haus auszutauschen. Zu welchem Zeitpunkt genau man aber ins Programm anderer einsteigt, ist jedem selbst überlassen. Es kann auch sein, dass man erst einmal bis 21 Uhr weiter das sendet, was besser zum regionalen Profil passt. Natürlich gibt es überall Verlustängste, und es ist die Aufgabe des Managements, damit umzugehen. Aber schon allein wegen dieser Flexibilität, die wir hierzu eingeführt haben, ist mir um die regionalen Profile nicht bange.

Ist Ihnen denn um die Vielfalt am Bildschirm bange, wenn 3sat mit Arte, Neo mit ONE und Phoenix mit ZDFinfo, ARD alpha und tagesschau24 zusammengelegt werden?

Im Grunde herrscht abseits einiger Kritikpunkte doch große Wertschätzung für das öffentlich-rechtliche Programmangebot. Wenn man davon etwas wegnimmt, herrscht deshalb zunächst mal mehr Bedauern als Befriedigung. Das sieht man ja an der emotionalen Debatte über 3sat. Aber wenn der Auftrag darin besteht, schlanker und kostengünstiger zu arbeiten, müssen wir identifizieren, wo was wegfallen kann – selbst, wenn es Verluste guter Sachen mit sich bringt.

Aber wie unterscheidet man bei der Verteidigung liebgewonnener Formate, Sender, Inhalte denn Pfründe von Qualität, also Masse von Klasse?

Entscheiden ist doch bei der Reformdebatte, was die Menschen von uns erwarten und was nicht. Beim WDR, mit dessen Verschlankung ich ja schon bei meinem Amtsantritt betraut wurde, sind wir frühzeitig alle Alternativen konkret durchgegangen und haben personell so umgeschichtet, dass hauptsächlich Produktion, Technik und Verwaltung betroffen waren und erst dann das Programm. Eine Maßnahme, die mir dabei nicht leichtgefallen ist, betraf die äußerst populäre Lokalzeit am Samstag, in der alle elf Regionalstudios getrennt voneinander Beiträge gebracht haben.

Später Nachmittag.

19.30 Uhr, für mich eher früher Abend. Und statt elfmal die komplette Infrastruktur einzusetzen, haben wir trotz guter Einzelreichweiten alles zu einer Sendung für Nordrhein-Westfalen zusammengelegt. Mittlerweile wird unser gesamtes Angebot von Audio über Video bis Social Media darauf überprüft, ob Ressourcen und Reichweite, Input und Output in einem konstruktiven Verhältnis stehen. Damit wollen wir das Unternehmensziel erreichen, nicht nur lineare, sondern digitale Heimat im Westen zu sein und neue Zielgruppen zu erreichen. Früher erfolgte diese Steuerung bereichsweise, jetzt aus einem zentralen Cockpit, unserer Angebotssteuerung.

Noch händisch, also von Menschen, oder bereits automatisiert, also mithilfe von KI?

KI kommt auch bei uns an anderen Stellen zum Einsatz, aber Entscheidungen in der Angebotssteuerung werden zum Glück noch von Menschen getroffen.

Die ARD ist nicht nur im nachrichtlichen und dokumentarischen, sondern auch im fiktionalen Bereich die mit Abstand größte Auftraggeberin. Kann sie dieses Niveau aufrechterhalten?

Das sind medienpolitische Entscheidungen, bei denen wieder gilt, was ich bei meiner Rede vor zwei Jahren gesagt habe: Es geht nicht ohne Schmerzen! Wenn der gesellschaftliche Auftrag an uns weniger lautet, wird es weniger geben. Und das würde dann eben auch weniger fiktionale, dokumentarische und journalistische Auftragsproduktionen bedeuten. Darum haben die Produzenten schon in der letzten Beitragsdebatte vor vier Jahren darauf hingewiesen, was das auch für die Produktionsstandorte der einzelnen Bundesländer bedeutet. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Sagt ehrlich, was ihr wollt und was nicht. Ich schaue übrigens gerade die ARD-Serie Der Herr des Geldes

Ein vierteiliges Biopic über die letzten Tage des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen bis zum Attentat der RAF.

Finde ich fantastisch und es wäre sehr, sehr schade, wenn solch gute Sachen weniger gemacht würden als zuvor.

Aber auch das kann passieren?

Das hat die Gesellschaft zu entscheiden, nicht wir – auch wenn es besonders für unseren Anspruch, experimenteller, jünger, diverser zu werden, wichtig ist.

Wie findet man da die Balance zwischen Mainstream für die Masse und Experimenten für die Nische?

(überlegt lange) Unter anderem dadurch, dass wir uns frühzeitig darauf festgelegt haben, den Fokus klar aufs Digitale zu legen. Wo mehr Experimente – die ich auch aus meinem Intendantentopf zu fördern versuche – möglich sind, programmieren wir digital only beziehungsweise digital first. Gleichzeitig schichten wir aber auch große Batzen Programm so um, dass sie erst in der Mediathek laufen und dann nach einem linearen Sendeplatz gesucht wird. 

Muss die ARD mit ihrer gewaltigen Man- und Material-Power digital weniger presseähnlichen Inhalt anbieten oder im Sinne der journalistischen Grundversorgung eigentlich sogar mehr?

Sie steuern mich auf Konfliktfelder, sehr gut! (lacht) Dazu Folgendes: Wir müssen alle im Internet präsent sein, da sind wir uns einig. Die alte Einteilung zwischen Audio und Video auf der einen Seite und Text auf der anderen, ohne Berührungspunkte – diese Welt existiert nicht mehr. Ob Zeitung, Radio, Fernsehen: Alle müssen im Netz präsent sein, wo Informationen ohne Text undenkbar sind. Ich bin auch überzeugt, dass die Herausforderungen der Printbranche nicht geringer wären, wenn wir kaum Text im Internet hätten.

Weil dieses Internet kein Nullsummenspiel ist?

Genau. Das gesamte Geschäftsumfeld der Verlage hat sich so geändert hat, dass sie – vorsichtig formuliert – in keiner allzu beneidenswerten Situation sind. Denken Sie nur ans Anzeigengeschäft. Dennoch haben WDR und ARD großes Interesse an einer starken Presselandschaft, besonders regional. Weite Teile Deutschlands, insbesondere aber Nordrhein-Westfalens, befinden sich immer noch in der komfortablen Lage, ein reichhaltiges Angebot qualitativ hochwertiger Tageszeitungen zu haben, die von lokalen Gemeinde- und Kreistagssitzungen berichten.

Bei presseähnlicher Arbeit der ARD-Homepages allerdings womöglich in Konkurrenz zu gebührenfinanzierter Berichterstattung.

Das sehe ich wie gesagt etwas anders als viele Verleger. Aber ich habe mich trotzdem immer um ein konstruktives Verhältnis bemüht. Beispielsweise indem ich vor Jahren da unilateral aus der ARD ausgeschert und den Text-Anteil des WDR im Internet reduziert habe.

Als Good-Will-Aktion?

Die womöglich dazu beigetragen hat, im Staatsvertrag eine Formel zu finden, den Konflikt zu befrieden. Ich bin wie in jeder guten Beziehung bereit, Kompromisse einzugehen, wenn mein Partner mit meinen Entscheidungen Probleme hat. Zugleich bin ich aber überzeugt, dass unser Text Verlagen nicht schadet, mehr noch: dass er unerlässlich ist. Wir können bei Ereignissen wie dem Anschlag von Solingen im eigenen Sendegebiet doch nicht mit der Berichterstattung warten, bis die ersten Beiträge gedreht sind – so wie es der aktuelle Entwurf vorsieht! Auch Spielergebnisse im Sport müssten wir dem Publikum komplett vorenthalten, wenn wir keine Übertragungsrechte hätten. 

Was bedeutet das nun?

Wir sollten nicht Artikelzeichen zählen und mit Sendesekunden abgleichen, aber im Schwerpunkt bild- und ton-, statt textlastig berichten. Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke hat in diesem Zusammenhang das Angebot einer Selbstverpflichtung gemacht, um bestimmte Aspekte genauer zu fassen und damit den Sorgen der Verleger entgegenzukommen. Aber wir können und wollen nicht einfach nur ein Play Button sein. Und wie gesagt: Wir müssen und werden da Kompromisse finden.

Auch, indem Redaktionsverbünde wie der von WDR und NDR mit Süddeutsche Zeitung ausgebaut werden?

Das nimmt in der Tat an einigen Stellen Druck vom Kessel, fügt an anderer Stelle aber neuen hinzu. Printredaktionen, die keine solche Kooperation eingehen, wittern schnell beitragsfinanzierte Vorteile für Konkurrenten wie die Süddeutsche. Ich plädiere hier für mehr Pragmatismus, denn es gibt schlicht nicht die eine, perfekte Antwort auf alle Probleme und Herausforderungen unserer Branche.

Wie lautet die vorläufige Antwort auf den öffentlich-rechtlichen Umgang mit Streamern und Privatsendern: deren Erfolge kopieren oder eigene kreieren?

Hier plädiere ich für Letzteres. Gerade Streamer haben alle ein extrem spitzes Profil, die einen etwa mit Fokus auf Sport, die anderen mit Serien und Filme.

Ein digitales Vollprogramm gibt es bislang nicht.

Exakt. Wir dagegen müssen eines anbieten und darüber hinaus wegen der Altersstruktur unseres Publikums, das immer noch sehr gern linear sieht und hört, mindestens zehn Jahre lang noch alle Abspielwege anbieten. Darüber hinaus müssen wir auf allen Geräten überall und permanent digital abrufbar sein. Dennoch können wir natürlich Teilaspekte der Streamer auf uns übertragen. Wenn ich sehe, dass digitale Serien besser funktionieren als solitäre Filmproduktionen, können und müssen wir davon lernen.

Das Zwischenergebnis eines langen, teils schmerzhaften Lernprozesses ist der Reformstaatsvertrag auf Basis der Empfehlungen des Zukunftsrates, den die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten Ende Oktober verabschieden sollen. Da dieses Heft dann vermutlich schon im Druck ist: Können Sie eine Prognose abgeben, ob am Ende alle glücklich damit sind?

Keine Reform macht alle happy, aber ich finde es beachtenswert, dass die Politik jetzt versucht, ordnungspolitisch klare Vorgaben zu machen und dabei eventuelle Phantomschmerzen in Kauf nimmt. Unsere Rolle ist klar: Wir erfüllen einen gesetzlichen Auftrag. Natürlich können wir Input geben, aber wir sollten nicht verbissen den Status quo verteidigen. Ich jedenfalls werde nicht jammern. Unsere Aufgabe besteht darin, die Konflikte mit Genres, Gewerken, Personal, Interessengruppen so zu managen, dass unser Auftraggeber davon profitiert, nämlich Publikum und Gesellschaft. Der größte mediale, längst überlebenswichtige Kulturwandel meiner Amtszeit besteht schließlich darin, nicht mehr nur auf unseren Anspruch, sondern den der Nutzerinnen und Nutzer zu blicken.

Also nachfrage- statt angebotsorientiertes Programm bieten?

Nicht ausschließlich natürlich, aber größtenteils. Dass die Bevölkerung und ihre gewählten Vertreter das einfordern, ist für uns manchmal einschränkend, aber absolut demokratisch.

Das wäre die politische Basis der öffentlich-rechtlichen Tätigkeit. Was ist mit der finanziellen – rechnen sie gleich nach Ende Ihrer Amtszeit damit, dass die Ministerpräsidenten-Konferenz eine Beitragserhöhung um 58 Cent wie von der KEF empfohlen akzeptiert?

Die KEF-Empfehlung hat eine hohe Verbindlichkeit. Ich gehe davon aus, dass sie wirksam wird. Politisch kommt das Verfahren an seine Grenzen. Es ist schwieriger geworden, dass sich alle 16 Bundesländer im Konsens einigen und alle vier Jahre der KEF-Empfehlung folgen. Diese Herausforderung ist bislang nicht gelöst.

Weshalb das Verfassungsgericht alle vier Jahre ein Machtwort spricht.

Aber das kann ja nicht die Dauerlösung sein.

Der ARD-Gremienvorsitzende Engelbert Günster sagte dazu kürzlich sogar, das nütze nur den Populisten!

Ich finde nicht, dass wir uns von denen abhängig machen sollten, weder in die eine noch in die andere Richtung, weder was Zustimmung noch Ablehnung betrifft. Wir müssen tun, was wir für richtig halten. Punkt.

Dummerweise steht die populistische Ablehnung gerade in mehreren Bundesländern an der Grenze zur politischen Entscheidungsgewalt und könnte den Rundfunkstaatvertrag einseitig kündigen.

Das ist eine hypothetische Frage, weil die Parlamente sich noch in der Mehrheitsfindung befinden. Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob Herr Höcke Ministerpräsident wird. Und damit kann er auch keinen MDR-Staatsvertrag kündigen. Insofern droht das in naher Zukunft nicht.

Umso wichtiger wäre es, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch vertragsrechtlich für die entferntere Zukunft wehrhaft zu machen.

Und da können Sie den Beitrag absenken oder sich programmlich anstrengen, wie Sie wollen – populistisches Anspruchsdenken wird man nie befriedigen, nie befrieden.

Wäre es da nicht umso wichtiger, das Kündigungsrecht der Staatsverträge von der Exekutive auf die Legislative zu übertragen?

Das wäre eine Möglichkeit. Parlamentarismus ist das Herz unserer Demokratie. Bei so grundlegenden Fragen wie der Kündigung von Staatsverträgen sollte es so wenig rein exekutive Entscheidungen wie möglich geben. Aber da befinden wir uns tief im Unterholz juristischer Feinheiten und föderalistischer Fragen. Da müssen Sie Verfassungsrechtler fragen.

Dann können wir ja auf die staatsrechtliche Lichtung gehen und fragen, ob Deutschland ein Mediengesetz wie das europäische braucht oder das Grundgesetz ausreicht?

Ich finde, das Grundgesetz reicht. Auch wenn es gut gemeint war, stecken ja auch im europäischen Media Freedom Act, der alles abzudecken versucht, einige Gefahren, die die Medienvielfalt eher schwächt als stärkt. Unsere Verfassung, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, dagegen hat Recht und Gesetz, der Demokratie und Pressefreiheit super gedient – denken Sie nur an die sogenannte Spiegel-Affäre 1962. Und Gerichte haben dabei die richtige Balance zwischen dem Schutz des Einzelnen und dem öffentlichen, also auch staatlichen Interesse gefunden.

Auch da lautet Ihr Credo offenbar inhaltliche statt formeller Auseinandersetzung der Medien mit der Welt, über die sie berichten.

Ja.

Wie viel inhaltliche Haltung ist dabei für eine Nachrichtenredaktion wie ARD aktuell da statthaft, um sich klar etwa gegen rechte Populisten zu positionieren, ohne als voreingenommen und subjektiv zu gelten?

Der digitale Raum vergibt bekanntlich Aufmerksamkeitsprämien für zugespitzte, emotionale, provozierende Bemerkungen, die deutlich leichter Communitys bilden als neutrale, sachliche. Weil wir dieser Versuchung besser nicht erliegen, sollten wir uns als öffentliche, von der Gemeinschaft finanzierte Stiftung verstehen, in der Meinungen erlaubt sind, wenn sie klar als Kommentare gekennzeichnet sind. In toto sollte unser Interesse an Ausgewogenheit und Objektivität immer spürbar bleiben. Und da muss ich dem NDR ein Kompliment machen, der die wertvollste Nachrichtenmarke in Deutschland…

… die Sie als langjähriger Tagesthemen-Anchor ja von innen kennen!

Auch beim WDR sind wir dankbar und wirken gerne daran mit, dass ARD aktuell sowohl formal als auch inhaltlich seit Jahrzehnten als Nachrichtenmarke so gut gepflegt wird in Hamburg. 

Seit 40 Jahren sind Sie Teil seiner Familie, davon zwölf als Intendant der größten ARD-Anstalt. Nicht, dass die Welt 1984 oder 2011 viel friedlicher war, aber schon etwas übersichtlicher als heute. Wie lautet Ihr Resümee nach all der öffentlichen-rechtlichen Zeit?

Die Medienwelt hat sich in dieser Zeit komplett geändert. Obwohl es nach einer Binse klingt: Digitalisierung ist eine technische Revolution, wie sie nicht alle 100, sondern eher 500 Jahre vorkommt, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Da stecken wir, öffentlich-rechtlich oder kommerziell, alle noch mittendrin. Es erfordert Kraft und Weitsicht, führt zu Konkurrenz und Gereiztheit und geht einher mit einem völlig neuen Verhältnis zwischen Sender und Publikum: Wir senden und andere empfangen…

Was als Instrument zur Meinungsbildung früher Gatekeeping genannt wurde.

… aber so nicht mehr existiert. Heute wollen die Menschen nicht nur zurück zu uns, sondern untereinander senden. Deshalb ist die größte Veränderung unserer disruptiven Zeit das Verschieben der Perspektive zum Nutzer hin. Dass die Kolleginnen und Kollegen beim WDR diesen Perspektivwechsel vollzogen und die Nutzersicht nicht nur eingenommen haben, sondern leben – darauf bin ich wirklich stolz.

Sie trauern der komfortablen, erhabenen Situation, Nutzende bloß versorgen und nicht in jeden Diskurs einbinden zu müssen, gar nicht hinterher?

Nein, denn heute sind Medien einfach demokratischer. Und auch, wenn das Internet in Teilen zu populistischer Sektenbildung geführt hat, trägt es doch auch zum Demokratisierungsschub bei.

Zurück zum Fazit: Sind ARD und WDR in ihrer Existenz, ihrer Relevanz oder nur der Komfortzone gefährdet?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird in diesem digitalen Jahrhundert weiter eine starke Rolle für unsere Demokratie spielen – als Dienstleister der Gesellschaft über alle Unterschiede und Schranken hinweg.

Sie sind also gar nicht froh, das sinkende Schiff öffentlich-rechtlicher Rundfunk in der Seeschlacht gegen die Freibeuter von Streamingdiensten bis Social Media zu verlassen?

Das Schiff des WDR fährt unter vollen Segeln seinen Kurs, wir sind haushalterisch und programmlich solide aufgestellt, unsere Teams haben den Reformkurs trotz aller Schwierigkeiten mitgemacht und ebenso wichtig: Sie sehen ihn noch lange nicht als vollendet an.

Und da stimmen Ihnen auch jene zu, die Arbeitsbedingungen, Sparzwänge, Gehälter oder im Fall der Freiberuflichen den Mangel an Wertschätzung beklagen?

Veränderungen sind anstrengend und herausfordernd, und ich bin stolz darauf, wie die Kolleginnen und Kollegen sie meistern.

Wie darf man sich angesichts all der Herausforderungen die Stabübergabe an Katrin Vernau vorstellen – gehen Sie mit ihr eine Woche ins Yoga-Retreat und räumen dann dieses große Büro oder wird der Übergang fließend?

Auf jeden Fall fließend! Und dafür hatte ich dem Rundfunkrat drei Pflichten zugesichert, die ich mir selbst auferlegt habe. Die erste liegt in der Vergangenheit und bestand darin, eine starke und heterogene Geschäftsführung aufzubauen. Damit hatte der Rundfunkrat intern schon mal eine Auswahl an starken Führungskräften für eine Nachfolge. Die zweite betrifft meinen Rückzug, den ich mit großem zeitlichem Vorlauf bekanntgegeben habe. Damit hatte der Rundfunkrat genug Zeit, das ganze Wahlverfahren in Ruhe umzusetzen. Meine letzte Pflicht betrifft die letzten Monate, in denen ich alles dafür tue, anstehende Entscheidungen organisch und gemeinschaftlich zu treffen. Deshalb ist Katrin Vernau schon längst in die WDR-Intendanz und ARD-Diskussionen voll eingebunden. Auf der Kommandobrücke gibt es einen guten, vertrauensvollen, harmonischen Übergang.

Sie sagten vorhin, ihr und uns den WDR als gesundes Haus hinterlassen zu wollen. Ungeachtet der Frage, ob das gelingt: Wie hinterlässt dieses Haus denn Sie persönlich?

(lacht) Danke der Fürsorge! Die letzten zwölf Jahre waren die intensivsten meines gesamten Berufslebens, deshalb gehe ich wirklich bereichert von den vielen tollen Begegnungen und Erfahrungen mit verschiedensten, hochinteressanten Themen hier raus. Es ist aber auch mal gut, Abstand zu gewinnen. Die Tage hier sind sehr durchgetaktet. Wenn ich so an mir runterblicke, bin ich daher froh, bald wieder so viel Sport machen zu können, dass ich mich dem körperlichen Zustand, als ich hier angefangen habe, wieder annähere.

Das bezieht sich auf ihr physisch-seelisches Wohlbefinden. Wie verhält es sich mit dem beruflichen – wird es ein wirklicher Ruhestand oder tendieren Sie zum Unruhestand als Medienplayer?

Als Medienmanager definitiv nicht, das Kapitel ist abgeschlossen – zumal ich ja nicht aus der Betriebswirtschaft, sondern dem Journalismus stamme. Und da gibt’s den schönen Satz: Journalist bleibt man immer. Aber wer wie ich nicht langsam ausrollt, sondern bis zum letzten Tag Vollgas fährt, braucht danach erstmal etwas Distanz. Alles andere würde sich ungesund anfühlen. Den Rest wird die Zukunft zeigen.

Sollten Sie darin irgendwann noch mal wieder publizistisch tätig werden – eher in Form einer Reisereportage oder eines Reporter-Ratgebers?

Hajo Friedrichs hat nach seinem Ausscheiden bei den Tagesthemen Tiersendungen gemacht, ich dagegen diesen Intendanten-Job (lacht). Wer weiß…

Gäbe es darin denn irgendetwas zu bereuen – insbesondere in den vergangenen zwölf Jahren als WDR-Intendant?

Nein, mir war von Anfang an bewusst, dass es eine sehr herausfordernde Zeit wird. Es war nicht immer einfach. Aber ich bereue nichts. Weil ich mich auch nie davor gescheut habe, die unbequemen Dinge anzusprechen. Aber zurück zu Ihrer vorherigen Frage: Eigentlich halte ich es mit Ulrich Wilhelm.

Erzählen Sie!

Als der als BR-Intendant aufhörte, haben wir alle geglaubt, er hat schon was Neues in der Pipeline. Als er sagte, dass er erst einmal Abstand brauche, hat das keiner geglaubt. Jetzt glaube ich es ihm. Denn es ist bei mir genauso. Auch ich brauche nun etwas Abstand.

BIO BUHROW

Tom Buhrow, 1958 geboren in Troisdorf bei Köln, beginnt direkt nach seinem Magister in Geschichte und Politikwissenschaft ein Volontariat beim WDR und bleibt dem Sender fast 40 Jahre in wechselnder Position treu. Bundesweit bekannt wird der vorherige Leiter des ARD-Studios Washington 2006, als er von Ulrich Wickert die Tagesthemen übernimmt und im Wechsel mit Anne Will moderiert. Seit Mai 2013 ist der fünffache Vater aus zwei Ehen WDR-Intendant. Die Amtszeit endet am 31. Dezember.


50 Jahre Derrick: Trenchcoat & Sitten

Vollkommener Durchschnitt

derrick

Am 20. Oktober 1974 betrat mit Derrick und Harry (Foto: ZDF) ein Ermittlerduo die TV-Bühne, das zugleich konservativ und modern, viril und träge war. Ein Nachruf zum 50. Geburtstag des deutschen Exportschlagers schlechthin.

Von Jan Freitag

Die Siebziger waren ein komisches Jahrzehnt. Während die Arbeitslosigkeit im Gleichschritt mit Ölpreis, Inflation und Armut galoppierte, während der Watergate-Skandal Richard Nixon stürzte und ein Doppelagent Willy Brandt, während der RAF-Terror die Republik erschütterte und Flensburgs Verkehrskartei ihre Autofahrer, während das Land politisch recht trüber Stimmung war, tauchten es die drei verfügbaren TV-Kanäle zusehends in grellere Farben.

Es gab zwar Monitor, Autorenfilme, den Tatort. Am liebsten aber entkam das Publikum der Realität mit buntem Klamauk zwischen Pauker-Komödie, Klimbim und Hallervorden. So gesehen war der 20. Oktober 1974 um 20.15 Uhr ein bemerkenswerter Moment deutscher Fernsehgeschichte: An einem nasskalten Sonntag vor 50 Jahren betrat Stephan Derrick den Röhrenbildschirm, und zwar nicht im knallgelben Polyesterhemd, sondern beigegrauen Trenchcoat, den er für 24 Jahre nicht mehr auszog.

281 Episoden ermittelte der Oberinspektor Kapitalverbrechen im Münchner Speckgürtel. Bereits die Auftaktfolge Waldweg sahen surreale 31 Millionen Zuschauer. Der Berliner Weltstar Wolfang Kieling ging dort als Frauenmörder so brutal zu Werke, dass eine halbe der 60 Minuten bis heute auf dem Index steht. Wegen solcher Exzesse im Spießerparadies, avancierte die Reihe zum Exportschlager. Von Holland über Japan bis Kuba prägte „Derrick“ in gut 100 Ländern das Bild der Deutschen.

Es war ein Gemälde, wie es nur Herbert Reinecker malen konnte. Bereits zuvor hatte der Drehbuchautor Ludwig Erhards nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit kriminalistischen Ablenkungsmanövern à la Edgar Wallace sediert, bevor Der Kommissar Erik Ode ab 1969 ohne englische Romanvorlage auskam. Von dort nahm er fünf Jahre später Fritz Weppers Inspektor Harry Klein mit in Derricks Dezernat und ließ ihn fast 300 Stunden selten relevant zu Wort kommen, aber dekorativ ins Bild rücken.

Stand sein Chef, Baujahr 1923, für preußische Solidität mit einer Prise Ironie, verkörperte der Assistent, Baujahr 1941, jugendlichen Schwung mit 3er-BMW, den Harry, wie Herbert Reinecker betonte, zwar nie „schon mal“ holte; er stand aber für die populäre Mixtur aus Jung und Alt, modern und konservativ, viril und träge, also auf tradierte Art zeitgemäß. Denn so klassisch die Polizeiarbeit mit Fragen nach Alibi („wo waren Sie gegen 22 Uhr?“) und Motiv („Hatte er Feinde?“) vorwärts kroch, so fortschrittlich war der Spannungsaufbau.

Bekamen Derricks Kollegen nämlich Anrufe im Kommissariat, wo sie der nächste Fall wohl hinführt, zeigten Regisseure wie Theodor Grätler (51 Folgen), Helmut Ashley (46), Alfred Vohrer (28) erst lange den Tathergang. Nicht selten, dass der Mörder wie bei Peter Falks Columbo früh bekannt war. Nicht selten auch, dass Derrick erst zur Halbzeit den Tatort betrat, der oft dort lag, wo handelsübliche Krimis bis dato eher Opfer als Täter verortet hatten: im wohlständigen Bürgertum.

Der Trend, Leistungsträgern Schwerkriminalität anzudichten – er fand bei Derrick seinen Ursprung. Den Trend, dass sie von Frauen überführt werden, weniger. Während Sigrid Göhlers Leutnant Arndt 1971 im „Polizeiruf“ ermittelte, dauerte es westlich der Mauer noch sieben Jahre, bis Renate Fröhlich der SOKO 5113 angehörte und Nicole Heesters dem Tatort. Der überzeugte Single Stephan Derrick dagegen duldete bis zum Ende seiner Dienstzeit nur zwei Psychologinnen im Büro, von denen ihm eine (Johann von Koczian) auch emotional näherkam. Ganze drei Folgen. Kein Wunder.

„Wir konnten keine gute Schauspielerin halten, die 20 Jahre zur Verfügung steht, aber kaum etwas zu tun bekommt“, erklärte Herbert Reinecker Derricks Männergesellschaft. Obwohl selbst Hobbyregisseur Horst Tappert elf Fälle inszenieren durfte, gab es bis zum Finale am 16. Oktober 1998 aber auch keine Frau hinter der Kamera und bis auf seltene Ausnahmen allenfalls Täter- oder Opfergattinnen in nennenswerter Rolle. Gleich siebenmal zum Beispiel Evelyn Opela. Dass sie die Frau von Produzent Helmut Ringelmann war, würde die Mainzer Compliance-Abteilung heute vermutlich beanstanden.

In Zeiten des Ost-West-Konflikts jedoch taugte es nicht mal zum Skandal, dass sowohl Reinecker als auch Tappert SS-Mitglieder waren, also selbst Schwerstverbrecher. Ob sich die braune Vergangenheit der Verantwortlichen inhaltlich niederschlug, ist Gegenstand vieler Spekulationen, aber schwer belegbar. Tatsache bleibt, dass Derrick verbissen um Neutralität bemüht war. Die Mordmotive spielten sich gern im Rahmen von Habgier, Eifersucht oder Veranlagungskriminalität ab, etwa beim einzigen Einsatz von Götz George anno 1978 als Gangsterboss.

Wie fast alle Episoden kann man ihn bei Youtube abrufen, wo sich nicht nur ein Sittengemälde bundesdeutscher Ängste, Spleens, Befindlichkeiten voll leichter Mädchen entfaltet, die schon ein bisschen selber schuld sind am Sexualmord gut situierter Herren; man sieht dort auch das Who-is-who der Schauspielbranche. Von Klaus Maria Brandauer bis Inge Meysel, von Armin Müller-Stahl bis Iris Berben, von neunmal Gerd Baltus bis gefühlt fünfzigmal Karin Anselm sind alle, die im goldenen Fernsehzeitalter gut im Geschäft waren, bei „Derrick“ aufgetaucht.

Die „vollkommene Verkörperung von Durchschnittlichkeit, Phlegma und Beamtenkarriere“, wie der Weltliterat Umberto Eco einst urteilte. Umso seltsamer, dass der 50. Geburtstag unterm Radar lief. Weder Derrick-Nacht bei 3sat noch Tappert-Porträt im Zweiten. Mit etwas Fantasie diente nur eine Arte-Doku über die genussfeindlichen Amish als Referenz. Der dunklen Schrankwandatmosphäre am Grünwalder Tatort kommt das näher als jede Jubiläumssendung.


Lindners D-Day & Dujardins Zorro

Die Gebrauchtwoche

TV

25. November – 1. Dezember

Der Bote war’s, na klar. So ungefähr ließen sich Christian Lindners Aussagen übers D-Day-Desaster der FDP zusammenfassen, die natürlich nichts falsch gemacht, sondern Richtiges nur schlecht kommuniziert habe. Das brachiale Bashing seriös recherchierender Medien von „Frechheit“ (Bijan Djir-Sarai) bis „Lüge“ (Wolfgang Kubicki) allerdings zeugt von einer Pluralismus-Verachtung, die den Verdacht nahelegt, im Hans-Dietrich-Genscher-Haus würde man auch Björn Höcke zum Propagandaminister küren, sofern es dem Machterhalt diente.

Dazu passt, dass die Süddeutsche Zeitung der Partei ihre Informationen übers freiheitlich-liberale Lügengeflecht vorab presseethisch einwandfrei zukommen ließ, was ihr die FDP mit dem nächsten Betrug an Demokratie und Bevölkerung dankte. Statt (zugesagter) Antworten stellte sie die SZ-Infos nämlich selber online und erweckte zulasten einer seriösen Zeitung den verlogenen Eindruck von falscher Transparenz.

Kaum zu glauben, dass man sich angesichts dieser Steilvorlagen in den Sturm der AfD jene Frau zurückwünscht, die letztere erst großmachen half und jetzt ihre Memoiren verkauft. Dass Angela Merkel aktuell nahezu jedem Medium bis runter zur Schülerzeitung superexklusive Interviews darüber gibt, wie makellos ihre Kanzlerschaft 16 Jahre doch war, täuscht allerdings nicht ganz darüber hinweg, dass es darin tatsächlich noch so etwas wie politischen Anstand gab.

Was da noch bleibt? Eskapismus vielleicht… Anspruchsvolleren zum Beispiel mit gutem Fernseh- und Streaming-Programm, das zuletzt deutlich häufiger aus Deutschland kam als ehrliche FDP-Politiker. Nur so ist erklärbar, dass mit Liebeskind und Tommi Katze gleich zwei Serien bei den International Emmys abgeräumt haben. Kurz darauf wurden dann letztmals vorm Umzug nach Weimar 2025 in Baden-Baden die Preise der TeleVisionale vergeben.

Zur besten Serie kürten öffentlich tagende Jurys das RTL+-Ereignis Angemessen Angry mit Marie Bloching als feministische Superheldin auf Rachefeldzug, was der Podcast Och eine noch in seiner neuesten Ausgabe geahnt hatte. Bester Film wurde Karl Markovics ORF-Landkrimi Das Schweigen der Esel. Den MFG-Star erhielt Justine Bauers bäuerliche Milieustudie Milch ins Feuer. Alles verdient – und verblüffend tatortfrei. Weshalb wir mit der Meldung schließen, dass Carlo Ljubek Nachfolger der aktuellen Münchner Kommissare wird

Die Frischwoche

0-Frischwoche

2. – 8. Dezember

Krimis und Thriller, wenngleich ohne Bauern und Esel – davon ist auch das Programm der laufenden Woche voll. Am Dienstag zum Beispiel schickt die HBO-Serie Get Millie Black eine jamaikanische Ermittlerin aus London zurück in ihr Heimatland, wo sie ein vermisstes Mädchen sucht, aber massenhaft eigene Dämonen findet – was an diesem Schauplatz sehr, sehr sehenswert ist.

Freitag mengt die ARD-Serie Passenger eine sechsteilige Portion heiterer Mystery unters Crime-Gefüge, während die kanadische Real-Crime-Fiction-Serie The Sticky bei Amazon Prime in einem wahren Fall von Ahornsirup-Raub festklebt, nachdem sich Keira Knightley tags zuvor in Joe Bartons sechsteiligem Polit-Thriller Black Doves verheddert hat und Daniel Brühl bei der Film-in-Film-Komödie The Franchise (Sky) am Dreh eines Superhelden-Blockbusters verzweifelt.

Ebenfalls Freitag begrüßen wir The Actor Jean Dujardin im Paramount-Original Zorro als Mantel-und-Degen-Held, was wieder ein bisschen nach Kintopp aussieht, aber sehr unterhaltsam ist. Mittwoch eröffnet Neo mit der zwölfteiligen Serie Single Bells aus Belgien dann die Weihnachtssaison. In Die Papiere des Engländers wagt Arte eine Drama-Serie aus Angola, was wirklich kein allzu weitverbreiteter Drehort ist.

Das mit Abstand Beste dieser Woche kommt allerdings vom ZDF, steht bereits in der Mediathek und läuft heute Abend auch im Zweiten: Uncivilized. Unter diesem Hashtag wurde 2022 angeprangert, dass im Zuge des Ukraine-Kriegs eine Zweiklassen-Gesellschaft Geflüchteter entstanden war. Der Filmemacher Bilal Bahadır hat daraus fünf 25-minütige Filme postmigrantischer Einzelschicksale gemacht, die mit zum Besten gehören, was das Fernsehen leisten kann.