50 Jahre Derrick: Trenchcoat & Sitten

Vollkommener Durchschnitt

derrick

Am 20. Oktober 1974 betrat mit Derrick und Harry (Foto: ZDF) ein Ermittlerduo die TV-Bühne, das zugleich konservativ und modern, viril und träge war. Ein Nachruf zum 50. Geburtstag des deutschen Exportschlagers schlechthin.

Von Jan Freitag

Die Siebziger waren ein komisches Jahrzehnt. Während die Arbeitslosigkeit im Gleichschritt mit Ölpreis, Inflation und Armut galoppierte, während der Watergate-Skandal Richard Nixon stürzte und ein Doppelagent Willy Brandt, während der RAF-Terror die Republik erschütterte und Flensburgs Verkehrskartei ihre Autofahrer, während das Land politisch recht trüber Stimmung war, tauchten es die drei verfügbaren TV-Kanäle zusehends in grellere Farben.

Es gab zwar Monitor, Autorenfilme, den Tatort. Am liebsten aber entkam das Publikum der Realität mit buntem Klamauk zwischen Pauker-Komödie, Klimbim und Hallervorden. So gesehen war der 20. Oktober 1974 um 20.15 Uhr ein bemerkenswerter Moment deutscher Fernsehgeschichte: An einem nasskalten Sonntag vor 50 Jahren betrat Stephan Derrick den Röhrenbildschirm, und zwar nicht im knallgelben Polyesterhemd, sondern beigegrauen Trenchcoat, den er für 24 Jahre nicht mehr auszog.

281 Episoden ermittelte der Oberinspektor Kapitalverbrechen im Münchner Speckgürtel. Bereits die Auftaktfolge Waldweg sahen surreale 31 Millionen Zuschauer. Der Berliner Weltstar Wolfang Kieling ging dort als Frauenmörder so brutal zu Werke, dass eine halbe der 60 Minuten bis heute auf dem Index steht. Wegen solcher Exzesse im Spießerparadies, avancierte die Reihe zum Exportschlager. Von Holland über Japan bis Kuba prägte „Derrick“ in gut 100 Ländern das Bild der Deutschen.

Es war ein Gemälde, wie es nur Herbert Reinecker malen konnte. Bereits zuvor hatte der Drehbuchautor Ludwig Erhards nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit kriminalistischen Ablenkungsmanövern à la Edgar Wallace sediert, bevor Der Kommissar Erik Ode ab 1969 ohne englische Romanvorlage auskam. Von dort nahm er fünf Jahre später Fritz Weppers Inspektor Harry Klein mit in Derricks Dezernat und ließ ihn fast 300 Stunden selten relevant zu Wort kommen, aber dekorativ ins Bild rücken.

Stand sein Chef, Baujahr 1923, für preußische Solidität mit einer Prise Ironie, verkörperte der Assistent, Baujahr 1941, jugendlichen Schwung mit 3er-BMW, den Harry, wie Herbert Reinecker betonte, zwar nie „schon mal“ holte; er stand aber für die populäre Mixtur aus Jung und Alt, modern und konservativ, viril und träge, also auf tradierte Art zeitgemäß. Denn so klassisch die Polizeiarbeit mit Fragen nach Alibi („wo waren Sie gegen 22 Uhr?“) und Motiv („Hatte er Feinde?“) vorwärts kroch, so fortschrittlich war der Spannungsaufbau.

Bekamen Derricks Kollegen nämlich Anrufe im Kommissariat, wo sie der nächste Fall wohl hinführt, zeigten Regisseure wie Theodor Grätler (51 Folgen), Helmut Ashley (46), Alfred Vohrer (28) erst lange den Tathergang. Nicht selten, dass der Mörder wie bei Peter Falks Columbo früh bekannt war. Nicht selten auch, dass Derrick erst zur Halbzeit den Tatort betrat, der oft dort lag, wo handelsübliche Krimis bis dato eher Opfer als Täter verortet hatten: im wohlständigen Bürgertum.

Der Trend, Leistungsträgern Schwerkriminalität anzudichten – er fand bei Derrick seinen Ursprung. Den Trend, dass sie von Frauen überführt werden, weniger. Während Sigrid Göhlers Leutnant Arndt 1971 im „Polizeiruf“ ermittelte, dauerte es westlich der Mauer noch sieben Jahre, bis Renate Fröhlich der SOKO 5113 angehörte und Nicole Heesters dem Tatort. Der überzeugte Single Stephan Derrick dagegen duldete bis zum Ende seiner Dienstzeit nur zwei Psychologinnen im Büro, von denen ihm eine (Johann von Koczian) auch emotional näherkam. Ganze drei Folgen. Kein Wunder.

„Wir konnten keine gute Schauspielerin halten, die 20 Jahre zur Verfügung steht, aber kaum etwas zu tun bekommt“, erklärte Herbert Reinecker Derricks Männergesellschaft. Obwohl selbst Hobbyregisseur Horst Tappert elf Fälle inszenieren durfte, gab es bis zum Finale am 16. Oktober 1998 aber auch keine Frau hinter der Kamera und bis auf seltene Ausnahmen allenfalls Täter- oder Opfergattinnen in nennenswerter Rolle. Gleich siebenmal zum Beispiel Evelyn Opela. Dass sie die Frau von Produzent Helmut Ringelmann war, würde die Mainzer Compliance-Abteilung heute vermutlich beanstanden.

In Zeiten des Ost-West-Konflikts jedoch taugte es nicht mal zum Skandal, dass sowohl Reinecker als auch Tappert SS-Mitglieder waren, also selbst Schwerstverbrecher. Ob sich die braune Vergangenheit der Verantwortlichen inhaltlich niederschlug, ist Gegenstand vieler Spekulationen, aber schwer belegbar. Tatsache bleibt, dass Derrick verbissen um Neutralität bemüht war. Die Mordmotive spielten sich gern im Rahmen von Habgier, Eifersucht oder Veranlagungskriminalität ab, etwa beim einzigen Einsatz von Götz George anno 1978 als Gangsterboss.

Wie fast alle Episoden kann man ihn bei Youtube abrufen, wo sich nicht nur ein Sittengemälde bundesdeutscher Ängste, Spleens, Befindlichkeiten voll leichter Mädchen entfaltet, die schon ein bisschen selber schuld sind am Sexualmord gut situierter Herren; man sieht dort auch das Who-is-who der Schauspielbranche. Von Klaus Maria Brandauer bis Inge Meysel, von Armin Müller-Stahl bis Iris Berben, von neunmal Gerd Baltus bis gefühlt fünfzigmal Karin Anselm sind alle, die im goldenen Fernsehzeitalter gut im Geschäft waren, bei „Derrick“ aufgetaucht.

Die „vollkommene Verkörperung von Durchschnittlichkeit, Phlegma und Beamtenkarriere“, wie der Weltliterat Umberto Eco einst urteilte. Umso seltsamer, dass der 50. Geburtstag unterm Radar lief. Weder Derrick-Nacht bei 3sat noch Tappert-Porträt im Zweiten. Mit etwas Fantasie diente nur eine Arte-Doku über die genussfeindlichen Amish als Referenz. Der dunklen Schrankwandatmosphäre am Grünwalder Tatort kommt das näher als jede Jubiläumssendung.



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